Allmacht - Marcus Richmann - E-Book

Allmacht E-Book

Marcus Richmann

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  • Herausgeber: GMEINER
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2017
Beschreibung

1959, Uralgebirge, Sowjetunion: Neun Skifahrer brechen zu einer Tour zum »Berg der Toten« auf. Drei Wochen später findet ein Suchtrupp ihre unnatürlich entstellten Leichen. Die Untersuchungsergebnisse der Rechtsmediziner werden nie veröffentlicht. Fast 60 Jahre später ermittelt Maxim Charkow im Mordfall des russischen Milliardärs Igor Komarow. Alles weist auf ein Beziehungsdrama mit einem Liebhaber hin. Charkow bezweifelt das Offensichtliche und begibt sich auf die Suche nach den wahren Motiven. Die Spur führt ihn in die russische High Society.

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Seitenzahl: 441

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Ähnliche


Marcus Richmann

Allmacht

Maxim Charkows vierter Fall

Impressum

Bisherige Veröffentlichungen im Gmeiner-Verlag:

Eisväter, E-Book Only (2016), Januskinder (2015), Engelschatten (2013)

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

© 2017 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2017

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Svyatoslava Vladzimirska / shutterstock.comund © lena_serditova / fotolia.comISBN 978-3-8392-5428-8

Zitate

»Kann ein allmächtiges Wesen einen so schweren Stein erschaffen, dass es ihn selbst nicht hochheben kann?«

Paradoxon der Allmacht

 

»Wenn ich die Möglichkeit hätte, Gott nur eine einzige Frage zu stellen, so wäre diese: Was ist wirklich mit meinen Freunden in dieser Nacht passiert?«

Yuri Yudin – einzig Überlebender der Djatlow-Expedition

Kapitel 1

Einsames Rot auf goldenem Feld.

Wiegt im Wind mit fremden Farben.

Blätter verlieren sich im Blau.

Eine schwarze Krone bleibt.

Gefüllt mit Samen der Hoffnung.

Maxim Charkow betrachtete die Zeilen. Er war unzufrieden mit den Worten, die er für das Gefühl, welches er seit Tagen empfand, gesucht hatte. Obwohl er sich den Nachmittag freigenommen hatte und eine Tüte mit Köstlichkeiten aus Vladimirs russischem Restaurant in seinem Kühlschrank auf ihn wartete, empfand er keine Freude. Sie war verflogen, als er sich entschieden hatte, seinem Gedicht heute eine endgültige Form zu geben. Er fragte sich, warum es ihm so schwerfiel. Ihm wurde klar, dass die Worte ihn zu stark an sein gegenwärtiges Leben erinnerten.

Müde legte er sein schwarzes Notizbuch beiseite, ging in die Küche, öffnete die Flasche georgischen Rotwein, den er von Vladimir geschenkt bekommen hatte, stellte sie zusammen mit dem Essen auf ein Tablett und trug alles ins Wohnzimmer. Als er sich auf das Sofa setzte, öffnete er das dahinter liegende Fenster. Der Lärm des Feierabendverkehrs drang von der Einfallstraße, die von der Hardbrücke aus zäh in die Stadt strömte, zu ihm und nahm etwas von seiner Einsamkeit.

Als er die kleinen Kunststoffschachteln zu öffnen begann, kehrte ein Stück der Freude zurück. Vladimir hatte ihm verschwiegen, welche Speisen er für ihn eingepackt hatte. Die erste Schachtel offenbarte schon den Inhalt, kaum hatte er den Deckel geöffnet. Knoblauch und Sauermilch. Die Beilage für Wareniki, die in der nächsten Verpackung zum Vorschein kamen. Der Geruch verriet, dass sie mit Sauerkraut und Schweinefleisch gefüllt sein mussten. Vladimir hat es gut mit mir gemeint, dachte er, als er die anderen beiden Behälter öffnete: eine Portion Schtschi, die für zwei gereicht hätte. Charkow liebte die deftige Suppe, deren Zutaten sich aus Kohl, Speck, Butter, Tomaten, Lorbeer und Hackfleischbällchen zusammensetzten. Zum Dessert gab es zwei Stück Zupfkuchen mit einer dicken Füllung Vanillepudding.

Er ging mit den Speisen zurück in die Küche, füllte eine Portion Schtschi in einen Teller und schob sie zusammen mit den Wareniki in die Mikrowelle. Nach wenigen Minuten zog er die dampfenden Gerichte heraus und setzte sich wieder auf das Sofa. Erst jetzt spürte er den Hunger. Zu hastig verschwand der erste Löffel Schtschi in seinem Mund, sodass er sich die Zunge verbrannte. Ein Schluck Rotwein linderte den Schmerz. Während er aß, schlug er sein Notizbuch auf und las noch einmal die Zeilen seines Gedichts. Das Essen versöhnte ihn ein wenig mit seinen Worten und letztendlich mit sich selbst. Er las den letzten Satz noch einmal. Das Wort »Hoffnung« löste Unbehagen in ihm aus und er fragte sich, woher dieses Gefühl stammte.

»Du kannst ein trügerischer Freund sein«, sagte er leise.

Es gab eine Zeit in seinem Leben, da hatte er sich mit seinem eigenen Tod beschäftigt. Während seines Jurastudiums las er Bücher über Nahtoderfahrungen und hatte sich mit der Sicht von Psychologen und Philosophen auf das Leben nach dem Tod auseinandergesetzt. Er war letztendlich zu keinem Schluss gekommen. Niemand kann beweisen, dass wir eine Seele haben oder eine Reinkarnation möglich ist. Es bleibt uns nur die Hoffnung oder der Glaube, wie die Kirchen es nennen. Nicht viel, stellte Charkow fest.

»Vielleicht wäre es besser, wenn die Hoffnung zuerst stirbt.«

Wenn nichts mehr nach dem Tod kommt, sind mein Tun, meine Gedichte, meine Handlungen, einfach alles ohne Bedeutung. Es gibt kein weiteres Leben, in dem man dazulernen wird. In dem man den Weg mit neuen Erkenntnissen seiner Seele weitergehen kann. Er spürte, wie dieser Gedanke sich seinem innersten Wunsch widersetzte.

»Die Hoffnung soll siegen«, sagte er, leerte sein Glas in einem Schluck und überhörte das erste Klingeln seines Mobiltelefons.

Auf dem Display erschien der Name seiner Assistentin Priska Künzler.

»Priska, du weißt doch, dass ich freihabe«, sagte er zur Begrüßung.

»Ja, Chef. Aber ich dachte, ich rufe dich in diesem Fall doch lieber an.«

»Worum geht es?«

»Um Komarow«

Charkow brauchte einen Moment, um den Namen mit den dazugehörenden Informationen zu verbinden.

