Engelschatten - Marcus Richmann - E-Book

Engelschatten E-Book

Marcus Richmann

4,9

Beschreibung

Der russischstämmige Chefermittler der Mordkommission Zürich, Maxim Charkow, wird mit einer Serie mysteriöser Mordfälle in katholischen Kirchen konfrontiert. Der Täter hinterlässt bei seinen Opfern Insignien der heiligen Sakramente. Charkows schlimmste Befürchtung, einen religiös motivierten Serientäter jagen zu müssen, scheint sich zu bestätigen. Erst der dritte Mord führt ihn auf eine neue, weitaus gefährliche Spur und in ein dunkles Kapitel Schweizer Geschichte …

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Marcus Richmann

Engelschatten

Kriminalroman

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

© 2013 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: René Stein

Herstellung / E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Woozaa / photocase.com

ISBN 978-3-8392-4182-0

»Die Religionen sind verschiedene Wege, die im gleichen Punkt münden. Was macht es, dass wir verschiedene Wege gehen, wenn wir nur das gleiche Ziel erreichen?«

Mahatma Gandhi

»Ein dem zu sehendenGegenstandverwandt und ähnlich gemachtesAugemuss man zum Sehen mitbringen. Nie hätte das Auge jemals die Sonne gesehen, wenn es nicht selber sonnenhaft wäre; so kann auch die Seeledas Schönenicht sehen, wenn sie nicht selbst schön ist.«

Plotin

1

Wie viel Leid erträgt ein Mensch?

Iwan Solow­jow konnte nur noch hören und die Augen bewegen. Einzig seine Erinnerung teilte ihm mit, dass der Marmorboden kalt war, auf dem er nackt lag. Jeder Versuch, den Kopf zu drehen, scheiterte. Er fühlte nichts mehr, war gelähmt, aber bei Bewusstsein. Sein Blick war starr zur Decke gerichtet. Romanische Rundbögen stützten die Decke über dem Altar, auf deren Frontseite goldene Engel das Jesuskind schützend flankierten, welches geborgen in Marias Armen lag. In dem fahlen Mondlicht, das durch die Buntglasfenster ins Kirchenschiff drang, warfen die Gebetsbänke graue Schatten. Noch nie in seinem Leben hatte er sich so einsam gefühlt.

Was war mit ihm geschehen?, fragte er sich, während er nach Luft rang.

Solow­jow erinnerte sich an den Geruch von Weihrauch, als er die schweren Flügeltüren zur Kathedrale aufgestoßen hatte. Am eindrücklichsten war die Stille gewesen, die ihn umgab, als er wie verabredet – draußen war es bereits dunkel – das Hauptschiff betrat und zum Beichtstuhl hinüberging. Dort setzte er sich auf die kleine Holzbank, die unter seinem Gewicht knarrte, und zog den Vorhang zu. Man hatte ihm gesagt, er solle dort warten und auf keinen Fall seinen Platz verlassen, bis ihm jemand die Erlaubnis dazu gab. Kurz darauf vernahm er Schritte, die vor dem Beichtstuhl verstummten. Jemand betrat die gegenüberliegende Kammer, setzte sich und schob das Verbindungstürchen zwischen ihnen auf. Die Dunkelheit und das Flechtwerk aus Holz schützten die Identität seines Gegenübers.

»Du bist hier, um die Wahrheit zu erfahren?«, fragte ihn eine unbekannte Stimme.

»Ich bin hier, um zu erfahren, was Sie wissen«, antwortete er leise.

»Ich weiß mehr, als du glaubst«, war die knappe Antwort. »Wer führt euch an?«

»Von was reden Sie?«

»Wer führt euch an?«, kam erneut die Frage. Die Stimme klang nun ungehalten.

»Wir wissen es nicht.«

»Bei dir finden die Treffen statt. Du musst es wissen.«

Solow­jow schwieg.

»Ich habe euch gesehen.«

Anscheinend hatte man ihn und die anderen beobachtet. Er wusste, worauf der Unbekannte ihn ansprach. Solow­jow hatte trotzdem keine Ahnung, wer der Führer war. Er war nie bei den Treffen anwesend. »Den Führer kennt niemand«, verteidigte er sich.

»Du lügst!«

»Verdammt noch mal! Ich lüge nicht«, schrie Solow­jow zurück. »Niemand kennt ihn. Wenn Sie angeblich alles wissen, kennen Sie ja auch unser ungeschriebenes Gesetz. Wer versucht, seine Identität in Erfahrung zu bringen, spielt mit seinem Leben!«

Es entstand eine Pause. Der Unbekannte schien abzuwägen, ob er ihm glauben konnte.

»Du und die Deinen haben meinen Engel gestürzt«, brach der Unbekannte das Schweigen. »Und so werdet ihr gestürzt vom Thron des Hochmuts.«

»Was wollen Sie damit sagen?«

»Dir sollen erst deine Sünden vergeben werden.«

Das Verbindungstürchen wurde ganz geöffnet. Solow­jow versuchte zu erkennen, wer zu ihm sprach. Doch es war zu düster, um gegenüber mehr als nur einen Schatten zu sehen. Aus der Dunkelheit streckte sich ihm eine weiße, feingliedrige Hand entgegen. Am Geruch nach Gummi erkannte er, dass der Unbekannte Latexhandschuhe trug. Diese Tatsache irritierte ihn. Er hatte keine Zeit, sich über die Gründe klar zu werden, denn man reichte ihm in diesem Moment eine Oblate und bat ihn, den Mund zu öffnen.

»Was soll das?«

»Nimm den Leib und das Blut Christi«, forderte ihn die Stimme auf.

Widerwillig nahm er die Hostie. »Sagen Sie mir, was Sie wissen. Und nennen Sie mir den Preis für Ihr Schweigen.«

Anstatt einer Antwort wurde ihm aus dem Dunkel ein Kelch gereicht. »Nimm den Leib und das Blut Christi«, forderte ihn die Stimme energisch auf.

Verärgert stieß Solow­jow den Kelch weg. Erneut nahm er den penetranten Geruch von Gummi wahr. Einen Moment lang geschah nichts. Plötzlich schnellte die Hand nach vorne und sofort wieder zurück. Er spürte, dass etwas Scharfes seine Wange gestreift hatte. Erschrocken wich er zurück.

»Spinnen Sie?«

Der Schatten schwieg.

»Also, was wollen Sie?«, nahm er das Gespräch wieder auf. Es fiel ihm schwer, sich zu beherrschen. Er wartete, dass man ihm nun weitere Anweisungen geben würde. Doch aus dem Dunkel kam nur beharrliches Schweigen. »Was wollen Sie, verdammt noch mal?«, wiederholte er ungeduldig.

»Wir warten.«

»Auf was?« Als Solow­jow wieder keine Antwort erhielt, verlor er seine Beherrschung: »Hören Sie! Ich bin hier, wie Sie es gewünscht haben! Auch wenn ich ein gläubiger Mensch bin, so haben wir Wichtigeres zu tun, als hier ein Abendmahl abzuhalten. Meine Geduld ist nicht unerschöpflich!«

Als Antwort knallte das Verbindungstürchen vor seinem Gesicht ins Schloss.

»Ich mache Ihnen einen Vorschlag: Warum kommen Sie nicht zu uns? Ich bürge für Sie. Werden Sie Teil unserer Gemeinschaft!«, versuchte er nun die Gestalt auf der anderen Seite zu überreden.

»Du bist ein Ungläubiger!«, kam die Antwort aus dem Dunkel. »Du hast mir nichts zu bieten.«

»Jetzt reicht es! Nennen Sie mir Ihre Forderungen oder vergessen Sie das Ganze.« Er hörte, wie sein Gegenüber sich mit einem Ruck erhob und den Beichtstuhl verließ.

»Ihr seid alle ungläubige Ketzer! Ihr, die ihr meinen Engel gestürzt habt«, schallte die Stimme nun heiser durch das Kirchenschiff. »Nun wird euch die Rache desjenigen treffen, der meinem Engel am nächsten war!«

»Sie sind verrückt«, kommentierte Solow­jow genervt die Drohungen und wollte aufstehen. Innerhalb weniger Sekunden breitete sich ein Kribbeln – von seiner Wange ausgehend  – über sein ganzes Gesicht unddannim ganzen Körper aus. Als er etwas sagen wollte, konnte er die Zunge bereits nicht mehr bewegen. Mit aller Kraft versuchte er noch einmal aufzustehen.Erfolglos.Seine Beine entzogen sich seiner Kontrolle. Die ersten Krämpfe warfen ihn zurück in den Stuhl, Hitzewallungen durchflossen seinen Körper. Seine Glieder gehorchten ihm nicht mehr. Panik stieg in ihm auf. Er fiel vornüber durch den Vorhang des Beichtstuhls auf den kalten Steinboden und verlor das Bewusstsein.

