Wie könnt ihr schlafen. Kriminalroman - Monika Geier - E-Book
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Wie könnt ihr schlafen. Kriminalroman E-Book

Monika Geier

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Beschreibung

Wenn Sie Monika Geier noch nicht kennen, beginnen Sie mit diesem Buch. Ein sympathischer Krimi, der immer wieder überrascht, einen eigenen Sound hat, eine eigene Art des Erzählens und einen klugen und komischen Blick auf die Welt. Ausgezeichnet mit dem Marlowe. Ein Hochgenuss! Von wegen Urlaub. Kommissarin Bettina Boll wird von ihrem Vorgesetzten per Erpressung zum Dienst abgerufen und in die Wildnis geschickt: Aus einem Nest namens Kreimheim wurde der Fund einer Kinderleiche gemeldet. Als Verstärkung für ihren ersten eigenen Fall gibt man ihr den »kleinen« Willenbacher mit, einen farblosen Chauvi. Und dann informiert man sie in letzter Sekunde, dass die aufgetauchte Neugeborenenleiche bereits vor etwa 25 Jahren vergraben wurde. Viel Glück beim Ermitteln, Frau Boll! Doch plötzlich spitzt sich die Lage zu: Ein Mädchen verschwindet, und zwei nagelneue Morde überschatten das Verbrechen der Vergangenheit. Gibt es einen Zusammenhang zwischen dem gewaltsamen Tod der versoffenen Dorfputzfrau und dem Fund der Babyleiche? »Wie könnt ihr schlafen« führt uns mit viel Witz, Esprit und Menschenkenntnis mitten ins kleinbürgerliche deutsche Landleben. »Monika Geier verfügt über die Bösartigkeit aller guten Krimiautorinnen, über Witz und die Raffinesse für wirklich subtile Plots.« Tobias Gohlis, DIE ZEIT

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Über das Buch

Von wegen Urlaub. Kommissarin Bettina Boll wird von ihrem Vorgesetzten per Erpressung zum Dienst abgerufen und in die Wildnis geschickt: Aus einem Nest namens Kreimheim wurde der Fund einer Kinderleiche gemeldet. Als Verstärkung für ihren ersten eigenen Fall gibt man ihr den »kleinen« Willenbacher mit, einen farblosen Chauvi. Und dann informiert man sie in letzter Sekunde, dass die aufgetauchte Neugeborenenleiche vor etwa 25 Jahren vergraben wurde. Viel Glück beim Ermitteln, Frau Boll!

Doch plötzlich spitzt sich die Lage zu: Ein Mädchen verschwindet, und zwei nagelneue Morde überschatten das Verbrechen der Vergangenheit. Gibt es einen Zusammenhang zwischen dem gewaltsamen Tod der versoffenen Dorfputzfrau und dem Fund der Babyleiche?

»Wie könnt ihr schlafen« führt uns mit viel Witz, Esprit und Menschenkenntnis mitten ins kleinbürgerliche deutsche Landleben.

Wenn Sie Geier noch nicht kennen, beginnen Sie mit diesem Buch. Ein sympathischer Krimi, der immer wieder überrascht, einen eigenen Sound hat, eine eigene Art des Erzählens und einen klugen und komischen Blick auf die Welt. Ausgezeichnet mit dem Marlowe. Ein Hochgenuss!

»Monika Geier verfügt über die Bösartigkeit aller guten Krimiautorinnen, über Witz und die Raffinesse für wirklich subtile Plots.« Tobias Gohlis, DIE ZEIT

Über die Autorin

Monika Geier

Wie könnt ihr schlafen

Bettina Bolls erster Fall

Impressum

eBook-Ausgabe: © CulturBooks Verlag 2015

Gärtnerstr. 122, 20253 Hamburg

Tel. +4940 31108081, [email protected]

www.culturbooks.de

Alle Rechte vorbehalten

Printausgabe: © Argument Verlag 1999

Lektorat: Ulrike Wand

Umschlaggestaltung: Magdalena Gadaj

eBook-Herstellung: CulturBooks

Erscheinungsdatum: 01.03.2015

ISBN 978-3-944818-74-0

Vorwort

Das erste Manuskript von Monika Geier erreichte die Ariadne Redaktion im Winter 1997/98. Erstgutachterin Hiltrud Bontrup, damals bei uns in Ausbildung, war elektrisiert und machte mir freundlichen Druck, es unbedingt zu prüfen. Ach, herrje. Kaum lesbar, befand ich: komplett in kursiver Schrift gehalten, zudem ein altersschwacher Nadeldrucker auf Umweltpapier, und dann noch ohne Seitenzahlen!

Aber als echtes Talent schaffte es die Verfasserin, über formale Mängel und meine genervten Vorbehalte hinweg mich nicht nur in ihre Geschichte hineinzuziehen, sondern sich sogar direkt in zwei meiner Lieblingskategorien zu katapultieren. Krimis, die es schaffen, mich zu überraschen. Und Krimis, die einen Sound haben, eine eigene Art des Erzählens, einen eigenen klugen Blick auf die Welt. Und was für eine Welt! Denn Wie könnt ihr schlafen führt uns mit viel Witz, Esprit und Menschenkenntnis mitten ins kleinbürgerliche deutsche Landleben: Im dunklen Grün des Pfälzerwalds herrschen noch Anstand und Ordnung. Die Haustüren bleiben unverschlossen – man kennt sich. Solch ein Ort ist Kreimheim. Und will es auch bleiben – selbst der feinsinnige Bürgermeister Max Marquardt mag daran nichts ändern. Doch plötzlich tauchen auf dem maroden, aber immer noch herrschaftlichen Anwesen der Familie Marquardt Überreste einer Neugeborenenleiche auf! Da wird die junge Mainzer Kripokommissarin Bettina Boll von ihrem Chef aus dem Urlaub geholt und in die Hinterpfalz geschickt. Wobei im Grunde keiner glaubt, dass sie da etwas ausrichten kann, denn besagte Kinderleiche liegt seit 25 Jahren unter der Erde. Kommissarin Boll wühlt dennoch tapfer in uralten Dorfgeschichten, und dann spitzt sich die Lage zu: ein Mädchen verschwindet, und zwei nagelneue Morde überschatten das Verbrechen der Vergangenheit. Gibt es einen Zusammenhang zwischen dem gewaltsamen Tod der versoffenen Dorfputzfrau und dem Fund der Babyleiche?

Bettina Boll, die instinktsichere Kommissarin, der kaum ein Fettnapf erspart bleibt – wie ist sie mir schon in diesem ersten Buch ans Herz gewachsen! Fünfzehn Jahre ist das jetzt her, in denen vier weitere wunderbare Boll-Krimis entstanden. Und Monika Geier, damals noch Architekturstudentin, gilt heute als eine der besten Krimiautorinnen des Landes. Mit Recht.

Else Laudan

Für Martin

Geschwind! Geschwind! Rette dein armes Kind! Fort! Immer den Weg Am Bach hinauf, Über den Steg, In den Wald hinein, Links, wo die Planke steht, Im Teich. Faß es nur gleich!

-1-

Für ihn war sie immer eine Helena gewesen, wie sie dastand, ihren Apfel weit und fast anklagend von sich gestreckt, nicht wirklich schön – eben der Phantasie eines Provinzbildhauers entsprungen – und nicht wirklich schuld an ihrer Untreue.

Eigentlich seltsam, denn natürlich war Helena nie mit dem Apfel in Berührung gekommen, der ihr Schicksal besiegelte. In Wahrheit war es eine Marmorfigur der Persephone, die sich da im Holunder verbarg, und die Frucht, die sie so vorwurfsvoll ansah, verdiente die steingewordene Kritik vollkommen: Auch die Gattin des Hades verdankte ihr Unglück einem Apfel, der außerdem ein Granatapfel war, wohlgemerkt. Diese Feinheit hatte der Göttin weltlicher Schöpfer großzügig ignoriert, dafür aber vorsichtshalber ihren Namen in prunkvollen Lettern in den Marmorsockel gemeißelt.

Der Künstler war ein Einheimischer gewesen, ohne Zweifel.

Max Marquardt trat ein paar Schritte auf den wuchernden Holunder zu, der längst Sockel und Unterleib der Persephone in seine ausladenden Arme geschlossen hatte. Wie symptomatisch für ihn, dachte Marquardt, dass seine Helena eigentlich die Göttin der Unterwelt war, und wie bezeichnend für diesen verwilderten Park, dass er ihr auch noch willig als Heimstatt diente.

Er sollte sie abreißen. Oder sie Klaras Spott überlassen; Klara gestatten, eine Installation daraus zu bauen, aus all den marmornen Griechen, die irgendwo im Park hinter einer Hecke lauerten. Etwas Neues beginnen, damit diese kalte blaue Viertelstunde kurz nach Morgengrauen nicht länger die Zeit war, in der er sich am lebendigsten fühlte, damit er wieder schlafen konnte und keine Zwiesprache mehr halten musste mit verwitterten Sagengestalten, die diesseits der Alpen nie eine Rolle gespielt hatten.

Marquardt versetzte dem Holunder stellvertretend einen Hieb und riss sich vom Anblick der derben Göttin los. Vor ihm lag die Wiese, die einstmals ein Rasen gewesen war, und darauf ein niedriger Dunstschleier, aus dem hier und da die weißen Dolden des Wiesenkümmels hervorspitzten. Vereinzelt bereiteten sich verwilderte Akeleien auf die baldige Blüte vor. Schon gab es unter den Büschen und an den waldigen Rändern des Parks ein paar Maiglöckchen; ihre weiße Farbe verschwamm mit dem Morgennebel zu einem schaumigen Flaum unter den noch nicht ganz belaubten Bäumen.

Er stapfte in die Wiese hinaus. Um seine Füße herum verflüchtigte sich der Nebel; wo er ging, klarte es auf; ein Effekt, den er liebte. Als ob das Leben wirklich einfach wäre; als ob man nur darauf zugehen müsste. Als ob man dann nicht feststellen müsste, inmitten der Wiese, dass der Nebel heimlich um einen herumgekrochen war. Wenn man immer nur vorwärts schaute, würde man nie merken, dass Trübnis einen beim Gehen hinterrücks einschloss.