»Sprichst du von Igor Komarow? Dem leitenden Vertreter der russischen Gasgesellschaft in Zürich?«

»Genau den meine ich«, antwortete Priska. »Seine Leiche liegt in einer Mietvilla am See. Walter hat uns damit beauftragt. Soll ich das alleine mit Cla machen, oder willst du dabei sein?«

*

Wenige Stunden zuvor, Villa Lilya am Zürichsee

Regen. Kalt. Endlos. Dumpf fielen Schlammklumpen auf das gebeizte Fichtenholz des Sargs. Sein Vater hatte das billigste Modell gewählt. Mehr konnte er sich nicht leisten. Frank sah indessen von Alkohol entzündete Augen, die auf dem Grund des Grabes nach einer Erklärung für alles Geschehene zu suchen schienen. Er wusste nicht, ob unter den Regentropfen auf dem Gesicht seines Vaters auch Tränen zu finden waren. Zu undurchsichtig waren dessen Gefühle. Klamme Nässe drang durch Franks Hosen und fand den Weg in seine Schuhe. Er sah den Priester, dessen Lippen sich bewegten, hörte aber nicht, was dieser sagte. Ein dumpfes Dröhnen in seinem Kopf überlagerte die Welt, die ihn umgab. Irgendwann wandte sich der Priester ihm zu. Schüttelte mechanisch seine Hand und ging. Als auch sein Vater sich von ihm abwandte und ging, sah ihm Frank nach, ohne ihm zu folgen. Er wollte seine Mutter nicht verlassen. Noch nicht. Vor drei Tagen hatte er sie im Krankenhaus besucht. Jetzt lag sie in dem dunklen Schacht vor seinen Füßen. Ein schlichtes Holzkreuz würde daran erinnern, dass sie einmal existiert hatte. Frank hatte ihre Anwesenheit nie gefühlt. Die von seinem alkoholkranken Vater hingegen war unerträglich präsent. Er steckte seine Fäuste in die Hosentaschen. In der Rechten spürte er die drei Hundertfrankenscheine. Das Erbe seiner Mutter. Alles, was sie ihm hinterließ.

»Mehr kann ich dir nicht geben«, hatte sie gesagt.

Um ihre Worte zu hören, musste er sein Ohr damals dicht an ihre trockenen Lippen legen. Ihre Stimme war kaum zu hören gewesen und kündete vom herannahenden Tod. Er hätte dankbar sein müssen. Das wusste er. Aber ihm fehlte jedes Gefühl dafür. Der Kuss auf die kalte, schweißnasse Stirn seiner Mutter war ihr Dank genug. Als er durch die grellen Gänge des Zürcher Universitätsspitals zum Ausgang lief, spielte er in der Hand mit den Geldscheinen. Er plante, sie sofort auszugeben, wollte sie schnell loswerden. Nichts sollte ihn mehr an seine Mutter erinnern.

Ein Geruch stieg ihm in die Nase und riss ihn aus dem Traum seiner Erinnerungen. Penetrant. Zu süß. Stechend. Übelkeit kroch seine Speiseröhre hinauf. Schlagartig war er wieder in der Realität und schlug auf den harten, kalten Marmorboden auf. Sein Körper zitterte vor Kälte. Brennende Flüssigkeit schoss aus seinem Mund und spritzte auf den weißen Stein. Sein Magen schien leer, trotzdem würgte er mehrere Male. Er wischte Erbrochenes von seinem Mund und realisierte nicht, wo er sich in diesem Moment befand. Der Friedhof und das Krankenhaus waren verschwunden.

Erst jetzt erkannte er, dass er nackt war. Was ist hier los, fragte er sich. Späte Mittagssonne schien durch die Fensterfront, hinter der verschwommen ein Garten und der See zu erkennen waren. Die Welt um ihn drehte sich, der Boden schwankte. Wieder verspürte er Übelkeit. Stöhnend ließ er sich auf den Rücken fallen, um dem Schwindel zu entgehen, der ihn gegen seinen Willen fest umklammert hielt.

Als er zur Decke aufblickte, erkannte er einen prunkvollen Kristallleuchter. Langsam erinnerte er sich wieder an die letzten Stunden. Schritt für Schritt. Die Beerdigung seiner Mutter war schon vor Tagen gewesen. Dazwischen war anderes geschehen. Ereignisse, die sein Leben verändert hatten. In einer Geschwindigkeit, mit der er nicht gerechnet hatte. Marija! Ihr Bild tauchte in seinem Kopf auf. Und Barbara. Zwei Frauen, die unterschiedlicher nicht hatten sein können. Frank schloss die Augen, um den Schwindel zu kontrollieren. Aufstehen konnte er nicht. Obwohl sein Körper vor Kälte zitterte, blieb er auf dem Marmorboden liegen. Er roch sein Erbrochenes. Nur unter größter Anstrengung gelang es ihm, eine neue Welle aufsteigender Übelkeit zu unterdrücken.

Was war geschehen? Warum war er nackt? Da war diese Party. Schamloser Luxus im Überfluss. Der Kristallleuchter war geschmückt gewesen. Mit lächerlichen Heiligenbildchen. Frank sah sie wieder vor sich. Es waren russische Heiligenbildchen. Kleine Ikonen. Jede wäre 3.000 Franken wert, hatte Marija gesagt. Er hatte sich in der Gesellschaft der anderen unwohl gefühlt, deplatziert, denn er war keiner von ihnen. Sein Wunsch war dazuzugehören.

Irritiert sah er sich um. Wo waren die Gäste der Party, die Bar, das Buffet, all der Prunk? Ich bin immer noch in dieser Villa am See, stellte er fest. Sein Verstand brachte die Bildfetzen seiner Erinnerungen mit der Realität, die vor wenigen Stunden hier geherrscht hatte, nicht zusammen. Mühsam versuchte er sich zu entsinnen, wann die Party begonnen hatte. War es gestern? Oder in der Nacht davor? Seltsam.

Seine Erinnerungen schienen wie mit blasser Kalkfarbe übertüncht. Er wusste nur noch, dass er Marija endlich hatte wiedersehen können. Ihre erste Begegnung war zufällig. Während er in der Lobby des Hyatt auf Barbara gewartet hatte, setzte sich Marija ungefragt zu ihm und verwickelte ihn in ein Gespräch. Ein Engel, hatte er gleich gedacht, ohne zu verstehen, warum sie ausgerechnet ihn ausgewählt hatte. Er, der keinen teuren Anzug trug und einige Jahre jünger als sie war.

»Du siehst gut aus«, hatte sie ihm, ohne zu erröten, eröffnet.

Auch er fühlte sich sofort zu ihr hingezogen und er hatte es geschafft, sich mit ihr erneut zu verabreden. Barbara gegenüber verschwieg er die weiteren Treffen mit Marija. Bis zum Schluss.

Von Marijas Mann, Igor Komarow, hatte er erst gestern Nacht erfahren. Sie trug ein schulterfreies, goldfarbenes Seidenkleid, das ihre schlanke Figur betonte. Sie war wunderschön gewesen und hatte sich immer wieder zu ihm gesellt, was ihm schmeichelte. Nur Barbaras Anwesenheit hatte gestört. Sie schien auf Marija eifersüchtig zu sein.