Als Solow­jow wieder erwachte, sah er schemenhaft die dunkle Gestalt, die ihm die Kleidung auszog. Er wollte sich wehren, doch seine Glieder waren nach wie vor gelähmt. Jetzt erblickte er die Engel über ihm. Er wusste nicht, warum, aber er spürte, dass er nun sterben würde. Aus den Augenwinkeln bemerkte er einen Lichtstrahl, der langsam näher kam, bis er ihn blendete.

Nun stand die große, dunkle Gestalt über ihm und beugte sich herunter. Er richtete einen fragenden Blick an sie, doch sie schien ihn nicht wahrzunehmen.

Er existierte für diesen Menschen nicht mehr, dachte er in diesem Augenblick und wünschte sich nichts sehn­licher, als reden zu können, um nach dem Warum zu fragen.

Die Gestalt tauchte ihren Finger in ein Tongefäß, das sie in der Hand hielt, und fuhr mit dem Finger über seine Stirn. An der Bewegung konnte Solow­jow erkennen, dass sie ein Kreuz auf seine Stirn zeichnete. Nackt und schutzlos lag er auf dem Steinboden der Kathedrale und war dieser unbekannten Gestalt ausgeliefert.

Er musste wieder für einen Moment das Bewusstsein verloren haben, denn als er die Augen öffnete, sah er zu seinem Entsetzen, dass ein Schlauch in seinem Mund steckte. Er musste würgen. Der Schlauch – das spürte er jetzt – führte in seine Luftröhre. Heftig röchelte er nach Luft. Er hatte das Gefühl, allein zu sein. In seinem Blickfeld waren weder das Licht noch die unbekannte Gestalt zu sehen. Er bekam kaum Luft und voller Panik atmete er schneller und schneller.

Er würde ersticken!, schoss es ihm durch den Kopf. Tränen rannen ihm über das Gesicht.

Dann stand der Schatten wieder über ihm. Erleichtert hoffte er einen Moment lang, seinem Leiden würde ein Ende gemacht und er von dem Todeskampf befreit.

Der Schatten beugte sich über ihn und berührte wieder seine Stirn. Von seiner Berührung spürte er nichts, sondern hörte nur, was er sagte: »Durch diese heilige Salbung helfe dir der Herr in seinem reichen Erbarmen, er stehe dir bei mit der Kraft des Heiligen Geistes. Der Herr, der dich von den Sünden befreit, rette dich, in seiner Gnade richte er dich.« Die Gestalt drückte Solow­jows Unterkiefer nach unten und legte ihm eine Hostie auf die Zunge. Anschließend wandte sie sich nach hinten und nahm etwas vom Boden auf. Als sie sich wieder aufgerichtet hatte, streckte sie feierlich die Arme aus.

Er sah einen Messingkrug in den Händen der Gestalt. Leises Murmeln, das sich wie ein Gebet anhörte, drang an sein Ohr. Die Stimme wurde lauter und die Bedeutung der Worte wurden Solow­jow klar.

»Der Herr ist mein Hirte; mir wird nichts mangeln. Er erquickt meine Seele; er führt mich auf rechter Straße um seines Namens willen. Und wenn ich auch wanderte im finsteren Todestal, so fürchte ich kein Unglück; denn Du bist bei mir, Dein Stecken und Dein Stab, die trösten mich …«

Die letzten Sätze hörte er nicht mehr. Die Gestalt beugte sich zu ihm herunter und goss eine kalte Flüssigkeit in den Schlauch. Sie schoss direkt in seine Lungen. Für einige Sekunden erfasste ihn grenzenlose Panik, bis ihn die Dunkelheit für immer zu sich holte. Sein letzter Gedanke war: Warum jetzt?

2

Maxim Charkow würde zu spät kommen. Francine Boviard, die Rechtsmedizinerin, wollte ihn nicht gehen lassen, als sie vernahm, was er an diesem Abend plante. Er hatte sich von ihr in eine Diskussion verwickeln lassen und ärgerte sich jetzt darüber. Francine und er waren schon über zehn Jahre befreundet. Bei seiner letzten Ermittlung, als er im Mordfall seines Jugendfreundes Gian ermittelt und letztendlich die wahren Hintergründe für den Tod seiner vor über 30 Jahren verstorbenen Schwester und seines Vaters aufgedeckt hatte, waren Francine und er sich sogar näher gekommen. Und nun war da eine andere Frau zwischen ihnen: Gabriela, Psychologin der Kantonspolizei Zürich und die Frau, die ihn nach dem letzten Fall psychologisch betreute.

»Du weißt nicht einmal, ob du Gabriela liebst«, sagte sie ruhig, während sie die Leber des Leichnams – ein Obdachloser, den sie vor drei Tagen am rechten Ufer des Zürichsees geborgen hatten – aus der Bauchhöhle schnitt und auf die Waage legte. »Und wie steht sie zu der Sache? Sie hat sich sicher in dich verliebt und nicht umgekehrt, oder?«

»Was weißt du schon von ihren Gefühlen?«, erwiderte Charkow gereizt.

»Frauen können andere Frauen sehr gut einschätzen – was man von euch Männern kaum behaupten kann.«

Charkow schwieg und blickte ungeduldig auf seine Uhr.

Francine notierte das Gewicht der Leber, legte sie zurück in die Bauchhöhle und griff nach der oszillierenden Säge an der Decke. »Du lässt dich treiben. Dabei solltest du dir erst einmal über deine eigenen Gefühle klar werden.«

»Was soll das Gerede über meine Gefühle?«, fragte er ungeduldig und dachte ernsthaft daran, zu gehen.

»Ich weiß nur, dass Frauen in unserem Alter einen Mann suchen und«, sie betonte die letzten Worte, »einen potenziellen Vater.«

Charkow irritierte das Wort Vater sichtlich.

»Du musst wissen, was eine Beziehung für uns Frauen Ende 30 bedeutet«, fuhr sie ungerührt fort und setzte die Säge an die Stirn des Leichnams. »Wenn du es ernst meinst, musst du es ihr zeigen.«

»Ich zeige es ihr. Wir machen gemeinsam eine Therapie«, schob er nach.

Francine nahm die Säge wieder vom Schädel und blickte ihn erstaunt an. »Was macht ihr? Eine Therapie? Für was macht ihr denn eine Therapie?«

Charkow hielt Francines Blick zwar stand, ärgerte sich aber in diesem Moment, ihr gegenüber die Therapie überhaupt erwähnt zu haben.

»Na toll! Wie lange seid ihr jetzt zusammen? Ein halbes Jahr, glaube ich, oder?« Francine warf resigniert die Arme in die Luft. »Lass mich raten. Sie will deine fehlgeleiteten Verhaltensmuster auflösen, damit ihr eine gesunde Basis für eine Beziehung aufbauen könnt oder so ähnlich.«

Dass Francine damit recht hatte, ärgerte Charkow noch mehr. Beharrlich schwieg er.

»Die Frau hat genügend eigene Probleme!«, rief Francine, sichtlich genervt, dass Charkow sich darauf eingelassen hatte.

Jetzt warf er ihr einen gereizten Blick zu. »Du kennst sie gar nicht.«

»Oh doch, mon cher Max! Ich hab zusammen mit ihr einige Psychologievorlesungen an der Uni abgesessen.« Sie schnaubte kurz. »Wir waren gemeinsam auf Studentenpartys. Da war kein Typ vor ihr sicher. Und die Drogen kannte sie nicht nur aus den Lehrbüchern. Kennst du ihre Familie? Du solltest …« Sie brach ab, denn sie war dabei, ein Geheimnis zu verraten, das Gabriela damals während einer Studentenparty im Vollrausch ausgerechnet ihr anvertraut hatte, obwohl sie nicht enger miteinander befreundet waren. »Entschuldige, das soll sie dir alles selbst erzählen.«

»Du bist eifersüchtig«, war sein hilfloser Versuch, sie zum Schweigen zu bringen.