Er drehte sich kurz um, wie um einen unsichtbaren Verfolger mit der Kraft seines Blickes festzunageln, doch alles, was er sah, war das Große Haus, sein Heim, sein Geburtshaus, dessen Rückseite nun finster auf ihn herabschaute. Obwohl nach Süden gerichtet, war dies die unfreundliche Seite des Gebäudes, weil hier mehr Fensterläden geschlossen blieben als vorne. Martins Räume lagen hier.

Marquardt wandte sich erneut um. Dieses Spiel konnte er ewig mit dem alten Bau spielen, denn obwohl die Rückseite von so profanen Anbauten wie der Remise, ein paar Schuppen und einer düsteren Veranda gegliedert war, hatte der ganze Komplex doch etwas eigentümlich Geschlossenes, eine Art Persönlichkeit, die an manchen Stellen durch das noch relativ kahle Gerüst des wilden Weines hindurchschimmerte. Irgendwie hatte er immer erwartet, dass das Große Haus sich einmal regte und zu ihm spräche.

Doch daraus würde heute nichts mehr werden. Denn da war schon der helle Ton, den er mehr ahnte, als dass er ihn hörte: ein Pfeifen, das aus dem Haus kam, ein Zeichen, dass Rebecca auf dem Weg nach unten war. Sie pfiff immer dieselbe Melodie, jeden Morgen, seit sie da war, einen ganzen Monat schon. Die klaren Töne durchdrangen die dicken Mauern und überwanden die Distanz zur Wiese; man hörte Rebecca, lange bevor man sie sah.

Nun wurde das Pfeifen deutlicher, ein Thema aus einem Western, an den er selbst sich kaum erinnerte; unglaublich, dass Rebecca so etwas überhaupt kannte. Überraschend war auch die Leichtigkeit, mit der das Mädchen (die junge Frau?) die richtigen Töne traf. Nicht dass die Melodie besonders anspruchsvoll gewesen wäre – vielleicht überraschte es ihn bloß, weil er pfeifende Mädchen nicht gewohnt war. In Kreimheim taten die Frauen so etwas nicht. Hier auf dem Land galt Pfeifen immer noch als höchst unweiblich.

High Noon?

Er grübelte, woher er das Stück kannte. Das tat er schon seit einem Monat, allerdings nur dann, wenn er Rebecca hörte. Anschließend vergaß er die Frage sofort wieder. Früher war es ihm nicht so schwer gefallen, sich zu konzentrieren.

Won’t you forsake me, oh my darlin’–

Anfangs hatte er an Rio Bravo gedacht; nun tendierte er doch mehr zu High Noon, vielleicht weil Rebecca eine gewisse Ähnlichkeit mit Grace Kelly besaß. Sie war auch blond.

Gleich musste sie aus der Hintertür kommen; die Töne schienen nun fast greifbar, was nichts an ihrer Süße änderte. Es war wohl die leise Wehmut der Melodie, die ihn am meisten erstaunte. Rebecca machte sonst einen eher handfesten, pragmatischen Eindruck.

Da kam sie schon, schob ihr Fahrrad lässig mit der Linken, hielt den Einkaufskorb in der Rechten und winkte ihm damit zu. Dass sie es nicht merkwürdig fand, was er hier machte, ein Mann von Mitte vierzig, frühmorgens inmitten einer Wiese. Doch das war das Schöne an Rebecca: Sie grüßte und radelte dann munter davon.

* * *

»Mädchen, die pfeifen, und Hühnern, die krähn«, sang Marko Marquardt etwa zwei Stunden später und näherte sich Rebeccas gebeugtem Rücken, »soll man beizeiten –«

Die blonde Studentin stellte das Pfeifen ein, hieb ihren Spaten in die Erde und drehte sich um. »Ja?«

»... den Hals umdrehn«, sang Marko und grinste wie ein kleiner Junge.

»Probier’s doch mal.« Rebecca verschränkte die Arme. Sie stand in unmittelbarer Nähe des Großen Hauses unter einem Holunderbusch und war gerade dabei, ein paar Maiglöckchen auszugraben. »Ich kann wenigstens pfeifen«, fügte sie hinzu und spielte damit auf Markos atonalen Gesang an.

»Hör mal, meine Mutter war eine Welt–«

»Weltklassepianistin, ich weiß.« Rebecca zog die Augenbrauen so hoch, dass sie fast an Markos Größe von einem Meter dreiundneunzig heranreichten. »Natürlich bist du wahnsinnig musikalisch, denn deine Mutter hat schon im zarten Alter von drei an der Scala gesungen ...«

»Sehr komisch.« Marko runzelte beleidigt die Stirn. Er konnte zwar austeilen, aber mit dem Einstecken klappte es nicht so ganz. Dann hielt er Rebecca anklagend ein dick beschmiertes Brötchen vor die Nase. »Wir haben keine Nutella mehr. Das hier war die letzte.«

»Ich hole nachher welche«, sagte Rebecca unerwartet friedlich, denn tatsächlich war sie als provisorische Haushälterin auch für die Nutellavorräte im Großen Haus zuständig. Max Marquardt und sein Neffe Marko, die beiden Bewohner, zahlten ihr einen fürstlichen Lohn dafür, dass sie einen »kompletten Frühjahrsputz« machte; eine Aufgabe, die in den kurzen Semesterferien kaum erledigt werden konnte. Daher hoffte Marko auch, dass Rebecca länger blieb. Oder in den nächsten Ferien wiederkam ...

»Hoffentlich verhungerst du nicht bis dahin.«

»Ich werde von Luft und Liebe leben«, sagte Marko obenhin und biss in sein Brötchen.

Rebecca betrachtete ihren jungen Arbeitgeber zweifelnd und nahm wieder ihren Spaten zur Hand. »Es macht euch doch nichts aus, wenn ich hier ein paar Maiglöckchen ausgrabe?«, fragte sie dann. »So für die Küche, dachte ich.«

Marko lächelte kauend und breitete die Arme aus. »Du kannst sie alle haben«, nuschelte er liebenswürdig. Dann schluckte er. »Moment. Du hältst den Spaten nicht richtig.«

Das war so klassisch, dass Rebecca darüber staunte, wie jemand ihres Alters so etwas überhaupt noch über die Lippen brachte. Aber sie waren hier eben auf dem Land. Im tiefsten Pfälzerwald. Hier gab es auch noch Hühner auf der Straße und Stallhasen und –

»Komm, ich zeig dir, wie man das macht.«

Sie schüttelte Markos Hand von ihrem runden Arm. »Ich halte ihn nicht falsch, sondern anders – anders als du!«

»Wie du willst.« Marko zuckte die Achseln und warf Rebecca einen nachdenklichen Blick zu. Ganz normal war sie nicht. Sehr hübsch, aber furchtbar kratzbürstig. Ob sie womöglich eine Lesbe ...? Jetzt hieb sie wieder den Spaten in die Erde, völlig ineffektiv natürlich, statt dass sie ihn einfach langsam und kraftvoll aus einem Winkel von etwa sechzig Grad –

»Wieso bist du überhaupt noch hier? Du wirst wieder zu spät zur Arbeit kommen.«

»Ach«, machte Marko wegwerfend, »die Leute sind doch froh, wenn sie mich nicht ständig im Nacken haben.« Die Arbeit im Sägewerk interessierte Marko nicht besonders – in Wahrheit hatte er vor, eine Band zu gründen, aber das würde er Rebecca erst auf die Nase binden, wenn er sich völlig sicher sein konnte, dass sie nicht doch vom anderen Ufer war. Und bis dahin war es ganz süß, morgens zu verschlafen, um von ihr geweckt zu werden. »Eigenverantwortung. Fördert die Arbeitsmoral.«

»Ja, die Arbeitsmoral ...«, sinnierte Rebecca. Die Erde war sehr fest an dieser Stelle. Sie musste sich anstrengen, um den Spaten tief genug hineinzubekommen.

»Hör zu«, sagte Marko, trat einen Schritt näher und beugte sich hinunter. »Die Jungs und ich machen am Wochenende eine Rallye. Ich hab dich als meine Beifahrerin angemeldet.«

Das war so ungefähr die größte Ehre, die man einem Mädchen jemals erwiesen hatte, doch Rebecca wusste es nicht zu würdigen. »Vergiss es. Ich hab noch so viel vor im Leben.«

Eine Chance noch. »Komm schon. Das macht Spaß! Wir –«

Markos Spaniel beendete das unbefriedigende Gespräch kurzfristig. Mit freudigem Gebell stürzte er aus der geöffneten Hintertür des Großen Hauses auf Marko zu.

»Stinkes!«, brüllte dieser, die Rallye vergessend. Und während sich Mann und Hund begeistert begrüßten, machte Rebecca trotz fehlerhafter Handhabung des Spatens einige Fortschritte mit ihren Maiglöckchen. Sie hatte eine große Scholle tief angestochen, um das Wurzelwerk nicht zu beschädigen, und hebelte jetzt vorsichtig alles hoch. In der entstandenen Grube, die, wie Rebecca feststellte, unnötig tief geraten war, lag, noch halb eingegraben, ein seltsames Objekt. Eine Art hell schimmernder großer Kiesel. Glatt und rund, wie die Steine, die ihre Mutter im Terrarium sammelte. Mit dem Spaten versuchte Rebecca, ihn aus der Erde zu lösen. Etwas krachte.