»Ich habe nur dieses Kleid und Stöckelschuhe an«, hatte sie ihm lasziv ins Ohr geflüstert.

Als er ihr seine Liebe gestand, hatte sie laut gelacht. Die Überheblichkeit und Ablehnung in ihrem Lachen hatte er ignoriert, da sie bereits zu viel getrunken hatte. In diesem Augenblick war Komarow plötzlich zwischen sie getreten. Marija stellte ihn in beiläufigem Tonfall als ihren Mann vor. Diese Tatsache traf ihn wie ein Schlag ins Gesicht. Er war viel älter als Marija. Komarow hatte ihn abschätzig gemustert, bevor er Marija unsanft am Arm packte und zu einer Gruppe von Männern führte, die gerade die Villa betraten und die sie kennenlernen sollte. Frank beobachtete, wie die Männer Komarow zu ignorieren schienen und mit Barbara in einem der Zimmer verschwanden.

Er war wieder alleine. Wie schon oft zuvor. Wenig später hatte sich Barbara wieder zu ihm gesellt, ihm ein Glas Champagner gereicht und ihn gebeten, mit ihr zu schlafen. Sie gingen hinauf ins Schlafzimmer, wo sie ihn auf das Bett warf, sich entkleidete und ihm Champagner einflößte. Das war das letzte Bild dieser Nacht, das er abrufen konnte. Von diesem Moment an hatte er keine Erinnerungen mehr. Wie er hierher, nackt auf den Boden des Wohnzimmers, gekommen war, verschloss sich ihm.

Frank atmete tief ein. Der Schwindel ließ etwas nach. Wieder reizte der süßliche Geruch eines Parfums seine Nase. Er kannte ihn. Langsam drehte er seinen Körper in die andere Richtung des Zimmers. Auf dem weißen Ledersofa lag regungslos der Körper von Igor Komarow, dessen Aftershave den Raum zu füllen schien. Frank betrachtete Komarows behaarten Bauch. An der rechten Hand stach ihm sein Siegelring ins Auge, auf dem er den Buchstaben D erkannte. Sein Blick wanderte nach unten. Es irritierte ihn, zwischen dicken Beinen den kleinen Penis zu sehen. Bei dem Gedanken, dass Marija mit diesem Mann Sex hatte, stieg wieder Übelkeit in ihm auf. Warum ist der Kerl nackt, fragte er sich und versuchte aufzustehen. Der Schmerz kam wie ein Stromschlag. Stöhnend brach er auf dem Boden zusammen. Sein Körper war immer noch zu schwach. Alles schmerzte.

»Komarow, wach auf!«

Als sich dieser nicht regte, kroch er auf allen vieren zu ihm. Er schüttelte Komarow und wich, kaum hatte er dessen Oberschenkel berührt, stöhnend zurück. Komarows Körper war eiskalt. Seine Glieder steif. Panisch robbte er nach hinten, seine Hände griffen in das Erbrochene, glitten seitlich weg und er fiel hart auf den Rücken.

Ich muss hier weg, war sein einziger Gedanke. Er war nun hellwach. Die Angst gab ihm Kraft.

»Wo sind meine Kleider?«

Frierend rannte er in den ersten Stock, wo die Schlafzimmer waren. In eines von ihnen musste Barbara ihn geführt haben. Als er die erste Tür öffnete, hatte er den Eindruck, sich im Zimmer geirrt zu haben. Es war kein Bett zu sehen. Aber an die Wandschränke erinnerte er sich. Als er die nächste Tür öffnete, wusste er, dass irgendetwas geschehen war, was er jetzt noch nicht verstand. Dort stand ein Doppelbett, dessen Matratzen mit einer Plastikfolie abgedeckt waren. Er war sicher, in dem Schlafzimmer zu stehen, in das ihn Barbara geführt hatte. Aber wo war die Bettwäsche? Panisch riss er die Wandschranktüren auf. Sie waren leer. Nicht einmal ein Bügel hing auf der Kleiderstange. Sein einziger Wunsch war, so schnell wie möglich dieses Haus zu verlassen. In diesem Moment hörte er Fahrzeuge den gekiesten Weg zur Villa hinauffahren. Einen Moment verspürte er die Hoffnung, dass Marija ihn vielleicht holen würde. Er rannte zum Fenster und blickte auf den Vorhof am Haupteingang. Als er zwei Einsatzwagen der Polizei erkannte, ergriff ihn Panik. Etwas lief hier schief. Die Polizei würde nur ihn und den Toten vorfinden. Was das bedeutete, musste er sich nicht mehr vorstellen.

Frank rannte in ein kleines Badezimmer am Ende des Flurs. Dort gab es ein Fenster, welches auf das Dach führte. In einem offenen Regal entdeckte er einen frisch eingepackten Bademantel. Er riss die Plastikfolie weg, zog ihn über, öffnete das Fenster und stieg auf das Dach, als er von unten die Haustürklingel hörte. Vorsichtig kletterte er zur Dachrinne. Unter ihm tauchten zwei Polizisten auf, die auf die andere Seite der Villa liefen. Frank wartete, bis sie in Richtung Terrasse verschwanden, sammelte allen Mut und sprang. Zu seinem Glück federte ein Rhododendron den Fall ab. Die brechenden Äste allerdings hatten die beiden Polizisten alarmiert. Einer rief dem anderen etwas zu. Frank schaute nicht zurück, als er losrannte. Er hatte nur ein Ziel: die Mauer am Ende des Parks. Er hörte noch die Rufe der Polizisten, als er auf die Mauer sprang. Hart schlug er auf den Asphalt des Trottoirs und lief weiter durch die Vorgärten der Einfamilienhäuser Zollikons, hinauf in den schützenden Wald.

*

Eine halbe Stunde später fuhr Maxim Charkow die gekieste Einfahrt zur Villa hinauf. Die mächtigen Buchen warfen große Schatten. Sie wirkten wie alte Männer, die das zarte Grün der Wiese zu beschützen schienen. Zwei Polizeifahrzeuge und der Wagen des forensischen Dienstes standen vor dem Haupteingang, als er auf den mit Sandsteinplatten belegten Platz vor dem Eingang fuhr. Kaum war er ausgestiegen, kam Cla Corai, sein Assistent, auf ihn zu.

