Eisväter - Marcus Richmann - E-Book

Eisväter E-Book

Marcus Richmann

4,7

Beschreibung

Maxim Charkow ahnt nicht, dass er seine eigene Familiengeschichte neu schreiben wird, als er zu einem Leichenfund auf dem Uetliberg bei Zürich gerufen wird. Inmitten einer Sommerwiese liegt sein Jugendfreund, getötet durch einen Kopfschuss. Offensichtlich Selbstmord – für Charkow zu offensichtlich. Als klar wird, dass es Mord war, beginnt Charkow Schritt für Schritt das Leben seines Jugendfreundes zu rekonstruieren. Ohne zu ahnen, deckt er dabei seine eigene Vergangenheit auf und lüftet das Geheimnis um den mysteriösen Tod seines Vaters und seiner Schwester 30 Jahre zuvor.

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Marcus Richmann

Eisväter

Kriminalroman

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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www.gmeiner-digital.de

Gmeiner Digital

Ein Imprint der Gmeiner-Verlag GmbH

© 2016 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75/20 95-0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

Dieses Buch wurde vermittelt durch die Literaturagentur Ernst Piper

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

E-Book: Mirjam Hecht

Umschlagbild: © monstersparrow – Fotolia.com

Umschlaggestaltung: Benjamin Arnold

ISBN 978-3-7349-9398-5

1. Kapitel

Wann beginnen die letzten Minuten eines Lebens?

Überall sah er rote und gelbe Farbtupfer, durchsetzt mit dem Gold des trockenen Grases. Freude und Aufregung erfassten ihn, als er durch die Sommerwiese lief und seine Hände über die Ähren glitten. Das kitzelnde Gefühl in den Fingerspitzen erinnerte ihn an die Sommer seiner Kindheit. Eine Zeit des Überflusses an Farben und Gerüchen.

Er lief hinüber zur Scheune, die im Schatten einer Buche auf dem Hügel stand. Ihr Holz war vom Licht der Sonne schwarz geworden. Das Surren unzähliger Insekten lag in der Luft. Am Fuß des Hügels lag träge der Zürichsee. Im diffusen Licht des aufziehenden Gewitters glitzerte das Wasser wie Quecksilber. Die Hitze versteckte die Welt um ihn herum hinter einem flimmernden Vorhang aus heißer Luft. Die mit Schnee bedeckten Gipfel der Glarner Alpen, hoch über dem See thronend, vermochten der Natur und den Menschen keine Kühlung zu verschaffen.

Als er sich ins warme Gras legte, verschluckte ihn die Sommerwiese völlig. Neugierig betrachtete er den Himmel über sich. Sein Blickfeld war von Kornblumen und wildem Mohn umrahmt.

Über ihm schwebte bedrohlich eine mächtige Kumuluswolke. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis es zu regnen beginnt, dachte er. Seine Gedanken kreisten um den Mann, der ihm helfen sollte. In ihrer Kindheit verband sie eine enge Freundschaft. Doch im Lauf der Zeit hatte sich dieses Band immer mehr gelöst, sodass nur noch lose Enden blieben. Der Grund war ein Schicksalsschlag, der sie beide getroffen hatte und sie einerseits zutiefst miteinander verband, andererseits aber auch voneinander trennte: der frühe Tod ihrer Väter.

Er schloss die Augen und tauchte langsam in eine Dämmerwelt ein, in der ihn die Gespenster der Vergangenheit erwarteten. Der Tag der Beerdigung zog vor seinem inneren Auge vorbei. Ein erschreckend klares Bild. Sein Freund und er standen an den Gräbern ihrer Väter. Schweigend schauten sie zu, wie Männer in schwarzen Anzügen an groben Hanfseilen Särge in einen dunklen Schlund hinab senkten. Das ganze Dorf war gekommen. Noch einmal spürte er die blutleere Hand seiner Mutter, welche die seine steif und fest umschlungen hielt. Ihr Körper strömte Angst und Hilflosigkeit aus. Die Särge verschwanden für immer im Dunkel zu seinen Füßen, und er spürte, wie die Leere aus der Erde in sein Innerstes kroch, um sich in ihm auszubreiten. Bis heute blieb sie ihm eine treue Freundin, vor deren Besuch er sich fürchtete.