Das trockene Geräusch erschreckte sie. Verwundert über ihre nervöse Reaktion blickte sie auf. Über ihr und dem Holunder streckte eine bemooste Marmorgöttin ihre Hand aus. Rebecca fröstelte unwillkürlich und sah sich nach Marko und Stinkes um. Was war nur mit ihr los? Sicher nervöse Nachwehen der blöden Lernerei für ihre Vordiplomsklausuren. Da kam Stinkes. Mit einem Stock im Maul schoss er auf sie zu und vertrieb die plötzliche Beklemmung. Hechelnd erreichte er sie, ließ das moderige Stück Holz fallen, leckte ihr kurz über die Hand und stürzte sich in die Grube. »Aus, Stinkes!« Rebecca schüttelte sich. »Marko, irgendwas Komisches liegt in diesem Loch. Ich hätte es fast ausgegraben.«

»Was ist es?«, fragte Marko, atemlos neugierig wie sein Hund. Stinkes buddelte eifrig in der Vertiefung. »Ein Kaninchen?«

»Weiß ich nicht. Glaubst du, dass es gut ist, ihn das rausholen zu lassen?«

»Hast recht. Aus, Stinkes. Aus! Gib das her!«

Man musste ihn nicht lange bitten. Stolz präsentierte der Spaniel seine Beute, ließ sie aus seinem tropfenden Maul in Markos große Hand fallen. Dann legte er sich ins Gras und klopfte mit dem Schwanz auf die Erde.

»Und, was ist es?«, wollte Rebecca abgestoßen und fasziniert zugleich wissen.

Marko starrte das Fundstück an, rieb ein wenig Erde ab, starrte weiter. »Kein Kaninchen, jedenfalls.«

* * *

Es war ein langer Weg rund ums Große Haus. Erstens befand es sich sowieso bloß nominell innerhalb von Kreimheim, und zweitens lag es vom Einfamilienhäuschen der Vandermeers aus gesehen vor dem anderen Ortseingang.

Marlies Vandermeer musste also nicht nur hinterm Friedhof vorbei, sondern auch noch Ewigkeiten auf dem schlammigen Waldpfad joggen, der parallel zur Hauptstraße verlief. Dann kamen erst ein paar Felder und ein kleines Wäldchen, bevor man endlich das marquardtsche Anwesen erreicht hatte. Aber damit nicht genug, war das Große Haus auch noch von einer ausgedehnten, wenn auch verwilderten Parkanlage umgeben.

Nicht dass Marlies Vandermeer nicht die Abkürzung gekannt oder Skrupel gehabt hätte, auf den Privatbesitz der Marquardts einzudringen. Es ging ganz einfach darum, ihr Training zu verlängern, damit sie eine Menge überflüssigen Speck verbrannte. Zu diesem Zweck war der »lange Weg« das Allermindeste. Gestern hatte sie ihn in einer Rekordzeit von eineinviertel Stunden geschafft. Stolz war Marlies Vandermeer allerdings kein bisschen, schienen sich die Dellen an ihren Oberschenkeln doch eher vertieft zu haben. Und überhaupt hatte sie noch zwei Pfund zugenommen. Unmäßig, das war sie. Sie aß zu viel ...

Unmäßig waren übrigens auch die Wacholderbüsche, die den Park ums Große Haus säumten. Dunkel, struppig und ungepflegt. Max, der jetzige Bürgermeister, ließ einfach alles verkommen. Zu Martins Zeiten, ja, da war alles prächtig gewesen, da hatte es Gärtner gegeben, und Partys ...

Heute war die Glanzzeit des Großen Hauses jedenfalls vorbei. Dort passierte überhaupt nichts mehr.

– Moment! Vandermeer stutzte. Da war eine Veränderung. Sie sah etwas. Weiß und grün, glänzend: Polizeiautos! Und gleich mehrere! Vermutlich hatte Marko, der Bengel, es in seinem Leichtsinn jetzt endgültig zu weit getrieben. Ein Autounfall?

Aber was taten diese ganzen Leute bei Marquardts verfallenem Gartenhäuschen?

Unschlüssig joggte Marlies Vandermeer auf der Stelle. Nach nicht allzu langem Zögern opferte sie dann ihr persönliches Fitnessprogramm und zwängte sich durch das hohe und nicht gerade einladende Gebüsch.

Sicher, das Training war wichtig, doch wenn das Schicksal der Marquardts, der ältesten und wichtigsten Familie des Dorfes, ihre Anteilnahme verlangte, musste sie zur Stelle sein. Das war sie ihrem Status als alteingesessene Kreimheimerin schuldig. Und natürlich der Familie Marquardt, mit der sie immerhin etwas Besonderes verband ...

* * *

»Oh Gott, Schätzchen, gib das her! So was darfst du nie, nie wieder in den Mund nehmen, das ist doch giftig! Pfui! Verstehst du? Giftig!«

Der kleine Adrienno patschte mit seinen Händchen fröhlich auf das Parkett und fuhrwerkte in den Zigaretten herum, die er auf den Boden geleert hatte. Die Weihnachtsbeleuchtung einer ganzen Stadt hätte sich nicht mit seiner strahlenden Freude messen können. »Ui, ui!«, schrie er und stopfte eine der Marlboros in sein feuchtes Mündchen.

Bettina entriss sie ihm schnell. Sie fühlte sich schuldig. Zigaretten in Reichweite eines Kleinkindes liegen lassen! Drei Tage »Mami«, und schon wurde sie nachlässig. Vorsichtig untersuchte sie die Zunge des Kindes. Nichts.

»Komm, Adrienno, du gehst jetzt wieder ins Ställchen.« Sie schob die Zigaretten fort und hob das juchzende Kind hoch.

»Dällse, dällse«, krähte Adrienno fröhlich.

Der auffällige Name war das einzige Erbe, das Adrienno von seinem Vater mitbekommen hatte. Bettina vermutete ihn in dem finsteren Italiener, der unter anderem die Wohnungstür ihrer Schwester auf dem Gewissen hatte. Barbara hatte Mr. Mafia so völlig aus ihrem Gedächnis streichen wollen, dass sie ihn nicht einmal beim Jugendamt angegeben hatte, weswegen sie keinen richtigen Unterhalt für das Kind bekam.

Adrienno liebte Tante Bettina, nicht aber sein Ställchen. Friedlich ließ er sich bis zu den gefürchteten Gittern tragen, doch kaum saß er dahinter, verzog er verzweifelt sein kleines Gesicht. Bettina wusste, was kommen würde. Ihr süßer Neffe konnte laut sein. Sehr laut. Schon geschah das Unvermeidliche.

»Pst, Adrienno«, sagte Bettina matt. »Du weckst doch Sammy auf! Schau mal, was der Teddy macht! Was macht der Teddy, Adrienno?«

Der Teddy konnte Adriennos Gefühl der Unfreiheit nicht beseitigen, und es war dem Jungen auch kein Trost, so liebenswerte Mitgefangene wie Bunny, den Hasen, oder Donny, die Ente, zu haben. Er schrie wie am Spieß.

Das Babyfon knackte. Samantha-Sue, Adriennos einjährige Halbschwester, hatte das Elend ihres Bruders natürlich vernommen, denn für Adrienno stellte eine normale Zimmerwand kein ernst zu nehmendes akustisches Hindernis dar. Ihr weinerliches Glucksen verriet Bereitschaft, ihren Bruder, wenn nötig, mit den eigenen Stimmbändern zu unterstützen.

»Du bleibst jetzt mal da drin, Adrienno«, entschied Bettina und verließ ihn, um die Zigaretten zu untersuchen. Alle unbeschädigt. Wenigstens das. »Lass es dir eine Lehre sein«, sagte sie gegen die Wand aus wütendem Geschrei. »Wer sich mit Drogen einlässt, kommt in den Bau. So ist das Leben, Schatz.«

Schluckend wimmerte Adrienno, ein Bild des Jammers. Die kleine Atempause ihres Neffen machte Bettina keine Hoffnung auf Ruhe; sie erhöhte eher die Anspannung. In einem Film würde jetzt das Haus explodieren. Oder die Türklingel schrillen. Oder das Telefon –

Es klingelte. Bettina fuhr zusammen.

»Entschuldige«, sagte sie zu dem angstvoll blickenden Adrienno und griff sich mit Daumen und Zeigefinger zwischen die Brauen. Ihr kleiner Neffe saß nun unbewegt. Einerseits war es erschreckend, wenn seine Tante Unsicherheit zeigte, andererseits war da aber auch das Telefon, ein von ihm neu entdecktes Faszinosum – ein Apparat, aus dem wohlbekannte und geliebte Stimmen sprachen. Vielleicht würde er wieder den Hörer bekommen und mit Mamas Stimme sprechen dürfen.

Doch Mama lag im Krankenhaus und wurde operiert.

John. Dieser Anrufer musste John sein.

Der liebe John war Samantha-Sues wahrscheinlichster Vater, in guten Zeiten sturzbesoffen, in schlechten nüchtern und gewalttätig. An manchen Tagen, so wie heute, pflegte er um das Haus zu schleichen und in halbstündigen Abständen anzurufen, um so nette Nachrichten wie »Ick krreege deeck, fucking bitch ... Ready had your sister!« auf den Anrufbeantworter zu röcheln.

Er wollte nämlich das Sorgerecht für seine Tochter haben.

Sammy schien geahnt zu haben, wer es war. In das Klingeln des Telefons mischte sich ein lang gezogenes, sattes Schreien, welches hohl durch das Babyfon übertragen wurde.

Ja, Kind, das ist dein Vater.

Bettina wusste, dass sie einen Fehler machte, wenn sie dranging, aber sie musste jetzt einfach jemanden anschreien, und da kam ihr John gerade recht. Gewalt erzeugt Gegengewalt. Andererseits, wenn er hörte, dass die Kinder da waren ...

Sie pflanzte sich neben dem Telefon auf und stellte ihm ein Ultimatum. Wenn es jetzt aufhörte ... nein. So unverschämt klingelte überhaupt nur John. Sie riss den Hörer von der Gabel und schrie los. Wenn man diesen Mistkerl beschimpfen wollte, musste man schneller sein als er.

Erst als sie wieder Luft holte und vage daran dachte, das Ganze noch einmal auf Englisch zu wiederholen (was nicht einfach gewesen wäre), bemerkte sie die unnatürliche Stille am anderen Ende der Leitung.

»Ich glaube, Sie sollten sich einen anderen Freund zulegen, Böllchen«, sagte Kriminalhauptkommissar Härting.

Oh Gott.

Nach einem Umzug in die Küche, dem leisesten Raum der Wohnung, erfuhr Bettina Boll, Kommissarin beim Morddezernat Ludwigshafen, den Grund des Anrufes.