»Hallo Max, Danke, dass du deinen freien Nachmittag …«

»Ist schon gut«, winkte Charkow ab. »Was ist hier los?«

»Francine ist drin und sichert Spuren. Das Bereitschaftsteam war zuerst am Tatort. Sie umrundeten das Haus von zwei Seiten. Ein junger Mann floh über das Vordach.« Cla zeigte auf die Stelle. »In einem Morgenmantel.«

»In einem Morgenmantel?«

Cla nickte. »Und barfuß.«

»Haben sie ihn erwischt?«

»Nein, er sprang über die Mauer. Sie haben ihn aus den Augen verloren. Aber wir haben eine gute Beschreibung.«

Charkow nickte knapp. »Da kann man nichts machen.« Er blickte in Richtung Villa. »Woher wussten sie, dass Komarow da drin ist?«

»Es war ein anonymer Anruf«, sagte Priska, die gerade durch die Haustür schritt. »Der Anrufer sagte, dass Komarow ermordet worden sei und wir ihn hier finden können.«

»Keine Nummernidentifizierung?«, fragte Charkow.

Priska schüttelte den Kopf. »Auch die Stimme können wir keinem Geschlecht oder Alter zuordnen.«

»Verzerrt?«

»Ja«, bestätigte Cla. »Vielleicht eine Abrechnung unter Russen?«

»Warum glaubst du das?«, fragte Charkow.

»Komarow liegt splitternackt auf dem Sofa. Er wurde erwürgt. Außerdem hatte er vor seinem Tod Geschlechtsverkehr.«

»Mit einem Mann«, präzisierte Priska mit vielsagendem Blick.

»Vielleicht mit dem jungen Mann im Bademantel.«

»Wir gehen davon aus«, sagte Priska.

»Warten wir ab, ob Francine Spuren finden wird«, gab Charkow zu bedenken. »Sonst noch was?«

»Wir haben eine Fahndung nach dem Mann herausgegeben und lassen die Gegend nach ihm absuchen«, informierte Cla weiter. »Ach ja, erste Zeugen sagen, dass hier gestern Nacht eine Party gestiegen ist. Sie haben eine Menge teurer Schlitten rein- und rausfahren sehen. Die Villa war hell erleuchtet. Die Musik zu laut.«

»Nummernschilder?«, fragte Charkow.

Cla schüttelte den Kopf. »Leider nur einige Automarken.«

»Gut. Ich gehe jetzt rein und rede mit Francine«, entschied Charkow. »Danke, dass ihr mich trotz meines freien Nachmittags angerufen habt.«

»Du kanntest ihn, nicht wahr?«, fragte Cla und warf Priska dabei einen fragenden Blick zu.

»Komarow?« Charkow zögerte. »Oberflächlich. Von den Botschaftsanlässen. Wir waren nicht befreundet, wenn du das meinst.«

Cla hob entschuldigend die Arme.

»Ist schon gut« Charkow wandte sich ab und stieg die Marmorstufen zur Villa hinauf.

Weit kam er nicht. Die Rechtsmedizinerin Francine Boviard, die Komarows Leiche untersuchte, hatte den gesamten inneren Bereich der Villa abgesperrt. Der Eingangsbereich wies überall Spuren von Fingerabdruckuntersuchungen auf. Durch den Treppenaufgang hinauf sah er zwei Mitarbeiter von Francines Team, die Fotos machten, während eine Frau Fingerabdrücke von den Wänden nahm.

»Du kannst noch nicht rein«, begrüßte ihn Francine, die eine Probe zwischen Komarows Beinen entnahm und den Wattestab in einem Kunststoffbehälter verschloss. »Hattest du dir nicht freigenommen?«

»Ich nehme mir ein andermal frei.«

»Wann hast du das letzte Mal Urlaub gemacht?«, bohrte Francine weiter nach.

»Hast du was für mich?«, fragte Charkow gereizt.

»Es ist definitiv Igor Komarow.«

»Das sehe ich.«

»Ich habe Samen in seinem Anus gefunden. Oben liegt eine Kunststoffverpackung. Sehr wahrscheinlich war ein Bademantel drin. Die Fingerabdrücke konnten wir sichern und wir haben Kopfhaar gefunden.«

»Schwarz?«

Francine nickte. »Entsprechend der Beschreibung der zwei Polizisten, die den jungen Mann haben entwischen lassen.«

Charkow blickte sich um. »Wer hat hier aufgeräumt?«

Francine zuckte mit den Schultern.

»Merkwürdig«, sagte Charkow leise.

»Warum?«

»Das ist doch eine Mietvilla. Ich frage mich, warum hier alles aufgeräumt ist.«

»Das gehört zum Service« erklärte Francine. »Aber du hast recht. Wenn das Personal hier gewesen wäre, hätten die uns sicher angerufen und auch einen Namen genannt.«

Charkow zog sein Smartphone hervor, suchte nach dem Vermieter und rief ihn an. Er erfuhr, dass die Villa für die ganze Woche gemietet war und die Putztruppe erst in drei Tagen kommen sollte. Charkow wies ihn an, ihm den Mietvertrag zu scannen und gleich zu mailen. Nachdem er aufgelegt hatte, wandte er sich wieder Francine zu.

»Hast du das Erbrochene untersucht?«

Francine seufzte, stand auf und ging unter dem Absperrband hindurch zu Charkow, um ihn zur Begrüßung auf die Wange zu küssen. »Caro mio, natürlich habe ich eine Probe von dem Schlamassel genommen. Aber Details zum Inhalt bekommst du später. So viel kann ich sagen: Es ist Kaviar in dem Erbrochenen.« Sie zeigte auf Cla und Priska, die vor der Haustür standen. »Warum hast du nicht den beiden die Untersuchungen überlassen?«

»Priska hatte mich gebeten zu kommen.«

»Oh, das wusste ich nicht.«

»Die beiden sind gut genug. Aber hier geht es um Komarow und es ist sicher besser, wenn ich mit dem Russischen Honorarkonsul persönlich spreche.«

»Was verbindet Komarow mit dem Konsul?«

»Igor war Alexej Komarows Bruder.«

Francine hob erstaunt ihre Augenbrauen. »In diesem Fall wirst du ihm den Tod seines Bruders mitteilen?«

Charkow nickte.

»War Komarow verheiratet?«

»Ein Mann in seinem Alter und mit unvorstellbarem Vermögen heiratet nicht. Warum fragst du?«

»Er trägt einen Ehering.«

»Okay, ich kläre das ab.«

»Aber wenn Russen mit Vermögen nicht heiraten, habe ich ja bei dir noch Chancen«, grinste Francine, duckte sich unter dem Absperrband hindurch, um sich wieder Komarows Leiche zu widmen. »Viel Kraft«, rief sie ihm nach, als er sich zum Ausgang wandte. »Du hörst von mir, sobald ich das hier«, sie hob einen Kunststoffbehälter mit der Samenflüssigkeit, »untersucht habe.«

Als Charkow in die Sonne trat, meldete sein Smartphone den Eingang einer E-Mail. Sie war vom Vermieter der Villa. Er überflog das Geschriebene kurz und warf einen Blick auf den Vertrag in der Beilage. Schnell wurde ihm klar, dass die Villa von einem russischen Unternehmen in Moskau gebucht wurde, dessen Firmensitz im Kanton Zug war. Vermutlich handelte es sich um eine Briefkastenadresse und sie würden geringe Chancen haben, den Mieter ausfindig zu machen.