Die Kälte weckte ihn. Eine Wolke hatte sich über ihm so mächtig aufgetürmt, dass sie die Sonne verdeckte. Trotz der Hitze fröstelte er. Als er sich aufrichtete und umdrehte, um auf den See zu blicken, erschrak er.

Ein Mann stand hinter ihm und lächelte sanft. Er kannte diesen Mann und fragte sich, welcher Zufall ihn hierher geführt haben mochte. Erwartungsvoll blickte er in dessen freundliches Gesicht und wartete darauf, dass der Mann etwas sagen würde. Doch er stand einfach nur regungslos da.

Was dann geschah, dauerte wenige Sekunden. Der Mann hob seinen rechten Arm und kam einen Schritt auf ihn zu.

Sein Blick folgte der Bewegung des Mannes. Das, was er sah, ergab für ihn keinen Sinn. Die Hand des Mannes war fast weiß und er streckte ihm einen glänzenden Gegenstand entgegen. Seine Augen erkannten diesen Gegenstand, doch sein Bewusstsein verhinderte mit aller Kraft, diesem glänzenden Ding in der Hand des Mannes einen Namen zu geben. Das Letzte, was er in seinem Leben empfand, war das Erstaunen darüber, dass der Mann mit einer Waffe auf ihn zielte und dabei weiter freundlich lächelte. Er hörte weder den Schuss noch spürte er den Schmerz, als die Kugel seine Schläfen durchschlug. Eine unsichtbare Kraft warf ihn einfach zur Seite. Unendliche Dunkelheit umarmte sein schwindendes Leben.

In der Ferne setzte erstes Wetterleuchten ein, als der zweite Schuss fiel. Langsam setzte der Regen ein. Schwere Tropfen prasselten auf die glanzlosen Augen des Toten, die starr in den mit Wolken verhangenen Himmel zu blicken schienen. Der Regen wurde heftiger. Und der helle, von der Sonne getrocknete Lehmboden verfärbte sich innerhalb Sekunden dunkelbraun. Überall bildeten sich kleine Bäche, die sich einen Weg durch die Landschaft suchten. Klares Regenwasser hüpfte zwischen den hellen Kieseln der Forststraße. Plötzlich verlangsamte sich sein Fluss. Das Wasser wurde träge vom Blut und verfärbte sich rot.

2. Kapitel

Maxim Charkow stand am Fenster des Heims für Autisten. Die weiße Fassade des Gebäudes, eine alte Villa aus dem 19. Jahrhundert, die ein Industrieller auf einem bewaldeten Hügel hoch über dem See gebaut und nach seinem Tod der Stadt vermacht hatte, strahlte im unwirklichen Licht des herannahenden Gewitters. Die gesamte Anlage bestand aus dem Haupthaus und mehreren Wirtschaftsgebäuden, die überall auf dem großen Gelände verteilt waren. Der gepflegte Rasen und die weißen Fassaden vermittelten den Eindruck von Ordnung und Sauberkeit. Nichts wies auf die Schicksale hin, die sich in diesen Gebäuden vor der breiten Öffentlichkeit verbargen. Nicht, dass diese Schicksale hier absichtlich versteckt wurden. Nein, es war vielmehr der Umstand, dass sich niemand für sie interessierte. Außer den betroffenen Familien natürlich. Und Maxim Charkow gehörte zu einer dieser Familien.