»Wir brauchen Sie, Böllchen.«

»Aber ich habe Urlaub«, protestierte sie. »Ich kann wirklich nicht. Ich hab die Kinder, Chef. Das hatten wir doch abgeklärt.«

Härting wischte diesen Einwand einfach beiseite. »Ich hab eben mit Neustadt telefoniert«, erklärte er, und man hörte ihn in Unterlagen blättern, »die haben da ein kleines Problem ... ein Kind, Böllchen.«

»Dann steht es zwei zu eins«, entgegnete Bettina. »Ich kann hier nicht weg, Herr Hauptkommissar. Stellen Sie sich einfach vor, ich wär auf den Malediven, und vergessen Sie mich für die nächsten vierzehn Tage.«

»Jetzt hören Sie mir mal zu, Böllchen, das ist ein Fall für Sie ganz allein. Das wünschen Sie sich doch, einen eigenen Fall, oder? Und ich geb Ihnen den kleinen Willenbacher mit, unseren besten Mann.« Im Hintergrund wurde lachend protestiert, vermutlich saß Willenbacher in Härtings Büro. Da, wo er sich am liebsten aufhielt.

»So verlockend sich das alles anhört, Chef, ich kann nicht. Meine Schwester liegt im Krankenhaus, und ich sitze hier mit zwei kleinen Kindern ...«

»Können Sie die nicht bei der Oma lassen? Passen Sie auf. In Neustadt ist die Hölle los seit den Spielhallenmorden, und Sie wissen genau, wie viel die schon für uns getan haben. Wir sind es ihnen schuldig, Böllchen.«

Für sie hatte kein Neustadter jemals etwas getan.

»Es geht nicht.« Bettina fühlte sich müde. »Es geht ganz einfach nicht, Herr Hauptkommissar. Ich kann die Kleinen nirgendwohin geben.«

»Haben Sie denn keine Familie, Böllchen? – Lassen Sie es mich so sagen: Sie müssen sich dieses Falles annehmen. Das ist Ihre Chance! – Andernfalls ...« Er ließ einen kleinen resignierten Seufzer hören, der ihr klarmachen sollte, wie leid ihm jetzt schon all das tat, was mit ihr geschehen würde, wenn sie nicht mit Neustadt kooperierte. »Wissen Sie, neulich hat sich Ohlschläger nach Ihnen erkundigt, Böllchen. Er hätte Sie wirklich gern wieder in seinem Team. Beim Diebstahl seid ihr Frauen so was von unterrepräsentiert ...«

»Das hat die Natur sicher auch so vorgesehen«, murmelte Bettina halblaut.

»Was?! – Und, Böllchen, in Kreimheim gibt es bestimmt einen Kindergarten. Wieso nehmen Sie die Kleinen nicht einfach mit?«

Ich will eine Frau als Chef, dachte Bettina. »Würden Sie zwei Kleinkinder zu einem Mordfall mitnehmen, Hauptkommissar?!«

»Ich bin verheiratet, Böllchen«, erklärte Härting hoheitsvoll.

* * *

Es hatte dreißig Minuten am Telefon gebraucht, bis Tante Elfriede ausreichend erklärt hatte, was sie von unehelichen Kindern hielt, die noch dazu von Ausländern abstammten, und weitere dreißig, um sie davon zu überzeugen, diese Kinder dennoch für vierzehn Tage aufzunehmen.

Als Bettina dann mit Buggy und Tragetasche in der riesigen Eingangstür des alten, stets ungeheizten Hauses stand, gab es weitere Widerstände zu überwinden: »Du hast mir nicht gesagt, dass es schwarz ist!«

»Das ist nicht ansteckend, Tante Elfriede. Schau nur, wie süß sie schläft. Sammy ist wirklich ein braves Kind.«

Auch Adrienno schlief, wofür Bettina besonders dankbar war.

Im Inneren des Hauses war es kühl und muffig. Abgetretene Teppiche schmückten die zugige Eingangshalle, und die sorgfältig blank gebohnerte Treppe besaß einen eisigen Glanz. Tante Elfriede ging voraus zu dem Zimmer, in dem die beiden untergebracht werden sollten, wobei sie über die Schulter fallen ließ, dass zwei Kinder schon eine finanzielle Belastung seien. Bettina schlug eine Vergütung vor, die bis zu Sammys Einschulung gereicht hätte, worauf Tante Elfriede zustimmend die Tür zum Kinderzimmer öffnete.

»Da hat schon ihre Mutter gehaust. Was macht sie eigentlich im Krankenhaus? Wieder eine Entbindung?!«

Bettinas jüngere Schwester hatte hier die letzten Jahre vor ihrer Volljährigkeit verbringen müssen, weil ihre Eltern früh gestorben waren. Sie war auf den Tag genau an ihrem Achtzehnten ausgezogen und hatte sich geschworen, nie wieder einen Fuß in dieses Haus zu setzten.

»Sie hat einen Tumor.«

Tante Elfriede war erschüttert, konnte sich aber genau vorstellen, wie es so weit gekommen war. »Immer diese Raucherei und Hormone schlucken ...«

Bettina war kurz davor, alles wieder einzupacken und zu gehen. Nichts hatte sich verändert. Oder doch: Tante Elfriede wirkte gebeugter, das »Kinderzimmer« enger als früher und schrecklich kahl, da alle persönlichen Gegenstände rigide daraus entfernt worden waren. Ein durchgelegenes Eisenbett mit gefährlich aussehenden Federn harrte völlig nackt in einer Ecke; Schrank, Tisch und Stuhl waren schon zu Zeiten ihrer Schwester alt und schäbig gewesen.

Schön. Ein letzter Test. Sie schob den Buggy zum Bett und weckte Adrienno.

»Schau mal, Schätzchen, wo wir sind ... Schau doch mal ...«

Sollte es Adrienno hier auch nicht gefallen, würde sie eben wieder gehen, und Härting und die gesamte Mordkommission konnten sie mal hintenrum heben.

Adrienno gluckste.

»Komm mal her, jetzt sagen wir der Tante Elfriede guten Tag!« Sie nahm den Jungen hoch, redete ein wenig mit ihm und drückte ihn dann der Tante einfach in den Arm.

»He! Das ist ja ein ganz schöner Brocken!« Tante Elfriede klang schon nicht mehr so säuerlich. Schließlich war sie grundsätzlich kinderlieb, wie sie immer wieder betonte. Und der sonst leider launische Adrienno stellte sich als durchaus tantenlieb heraus. Er benahm sich so außergewöhnlich entgegenkommend, als hätte ihm gerade ein Zwiebackkonzern einen Millionenvertrag angeboten. »Ide, Ide«, gluckste er, himmelte Tante Elfriede an und boxte ihr mit einer kleinen Faust auf den Arm.

Der hatte das Zeug zum Heiratsschwindler. Bettina gab es nicht gern zu, aber sie war sehr erleichtert. Sie reichte ihrer Tante eine Karte. »Aber nur für alle Fälle, dann rufst du diese Nummer an.«

Tante Elfriede nahm die Karte, studierte sie genau und seufzte. Ihr Gesicht kündigte die altbekannte halbstündige Abhandlung über die Gefahren eines noch dazu nicht standesgemäßen Berufs an. Hastig verabschiedete sich Bettina.

Draußen atmete sie tief durch. Na, immerhin – die Sache mit der Vergütung hatte Tante Elfriede vorerst vergessen.

Aber ihre Schwester würde sie trotzdem umbringen.

* * *

In Härtings Büro wurde Bettina mit einem »Sehen Sie, es geht doch!« begrüßt, was sie nicht gerade fröhlicher stimmte.

»Was machen Sie denn für ein Gesicht, Böllchen?! Nehmen Sie’s nicht so schwer. Wir werden alle mal aus dem Urlaub geholt. Ich weiß noch, als wir mal auf Mallorca machen wollten, Flug und alles schon gebucht ...«

So alt, wie die Geschichte war, konnte es damals eigentlich noch keine Flugzeuge gegeben haben.

»Also, man hat in Kreimheim ein totes Kind gefunden«, warf Bettina in Härtings nächste Atempause, bevor er wieder den Wachtmeister, der regelmäßig in seiner Freizeit hergekommen war, ausgraben konnte. »Wo liegt Kreimheim überhaupt?«

Härting schwenkte in seinem Drehstuhl zurück, denn wie an dem Arbeitsplatz eines jeden erfolgreichen Feldherrn hing auch hier eine riesige Generalstabskarte. Nach kurzer Überlegung tippte er mit dem Zeigefinger auf einen Punkt, der mitten im tiefsten Grün des Pfälzerwaldes lag. »Da. Zwischen Kaiserslautern und Neustadt. Im Neustadter Tal. Eine der ersten Eisenbahnlinien Deutschlands führt da durch. Und, Böllchen, jetzt zeigen Sie mal Bildung: Von wem wurde die gebaut?«

Bettina hegte schon lange den Verdacht, dass ihre männlichen Kollegen keine Quizfragen beantworten mussten, wenn sie eine Besprechung mit Härting hatten. Sie schwieg.

»Von Denis, Böllchen! Sie müssen die Tunnels beachten, wenn Sie hinfahren! Die Eingänge sehen aus wie kleine Burgen.«

Sie sah auf die Uhr.