*

Cla lenkte den Wagen durch den dichten Verkehr, während Charkow aus dem Fenster blickte und sich innerlich auf das Treffen mit Komarows Bruder vorbereitete. Es musste vor drei Monaten gewesen sein, als er Alexej Komarow bei Vladimir im Restaurant getroffen hatte. Igor war bei ihm. An ihrer Seite waren zwei wesentlich jüngere Frauen gewesen, die den Brüdern Gesellschaft leisteten. Er hatte mit den beiden nur wenige Worte gewechselt. Höflichkeiten ausgetauscht. Die Frauen hatte man ihm nicht vorgestellt. Vielleicht aus gutem Grund. Nicht selten mieteten reiche Russen, die gegen Ende 50 gingen, attraktive Escort-Frauen, um in der Öffentlichkeit in Sachen Frauen als erfolgreich angesehen zu werden.

»Woran denkst du?«, fragte Cla und riss ihn aus seinen Gedanken.

»Was Geld aus einem Menschen machen kann.«

Cla schien nicht zu verstehen, was er damit meinte, fragte aber nicht weiter. »Wir sind gleich da. Soll ich mitkommen?«

»Selbstverständlich. Achte bei Alexej Komarow auf seine Hände. Wenn er nervös ist oder lügt, beginnt er seine Finger zu kneten.«

Sie stellten den Wagen auf dem Platz vor dem Großmünster ab, da die Oberdorfgasse, wo sich das Konsulat befand, für ihr Fahrzeug zu eng war. Ein Blumenladen und eine Buchhandlung säumten den Eingang zum Konsulat. Nur ein dezentes Messingschild auf der Hausfassade zeugte von dessen Existenz. Ein Sekretär um die 30 betreute den Empfang. Charkow stellte sich vor. Der Sekretär warf einen Blick auf den Polizeiausweis und wollte Komarow anrufen, als sich eine Tür hinter ihnen öffnete und ein stämmiger, leicht untersetzter Mann mit weißem Hemd, leicht geöffneter Krawatte, breiten Hosenträgern und zurückgekrempelten Ärmeln auf sie zulief.

»Maxim! Mit dir hätte ich nicht gerechnet. Was für eine schöne Überraschung.«

»Privetstvuju, Alexej!4«, sagte Charkow und schüttelte Komarows kräftige Hand. »Das ist Cla Corai, mein Partner. Wir müssen mit dir reden.«

»Kommt in mein Büro«, forderte Komarow sie auf und lief voraus.

Charkow entging der misstrauische Blick des Sekretärs nicht, der sie auf dem Weg in Komarows Büro verfolgte.

Als Alexej Komarow die Doppeltür hinter sich schloss, bat er sie auf dem Sofa Platz zu nehmen, welches zusammen mit zwei bequemen Sesseln, einem Salontisch und einem elektrischen Samowar den gemütlichen Teil des Büros bildete. Komarow schenkte ihnen ungefragt Tee ein und ließ sich auf einem der Sessel nieder. Als er die Tasse zu den Lippen führte, bemerkte Charkow das leichte Zittern seiner Hände.

»Alexej, wir sind heute aus beruflichen Gründen zu dir gekommen. Dein Bruder ist gestern Nacht gestorben«, sagte Charkow ohne Umschweife.

Komarow setzte die Tasse ab. Die Farbe wich aus seinem Gesicht. Er blickte Charkow an, als ob er etwas nicht richtig verstanden hätte.

»Igor? Tot? Unsinn!« Ein unsicheres Lachen folgte.

Charkow schwieg.

»Ich habe gestern mit Igor telefoniert. Wir wollen am Wochenende nach Moskau. Die Privatmaschine ist gebucht …«

Er stockte mitten im Satz. Charkows Schweigen ermöglichte die Zeit, die die unumstößliche Wahrheit brauchte, um den Weg in Komarows Bewusstsein zu finden.

»Wie?«, fragte er heiser.

»Wir wissen es noch nicht.«

»Wurde er …«

»Er musste nicht leiden. Aber unseren ersten Erkenntnissen nach starb er durch Fremdeinwirkung.«

»Man hat ihn ermordet, willst du sagen.«

»Ja.«

»Wie?«, wollte Komarow wissen.

»Es tut mir leid, aber du musst die Untersuchungsergebnisse abwarten.«

»Du weißt es, willst es mir aber nicht sagen.«

»Kennst du die Villa Lilya am See?«, lenkte Charkow das Gespräch in eine andere Richtung.

Komarow stand auf und lief zum Fenster. Er wandte ihnen den Rücken zu. Sie sahen, dass er sich Tränen aus den Augen wischte. »Ich weiß nichts von einer Villa.«

Charkow spürte, dass er log. Trotzdem erwiderte er nichts, trank von seinem Tee und wartete, bis sich Komarow ihnen zuwandte.

Es dauerte eine Weile, bis Komarow seine Haltung zurückgewann und im Sessel wieder Platz nahm.

»Habt ihr einen Verdacht, wer ihn ermordet hat?«

Charkow schüttelte den Kopf.

»Ich will ihn sehen«, forderte er.

»Das kannst du. Später. Jetzt musst du uns helfen«, sagte Charkow in ruhigem Tonfall. »Wir wissen von der Party, die gestern in der Villa stattfand. Wir wissen, dass Igor dabei war. Ich brauche Zeugen und ich muss erfahren, wer gestern Nacht Gast in der Villa war. Hier, die Firma ›Tarassow-Oil-Prom‹ hatte die Villa angemietet.« Er zeigte ihm das Display seines Smartphones, auf dem die Website des Unternehmens zu sehen war. »Du hast gute Kontakte zur Wirtschaft. Sagt dir der Name etwas?«

Alexej Komarow schüttelte sofort den Kopf und begann gleichzeitig seine Finger zu kneten. Cla warf Charkow einen kurzen Blick zu.

»Aber du kannst mir sicher helfen, den inoffiziellen Kontakt zu den Vertretern dieses Unternehmens in der Schweiz herzustellen.«

Komarow schien etwas abzuwägen. »Ich glaube, du musst dich direkt an die Zentrale in Moskau wenden. Es gibt keine Vertretung im Ausland.«

»Dafür, dass du die Firma nicht kennst, weißt du erstaunlich viel über sie.« Charkow ließ seine Worte einen Moment wirken. »Alexej, warum machst du es uns so schwer? Wir werden die Wahrheit so schnell aus dem Wasser ziehen, wie du die Regenbogenforelle aus der Moskwa, die an deiner Datsche5 vorbeifließt.«

Komarows Hände verknoteten sich fester, sodass die Knöchel weiß hervortraten. Charkow bemerkte den Siegelring, der ein goldenes kyrillisches D auf rotem Grund zeigte, das dem lateinischen A optisch glich. Er wusste, dass Komarows zweiter Vorname Dimitri war und der Ring wohl aus diesem Grund diese Gravur hatte.