Sie hielt einen Moment inne und merkte, wie sie kurz davor war, die Beherrschung zu verlieren. Obwohl der Wunsch, Charkow vor Gabrielas dunkler Seite zu schützen, immer stärker wurde, nahm sie sich zusammen, atmete tief durch und schwieg. Sie beschloss, sich wieder auf ihre Arbeit zu konzentrieren, und setzte die Säge erneut an der Stirn des Toten an. Gefasst sagte sie: »Ich denke, du bist alt genug, um zu wissen, was du tust. Jetzt lass mich bitte arbeiten.« Ohne ihn noch eines weiteren Blickes zu würdigen, begann sie die Schädeldecke des Leichnams zu öffnen.

Charkow wollte noch etwas sagen, doch das Kreischen der Säge übertönte seine Wut. Er verließ die Gerichtsmedizin und machte sich auf den Weg zur Praxis des Therapeuten, wo er sich mit Gabriela verabredet hatte. Ein Blick auf die Uhr verriet ihm, dass er zu spät kommen würde.

Die Stadt und ihr Verkehr hatten sich anscheinend mit Francine gegen ihn verschworen. Am Vorabend hatte es geschneit. Eine dicke Schicht aus grauem Matsch lag auf den Straßen. Die Schneepflüge steckten im Feierabendstau fest und konnten den Schnee, der den Verkehr noch zäher fließen ließ, nicht schnell genug räumen. Nun fuhr jeder erst recht besonders vorsichtig, und die Autos begannen sich vor jeder Steigung oder Kreuzung zu stauen. Zu allem Überfluss läutete sein Smartphone. Er fluchte, da er vergessen hatte, in welcher Tasche seines Mantels er es verstaut hatte. Als er es endlich fand und die Nummer von Staatsanwalt Walter Kummer auf seinem Display sah, nahm er das Gespräch entgegen.

»Wo bist du gerade?«, wollte Kummer wissen.

»Im Auto«, antwortete Charkow knapp.

»Kommst du noch mal ins Büro?«

»Nein. Warum?«

»Nichts. Ich dachte, wir könnten kurz reden.«

Das war nicht Kummers Art, dachte er. »Worüber willst du reden? Ist etwas passiert?«

»Wir sehen uns morgen«, wich Kummer aus und legte auf.

Charkow bog von der Hauptstraße auf den Parkplatz ein, der sich am Rande des oberen Niederdorfes befand, der Altstadt am rechten Limmatufer. Es gab keinen freien Platz mehr.

»Cazzo!« Wütend hieb er mit der flachen Hand auf das Lenkrad. Zu Hause hatten seine Eltern russisch mit ihm gesprochen. Er wuchs jedoch mit dem Italienisch der Bewohner von Soglio auf, des Bergdorfs, in dem er nach der Flucht aus Russland seine Kindheit verbrachte. Und wenn es ums Fluchen ging, bevorzugte er diese Sprache, weil sie ihm ermöglichte, seinem Gefühl am besten Ausdruck zu verleihen.

Nach einiger Warterei kam eine ältere Dame, die ihr Auto umständlich vom Schnee befreite und erst nach mehreren Anläufen einen Weg aus der Parklücke fand. Entfernt hörte Charkow die Glocken der Liebfrauenkirche, die ihm eindringlich klar machten, dass er zu spät war. Seine Geduld war am Ende. Hastig stellte er seinen Dienstwagen in die Parklücke, schloss ab und machte sich auf den Weg.

Es war schneidend kalt und die Feuchtigkeit, die vom See her aufstieg, ließ die Kälte durch die Kleidung direkt in seine Knochen fahren. Die Altstadt war schon festlich geschmückt, obwohl Weihnachten erst in einem Monat vor der Tür stand. Über den engen Gassen hingen bunte Lichterketten, es roch nach Glühwein und geschmolzenem Käse. An der Ecke eines Platzes stand der Chor der Heilsarmee und bot sein Weihnachtsrepertoire dar. Zwischen all den Gerüchen und Lichtern fielen dicke Schneeflocken auf das Kopfsteinpflaster. Von all dem bekam er nicht viel mit. Er dachte nur daran, dass er zu spät kommen würde, und beschleunigte seine Schritte.

Endlich erreichte er die Hauptgasse. Schnell warf er einen Blick auf die Hausfassaden. Nummer 32 war nur noch fünf Gebäude entfernt. Er rannte und erblickte im Gewirr der Menschen Gabriela, die unter dem Vordach des mittelalterlichen Hauses stand, in dem der Psychologe seine Praxis haben musste.

»Entschuldige die Verspätung«, sagte er kurzatmig und küsste sie flüchtig auf die Wange.

»Das macht keinen guten Eindruck«, antwortete sie knapp.

»Bei wem?«

»Bei Dr. Monsch. Sonja interpretiert dies als zögerliches, unschlüssiges Verhalten und wird sich fragen, ob wir beide diese Therapie wirklich wollen.«

»Sonja?«, fragte er erstaunt.

»Ja. Eine meiner damaligen Professorinnen.«

»Das hast du mir nicht gesagt.«

»Das tut nichts zur Sache.«

Charkow zögerte. Er fühlte sich überrumpelt und in der Defensive. »Du hättest es mir sagen sollen.«

»Stell dich nicht so an. Es wird dir gut tun.«

»Mir?«

»Uns«, betonte sie schnell. »Warum kommst du zu spät?«

»Ich wurde aufgehalten«, erwiderte er ausweichend und öffnete ihr die Tür.

»Das ist keine Antwort.«

»Ich musste in die Gerichtsmedizin. Ein Obdachloser wurde vor drei Tagen tot aufgefunden.«

»Du musst wirklich lernen, Prioritäten zu setzen.«

»Das ist nun mal mein Beruf«, erwiderte er gereizt. »Und der Tote war der Grund meiner Verspätung.«

Sie stiegen die enge Treppe hinauf in den zweiten Stock.

»Ich nehme mal an, dass der wichtigste Grund noch sehr lebendig war und Francine Boviard hieß.«

Charkow schwieg, weil er keine Lust hatte, mit ihr zu streiten.

»Ich werte dein Schweigen als Zustimmung.«

»Seit wann gilt in unserer Beziehung Römisches Recht?«

Charkow öffnete Gabriela die Tür zur Praxis und nahm ihr den Mantel ab. »Francine Boviard ist eine der besten Gerichtsmedizinerinnen des Landes und arbeitet für uns.«

»Ist schon gut, mein Lieber«, unterbrach sie ihn und blickte sich in der leeren Praxis um. »Sonja?«, rief sie in den Raum seitlich vom Wartezimmer. »Wir sind da!«

Sie hörten ein Rascheln, dann erschien Dr. Sonja Monsch: groß, dick, blondes dünnes Haar, Ende 50. Für Charkows Geschmack waren ihre Kleider zu eng und das Make-up zu bunt.

Mit einer ausladenden Geste lief sie auf Gabriela zu und umarmte sie herzlich. »Meine Liebste! Ich dachte schon, ihr kommt nicht mehr.« Mit einem kritischen Blick wandte sie sich an Charkow. »Das ist er also?«

Charkow spürte, wie ihm der Gedanke an die gemeinsame Therapie mehr und mehr missfiel. Gabriela hatte wohl im Vorfeld mit dieser Sonja über ihn gesprochen. Am liebsten hätte er seinen Mantel wieder angezogen und wäre gegangen.

Dr. Monsch drückte ihm die Hand. »Keine Angst, sie hat nur gut über Sie gesprochen.«

Charkow zog seine Hand zurück. »Können wir anfangen? Wie Gabriela schon gesagt hat, wir sind spät dran.«

»Bitte folgt mir.« Dr. Monsch führte sie in das Sitzungszimmer.

Das Licht in diesem Raum war schwach und tauchte die unterschiedlichsten Objekte in einen Goldton. Charkow und Gabriela setzten sich auf ein dunkelbraunes Ledersofa, das von zwei afrikanischen Fruchtbarkeitsstatuen eingerahmt war. An der Wand hingen diverse Diplome. Daneben ragte ein wuchtiges Bücherregal bis zur Decke, das mit Papieren und Fachliteratur vollgestopft war. Vor dem Sofa stand ein niedriger Glastisch. Darauf waren Heiligenfiguren aus allen Religionen verteilt und zu seinem Schrecken eine Kartonpackung Taschentücher. Eine große Schale mit Süßigkeiten fiel ihm auf, aus der sich Dr. Monsch gleich selbst bediente.