»Ja. Also, zur Sache. Der Fundort der Leiche ist Kreimheim, in einem Garten, einer Familie –«, Härting schlug eine Akte auf, »Marquardt. Vorgestern Morgen um halb neun wurde sie von der Haushaltshilfe, Rebecca Clapeyron, und Herrn Marko Marquardt bei Gartenarbeiten gefunden.« Er sah auf. »Ein Neugeborenes, Böllchen. War bei denen im Garten vergraben.« Er schüttelte den Kopf. »Über äußere Verletzungen kann man nichts sagen, die Knochen sind aber heil – wenigstens die, die sie gefunden haben.«

Stirnrunzelnd blickte Bettina ihren Chef an. »Wenigstens die, die sie ... Was soll das heißen?! Wie lange liegt die Leiche denn schon da?!«

Härting verschränkte die Hände vor seinem Bauch und blickte in die Luft. »Also, genau kann das Labor bis jetzt noch nichts sagen. – Sie wissen ja, wie überlastet die sind.« Vorsichtig schielte er zu Bettina hinüber. »Aber so zwanzig, fünfundzwanzig Jahre wird sie schon liegen.«

»Fünfundzwanzig Jahre?! Das können die Neustadter nicht allein?! Deswegen setze ich Himmel und Hölle in Bewegung, um einen Babysitter zu finden?! Sie wissen genauso gut wie ich, dass da jetzt nichts mehr rauszukriegen ist!«

Das nachsichtige Lächeln, das Härting ihr schenkte, hatte er normalerweise ganz speziell für hysterische »Kundinnen« reserviert. »Böllchen. Schauen Sie. Erstens sind es wahrscheinlich nur zwanzig Jahre, und zweitens können die Neustadter nicht. Sie wissen doch, was momentan dort los ist. Und für Sie ist das doch die Gelegenheit zu beweisen, dass Sie Ihre guten Noten auch wirklich verdient haben.«

»Das hab ich schon damals bewiesen, als ich die Prüfung gemacht hab!«

»Natürlich, Böllchen.« Wieder dieses nachsichtige Lächeln.

Bettina beugte sich vor und sah Härting in die Augen.

»Würden Sie mir einen Gefallen tun, Herr Hauptkommissar?«

»Klar, Böllchen.«

»Sagen Sie nie wieder ›Böllchen‹ zu mir.«

Er funkelte sie aus seinen wässrigen Augen an. »Also dann, Frau Boll«, er warf ihr die dünne Akte hinüber, »Herr Willenbacher wartet schon draußen.« Er rückte die anderen Papiere auf seinem Schreibtisch zurecht. »Viel Glück.«

* * *

»Links!«, sagte der kleine Willenbacher mit unerschütterlichem Gleichmut.

»Ich hoffe für Sie, dass Sie diesmal Recht haben!«, knurrte Bettina, während sie den Wagen in eine enge Straße lenkte, an der nichts darauf hindeutete, dass sie woandershin als in noch dichteren Wald führte.

»Hier kenn ich mich schon aus.«

»Beruhigend.« Bettina wünschte, sie könnte gleichzeitig fahren und Karte lesen, doch leider war es mittlerweile dunkel. Willenbacher war nicht gerade eine große Hilfe. Sie fuhren jetzt schon drei Stunden, obwohl sie höchstens zwei hätten brauchen dürfen. Höchstwahrscheinlich befanden sie sich gerade auf der berüchtigten »Todesstrecke«, die sich irgendwo in diesen dunklen Wäldern befand, und würden demnächst mit einem Motorrad kollidieren.

»Die Tour durch Bad Dürkheim war ja noch ganz hübsch, Willenbacher. Das hätte mir auch passieren können. Aber langsam möchte ich mal ankommen. Und überhaupt wüsste ich gerne, wo ich bin.«

Härtings Liebling sah sie abschätzig an. »Ich weiß, wo wir sind.«

»Schön für Sie.«

Er schlug umständlich die Karte auf. »Wir sind hier.« Willenbacher deutete auf eine Stelle der Karte, die mitten in einem dunkelgrünen Fleck lag. Dunkelgrün wie Wald. »Noch neun Kilometer auf der L 39, dann kommen wir auf die Straße, die nach Frankenfels führt.«

»Wo ist Frankenfels?!«

»Direkt vor Kreimheim natürlich.« Bettinas Mitarbeiter schüttelte den Kopf über so viel Unwissenheit. »Wir sind so gut wie da.«

Dieser Willenbacher war genauso unfähig wie eingebildet. Wieso Härting für ihn schwärmte, war Bettina unverständlich. Für Willenbacher jedoch war es kein Rätsel, warum Bettina Boll immer nur Aktenarbeiten zugeschoben wurden. Er wusste inzwischen, wie wahr das alles war, was die Kollegen in den Pinkelpausen erzählten – die Bolle war ein völlig orientierungsloses Wesen, das ohne ihn nicht mal zur nächsten Tankstelle finden würde, geschweige denn nach Kreimheim. Null Ahnung, die Frau. Schlimm, dass er mit ihr in die Provinz abgeschoben worden war, wo in Ludwigshafen die Frauen geradezu auf ihn warteten ...

Andererseits war die Bolle auch nicht schlecht gebaut. Willenbachers Blick wurde ziemlich dreist, was seine Vorgesetzte mit ihren scharfen Augen sofort bemerkte.

»Schauen Sie in die Karte, junger Mann!«

Junger Mann! Was die sich einbildete! Als wäre sie so viel älter als er!

Andererseits konnte die Sache auch ganz witzig werden. Die Bolle musste sich blamieren. Dass sie in dem Fall etwas ausrichten würde, war praktisch unmöglich. Wenn man nur bedachte, dass die wenigen Knochenreste kaum als menschlich identifizierbar waren. Außerdem konnten nach fünfundzwanzig Jahren sowieso keine verlässlichen Zeugenaussagen mehr aufgenommen werden, und ganz bestimmt würde kein Einwohner eines hinterpfälzischen Dorfes einen seiner Nachbarn verraten. Hier hielten die Leute zusammen wie Pech und Schwefel.

Angesichts dieser erfreulichen Aussicht lehnte sich Willenbacher in seinem Sitz zurück und ließ sich zufrieden von seiner Vorgesetzten ins schlafende Kreimheim chauffieren.

* * *

Doch natürlich tat Kreimheim alles andere als schlafen. Hinter den zugeklappten Fensterläden summte es lauter als an jenem historischen Dienstag vor vier Jahren, an dem herauskam, dass die ortsansässige Malerin ein Verhältnis mit dem katholischen Kaplan hatte, der noch dazu Schwarzafrikaner (!) war.

Die zentralen Trägerinnen der öffentlichen Meinung saßen mit ihren Tanten und Müttern zusammen oder riefen nacheinander alle ihre Freundinnen an, um die Herkunft des toten Babys zu klären. Sogar Maria Linné (geborene Marquardt), eine rechtschaffene Frau, die Klatsch verabscheute und sich vor vier Jahren geweigert hatte, zu dem Fall mit dem (schwarzen!) Kaplan auch nur ansatzweise eine Meinung zu äußern, hatte sich mit ihrem Mann, dem Dorfarzt, im Wohnzimmer in Klausur begeben. Beide Töchter, für einen solchen Skandal noch zu jugendlich unverdorben (14 und 19 Jahre), hatte man aufs Zimmer geschickt.

Der jüngeren Tochter Luzie war das ganz recht, denn sie hatte ihre eigenen Sorgen. Auch sie beschäftigte ein Baby. Aber kein totes. Vollständig bekleidet lag sie unter ihrer Bettdecke, hatte das Licht ausgeschaltet und zog sich die alte Janis-Joplin-Platte ihres Vaters rein.

Natürlich stand sie sonst nicht auf sentimentale Oldies, aber verfahrene Situationen erforderten außergewöhnliche musikalische Untermalung. Und seltsamerweise schien Janis zu wissen, wie Luzie sich fühlte, selbst wenn sie nie schwanger gewesen war. Sie hatte andere Probleme gehabt. Mit Drogen.

Luzie Linné beneidete Janis Joplin. In diesem Moment hätte sie nicht gezögert, ein halbes Pfund Ecstasy zu schlucken, wenn im Gegenzug jede Möglichkeit einer Schwangerschaft auszuschließen gewesen wäre.

Im Nebenzimmer klopfte Luzies große Schwester Liliane gegen die Wand.

Für Liliane war alle Musik von Bach abwärts inakzeptabel, und in Bezug auf Lautstärke war sie empfindlich, besonders wenn sie schlecht gelaunt war. Und momentan konnte sie nur mieser Stimmung sein, denn Liliane hasste es, wenn man sie von einer Erwachsenenkonferenz ausschloss. Nun versuchte sie sich vermutlich auf ihre »Seminararbeit« zu konzentrieren. So hießen Lilianes Hausaufgaben, seit sie mit ihrem großartigen Studium begonnen hatte. Seminararbeiten. Luzie drehte von drei auf vier.

Erneutes Klopfen. Gleich würde Liliane rüberkommen und nach Mama heulen. Trotzig zog Luzie ihre Decke über den Kopf. Die beiden konnten sie mal. Sie hatte ganz andere Probleme.

Der Test war positiv ausgefallen. Positiv, positiv, hämmerte es in ihrem Kopf.

Andererseits zeigten Schwangerschaftstests manchmal ungenaue Ergebnisse. Sie müsste einen Arzt aufsuchen ... Es konnte unmöglich stimmen. Sie war nicht schwanger. Es ging ganz einfach nicht.

Einen solchen Skandal würde Mama nicht dulden.

Der Fund der Kinderleiche hatte ihre Mutter schon genug aufgebracht. Sie war regelrecht wütend geworden. Dass sie so etwas beim Bäcker erfahren musste ... Onkel Max hatte mal wieder nicht angerufen, und sogar Luzie und Liliane, die »das alles überhaupt nichts anging«, wussten mehr als sie, Maria Linné, eine geborene Marquardt! Irgendjemand hatte sein Baby im Garten des Großen Hauses verbuddelt, und »diese Studentin« hatte es, was noch schlimmer war, wieder ausgegraben und »die Familie blamiert«!

Luzie lockerte die Decke etwas, um Luft zu bekommen.

Im gleichen Moment riss Liliane die Tür auf. »So kann ich mich wirklich nicht konzentrieren!«, schrie sie, ohne Luzie anzusehen, in Richtung Treppe. »Dieser Lärm!«

Keine Mama.

»Ich muss meine Seminararbeit in einer Woche fertig haben! Kann die ihr Radio nicht leiser stellen?!«, rief Liliane lauter. Normalerweise hätte Mama jetzt nichts mehr gehalten, doch heute blieb es still im Untergeschoss.

»Ich muss lernen!«

»Fick dich ins Knie«, sagte Luzie von Herzen. »Und mach die Tür zu, wenn du rausgehst. – Das is überhaupt ’n Plattenspieler. Papas Plattenspieler.«

Das gute Einvernehmen zwischen Luzie und ihrem Vater hatte Liliane schon immer geärgert.