Charkow erhob sich und legte seine Visitenkarte auf den Tisch. »Ruf an, wenn dir etwas einfallen sollte.«

Cla sprang, völlig überrascht von Charkows Verhalten, ebenfalls auf.

Komarow blickte die beiden fragend an. »Was ist nun? Kann ich Igor sehen?«

»Ich rufe dich an. Die Rechtsmedizin muss den Leichnam erst freigeben.«

Komarow blieb sitzen und starrte auf Charkows Karte. Er war in sich gesunken und die Farbe war immer noch nicht in sein Gesicht zurückgekehrt. Charkow schloss die Doppeltür. Der Sekretär war nicht mehr hinter dem Empfangstisch. Sie verließen das Konsulat und liefen die Oberdorfgasse entlang zu ihrem Wagen. Als sie ein Stück gegangen waren, blieb Cla stehen.

»Warum haben wir Komarow so schnell verlassen? Er hat dir keine deiner Fragen beantwortet und seine Kooperation verweigert.«

»Alexej konnte nicht anders.«

»Natürlich konnte er anders. Er hat uns die ganze Zeit angelogen!«

»Ich verstehe deine Wut, aber dieser Mann hat Angst.«

»Angst? Wovor?«

»Das weiß ich nicht«, sagte Charkow. »Noch nicht.«

»Aber ein Mann wie Komarow, reich, Konsul mit besten Kontakten in Politik und Wirtschaft, erfolgreich … wovor soll dieser Mann Angst haben?«, hakte Cla nach.

»Das ist die entscheidende Frage, deren Antwort uns ein gutes Stück weiterbringen wird. Du musst lernen, dass die Dinge Zeit brauchen, sich von selbst entwickeln müssen. Die Forelle muss den Köder erst betrachten können, bevor sie zubeißt.«

*

Leichter Nieselregen benetzte den verbrannten Rasen am Ufer des Flusses Sihl im Sihlwald. Der Sommer war heiß gewesen. Der Fluss war bis auf wenige kleine Pfützen, in denen während der letzten Monate Graureiher erfolglos nach kleinen Fischen suchten, ausgetrocknet. Endlich konnte die Natur das spärliche Nass einatmen. Frank hörte das monotone Zischen der Autoreifen auf nassem Asphalt, als er durch den dunklen Wald in Richtung Campingplatz lief. Das Zischen überdeckte penetrant das schwache Rauschen der Sihl, an dessen Ufer die früher viel befahrene Verbindungsstraße zwischen Zug und Zürich entlangführte. Seit der Eröffnung des Uetlibergtunnels hatte der Verkehr stark abgenommen. Die wenigen Gasthäuser im Tal mussten nach und nach Konkurs anmelden. Viele Gebäude standen nun leer. Einzig das Bordell und der Campingplatz profitierten von der Abgeschiedenheit. Letzterer war ein Ort ohne Charme. Ohne Hoffnung. Frank hatte den Campingplatz so wenig wie möglich besucht. Nicht, weil ihn die umständliche Reise an diesen Ort daran hinderte, sondern weil hier sein Vater lebte. In einem kleinen, schäbigen Wohnwagen verbrachte er die meiste Zeit des Tages mit Trinken. Er erinnerte sich an den Tag, als sein Vater begann, seine Mutter zu schlagen. Sofort war er dazwischen gegangen. Er war 14 Jahre alt gewesen, als seine Faust das Nasenbein seines Vaters zertrümmerte. Seine Mutter hatte geschrien. Frank hatte nichts gespürt, als er seinen Vater wimmernd, die blutige Nase haltend, auf dem Fußboden liegen sah. Als seine Mutter ihn mit einem vorwurfsvollen Blick bedachte, war er enttäuscht aus der Wohnung gerannt.

Frank verscheuchte diesen Gedanken und versuchte die Ereignisse des Tages zu ordnen. Das Adrenalin beherrschte seinen Körper immer noch. Stolz erfüllte ihn ein wenig, weil er es geschafft hatte, den Polizisten zu entkommen. Ohne einmal zurückzuschauen, gelang es ihm auf direktem Weg durch die Vorgärten der Einfamilienhäuser, in den nahe gelegenen Wald zu flüchten. Erst, als er sich am Fuße einer mächtigen Buche auf den Waldboden setzte und einige Zeit verstreichen ließ, um sicher zu sein, seine Verfolger abgeschüttelt zu haben, konnte er wieder einen klaren Gedanken fassen. Als die Dämmerung einsetzte, hatte er in einem der Vorgärten unbemerkt Kleider von der Wäscheleine stehlen können. Den Bademantel hatte er später in eine Mülltonne geworfen. Ziellos war er durch die Stadt gelaufen. Wenn er einen Polizeiwagen sah, versteckte er sich. Geld und Ausweispapiere waren in den Kleidern gewesen, die er in der Villa nicht mehr hatte finden können. Ihm war klar, dass er zu Geld kommen musste. Aber ohne Bankkarte oder Ausweis würde ihm keine Bank Zugriff auf sein Konto geben. Sein Zuhause gab es nicht mehr. Mutter hatte die Wohnung wenige Tage nach ihrer Einlieferung in das Krankenhaus gekündigt, weil sie das Geld für die Behandlung brauchte. Frank hatte ihr vorgelogen, dass er mit seinem Stipendium auch ein Zimmer bei der Universität bezahlen konnte. Sie sollte sich keine Sorgen machen. Und es war keine Lüge. In den letzten Monaten hatte er mehr Geld auf dem Konto, als er sich jemals hatte erträumen lassen. Niemandem hatte er vom Geld und Barbara, der Frau, die ihn reich gemacht hatte, erzählt. Seine ganze Kindheit hindurch war Geld immer ein Thema gewesen. Weil es nie da war. Der Streit zwischen seinen Eltern eskalierte an jedem Monatsende. Der Mangel musste seine Mutter krankgemacht haben. Sie, die in einer Wäscherei als Hilfskraft im Schichtdienst gearbeitet hatte, während der Vater seine Invalidenrente, zusammen mit seinem letzten Rest an Verstand, im Wohnwagen versoff.

Die Sache mit Barbara hatte wegen eines Herrenhemds angefangen, das er sich eigentlich nicht leisten konnte. Mit dem Geld seiner Mutter kaufte er sich jenes Hemd, das er Wochen zuvor immer wieder im Schaufenster bewundert hatte. Mit so einem Hemd würde er an der Universität mit den anderen Studenten mithalten können, war er überzeugt gewesen. Die Mädchen würden ihn endlich wahrnehmen. Frank wusste, dass ihn sein schwarzes dichtes Haar und sein dunkler Teint, den er von seinem russischen Vater geerbt hatte, attraktiv machten. Am Informationstag der Universität hatte er Angst, man würde ihm seine Armut ansehen. Die angehenden Medizinstudenten hatten alles. Autos, gute Manieren, eine attraktive Freundin, die richtige Kleidung und Geld. Er hatte nichts. Ihn würde man ausgrenzen. Da war er sich sicher gewesen. Dieses verdammte Hemd, dachte er. Nachdem er es gekauft hatte, war vom Erbe seiner Mutter nur noch ein paar Franken Wechselgeld übrig geblieben. Damit hatte er sich einen Espresso im »Sprüngli« an der Bahnhofstraße geleistet. Und diese Entscheidung hatte ihn zu Barbara geführt.