»Nehmen Sie ruhig«, sagte sie schnell und reichte Charkow die Schale.

»Nein, danke.«

»Nun. Dann fangen wir mal an.«

Gabriela machte es sich bequem. Sie schlüpfte aus ihren Schuhen und zog die Beine auf das Sofa. Dann schmiegte sie sich an Charkow und wartete, dass Sonja die Sitzungsregeln erklärte.

»Herr Charkow, waren Sie schon einmal bei einer Paartherapie?«

»Nein.«

»Wollen Sie denn heute hier sein?«

Am liebsten hätte er wieder Nein gesagt, stattdessen nickte er.

»Das ist gut und eine wichtige Voraussetzung. Nur wenn Sie wirklich etwas verändern wollen, haben wir eine echte Chance.« Sie nahm noch eine weitere Süßigkeit und ließ sie schnell in ihrem Mund verschwinden. »Gabriela hat mir angedeutet, was Sie in Ihrem letzten Fall erleben mussten. Dass Ihnen diese Erlebnisse sehr nah gingen und es sehr wahrscheinlich immer noch tun, ist nur normal. Es ist nichts, wofür Sie sich schämen müssten.«

»Ich schäme mich nicht«, erwiderte Charkow und erinnerte sich, wie ihn Kummer nach diesem Fall zu Gabriela – der zuständigen Polizeipsychologin – geschickt hatte. So hatten sie sich damals kennengelernt.

Über Dr. Monschs Gesicht huschte ein vielsagendes Lächeln. »Wir drei wollen in unseren nächsten Sitzungen einen Weg finden, die in Ihrer Vergangenheit erlebten Ereignisse und die daraus entstandenen Muster so weit aufzudecken, dass Sie beide diese erkennen und entlarven können. Somit werden Sie weniger auf den Partner projizieren, und dies bedeutet, dass Sie weniger Streitpotenzial haben werden, weil jeder beginnt, die Verantwortung für seine Gefühle selbst zu übernehmen.«

»Wie viele Sitzungen benötigen wir denn?«, wollte Charkow wissen.

Gabriela rückte von ihm weg. »Schatz, wir haben noch nicht einmal angefangen und schon redest du davon, wie lange es wohl dauert!«

Dr. Monsch hob beschwichtigend die Hände. »Herr Charkow ist ein Mann. Er funktioniert nach männlichen Prinzipien. Und eines davon ist Leistung. Das müsste dir eigentlich bewusst sein, Gabriela«, ermahnte sie Dr. Monsch und wandte sich wieder Charkow zu. »Wir werden uns so lange treffen, bis wir der Meinung sind, dass wir die wichtigsten Verletzungen aufgespürt haben.«

»Und warum müssen wir das?«, fragte Charkow weiter.

»Das hatte ich vorhin angedeutet. Wenn Sie beide diese Analyse nicht machen, werden Sie die aus Mustern entstehenden Ängste auf Ihren Partner projizieren. Sie schreiben einem anderen Menschen eigene Fehler oder Wünsche zu. Und dann gibt es den berühmten Streit, bei dem niemand erkennt, worum es eigentlich geht. Diese Konflikte werden sich in der Folge wiederholen.«

Charkow glaubte zu verstehen, fühlte sich aber bei der ganzen Sache immer unwohler, vor allem wegen des Vorwissens, dass Dr. Monsch über ihn durch Gabriela erfahren hatte. Er empfand ihr Verhalten als Vertrauensbruch und wollte es gleich zur Sprache bringen. Schließlich sollte er hier über Verletzungen reden. Gerade wollte er ansetzen, als sein Smartphone läutete.

Dr. Monsch und Gabriela blickten ihn vorwurfsvoll an, und als er den Anruf entgegennahm, war ihnen die Empörung anzusehen.

Er hatte die Nummer seiner Assistentin sofort erkannt. »Was gibt es, Priska?«

»Wir haben einen Toten, Chef.«

»Mord?«

»Es sieht so aus.«

»Wo?«

»Bist du gläubig?«

»Was soll diese Frage?«

»In der Liebfrauenkirche, gleich in der Nähe der Altstadt.«

Charkow brauchte einen Moment, um zu verstehen, dass sie wirklich in der Liebfrauenkirche gesagt hatte und dass er nur wenige Gehminuten davon entfernt war. »Ist schon jemand dort?«

»Die Streife ist am Tatort und sperrt ab.«

»Ich bin in 15 Minuten da.«

»So schnell? Wo bist du denn gerade?«

Charkow hätte fast beim Psychologen gesagt. »In der Nähe.«

Er steckte sein Smartphone wieder weg und stellte fest, dass ihn diese Art von Nachricht zum ersten Mal in seinem Leben erleichterte.

»Sie wollen gehen?«, fragte Dr. Monsch konsterniert.

»Ich muss.«

Sie blickte Gabriela an, die ihre Knie nun bis unters Kinn angezogen hatte und von Charkow abgerückt war. Er wollte sie zum Abschied auf die Wange küssen, doch sie wandte sich enttäuscht ab.

»Wir machen einen neuen Termin aus«, sagte er halbherzig.

»Warum kann das niemand anderes machen?«, fragte sie den Tränen nah. »Ist dir dein Beruf wichtiger als ich?«

Charkow stand auf. »Nein. Du weißt, dass ich gehen muss.«

Gabriela schwieg. Charkow atmete tief durch, dann verließ er rasch die Praxis.

3

Als er die Tür hinter sich schloss, fühlte er sich erleichtert. Gabrielas Reaktion war die eines Kleinkindes. Diese Seite an ihr hatte ihn überrascht. Sie wirkte für gewöhnlich stark. Sie wusste, was sie wollte, und vermittelte anderen Menschen Sicherheit. Vorhin war sie schwach und verletzlich gewesen. Er wusste nicht so recht, wie er damit umgehen sollte.

Die Menschen, die plötzlich um ihn herum waren, als er die Gasse betrat, lenkten ihn von diesen Gedanken ab. Dankbar tauchte er in die herrschende Vorweihnachtsstimmung ein. Alles strahlte Fröhlichkeit und Wärme aus. Ihm wurde klar, dass er dies bei Gabriela vermisste. Der Gedanke daran, dass sie Dr. Monsch von ihm erzählt hatte, ohne ihn vorher zu fragen, machte ihn wütend. Das würde er an der nächsten Sitzung als Erstes zur Sprache bringen. Er erinnerte sich an die Worte Francines über Gabriela, als sein Smartphone erneut läutete.

»Chef, ich stecke im Stau fest«, sagte Priska Künzler verzweifelt.

»Ist Martin bei dir?«

»Ja. Er sitzt neben mir.«

»Wenn ihr zur Absperrung kommt, soll er mit seinem Smartphone die Gaffer filmen. Sie haben sich sicher schon bei der Liebfrauenkirche versammelt.«

»Meinst du tatsächlich, unser Täter ist dort und schaut zu?«

»Es handelt sich um einen Mord in einer Kirche. Das ist ein spektakulärer Tatort. Und es könnte sein, dass der Mörder sich die Liebfrauenkirche ausgesucht hat, um anschließend zu betrachten, was er ausgelöst hat.«

Der Platz vor der Kirche war hell erleuchtet. Zwei Einsatzwagen der Kantonspolizei standen vor dem Eingang und eine Handvoll Polizisten errichteten Absperrungen. Wie er vermutete, hatten sich einige Neugierige vor dem Portal versammelt. Touristen mit Kameras filmten das Geschehen, Passanten verlangsamten ihre Schritte, und eine kleine Gruppe verärgerter Teenager legte sich mit einem der Beamten an. Charkow kam ihm zu Hilfe.

»Was ist los?«, fragte er und zeigte den Jugendlichen seinen Ausweis.

»Sie wollen unbedingt da rein«, sagte er ruhig und deutete auf die Kirche.