»Und Papas Platte. Ein Klassiker, weißt du, aber davon verstehst du nix, Schwesterherz. Du kennst ja nur das doofe Geknödel von deinen fetten Tenören.«

Liliane fand trotz ihres Studiums noch Zeit, sich als Organistin zu betätigen, und wusste, was gute Musik war. Selbstverständlich hörte sie niemals Musik, bei der gesungen wurde, höchstens mal ein Requiem; jedenfalls nichts, was einem einzelnen Tenor Gelegenheit zum Knödeln gab. Empört ob dieser Unterstellung betrat sie Luzies Zimmer und riss die Nadel vom Vinyl.

Einen solchen Übergriff konnte Luzie natürlich nicht dulden.

»Lilianchen«, flötete sie in Markos tiefem, schleppendem Tonfall. Sie war eine gute Stimmenimitatorin. »Ich liebe dich!«

Liliane erstarrte.

»Liliane?! Oh, sie wird rot, wie niiiedlich! Liiilly ...«, schmachtete Luzie und der Anflug eines Kicherns verdrängte kurzfristig das hässlich hohle Gefühl in ihrem Bauch.

Doch Luzies große Schwester fing sich rasch wieder. »Ach, Süße«, machte sie, wobei sie genauso gut gleich »Nutte« hätte sagen können, so sehr troff ihre Stimme vor vielsagender Verachtung, »für so was bist du doch noch viel zu kl–«, sie unterbrach sich und hielt sich in gespielter Zerknirschung drei Finger an die Schläfe, so als salutierte sie geziert vor dem Gott, der kleine Kinder vor der bösen Welt da draußen bewahrte. »Himmel! Entschuldige, aber da hab ich doch glatt deinen niedlichen Lover aus der Tannenstraße vergessen.«

Die Tannenstraße war Kreimheims sozialer Schandfleck; in einem verwahrlosten Gehöft hauste dort eine Großfamilie namens Mathieu, die außer der Zahl ihrer Mitglieder keinerlei legalen Reichtum besaß. Liliane lächelte niederträchtig. »Am besten beantragt ihr jetzt gleich Sozialhilfe, dann hast du in neun Monaten, wenn euer Balg da ist, die schwierige Bürokratie hinter dir und musst dich nicht mehr mit dem lästigen Denken abplagen. – Kann man schon was sehen, Frau Mathieu?«

Luzie fühlte, wie sich das Loch in ihrem Magen wieder auftat, doch das durfte sie Liliane selbstverständlich nicht merken lassen. »Dich würd ’n Mathieu nicht mal für Geld nehmen, du frigider Frosch!«, schrie sie böse. »Und wenn, würde er kotzen!«

»Ach, weißt du«, sagte Liliane von oben herab, »für mich ist das kein großer Verlust. – Und der Plattenspieler bleibt aus, sonst hol ich Mama. Ich muss arbeiten – aber natürlich kannst du das nicht verstehen.« Damit drehte sie sich rasch um und verließ das Zimmer ihrer Schwester, natürlich ohne die Tür hinter sich zu schließen.

»Zicke!«, schrie Luzie ihr nach, stürzte aus dem Bett und knallte die alte Eichentür in den Rahmen, dass der Schlag durchs ganze Haus ging. Sie fühlte sich so mies. Liliane wusste es schon fast ... Was für ein Triumph für die dumme Kuh, wenn sie jetzt wirklich ...

Aber sie war nicht schwanger.

Konnte sie ja gar nicht sein. Luzie langte vom Bett aus zu ihrem Plattenspieler und schaltete ihn ein. Der Tonarm erhob sich träge von seinem staubigen Podest, landete sanft auf der sich drehenden Platte. Ein leichtes Kratzen ertönte. Sie drehte die Lautstärke von vier auf fünf.

»Summertime«, sang Janis Joplin, »and the living is easy ...«

Luzie zog die Decke fester.

-2-

Der Hahn krähte zum dritten Mal. Bettina wand sich unter dem schweren altmodischen Plumeau, das gut zu dem wuchtigen, weiß gestrichenen Eichenholzbett passte, nicht aber zu ihren Schlafgewohnheiten.

Die ganze Nacht über hatte ihr die unheimliche Stille zu schaffen gemacht: keine Autos, keine fernen Sirenen, kein Wasserrauschen aus Nachbarwohnungen, kurz: keine beruhigende Geräuschkulisse, die die Anwesenheit anderer Menschen anzeigte.

Und nun der Hahn. Wenigstens konnte man ihm nicht vorwerfen, er sei unheimlich und zeige zu wenig Präsenz. Es hörte sich vielmehr so an, als stünde er mitten im Zimmer. Er krähte abermals, und ein leises Glucken zeigte an, dass ein paar Hennen auch schon wach waren.

Seufzend kramte Bettina nach der Uhr. Erst halb sechs, und sie war hellwach. Sie schlug das Plumeau zurück und knotete ihre Füße aus dem Leintuch. Dann würde sie eben vor dem Frühstück noch einen kleinen Spaziergang machen.

* * *

Der Friedhof lag etwas außerhalb des Dorfes am Bach, malerisch von einer moosbewachsenen Sandsteinmauer umgeben.

Sicher war es keine sonderlich schätzenswerte Fähigkeit, überall mit schlafwandlerischer Sicherheit den nächsten Kirchhof zu finden. Alte Gewohnheit? Bettinas Vater hatte diese Orte geliebt. »Wenn du die Gemeinde richtig kennenlernen willst, musst du auf den Friedhof gehen.«

Vermutlich war es eher Masochismus.

Sie öffnete das rostige Tor. Die Gräber zu ihrer Seite waren überwachsen, die Grabsteine teilweise umgefallen. Über allem schwebten die Kronen einiger alter, düsterer Ulmen. Weiter vorne gab es Linden und eingefasste Gräber mit polierten Granitsteinen und Blumenschmuck, doch Bettina suchte nicht nach kleinbürgerlichem Frieden. Sie zog ehrlichen Verfall vor.

Beim Thema Ehrlichkeit musste man allerdings zugeben, dass der desolate Zustand des Kreimheimer Friedhofs etwas Inszeniertes hatte. Das lag sicherlich daran, dass alle Wege auf ein weiß schimmerndes Tempelchen ausgerichtet waren, welches großspurig auf einem Hügel über den gewöhnlichen Gräbern thronte.

Ein griechischer Tempel inmitten der Niederungen des Pfälzerwaldes. War er dorisch? Ionisch? Vermutlich eine Mischung aus allem, was nur antik genug aussah, vermutete Bettina.

Zögernd betrat sie eine der beschädigten Marmorstufen, die auf die Anhöhe führten. Struppige Lorbeerbüsche säumten den Weg. Die Treppenstufen schienen schon zerbrochen verlegt, der Lorbeer absichtlich verwüstet und das Moos vom Architekten mitgeplant, um diese verlorene Stimmung zu erzeugen. Es erinnerte an die künstlichen Ruinen, die man manchmal in einem romantisch aufgemotzten Schlossgarten finden kann. Von oben, aus der Nähe besehen, wirkte der Tempel klobig; zwischen den Säulen tropfte es. Zweige lagen herum, und es war kühl.

Das Bauwerk war eine Familiengruft, die Grabstätte der Marquardts, wie aus zahlreichen Inschriften hervorging. Den ersten Eintrag aus dem Jahr 1823 krönte Lateinisches: invita invidia.

Bedauerlich, dass sie nicht wusste, was das bedeutete. Irgendwie schien es wichtig. Bettina grübelte eine Weile und versuchte sich an alte Vokabeln zu erinnern, dann gab sie es auf und studierte noch einige Inschriften, bevor sie sich der Aussicht zuwandte. Diese zeigte, über einige Baumwipfel hinweg, fast das ganze Dorf samt Burgruine. Es schien, als habe die Familie dafür gesorgt, selbst im Tod nicht den Überblick über die kleine Ortschaft zu verlieren.

Übrigens konnte man von hier aus auch erkennen, dass der Kirchhof nicht ganz so einsam und verlassen war, wie es seine Würde und die frühe Stunde vermuten ließen. Dort, wo der Bach Friedhof von Wald trennte, bewegten sich zwei Personen. Vielmehr bewegte sich die eine, während die andere, anscheinend äußerst spärlich bekleidet, nur reglos auf dem Boden lag.

Natürlich bedurfte diese verdächtige Szene einer eingehenden Untersuchung durch die ausgebildete Fachfrau. Instinktiv achtete Bettina darauf, sich klein zu machen und unnötige Geräusche zu vermeiden, während sie langsam den Hügel wieder abwärts stieg und einen überwucherten Pfad in Richtung Bach einschlug. Bald hörte sie Stimmen. Rasch kauerte sie sich hinter eine dicke Ulme, um zu verstehen, was gesprochen wurde.

»Ein bisschen drehen ... perfekt! Jaaa ... linkes Bein vielleicht etwas höher – oder nein. Dreh dich noch mal um. Wir machen das anders.«

Ein Rascheln, und hinter einem umgefallenen Grabstein tauchte eine nackte weiße Gestalt auf.

Bettina war verwirrt. Was suchte eine Frau bei diesen Temperaturen nackt auf dem Friedhof? Das konnte kein Schäferstündchen sein. Neugierig trat sie hinter ihrem Baum hervor.

»Ich weiß, dass es kalt ist, Yasmine. Na komm, nur noch dieses eine Foto.«

Yasmine war eine ungewöhnlich dicke Frau, die, nun in einen knallroten Bademantel gehüllt, einer energischen kleinen Person zuhörte. Zwischen den beiden wartete auf einem Stativ ein Fotoapparat.

Bettina bezog hinter einem Grabstein Stellung und betrachtete die Szene.

»Wir müssen die Maiglöckchen besser draufkriegen. Die sind magisch.«

»Und giftig«, jammerte Yasmine.