Er betrachtete die Gewitterwolken. Immer wenn der Südwind aus den Alpen zusammenbrach, änderte sich das Wetter schlagartig. Ein gemütlicher Sommertag konnte innerhalb Minuten seine Freundlichkeit verlieren und ein stürmisches Chaos verbreiten. Charkow sah das Wetterleuchten und die grauen Schleier am Fuß der Wolken über das obere Seebecken in Richtung der Stadt ziehen. Unten, im Park des Heims, rannten Pflegerinnen hektisch zwischen weiß gedeckten Tischen hin und her, um das für Heimbewohner und Besucher geplante Mittagspicknick, welches in einer halben Stunde hätte stattfinden sollen, in Sicherheit zu bringen. Auf dem Kiesweg zwischen den Buchsbaumhecken zerrte eine Mutter ihr Kind zum Wagen, um rechtzeitig ins Trockene zu gelangen. Auf dem See bildeten sich wie aus dem Nichts große Wellen, deren weiße Schaumkronen im Grau der Luft aufblitzten. Ein Segelboot kämpfte sich durch die Gischt in Richtung des Hafens. Am Ufer begannen die Lichter der Sturmwarnung hektisch zu blinken. Der Regen näherte sich schnell, ohne auf die Pläne der Menschen Rücksicht zu nehmen.

Charkow gefiel der Gedanke, dass es etwas auf der Welt gab, welches den Menschen Grenzen setzte. Ein einziges Gewitter konnte diese vermeintliche Idylle aus dem Gleichgewicht bringen. Er wandte sich wieder seinem Bruder zu, der schweigend am Tisch saß und zeichnete. Nikolaj war in seine Arbeit vertieft und schien von der Zeichnung ganz gefesselt zu sein. Seit seiner Kindheit malte er in regelmäßigen Abständen dasselbe Motiv, und immer, wenn Charkow ihn besuchte, schenkte er ihm zum Abschied eine seiner Zeichnungen. Es war ein Ritual so wie die Buntstifte, die Charkow bei seinen Besuchen mitbrachte.

Er setzte sich neben Nikolaj und betrachtete die Zeichnung: ein weites braunes Feld ohne Blumen oder Bäume. Die Erde war hügelig und von Kratern zerrissen. Eine tote Landschaft, über der ein Soldat, aufgespießt auf zerborstenen Stahlstümpfen, im oberen Bildteil zu schweben schien. Auf dessen Brust war eine Halskette mit einem roten russisch-orthodoxen Kreuz zu sehen. Dieses Kreuz fügte Nikolaj immer kurz vor der Fertigstellung in die Zeichnung ein.

Charkow glaubte, es sei eine Art Emblem. Nie hatte er verstanden, warum sein Bruder immer wieder dieses Motiv malte. Es war ein Bild des Schreckens und erinnerte ihn an das sinnlose Sterben der Soldaten in den noch sinnloseren Kriegen. Ein Mantra des Todes. Früher hatte er in regelmäßigen Abständen versucht, Nikolaj zum Sprechen zu bringen – allen Meinungen der Ärzte zum Trotz. Charkow wollte herausfinden, warum für Nikolaj dieses Motiv so wichtig war. Doch der Autismus seines Bruders war stärker. Nikolaj blieb stumm. Irgendwann fand Charkow sich mit seinem Schweigen ab und beschränkte sich darauf, einfach für ihn da zu sein.

»Du malst es jeden Tag aufs Neue. Das ist dein Gebet, nicht wahr?«

Nikolaj antwortete nicht, sondern legte ihm die Zeichnung in den Schoß. Dann nahm er den Block und begann wieder von Neuem zu zeichnen.

Charkow stand auf und blickte aus dem Fenster. Das Gewitter war nun über der Stadt, und er sah am Horizont die Sonne hinter den Wolken verschwinden.

Nach einer Weile beschloss er, sich einen Kaffee zu holen. Leise verließ er Nikolajs Zimmer. Als er den hellen Gang des Heims entlanglief, vernahm er das dunkle Grollen des Gewitters. Er erreichte den Getränkeautomaten am Ende des Korridors, warf eine Münze in den Schlitz und wartete, bis der Kaffeebecher sich langsam füllte. Eine von Nikolajs Pflegerinnen kam auf ihn zu. Sie hieß Ingrid, und Charkow mochte sie vom ersten Augenblick an. Sie schien ihm sanftmütig und einfühlsam zu sein. Eigenschaften, von denen er dachte, sie selbst nicht zu besitzen.