»Wir haben wichtige Proben!«, fuhr der junge Mann, der anscheinend der Anführer der Gruppe war, dazwischen. »In einigen Wochen ist das christliche Weihnachtskonzert in der Liebfrauenkirche. Es singen Christen für Christen. Und wir müssen jetzt rein, um zu proben.«

Charkow verstand die Überheblichkeit in der Stimme des jungen Mannes nicht. »Das geht im Moment nicht. Es handelt sich um einen Tatort.«

»Das hat der Typ da mir schon gesagt«, antwortete er in abschätzigem Ton und zeigte auf den Polizisten.

»Das ist Wachtmeister Suter. Bitte beleidigen Sie meinen Kollegen nicht. Er macht nur seine Arbeit.«

Charkow schien mit seiner Aufforderung das Gegenteil von dem zu erreichen, was er beabsichtigte.

Der junge Mann warf einen Blick zu seiner Gruppe, die ihn mit anerkennenden Blicken aufforderte, sich noch mehr zu produzieren. »Ich kann ja nicht erwarten, dass Ungläubige wie ihr überhaupt im Ansatz versteht, was …«

Weiter kam er nicht. Charkow packte seinen Arm und zog ihn unter der Absperrung hindurch hinter eine der Säulen der Kirche. Er wies Wachtmeister Suter an, ihm zu folgen. Charkow schob den jungen Mann an die Sandsteinwand, sodass er außer Sichtweite seiner Freunde war. Die anfängliche Arroganz auf dessen Gesicht verschwand und wich Unsicherheit.

»Wie heißt du?«, fragte Charkow ruhig und ließ seinen Arm los.

»Kündig. Peter Kündig«, antwortete er trotzig.

»Hör zu, Peter. Mein Name ist Maxim Charkow. Ich bin leitender Ermittler bei der Mordkommission und Wachtmeister Suter ist ein guter Polizist, der seine Pflicht tut. Er und ich sind keine Menschen, die etwas nicht annähernd im Ansatz verstehen. Wenn du noch einmal einen meiner Kollegen beleidigst, sorge ich dafür, dass dies Folgen für dich haben wird. Verstehen wir uns?«

»Sie können mich nicht einfach verhaften«, erwiderte Peter Kündig mit einer Mischung aus Trotz und Wut.

Charkow fuhr unbeirrt fort. »Wir verhaften dich nicht. Aber ich stelle jetzt einige Dinge klar, bevor diese Situation für dich unangenehm wird.«

»Sie drohen mir? Mein Vater ist Anwalt! Ich kenne meine Rechte.«

Charkow seufzte. »Was glaubst, was du hier gerade machst? Dein Verhalten ist sehr auffällig.«

»Welches Verhalten?«, fragte Peter Kündig nun unsicher.

»Du willst anscheinend mit aller Macht an einen Tatort«, erklärte Charkow geduldig.

»Ich denke, er könnte in diese Sache verwickelt sein«, warf Wachtmeister Suter ein, der Charkows Absicht sofort erkannte.

»Hören Sie, ich habe das vorhin nicht so gemeint«, sagte Kündig nun kleinlaut.

Charkow blickte ihm direkt in die Augen. »Dann erwarte ich eine Entschuldigung von dir.«

»Ich habe nur …«

»Was hast du?«, unterbrach ihn Charkow. »Du hast meinen Kollegen beleidigt. Und jetzt entschuldigst du dich bei ihm.«

Peter Kündig erkannte, dass Charkow keinen Widerspruch duldete. »Entschuldigung. Das von vorhin habe ich nicht so gemeint«, sagte er, ohne Wachtmeister Suter anzusehen.

»Reicht Ihnen die Entschuldigung?«, fragte Charkow.

Wachtmeister Suter nickte.

»Ihr jungen Leute habt eine seltsame Vorstellung vom Christentum«, schob Charkow nach. »Bringen Sie ihn wieder zu seinen Freunden. Vorher nehmen Sie seine Personalien auf.«

Anschließend ging er quer über den Platz zum Eingang der Kirche. Er sah noch, wie Wachtmeister Suter den Jungen zum Absperrband begleitete. Seine Freunde waren einfach gegangen.

»Schöne Freunde hast du«, stellte er kopfschüttelnd fest.

Am Eingang der Liebfrauenkirche stand eine Polizistin und hielt Wache. Charkow zeigte seinen Ausweis und trat ein. Er schob die dicken Flügeltüren aus Eichenholz auf. Dahinter befand sich ein dicker Samtvorhang, der das Kirchenschiff vor Kälte und Lärm schützte. Das Innere der Liebfrauenkirche war in vollkommene Stille getaucht. Im hinteren Altarbereich ragte der Umriss eines mächtigen Weihnachtsbaums empor, dessen von einem Stern geschmückte Spitze fast das Dach berührte. Der Duft von Harz und Weihrauch lag in der Luft. Erinnerungen an die Weihnachtsfeste seiner Kindheit erschienen vor seinem inneren Auge. Er sah sich über die dicken Arvenholzplanken der Dorfkirche gehen. Der Boden knarrte unter seinen kleinen Füßen und es roch nach Zimt und Kerzenwachs. Kleine einfache Geschenke, wie Lebkuchenengel oder Äpfel, hingen am Baum. Seine Schwester hielt ihn an der Hand und führte ihn zur kleinen Steinempore hinter dem Altar, wo der Weihnachtsbaum stand. Dort forderte sie ihn auf, ein Geschenk zu pflücken. Er traute sich nicht. Sie riss einen Apfel und einen Lebkuchenengel vom Zweig und gab ihm den Lebkuchen mit den Worten: »Ein Engel für meinen Engel.« Sie lächelte, und in diesem Moment fühlte er sich geborgen wie noch nie zuvor in seinem Leben.

»Herr Charkow, die Leiche liegt da vorn«, riss ihn die Polizistin aus seinen Gedanken und ging voraus.

Charkow folgte ihr den Mittelgang entlang zum Altarbereich. Zwei weitere Polizisten standen vor dem Taufbecken und blickten auf den Boden. Das Mondlicht schien durch die Kirchenfenster und gab allen Farben einen Graustich. Es war hell genug, die Anspannung auf den Gesichtern der Männer zu erkennen.

»Warum ist es hier drin immer noch dunkel?«, fragte Charkow ungeduldig.

»Wir haben die Lichtschalter nicht gefunden«, war die hilflose Antwort eines Polizisten. »Die Spurensicherung wird sicher Scheinwerfer mitbringen.«

»Darauf kann ich nicht warten. Ruft den Zuständigen für die Liebfrauenkirche an.«

»Das habe ich schon gemacht. Er sollte jeden Augenblick hier sein.«

Als Charkow zum Taufbecken trat, machten ihm die beiden Polizisten Platz und gaben die Sicht auf die Leiche frei.

»Eine schreckliche Sache«, sagte die Polizistin.

»Ihre erste Leiche?«

Sie nickte. Charkow sah Angst auf ihrem Gesicht. Als er sich über den Leichnam beugte, wusste er, warum sie so empfand. Vor ihm lag ein nackter, männlicher Körper. Der Tote musste zwischen 50 und 60 Jahre alt sein. Sein Körper war stark behaart und korpulent. Der Mann lag auf dem Rücken. Die Augen waren geöffnet und starr zur Decke gerichtet.

Die Arme waren im rechten Winkel vom Körper weggestreckt und der ganze Leichnam war nach der Kirchengeometrie ausgerichtet worden. Sein Kopf lag am Sockel unter dem Taufbecken und die Füße zeigten ans Ende des Kirchenschiffs zum Orgelgestühl. Die gesamte Erscheinung erinnerte an die Kreuzigung Jesu.

»Haben Sie die Leiche bewegt?«, fragte Charkow wegen der seltsamen Art, wie der Tote dalag.

Die Polizistin schüttelte den Kopf.

»Eine Hinrichtung«, war Charkows erster Gedanke.

»Was haben Sie gesagt?«, fragte die Polizistin.

»Nichts. Geben Sie mir bitte Ihre Taschenlampe.«

Langsam lief er um die Leiche herum. Charkow spürte ein Unbehagen in der Magengegend. Hass, dachte er. Er fühlte hier unendlichen Schmerz und tiefen Hass. Er konnte den Ursprung seiner Gefühle noch nicht erklären, aber er wusste, dass er sich auf sie verlassen konnte. Sein Unbehagen wandelte sich zu einer leichten Übelkeit. Ein Gefühl, das er schon lange nicht mehr gehabt hatte.