»Yasmine, wenn ich dir jedes Bild erklären muss, dauert es eine halbe Stunde länger. – Pass auf. Du legst dich hierhin ...«, die schmale kleine Frau legte sich probeweise auf die feuchte Erde, »dann drehst du den Kopf so. Alles klar?!«

Yasmine zauderte, ihren Bademantel auszuziehen. »Mitten in die Maiglöckchen?«, fragte sie schaudernd. »Ohne Unterlage?!«

Die Fotografin verstellte das Stativ und nickte gleichzeitig. »Du weißt genau, dass man hinterher auf jedem Foto den roten Frottee sieht. Stell dich nicht so an. Nur noch ein Bild.« Sie machte eine ungeduldige Bewegung, drehte sich um und erblickte Bettina. »Morgen. – Was ist, Yasmine?«

Yasmine war mit der Anwesenheit einer dritten Person nicht einverstanden. Finster starrte sie Bettina an, warf ihre wundervollen schwarzen Haare zurück und fragte: »Wer sind Sie?!«

»Lassen Sie sich nicht stören«, erwiderte Bettina.

»Sie ist vom Dorf«, sagte Yasmine anklagend; sie sah eine Chance, ein wenig länger im molligen Bademantel zu bleiben. »Sie wird es meinem Vater sagen!«

Die Fotografin seufzte. »Yasmine, wenn du solche Angst vor deinem Vater hast, dann solltest du mir nicht Modell sitzen. Können wir jetzt?!«

Widerwillig streifte Yasmine den Bademantel von den Schultern und legte sich nackt in die Maiglöckchen. Ihr Körper war eine Sensation. Überbordende Üppigkeit. Unvermittelt wurde Bettina bewusst, dass es jenseits der Normalgewichtsgrenze noch eine völlig andere Welt gab. Eine Welt aus Formen und Schwüngen, aus heller Haut in feinen Schattierungen, aus gespannten Flächen und gewichtig gerundeten Landschaften. Sie ertappte sich dabei, wie sie das Mädchen anstarrte.

»Es ist eiskalt, Klara!«, murrte dieses mit einem drohenden Blick in Bettinas Richtung. »Ich hab eine furchtbare Gänsehaut!«

»Das sieht man nachher nicht mehr auf dem Bild«, nuschelte Klara gnadenlos mit der Kappe des Objektivs im Mund. Die schöne Yasmine musste also frieren. Zähneklappernd reckte sie sich in dem leichten Morgendunst, der vom Bach aufstieg und das diffuse Frühmorgenlicht in winzige Tröpfchen zerteilte. Die weißen Maiglöckchen ergaben einen unglaublichen Kontrast zu Yasmines schweren, langen Haaren, die sie auf Anweisung Klaras hin zu ordnen begann. Trotz (oder gerade wegen) seiner Schönheit hatte Yasmines Körper etwas latent Morbides; sein Anblick schien der Beweis für die Überwindung der Schwerkraft, doch sobald man das Wort »Schwerkraft« auch nur gedacht hatte, sah man den Niedergang all dieser Sinnlichkeit. Und sinnlich war Yasmine sogar in der Morgenkälte des Apriltages. Obwohl sie ohne Zweifel fror, waren ihre Bewegungen von aufreizender Trägheit, langsam wie das kühl rinnende Wasser des angrenzenden Baches.

Die Fotografin ihrerseits war hektisch und hochkonzentriert. Wild sprang sie um ihr Modell herum und erklärte gebieterisch, wie es liegen sollte. Schließlich schoss sie einige Fotos mit und ohne Stativ, und endlich durfte Yasmine wieder aufstehen. Ostentativ hustend verzog sie sich hinter den Baum, bei dem ihre Kleider lagen, während die Fotografin ihre Sachen zusammensuchte. »Du bist nicht aus dem Dorf, oder?«, fragte sie in Bettinas Richtung.

»Stimmt.«

»Natürlich nicht.« Die kleine Fotografin hob die Hände. Ihre Haare waren strähnig, ihr Mantel voller Farbstaub. Sie packte das Stativ zu der Kamera in einen alten Einkaufsbeutel, stand dann auf und reichte Bettina die Rechte. »Klara«, stellte sie sich vor. »Tu mir bitte einen Gefallen und tratsch das hier nicht im Dorf rum.« Sie warf Bettina einen prüfenden Blick zu und begann unvermittelt zu schimpfen. »Es ist echt beschissen, dass ich jemanden um so was bitten muss, aber diese Hinterwäldler! hier sind so was von beschränkt! Was mich so ärgert! ist die Heuchelei! dieses, dieses Dorf !«

Ebenso plötzlich beruhigte sich Klara wieder. Freundlich lächelte sie Bettina an, als gehörte ein lauter Wutausbruch zu jeder gepflegten Unterhaltung. »Stell dir vor, sie sammeln Unterschriften gegen mich«, sagte sie im schönsten Plauderton und widmete sich wieder dem Verpacken ihrer Utensilien. »Ich gebe in Kreimheim Aktzeichnen – nicht dass wir aus dem Dorf viele Teilnehmer hätten, aber sie haben einen wunderbaren Zeichensaal im Gemeindehaus, leider Gottes!« Sie schloss die Tasche.

»Unterschriften gegen einen Zeichenkurs?« Bettina war verwirrt.

»Gegen den Aktzeichenkurs, Aktzeichenkurs!« Klara stemmte die Hände in die Hüften und wurde wieder von heiligem Zorn übermannt. »Tagsüber rennen die Leute hochmoralisch zugeknöpft bis zum Kinn im Dorf herum und empören sich über die einzige Möglichkeit, die sie haben, mal was anderes zu machen als Seidenmalerei und Batiken von Ostereiern, und abends gehen sie heim und stellen mit ihrer Familie sonst was an!«

»So?«

»Ach. Da haben sie im Fernsehen gehört, dass sie sich selbst verwirklichen müssen, daraufhin setzen sie sich zusammen und malen Hühner!« Aufgebracht und ohne die Komik ihrer Rede zu erkennen, starrte die Künstlerin in Bettinas leicht belustigte Augen. »– Kein Wunder, dass hier lauter halbdebile Existenzen rumlaufen. Hier hat die Inzucht jahrhundertealte Tradition. Dieses Kind, das sie jetzt gefunden haben – du hast davon gehört?«

Bettina nickte.

»Das fällt garantiert auch in diese Kategorie. Und außerdem ist das ganz typisch für diese Kleinbürgermentalität. Echt. Alles Unangenehme wird einfach weggeleugnet. Zuerst die Schwangerschaft. Dann das Kind. Na ja.«

»Wessen Kind war es denn?«, fragte Bettina beiläufig.

»Keine Ahnung. Na, jedenfalls bin ich froh, dass es schon länger da liegt, sonst würde der Meier bestimmt das Dorf aufwiegeln, und dann heißt es wieder, ich wäre es gewesen. Ich muss immer als Sündenbock herhalten.« Sie lachte unfroh. »Der Meier – keine Sorge, den wirst du noch kennenlernen, wenn du hierbleibst – hängt mir jedes halbe Jahr eine Klage wegen öffentlichen Ärgernisses an.« Ihr Lachen war jetzt echter.

»Wegen der Zeichenkurse?«

»Das ... und noch wegen anderen Sachen ... Nicht dass es mir was ausmachen würde. Was mich wirklich ärgert, ist, dass ich mich anpasse. So wie eben.« Sie hängte die Fototasche über ihren Arm. »Wenn das hier nämlich rauskommt – Aktfotos auf dem Friedhof, lieber Gott! –, gibt’s wieder einen Riesenkrach im Dorf. Den würde ich mir gern ersparen. Andererseits hab ich keine Lust, rumzulaufen und mich bei allem, was ich tue, zu fragen, ob das auch Herrn Meier passt.«

Prüfend sah sie sich um, ob sie auch alles hatte, und klopfte halbherzig ihren zugestaubten Mantel ab.

Yasmine kam hinter ihrem Baum hervor. Das Mädchen war vollständig eingemummelt und schniefte in einen riesigen roten Schal.

»Das ist Yasmine Börsik«, stellte Klara vor. »Sie ist aus dem Nachbardorf, Frankenfels. Und das ist –«

»Bettina Boll.«

Yasmine nickte missmutig. »Ich hab mich erkältet«, sagte sie vorwurfsvoll und wandte sich dann an Bettina. »Was machst du hier?«, fragte sie, während sie mit eifersüchtigen Augen Bettinas lange rote Mähne musterte.

»Ich bin Kriminalkommissarin. Und wegen des toten Kindes hier.«

Die beiden Frauen starrten sie an.

»Kriminalkommissarin?!«

Bettina lächelte.

Yasmine zog den Schal noch fester um sich. Ihr Blick hatte den neidischen Ausdruck verloren, denn anscheinend war eine Frau mit einem derartigen Beruf keine ernsthafte Konkurrenz. »Stimmt es, dass das Kind schon über zwanzig Jahre dort liegt?«, fragte sie sensationslüstern. »Ist der Fall dann nicht schon längst verjährt?«

»Mord verjährt nicht, Yasmine«, sagte Klara. »Es ist doch ein Mord, oder?«

»Tja. Vielleicht.« Bedauernd hob Bettina die Schultern. »Schade, dass du nicht weißt, von wem das Baby war.«

»Schwer, da jetzt noch was rauszukriegen.« Die Fotografin klang merklich reservierter. »Die Leute im Dorf werden kaum was sagen, wenn sie überhaupt etwas wissen. – Du lieber Himmel!« Sie hatte auf die Uhr gesehen. »Es ist schon halb sieben! Meine Kinder müssen aufstehen. Ich muss heim. Bis Montag, Yasmine.« Sie ging drei Schritte, wandte sich noch einmal um. »Im Dorf denken sie bestimmt, ich sei es gewesen«, rief sie. »Und sie werden sich gute Gründe ausgedacht haben, das tun sie immer. Das heißt, sie werden dich zu mir schicken. Also, bis bald!« Sie lächelte Bettina kurz an und war verschwunden.

Yasmine sah sich unschlüssig um.

»Sitzt du oft bei diesen Temperaturen Modell?«, wollte Bettina wissen.