*

Drei Wochen zuvor, Café Sprüngli, Bahnhofstraße in Zürich

»Du bist Peter?«, sprach ihn unvermittelt eine Frau in den Fünfzigern an, als die Kellnerin Frank den Kaffee brachte.

Eine innere Stimme riet ihm, nicht Nein zu sagen, und er nickte.

»Die Vermittlung hatte dich irgendwie anders beschrieben, ein wenig älter. Jetzt bin ich positiv überrascht.«

Sie warf ihm ein vielsagendes Lächeln zu. Ihm fiel in diesem Moment auf, dass sie einmal sehr schön gewesen sein musste. Ihre Kleider, die Handtasche und die Frisur deuteten darauf hin, dass sie reich war. Der russische Akzent verriet ihre Herkunft.

Sie zeigte auf das Hemd. »Aber das Hemd stimmt. Und ich muss sagen, es steht dir gut.«

Frank nickte, obwohl er nichts verstand. Sie setzte sich ungefragt an seinen Tisch, der draußen auf der Bahnhofstraße stand. Sie verwechselte ihn mit jemand anderem und dieser Zufall machte ihm Spaß. Er wusste nicht, wer er in den Augen dieser Frau war. Aber das Gefühl von kindlicher Freude über das Versteckspiel war größer als die Angst vor der Entdeckung der Lüge.

»Wam pravda nravitsja?«6

Sie war überrascht, als er ins Russische wechselte.

»Da, otschen’.«7

Er entschied, im Russischen zu bleiben, und fragte, woher sie stamme. Das Lächeln verschwand sofort aus ihrem Gesicht. Ihre Augen verengten sich und zeigten Misstrauen. Sie taxierte ihn. Zu seiner Überraschung hielt er ihrem Blick stand. Einen Augenblick lang schien sie etwas abzuwägen und kurz darauf zu einer Entscheidung zu kommen.

»Ja iz Moskvi. Wi znajete gorod?«8

Frank schüttelte den Kopf.

»Ich habe dort gelebt, bis ich zu dem wurde, was du jetzt bist«, sagte sie mit einem abschätzigen Lächeln.

Er schwieg, denn er verstand nicht, worauf sie anspielte. Sie warf einen Blick auf ihre goldene Armbanduhr. Als die Kellnerin kam und eine Bestellung aufnehmen wollte, winkte sie diese weg.

»Passt dir das Hyatt?«

»Das Hotel?«

»Ja.«

»Sicher«, antwortete er schnell, ohne zu wissen, warum sie ihn das fragte.

»Gut.«

Sie stand auf und lief los, ohne auf ihn zu warten. Er warf sämtliche Münzen aus seiner Hosentasche auf den Tisch und rannte hinter ihr her.

Wenig später erreichten sie die Lobby des Hotels. Sie nickte der Rezeptionistin kurz zu, worauf ihr diese eine Zimmerkarte aushändigte. Als sich die Lifttüren hinter ihnen schlossen, beugte sie sich vor und roch an ihm. Frank irritierte diese Geste, er schwieg jedoch. Ein Lächeln huschte über ihre Lippen. Sie schien zufrieden mit dem, was ihre Nase wahrnahm.

»Ich heiße Barbara«, sagte sie knapp.

Frank nickte. Sie verließen den Lift und betraten einen weiten, lichtdurchfluteten Gang. Alles hier riecht nach Luxus, dachte er. Der Geruch war ihm so fremd, wie einem Fisch die Luft, nachdem er gerade an Land gezogen wurde. Sie steckte die Schlüsselkarte ins Schloss. Die Tür zum Zimmer 211 öffnete sich mit einem dezenten Klicken und gab den Blick auf ein frisch bezogenes Doppelbett frei. Frank blickte sich um. Als er keine persönlichen Gegenstände sah, hätte er am liebsten gefragt, warum sie hier waren. Aber er wollte das Spiel weiterspielen. Seine Neugier war größer als die Angst.

»Ich geh schnell ins Bad. Du kannst dich schon ausziehen«, sagte Barbara, ohne ihn dabei anzublicken.

»Ok«, antwortete Frank und räusperte sich.

Barbara hatte seine Unsicherheit nicht bemerkt und schloss die Schiebetür zum Bad hinter sich. Als das Rauschen des Wassers von der Dusche zu hören war, blickte er sich nervös um. Das wäre der Moment gewesen, das Zimmer einfach zu verlassen und zu verschwinden. Aber er entschied sich anders. Beeindruckt betrachtete er die edlen Möbel, prüfte den Inhalt der Minibar, warf einen Blick aus dem Fenster auf die gegenüberliegenden Häuser und setzte sich vorsichtig auf den Sessel, in dem er sogleich versank. Auch hier roch es wie ein klarer, blauer Herbsthimmel. Ich soll mich ausziehen, kam ihm wieder in den Sinn. Sie kennt mich nicht, sieht in mir aber einen Mann, den sie erwartet hatte, versuchte er die Situation zu verstehen, während er langsam sein Hemd aufknöpfte und es anschließend sorgfältig über einen Bügel hängte, den er im Kleiderschrank fand. Das Rauschen der Dusche hatte aufgehört. Schnell zog er Schuhe, Socken, Hose und die Unterhose aus. Als er nackt im Zimmer stand, kam Barbara aus der Dusche. Sie trug einen Bademantel und betrachtete ihn von oben bis unten. Nach einigen Augenblicken schien sie ihn für gut zu befinden. Ihr Haar hatte sie aufgesteckt, was sie jünger aussehen ließ. Ihre Hüften zeugten davon, dass sie Kinder geboren hatte. Aber sie sind nicht zu breit, dachte er und taxierte sie ebenfalls mit den Augen eines angehenden Medizinstudenten. Ihre Brüste sind nicht zu groß. Sie hat für ihr Alter immer noch einen attraktiven Körper.

»Hast du einen Aids-Test dabei?«, fragte Barbara geschäftsmäßig und frottierte dabei ihr nasses, langes, dunkelrotes Haar.

Frank war von ihrer Direktheit überrumpelt.

»Nein«, antwortete er.

»Kondome?«

»Wie bitte?«

»Hast du Kondome dabei?

Frank schüttelte den Kopf. Barbara schien etwas abzuwägen.

»Wie viele Frauen hattest du schon?«

Ihm fiel Sarah ein. Seine Freundin, von der er sich vor drei Monaten getrennt hatte. Sie hatten schon oft Sex miteinander gehabt. Das zählte sicher.