Er konzentrierte sich auf die Frage, wie der Mann zu Tode gekommen war. Er leuchtete mit der Taschenlampe über den Körper. Da waren weder Blut noch Wundmale. Der Lichtkegel fuhr über die Brust und über das Gesicht des Toten. Schlagartig fiel ihm etwas Ungewöhnliches auf: Der Tote hatte Schaum vor dem Mund, was er bei Ertrunkenen beobachtet hatte. Dies stand in absolutem Gegensatz zu der Leiche, deren Haut trocken war.

Was war hier geschehen? Charkow sah sich um. »Gibt es irgendwo ein größeres Wasserbecken?«

Die Polizistin zeigte auf das Taufbecken.

Charkow blickte hinein. Es war leer. »Ich meine etwas Größeres … eine Badewanne oder ein Waschbecken?«

»Nein.«

»Vielleicht in den anderen Räumen?«

»Die sind alle verschlossen.«

Charkow nickte langsam. Er konnte sich nicht vorstellen, was mit diesem Mann geschehen war. »Ein Ertrunkener in einer Kirche«, sagte er kopfschüttelnd. Die Absurdität der Situation irritierte ihn. »Wir müssen in die anderen Räume gelangen«, befahl er der Polizistin.

»Pater Francescus hat die Schlüssel.«

Charkow kniete sich neben den Kopf der Leiche.

»Habt ihr die Kleider des Toten schon entdeckt?«, fragte er sie, ohne seinen Blick von der Leiche abzuwenden.

»Im Kirchenschiff haben wir nichts gefunden.«

»Also wissen wir nicht, wer er ist?«

»Korrekt.«

»War nur der Seiteneingang geöffnet?«

»Das ist ebenfalls korrekt.«

»Wer hat die Leiche gefunden?«

»Pater Francescus.«

»Und warum ist er nicht hier?«, ungeduldig blickte Charkow auf.

»Das … ist mein Fehler«, antwortete die Polizistin. »Ich habe ihm gesagt, er solle sich in der Mesnerei für die Befragung bereithalten. Ihm war schlecht geworden und ich wollte ihm nicht zumuten, hier bei der Leiche …«

»Ist das derselbe, der hier Licht machen soll?«

»Ja.«

»Gehen Sie jetzt zur Mesnerei und bringen Sie ihn sofort hierher«, forderte Charkow sie auf.

Die Polizistin nickte und machte sich auf den Weg.

»Und Sie beide begleiten Ihre Kollegin und warten vor dem Portal auf Francine Boviard. Sobald sie und ihr Team eintreffen, führen Sie sie zu mir.«

Die beiden Polizisten nickten und waren froh, den Tatort verlassen zu können. Die Stille in diesem übermächtig anmutenden Kirchenschiff, die Dunkelheit und der nackte Leichnam schienen ihnen zuzusetzen.

Charkow widmete sich wieder dem Toten. Er beugte sich über das Gesicht und hob mit beiden Händen vorsichtig den Kopf an. Am hinteren Schädel konnte er keine äußeren Verletzungen entdecken. Auch war keine Schädeldeformation ertastbar. Charkow starrte wieder ungläubig die Schaumkrone an der Mundpartie des Toten an. »Wie konntest du hier ertrinken?« Er hatte keine Erklärung für das, was er sah.

Ratlos setzte er sich in die vorderste Bankreihe und beschloss, auf Francines Einschätzung zu warten. Die Leiche betrachtend hatte er erneut das Gefühl, dieser Mord sei vom Hass motiviert gewesen. Der Täter wollte das Opfer erniedrigen. Die Nacktheit machte es verletzlicher. Somit hatte er größere Macht über sein Opfer. Irgendetwas sagte ihm, dass die Antwort im Leiden des Opfers zu finden war. Über die genauen Umstände konnte ihm jedoch nur Francine Auskunft geben.

Das Zuschlagen der Flügeltüren am Eingang riss ihn aus seinen Gedanken. Francine!, dachte er. Zu seiner Enttäuschung traten aus dem Schatten unter der Orgelkanzel die Polizistin und ein alter Mann in Priesterrobe hervor. Charkow leuchtete mit seiner Taschenlampe in ihre Richtung und erkannte, wie bleich und nervös der Geistliche war.

»Ich bin Pater Francescus, der Verantwortliche für dieses Gotteshaus. Ich habe den Toten gefunden und die Polizei benachrichtigt. Es ist schrecklich«, sagte der Pater und wies mit seinem Kopf auf die Leiche.

Charkow nickte stumm. »Wir müssen den Tatort heller ausleuchten.«

Pater Francescus verschwand kurz hinter einem Vorhang und legte einige Schalter um. Sofort erfüllte sich das Kirchenschiff mit warmem Licht.

»Haben Sie die Leiche bewegt oder angefasst?«, fragte er den Pater, als er wieder hinter dem Vorhang hervorkam.

»Gott bewahre«, antwortete er entsetzt. »Ich hatte so große Angst, dass ich davongerannt bin.«

»War die Kirche abgeschlossen?«

»Bis am Nachmittag um vier war sie für die Allgemeinheit geöffnet. Wenige Minuten später schloss ich sie ab.«

»Ist das nicht sehr früh?«

»Nein«, antwortete er und zeigte auf den Weihnachtsbaum. »Wie jedes Jahr wollte ich den Baum schmücken. Für diese Arbeit schließen wir immer vorzeitig.«

»Um vier hatten Sie also geschlossen. Was haben Sie anschließend gemacht?«

»Ich ging in die Stadt, um Kerzen und Weihnachtskugeln zu kaufen. Danach habe ich den Baumschmuck hierher gebracht und diesen Mann gefunden.«

»Wie lange dauerte Ihr Einkauf?«, wollte Charkow wissen.

»Ungefähr zwei Stunden.«

»Wer außer Ihnen hat noch einen Schlüssel zur Liebfrauenkirche?«

»Niemand. Die Schlüssel trage ich immer bei mir.«

Charkow machte sich Notizen. »Noch eine letzte Frage. Gibt es hier einen Ort oder ein Gefäß, das viel Wasser fasst?«

Der Pater blickte Charkow irritiert an.

»Eine Badewanne, einen Raum, in dem sich Wasser befindet, eine Art Bassin oder so etwas Ähnliches«, präzisierte Charkow.

»Nein. Wir haben nur einen kleinen Besenraum, in dem sich ein Wasserhahn und ein kleines Waschbecken befinden.«

»Und sonst nichts?«

»Natürlich noch das Taufbecken«, fiel ihm ein.

»Ja, aber es ist leer.«

Pater Francescus schüttelte ungläubig den Kopf und blickte ins Becken. »Ich habe es erst heute Morgen mit geweihtem Wasser gefüllt. Wir hatten zwei Taufen.« Er seufzte leise. »Zwei neue Leben. Und nun dies.«

»Ich danke Ihnen für Ihre Hilfe.« Er klappte sein Notizbuch zu. »Sie können jetzt gehen. Geben Sie vorher bitte ihre Personalien dem Beamten, der am Eingang Wache steht.«

Pater Francescus nickte und wandte sich zum Gehen, als Charkow noch eine Frage durch den Kopf schoss. »Was kam Ihnen als Erstes in den Sinn, als Sie die Leiche fanden?«

»Die Kreuzigung«, war seine spontane Antwort. »Er liegt da wie Marias Sohn am Kreuz.«

Charkow nickte. »Danke.«

In diesem Moment betraten seine Assistenten die Kirche. Priska Künzler und Martin Peterson schüttelten sich die Schneeflocken von den Schultern und rieben sich ihre kalten Hände. Charkow winkte die beiden zu sich.

»Warum ist der Mann nackt?«, flüsterte Priska beim Anblick der Leiche etwas peinlich berührt.

»Eine gute Frage. Ich habe keine Antwort.«

»So wirkt er verletzlicher«, stellte Martin nachdenklich fest.

»Vielleicht sollte er sich im Zeitpunkt seines Todes so fühlen«, dachte Charkow laut.

In diesem Moment öffneten sich die Türen am Haupteingang erneut und Francine Boviard betrat mit zwei Mitarbeitern der Spurensicherung die Kirche.

Charkow ging auf sie zu. »Ich bin froh, dass du da bist.«

»Schön, das von dir zu hören«, grinste sie und stellte ihren Instrumentenkoffer auf eine der Gebetsbänke ab. »Wieso bist du schon hier?«

»Ich war in der Nähe.«

Francine Boviard überlegte einen Moment und erinnerte sich. Sie vergewisserte sich, dass sie niemand hören konnte. »Ach ja, Dr. Monsch, derWalfisch«, flüsterte sie. »Wart ihr denn mit der Sitzung schon durch?«, fragte sie in ironischem Unterton.