»In Zukunft nicht mehr«, erklärte das dicke Mädchen, und es war nicht ganz klar, ob ihr grimmiger Gesichtsausdruck der Kälte, Klara oder Bettina galt. Jedenfalls schulterte sie ohne ein weiteres Wort die Tasche und stapfte ihrer Meisterin schwerfällig hinterdrein.

* * *

Margit Kropp stieß ihren Ehegatten unsanft in die Seite. »Aufstehen!«, kommandierte sie. Dann fiel ihr auf, dass da schon wieder Flaschen im Schlafzimmer standen, die sie gestern Abend nicht bemerkt hatte.

Ihr Mann drehte sich knurrend auf die andere Seite. Sie knuffte ihn nochmals. »He! Arbeiten!«

Eddie Kropp war Lagermeister bei den Marquardts im Sägewerk und musste früh raus.

Er murmelte Unverständliches und wälzte sich in den Kissen. Schließlich öffnete er mürrisch seine blutunterlaufenen Augen und griff nach der halb vollen Flasche Bier, die noch vom letzten Abend auf dem Nachttisch stand. Nach einem kräftigen Schluck gähnte er und schüttelte sich dann. »Warm! Wie oft hab ich dir gesagt, du sollst die Fenster offen lassen, Alte!«

Margit Kropp war nicht bereit, sich das bieten zu lassen. »Das ist ein Schlafzimmer und kein Gefrierfach«, entgegnete sie nicht ohne Logik. »Aber von mir aus kannst du dich gern nachts zu den anderen Flaschen in den Kühlschrank legen. Würd mir gar nicht auffallen, du Saufkopp.«

»Von mir aus kannst du dich verpissen«, entgegnete Eddie wenig originell.

Das war es, was Margit an ihrem Ehemann so hasste: seinen Mangel an Lebensart. Wenn einer im Betrieb unangenehm auffiel, sich betrank und den Chef, Herrn Marquardt, anpöbelte, so war es garantiert ihr Eddie. Wie oft hatte Margit schon außerhalb ihrer Arbeitszeit (sie putzte bei den Marquardts) ins Große Haus pilgern und ein gutes Wort für ihren Eddie einlegen müssen, der es so gar nicht verdient hatte. Und der Bürgermeister war so ein feiner Mensch. Kein ganzer Kerl wie sein verstorbener Bruder, aber ein feiner Mensch. Er hatte Eddie jede seiner Untaten verziehen, und Margit bildete sich deswegen nicht wenig auf ihren Charme ein. Doch an ihren Ehemann waren derartige Bemühungen verschwendet. Der dachte nur an das eine.

»Hör auf mit der Sauferei, das hab ich dir schon hundert Mal gesagt!«, rief sie, während ihr Gatte ungerührt zu der Flasche mit Klarem griff.

»Willst du etwa, dass ich neben das Klo pinkle?!«, erkundigte sich dieser gereizt. »Weib, lass mir wenigstens morgens meine Ruhe!«

»Na schön.« Margit begann, die leeren Flaschen einzusammeln. »Aber denk dran, dass du um halb sieben da sein musst. Und rasier dich!«

Grummelnd räumte Eddie seiner Frau das Feld, die sich sogleich vor den großen Schlafzimmerspiegel stellte und überlegte, was sie Schönes anziehen sollte. Schließlich ging sie heute zu den Marquardts putzen.

* * *

»Ziemlich einsam hier«, stellte der kleine Willenbacher fest, als er neben seiner Vorgesetzten auf den gesprungenen Stufen vor dem Haupteingang des Großen Hauses stand und darauf wartete, dass ihnen geöffnet wurde.

Die hölzernen Fensterläden waren alle noch zugeklappt, und die Tür sah so aus, als sei sie seit Jahrzehnten nicht mehr geöffnet worden.

»Ein richtiges Spukschloss«, meinte Bettina fröstelnd. Willenbacher scharrte mit der Fußspitze an einem Grasbüschel, das aus einer Spalte in der obersten Treppenstufe wuchs. »Vielleicht gibt’s noch einen anderen Eingang.«

Man hörte einen Hund bellen. »Scheint jemand da zu sein.«

Ein schwarzweißer Spaniel kam um eine Hausecke geschossen und stürzte sich mit Begeisterung auf die Eindringlinge.

»Stinkes!! Stinkes, bei Fuß!« Dem Spaniel folgte ein molliges blondes Mädchen mit einem liebenswürdigen Lächeln. »Er tut nichts!«, rief sie. »Ist nur ein bisschen stürmisch.« Lachend und atemlos blieb sie vor den Besuchern stehen, während der Hund Willenbacher aufgeregt und schwanzwedelnd umsprang. »Die Tür wird nicht mehr benutzt, und ich konnte den Schlüssel nicht finden, sonst hätte ich Ihnen trotzdem aufgemacht. Eigentlich schade drum, bei so einer schönen Tür, nicht wahr?« Sie berührte kurz das geschnitzte Eichenholz. »Na ja. Sie sind bestimmt von der Polizei, hab ich recht?«

Bettina stellte sich und Willenbacher vor.

»Herr Marquardt erwartet Sie schon. Er sitzt gerade beim Frühstück.«

»Und Sie sind ...?«

»Rebecca Clapeyron. Marko und ich haben das Skelett gefunden. Marko ist der Neffe, und ich arbeite hier während der Semesterferien.«

Die junge Frau führte die beiden durch den verlotterten Garten um das Haus herum zu einer Hintertür. »Da hinein.«

Sie betraten den Gang, der zu einer steilen Holztreppe führte. »Es gibt noch eine andere Treppe, aber die wird nicht benutzt. – Das Haus ist einfach zu groß für die beiden.«

Die Stiegen mündeten in einen winzigen Vorraum, der seinerseits an eine dämmerige hohe Halle anschloss. Dort staubten wuchtige Schränke und ein paar altmodische Sessel vor sich hin. An einer Wand hing ein riesiger Gong.

»Hier entlang.« Rebecca Clapeyron führte sie zu einem kleinen Speisezimmer, das offenbar direkt neben der Küche lag. »Es gibt auch ein großes Speisezimmer, aber –«

»... es wird nicht mehr benutzt«, sagte der kleine Willenbacher und entblößte seine spitzen Zähne. Das Lächeln machte ihn auch nicht anziehender, fand Bettina.

Rebecca Clapeyron öffnete höflich die Tür zum Speisezimmer. »Die Polizei!«, verkündete sie und ging.

In dem kleinen Frühstückszimmer roch es nach Kaffee und frischen Brötchen. Ein schlanker, dunkelhaariger Mann legte seine Zeitung beiseite und forderte sie auf, Platz zu nehmen. »Kaffee?«

Das war der Bürgermeister von Kreimheim, den Bettina sich ganz anders vorgestellt hatte.

Max Marquardt war nicht polternd-gönnerhaft wie der normale hinterpfälzische Dorfoberste. Auch sah er nicht aus wie einer, der einen griechischen Tempel in den Pfälzerwald stellen würde. In fließendem Hochdeutsch bot er den Polizisten ein Brötchen an, wurde ernst, als man einleitende Worte über die gefundene Kinderleiche wechselte, und betrachtete die Besucher aus intelligenten schwarzen Augen. Seine halbrunde Lesebrille nahm er sofort ab und verstaute sie in einem eleganten Lederetui, als schäme er sich ihrer.

»Leider weiß ich nicht viel. Es ist unfassbar, dass in unserem Garten ein totes Kind begraben wurde, und ich habe keine Ahnung, von wem es sein könnte. Das habe ich übrigens schon Ihren Kollegen gesagt.«

»Das stimmt, aber wir wollen alles noch mal ganz genau durchsprechen.«

Die Einrichtung des Zimmers war elegant, wirkte aber verblichen. Obwohl alles frisch geputzt und aufgeräumt war, hatte man den Eindruck, als läge über dem Raum eine feine, fahle Patina aus Staub. Bettina fiel ein langer Riss auf, der sich in einer Falte der einstmals kostbaren Seidenvorhänge versteckte.

Sie lächelte den Bürgermeister an. »Wir haben den Todeszeitpunkt vorläufig auf die Zeit vor etwa zwanzig bis fünfundzwanzig Jahren festgelegt. Vermutlich bekommen wir noch bessere Ergebnisse, die dauern allerdings. Und in der Zwischenzeit«, Bettina lächelte wieder, »könnten Sie uns erzählen, ob in diesen fünf Jahren hier etwas Ungewöhnliches passiert ist.«

Nachdenklich betrachtete Marquardt die junge Frau, die ein bisschen verlegen wirkte, ihre roten Haare eine Spur zu ruckhaft zurückwarf und dann wie ertappt zu ihrem jugendlichen Kollegen blickte. Der gab sich kaum Mühe, das hämische Zucken seiner Mundwinkel zu verbergen. Frau Kommissarin Boll machte den Job wohl noch nicht so lange. »Ich kann mich an nichts Besonderes erinnern.« Sie bewegte sich wie ein Teenager. Auf der Straße hätte er sie für ein Schulmädchen gehalten. Vielleicht war sie in Wirklichkeit älter? Wenn nicht, war die Polizei in Personalschwierigkeiten. Neuzugänge sofort zu Kommissaren zu befördern ...

»Vielleicht sollten wir einfach über dieses Haus sprechen.«

Marquardt trank seinen Kaffee, ohne die Kommissarin aus den Augen zu lassen. »Was möchten Sie wissen?«

»Zum Beispiel, wer vor fünfundzwanzig Jahren hier lebte.« Ihr Blick streifte die blassen Seidentapeten. »Sie hatten doch sicher Hausangestellte.«

Marquardt lächelte leicht. »So feudal, wie Sie sich das vorstellen, ging es nicht zu. Unsere letzte feste Hausangestellte war damals schon über sechzig und lebt leider nicht mehr. Sie sehen ...« Er zuckte die Achseln.

»Sonst gab es niemanden? Keinen Gärtner? Oder eine Putzfrau?«

»Natürlich. Müller, der Gärtner. Ist letztes Jahr gestorben. Die Putzfrau lebt auch nicht mehr. Ihre Nichte, Margit Kropp, putzt jetzt bei uns.«

»Sind alle tot«, murmelte die Kommissarin.