»Ich bin relativ neu in diesem Geschäft.«

Barbara lachte. »Das merkt man. Also, hast du Kondome? Ich will mir von dir keine Krankheiten holen.«

»Ich bin gesund. Mach dir keine Sorgen.«

Barbara wirkte gelangweilt. »Das sagen alle.« Sie öffnete ihre Handtasche, suchte und zog wenige Augenblicke später ein perlmuttbesetztes Täschchen hervor, aus dem sie ein Kondom hervorzauberte. »Hier. Zieh das über. Das sollte ja jetzt kein Problem sein«, sagte sie mit einem versöhnlichen Lächeln, als ihr Blick auf sein schon fast erigiertes Glied fiel.

Barbara hatte ihn gut bezahlt. Sex mit ihr hatte sich immer seltsam angefühlt, weil sie so viel älter war als er. Aber Frank roch ihr Parfum gern, bewunderte ihre elegante Seidenunterwäsche. Und er mochte, dass sie schnell kam. 500 Franken waren es beim ersten Mal. Später wurden es 1.000 Franken. Eines Tages hatte sie ihm gesagt, er solle sich schicke Kleidung kaufen. Sie gab ihm 500 Franken extra. Einfach so.

Das Semester wird in einem Monat beginnen, fiel ihm nun ein, als er auf die asphaltierte Zufahrtstraße bog, die zum Campinglatz führte. Die Zusage für ein Stipendium erreichte ihn letzten Frühling. Nur seiner Mutter hatte er davon erzählt. Sie war stolz auf ihn gewesen. Du wirst Arzt werden, hatte sie leise gesagt. Ihre Stimme war schon von der Krankheit gezeichnet. Ob er sich freue, wollte sie wissen. Er log und nickte. Arzt war schon was. Es war eine Chance gewesen, Geld zu verdienen. Das hatte ihn motiviert. Nun hatte diese Zukunft ihre schillernden Farben verloren. Ein grauer Schleier aus dumpfen Gefühlen hatte sich davorgelegt. Sein Leben hatte eine dramatische Wendung genommen. Alles war jetzt anders. Fremd. Ohne klare Umrisse, an die er sich in den letzten Monaten geklammert hatte. Jetzt musste er seine Fähigkeit zum Denken nutzen, um sich zu retten. Er war in etwas hineingeraten, was er nicht verstand. Zuerst brauchte er Geld. Und das würde er sich von seinem Vater holen. Morgen wollte er herausfinden, was die Polizei bis jetzt wusste. Und dann musste er Barbara finden. Und wenn er viel Glück hatte, würde er auch Marija wieder begegnen.

4 Sei gegrüßt, Alexej

5 Russisches Sommer-/Wochenendhaus

6Gefällt es Ihnen tatsächlich?

7 Oh ja, sehr.

8 Ich komme aus Moskau. Kennst du die Stadt?

Kapitel 2

Charkows Hände umfassten die Tasse mit heißem Kaffee. Er beobachtete, wie Francine Boviard routiniert die Ordner über den Bildschirm ihres Rechners schob und die Dateien zum Tod Igor Komarows öffnete. Es waren schon zwei Tage vergangen, seitdem sie dessen Leiche in der Villa Lilya gefunden hatten. Priska und Cla, seine beiden Assistenten, hatten mit Unterstützung eines anderen Ermittlungsteams die Nachbarn und den Vermieter befragt. Wie Charkow vermutete, hatten weder die Befragung des Vermieters der Villa noch die Suche nach dem Mieter Ergebnisse gebracht, die sie weiterbringen konnten. Die russische Firma in Zug wurde nur durch einen Schweizer Anwalt repräsentiert, der offiziell die Geschäftsstelle vertrat. Der Anwalt beteuerte, keine Ahnung von den Aktivitäten der Russen zu haben, was Charkow nachvollziehen konnte. Die ausländischen Firmen benutzten oft Anwälte für die rechtlichen Belange und als Strohmänner, um einen Firmensitz im steuergünstigsten Kanton der Schweiz zu erhalten. Im Gegenzug bezahlte man diese Anwälte fürstlich. Auf die Frage, ob es Mitarbeiter der »Tarassow-Oil-Prom« in der Schweiz gäbe, gab es ein klares Nein vom Anwalt. Die Sitzungen fanden in Moskau oder Petersburg statt. Er hätte immer mit den gleichen Personen zu tun. Ausschließlich mit Juristen und Finanzleitern. Die »Tarassow-Oil-Prom« agieren weltweit. Die Schweiz diene lediglich als Steuerhafen für die Geschäfte in Europa.

»Hat Komarow keine Familie, außer seinem Bruder?«, unterbrach Francine seine Gedanken.

Charkow trank einen Schluck Kaffee, der süß und kräftig schmeckte. »Du sprichst den Ehering an?«

Sie nickte.

»Er hat eine Ex-Frau. Sie lebt in Moskau. Seine Eltern sind schon lange gestorben.«

»Alexej Komarow ist sehr hartnäckig.«

»Er will seinen Bruder sehen.«

»Kannst du ihn bitten, hier nicht fünfmal am Tag anzurufen, und meine Mitarbeiter zu nerven? Ich melde mich bei ihm, sobald ich alle Untersuchungen durchgeführt habe.«

»Sicher.«

»Danke. Auf dich wird er hören. Für ihn bin ich ja nur eine Frau. Die zählen bei gewissen Männern nichts.« Sie wandte ihren Blick wieder dem Bildschirm zu. »Nun zu Igor Komarow. Er wurde mit einem braunen Ledergürtel erwürgt. Wir fanden Fasern des Gürtels an seinem Hals. Den Gürtel stellten wir mit anderen Kleidern zwischen Matratze und Bett im Schlafzimmer Ost sicher. Das ist das erste Schlafzimmer links, wenn du die Treppe hi­nauf­kommst.«

Charkow stellte seine Tasse ab. »Ein ungewöhnlicher Ort, um Kleider abzulegen.«

Francine nickte. »Das Sperma konnten wir nicht identifizieren. Die DNA ist nicht in unserer CODIS-Datenbank verzeichnet. Aber da es sich ja um einen Russen handelte, suchen wir auch in den ausländischen Datenbanken.«

»Sehr gut. Danke. Konntest du schon die Fingerabdrücke, das Haar und das Erbrochene untersuchen?«

Francine nickte. »Sie stammen alle von ein und derselben Person. Männlich, weiß.«

»Das könnte der junge Mann sein, der über das Dach geflüchtet ist.«

»Bring ihn mir und ich sage dir, ob er es war.«

»Wir suchen ihn.«

»Ach ja, ich wollte dir noch sagen, dass ich im Erbrochenen eine chemische Substanz gefunden habe, die dort nicht sein sollte.«

Charkow horchte auf. »Lass mich raten, es war ein Sedativum.«