»Unser Toter hat sie vorzeitig beendet«, antwortete Charkow. »Woher kennst du Dr. Monsch?«

»Ich muss nur eins und eins zusammenzählen. Gabriela und ich haben ihre Vorlesungen besucht. Der Walfisch war Gabrielas Vorbild«, erklärte sie. Ihre gelungene Anspielung ließ ein Lächeln über ihre Mundwinkel huschen. »Und ihre Praxis liegt fußläufig von hier.«

Mürrisch wandte sich Charkow von ihr ab, um nicht weiter über dieses Thema sprechen zu müssen.

Während sie Latexhandschuhe an die anderen verteilte, blickte sie sich in der Liebfrauenkirche um. »Ich war schon lange nicht mehr hier. Ein schöner Ort, um zu sterben.« Sie beugte sich über die Leiche. Sofort fiel ihr der Schaum am Mund des Opfers auf.

»Ertrunken?«, fragte sie ungläubig.

»Es sieht fast so aus«, bestätigte Charkow.

»Hier drin?«

»Es gibt im ganzen Gebäude keine Badewanne oder etwas Ähnliches, das der Mörder hätte benutzen können«, antwortete Charkow. »Gemäß Pater Francescus Aussage fehlt das Wasser des Taufbeckens. Es ist allerdings nicht tief genug, um darin jemanden zu ertränken.«

»Und da der Tote schätzungsweise über 100 Kilo wiegt, wird ihn niemand im See ertränkt und anschließend über den Weihnachtsmarkt hierher getragen haben«, stellte Francine fest, immer noch irritiert über das Szenario, das sie hier vorfand.

Sie entfernte den Schaum, öffnete den Mund des Toten und leuchtete mit einer Taschenlampe hinein. »Oh, was haben wir denn da?« Mit der Pinzette holte sie vorsichtig einen hellen, gallertartigen Gegenstand aus dem Rachen des Toten.

»Das sieht aus wie eine Hostie«, sagte Martin.

Francine betrachtete den Gegenstand genauer und nickte. »Der Kandidat hat 100 Punkte.« Sie ließ die Hostie in einem Plastikbecher verschwinden.

»Vielleicht findest du Wein in seinem Magen«, mutmaßte Charkow.

»Willst du sagen, der Mörder hat dem Toten vorher noch das Abendmahl verabreicht?«, fragte Francine.

»Der Täter war vielleicht sehr gläubig«, ergänzte Martin ohne ironischen Unterton.

Priska musste lachen. »Sorry, Martin, das klingt echt verrückt. Eingläubiger Mörder. Das ist der totale Widerspruch.«

Die Vier betrachteten schweigend die Leiche.

»Er war zwar ziemlich dick, dennoch kräftig. Der Mann hätte sich gewehrt haben müssen«, unterbrach Charkow das Schweigen.

»Du hast recht«, sagte Francine. Sie prüfte schnell die Handgelenke und Fußknöchel. »Keine Fesselspuren oder Hämatome, die auf gewaltsames Niederdrücken schließen lassen.«

»Ein Sedativum?«, war Charkows Schlussfolgerung.

»Vielleicht finden wir eine Injektionswunde«, sagte Francine.

»Oder etwas im Magen«, warf Priska ein.

»Oder im Blut«, schloss Francine die Kette der Vermutungen.

Charkow nickte. »Hört zu«, wandte er sich an Priska und Martin. »Ihr beiden müsst nach den Kleidern des Opfers suchen. Holt euch Verstärkung. Durchsucht alle Container im Umkreis der Liebfrauenkirche.«

»Alle Container? Chef, die Altstadt ist das Vergnügungsviertel der Stadt … hier wimmelt es nur so von Containern, Abfallbergen, gebrauchten Kondomen, Spritzen und einfach allem, was kein Mensch mehr im Leben sehen, geschweige denn anfassen will!«, stellte Priska frustriert fest.

Charkow überhörte ihren Einwand. »Nehmt euch ein paar Polizisten als Unterstützung und sucht auch das rechte Flussufer vom Quai aus ab. Martin, du nimmst Kontakt mit der Leitung der Stromgesellschaft auf, die das untere Wehr betreibt. Die filtern das Flusswasser, bevor es in die Turbinen geleitet wird. Vielleicht finden die im Laufe der Nacht die Kleidung des Opfers in einem ihrer Siebe.« Martin nickte.

»Priska, bitte überprüfe zuerst noch die Meldungen der Nachtschicht. Ich glaube zwar nicht, dass unser Opfer schon vermisst wird. Vielleicht haben wir trotzdem einen Hinweis.«

»Mach ich«, sagte Priska und lief mit Martin zum Ausgang.

Immer noch fielen dicke Schneeflocken vom grauschwarzen Nachthimmel, als Charkow den Platz vor der Kirche betrat. Es hatte sich eine dünne Schneedecke auf dem Kopfsteinpflaster gebildet, die sich trotzig gegen die Wärme der zahllosen Lichter der Stadt wehrte. Charkow atmete tief durch und hoffte, die Ermittlungen würden nicht die ganze Nacht hindurch andauern.

Ihn fröstelte. Er lief zu einem der Weihnachtsstände und wollte sich einen Kaffee besorgen. Er fand nur einen Glühweinstand, also nahm er einen Becher dieses klebrigen, roten Getränks, das seinen Namen eigentlich nicht verdiente, da es vor allem aus Zucker und Aromastoffen bestand. Wenigstens wärmte es. Am Nachbarstand kaufte er noch eine Brezel, um den süßen Geschmack zu neutralisieren.

Plötzlich sah er Walter Kummer, der mit seinem Wagen vor den Absperrbändern hielt. Charkow winkte ihn zu sich. Kummer kaufte sich ebenfalls eine Brezel und einen Glühwein.

»Hat dich Francine informiert?«

Kummer nickte. »Was haben wir?«

»Einen toten Mann. Mitte 50. Er liegt nackt unter dem Taufbecken. Wie es aussieht, ist er ertrunken.«

»Ertrunken?« Kummer warf Charkow einen ungläubigen Blick zu. »Wie soll denn das gehen?«

Charkow zuckte mit den Schultern und nahm einen weiteren Schluck Glühwein. »Lass uns morgen gleich eine Sitzung einberufen, damit wir über die Ergebnisse und das weitere Vorgehen bei den Ermittlungen reden können.«

Kummer nickte. »Scheißkälte«, fluchte er. »Und so, wie es aussieht, wohl auch ein Scheißfall.«

»Was ist los mit dir?«, wollte Charkow wissen, der Kummer noch nie so fluchen gehört hatte.

Kummer trank einen Schluck Glühwein und verzog das Gesicht. »Üble Soße. Viel zu süß.«

Charkow nickte und wartete darauf, dass Kummer erzählte, was ihm auf dem Herzen lag.

»Entschuldige meine miese Laune.«

»Mach dir um mich keine Sorgen«, brummte Charkow und schmiss den halb vollen Becher in den Mülleimer neben dem Verkaufsstand.

Kummer tat es ihm gleich. »Meine Frau … wir haben … Probleme.« Kummer überlegte, wie er fortfahren sollte. »Kannst froh sein, dass du Junggeselle bist.«

Charkow biss in seine Brezel und blickte schweigend auf die hell erleuchtete Liebfrauenkirche.

»Sie hat einfach ihre Sachen gepackt und ist in unsere Ferienwohnung in die Berge gefahren.«

Charkow nickte und blickte besorgt zu Kummer.

»Wir sind schon über 35 Jahre verheiratet. Gemeinsam haben wir die Kinder großgezogen. Gemeinsam Höhen und Tiefen erlebt. Und jetzt braucht sie Abstand von mir. Kannst du dir das vorstellen?«

Kummers Hilflosigkeit war für Charkow förmlich greifbar. »Gibt es einen Grund?«

»Hah! Einen Grund? Mann, das wäre toll, wenn es einen Grund gäbe! Ich würde Halleluja rufen!« Kummer schrie beinahe, und einige Passanten begannen, sich nach ihnen umzudrehen. »Einen Grund … Weißt du, ich glaube es gibt keinen Grund.«

»Es gibt immer einen Grund«, hielt Charkow dagegen.

»Vielleicht hast du recht. Vielleicht ist der Grund ein Hirngespinst in ihrem Schädel!« Wütend warf er die Brezel in den Mülleimer. Er atmete schnell und sein Kopf war rot vor Aufregung.

Charkow hatte den Eindruck, er würde gleich zu weinen beginnen.

Kummer fing sich wieder. »Sie sagte, ich sei zu wenig für sie da. Dabei wollte ich nur erfolgreich sein, damit ich ihr und den Kindern ein gutes Leben bieten kann. Gute Schulen, eine Eigentumswohnung, dreimal im Jahr in die Ferien, ausreichend Taschengeld für die Kinder, verstehst du? Und jetzt macht sie mir zum Vorwurf, dass ich nie zu Hause bin. Keine Zeit für sie habe!«

Charkow schwieg.

»Entschuldige, dass du dir das alles anhören musst«, sagte Kummer matt. »Ich musste es jemandem erzählen.«

Charkow nickte. »Nimm dir ein paar Tage frei. Fahr zu ihr rauf und rede mit deiner Frau.«

»Vielleicht mache ich das ja wirklich.«

»Sicher. Vielleicht«, sagte Charkow nachdenklich. »Ich muss los, Walter. Muss schauen, ob meine zwei Assistenten etwas gefunden haben. Das verstehst du, oder?«

Kummer nickte. »Wir sehen uns morgen.«

Sie trennten sich, und Kummer lief an einer Gruppe Neugieriger vorbei zu seinem Wagen. Charkow blickte ihm noch einen Moment nach und kehrtedannauf den Platz vor der Liebfrauenkirche zurück. Vom Turm schlug die Viertelstundenglocke, als Priska und Martin auf ihn zukamen.

Priska streckte ihm einen Plastiksack entgegen. »Hier, das sind sicher die Kleider des Toten. Schicke Klamotten. Und teuer.«

»Wo hast du sie gefunden?«

»Auf einem Stapel Müllsäcke in einer Seitengasse beim Hinterausgang eines Bordells. Die Suche war echt einesaubereAngelegenheit.« Angewidert rümpfte sie die Nase.

»Und warum glaubst du, dass dies die Kleider des Toten sind?«

»Ich glaube es nicht. Ich weiß es.« Priska griff in den Plastiksack und holte eine Brieftasche hervor. »Iwan Solow­jow, Jahrgang 1954, Schweizer Staatsbürger russischer Abstammung. Keine Angehörigen. Solow­jow ist anscheinend sehr reich.«

»Woher weißt du das?«

»Habe den Namen durch die Zentrale prüfen lassen. Die haben mir die Daten gleich auf mein Smartphone geschickt. Solow­jow ist Inhaber und Geschäftsführer von mehreren Bordellen hier in der Altstadt. Trotzdem hat er nur eine sehr dünne Akte. Ein paar harmlosere Delikte wegen Zuhälterei und Körperverletzung. Sonst nichts. Man sagt, er verdiene nebenbei Geld mit Erpressungen. Vielleicht wurde Solow­jow selbst Opfer einer Erpressung. Er hat nicht bezahlt. Deshalb haben ihn seine russischen Mafiakollegen umgebracht.«

»Gute Arbeit. Bringt die Kleidung zur Spurensicherung. Irgendwelche Zeugen? Nein? Okay, dann geht nach Hause. Wir machen morgen weiter. Um neun Uhr im Büro.«

»Was ist mit dem Erpressungsmotiv?«, fragte Priska erstaunt darüber, dass er sie nach Hause schicken wollte. »Sollten wir nicht versuchen, eine Liste mit seinen Kunden zu beschaffen? Und ihre Alibis überprüfen?«

»Das kannst du morgen machen. Ich glaube, du wirst damit deine Zeit verschwenden«, antwortete Charkow lakonisch.

»Warum?«

»Wenn es einer von der russischen Mafia gewesen wäre, hätte er ihn sicher nicht in eine Kirche gelockt und ihn auf diese Weise umgebracht.« Er zeigte mit dem Zeigefinger auf die Mitte seiner Stirn. »Man hätte ihm in einer dunklen Seitengasse kurz und schmerzlos eine Kugel zwischen die Augen verpasst. Das hier ist keine Mafiageschichte aus der Bordellszene. Dieser Mord hat einen anderen Hintergrund. Wir versuchen jetzt alle ein paar Stunden zu schlafen, damit wir morgen einen klaren Kopf haben. Denn den brauchen wir, um diese Sache zu verstehen.«

»Alles klar«, sagte Priska und wollte sich mit Martin schon auf den Weg machen, als Charkow sie noch einmal zu sich rief.

»Besorgt trotzdem eine Liste mit Solow­jows Kunden. Wir dürfen bei diesem Fall nichts außer Acht lassen.«

»Machen wir«, antwortete Priska, nicht ohne etwas von ihrer Freude darüber zu zeigen, dass sie mit ihrer Idee bei Charkow auf Zustimmung stieß.

Charkow ging zurück zu seinem eingeschneiten Wagen. Fluchend befreite er mit einem viel zu kleinen Eiskratzer die Frontscheibe von Schnee und Eis. Er verließ das Stadtzentrum auf der zweispurigen Umgehungsstraße, die auf die Autobahn führte und an der sein Wohnquartier lag. Seine Wohnung befand sich in einer Häuserzeile, die über 50 Familien aus unzähligen Ländern beherbergte. Er nannte es immer Klein Babylon. Seine letzte Freundin hasste, was er liebte: die Sprachen vieler Länder, die bunten Kleider, den starken Geruch von Curry, Kurkuma, Koriander – das Fremde, dem sie täglich im Treppenhaus begegnete.

Leise öffnete er die Haustür. Seine Wohnung verfügte über keinen Korridor. Man stand unmittelbar in Küche und dem Wohnzimmer. Es gab noch ein kleines Bad und ein Schlafzimmer, in dem Gabriela bereits schlief. Erschöpft setzte er sich auf das Liegesofa im Wohnzimmer, zog die Schuhe aus und öffnete einen Spalt weit das Fenster über dem Sofa, um den Klängen der Stadt zu lauschen. Das machte er oft vor dem Einschlafen. Die Geräusche gaben ihm ein Gefühl der Geborgenheit. Nach einer Weile spürte er die Kälte durch das offene Fenster. Müde griff er nach der Wolldecke auf der Sofalehne, wickelte sie um seinen Körper und hoffte, Gabriela würde nicht aufwachen.

Sie musste ihn gehört haben, denn kurz darauf stand sie schlaftrunken im Wohnzimmer und kroch zu ihm unter die Decke.

»Willst du nicht zu mir ins Schlafzimmer kommen?«, fragte sie, ohne richtig die Augen zu öffnen.

Charkow rückte ein Stück von ihr ab. Am liebsten wäre er jetzt alleine gewesen.

»Was hast du?«, fragte sie irritiert.

»Nichts.«

Gabriela schlug die Decke zur Seite, setzte sich auf und sagte gereizt: »Wenn du mich nicht hier haben willst, sag es.«

Charkow schloss die Augen und überlegte, was er nun antworten sollte. Er entschloss sich für die Wahrheit. »Wir haben einen Toten in einer Kirche. Er ist einen qualvollen Tod gestorben. Die Ermittlungen zeichnen sich jetzt schon als sehr schwierig ab. Ich bin müde und muss schlafen, damit ich morgen einen klaren Kopf habe.«

»Und was ist mit mir?«

Charkow verstand ihren Vorwurf nicht.

»Dass du mich bei Sonja hast sitzen lassen, kann ich verstehen. Dass du morgen einen klaren Kopf brauchst, ist mir ebenfalls klar. Aber wie stellst du dir das mit uns beiden in Zukunft vor?«

»Ich stelle mir gar nichts vor. Wir nehmen es, wie es kommt.«

»Wie es kommt? Wie kommt es denn – deiner Meinung nach?«

»Keine Ahnung. Ist das wichtig?«

Gabriela stand auf und zog sich an. »Für eine Frau ist das wichtig«, antwortete sie sichtlich verletzt. »Wir wollen wissen, woran wir bei einem Mann sind. Und wir wollen nicht die zweite Geige spielen.«

»Wer ist wir?«