Ingrid setzte sich auf die Bank am Fenster. Er reichte ihr den Kaffeebecher, warf dann noch eine Münze in den Schlitz und drückte die Espressotaste. Ingrid leistete ihm oft Gesellschaft, wenn sie Dienst hatte und wusste, dass er ihm Heim war.

»Ihre Besuche tun Nikolaj gut«, sagte sie und blies auf den Schaum ihres Kaffees, um ihn abzukühlen.

»Leider ändern sie nichts an seinem Zustand. Wollen Sie Zucker?«

Sie schüttelte den Kopf und nahm vorsichtig einen kleinen Schluck. »Aber sie machen ihn glücklich.«

Charkow suchte nach Rohzucker, fand keinen und entschied, seinen Espresso ungezuckert zu trinken.

»Er wirkt danach ruhiger. Zufriedener«, fügte sie hinzu.

»Werde ich ihn jemals erreichen?«

»Sie kennen die Antwort.« Ingrid legte beide Hände um den Becher und blies noch einmal auf die schaumige Oberfläche des Kaffees. »Er spricht mit Ihnen auf seine Art.« Charkow sah sie verwundert an. »Seine Bilder. Er malt sie für Sie.«

»Immer das gleiche Motiv«, sagte er leise mehr zu sich selbst als zu ihr.

»Richtig. Aber die Frage ist: Warum macht er das? Sie sollten nach der Antwort suchen – schließlich sind Sie der Kommissar.«

»Ich bin Polizist. Bei uns gibt es keine Kommissare. Das wissen Sie doch.«

Ingrid lachte und nahm noch einen Schluck. »Haben Sie weitere Geschwister?«

»Eine Schwester«, antwortete er zögernd.

»Oh! Die hab ich noch nie gesehen.«

»Sie ist tot.«

»Das wusste ich nicht …«

»Schon gut«, winkte Charkow ab und fügte schnell hinzu: »Das ist schon lange her.«

Ingrid blickte verlegen in den Becher. Dann stand sie auf und ging zurück in den Stationsraum, der sich am anderen Ende des Flurs befand. Nach einigen Schritten drehte sie sich noch einmal zu ihm um und hob lächelnd ihren Becher zum Dank.

Charkow holte Nikolajs Zeichnung aus der Jackentasche und dachte an Ingrids Worte. Verständnislos schüttelte er den Kopf. Sein Mobiltelefon summte, und er betrachtete missmutig das Display. Es war die Zentrale.

Zögernd nahm er ab. »Was gibt’s?«, fragte er ungehalten.

»Ein Leichenfund auf dem Uetliberg westlich des Sendeturms.«

3. Kapitel

Charkow verstand nicht, warum die Rechtsmedizinerin Francine Boviard ihn nicht in die Nähe der Leiche lassen wollte. Ihre Hand ruhte immer noch auf seiner Brust und hielt ihn zurück. Die Geste hatte etwas Intimes, Beschützendes. Aber er wollte nicht beschützt werden. Er wollte an die Absperrung, um den Toten zu sehen. Den Tatort zu analysieren, war Francines Aufgabe, aber warum sollte er nicht an den Rand der Absperrung gehen? Als leitender Ermittler der Abteilung für Kapitalverbrechen war er mit dem gewaltsamen Tod der Menschen vertraut. Menschen brachten Menschen um. Das war schon immer so, und es würde immer so sein.

»Was soll das, Francine?«, fragte er gereizt. »Soweit ich das beurteilen kann, seid ihr mit der Spurensicherung fertig.«

»Nein, die Techniker sind noch immer an der Arbeit.«

Er betrachtete den abgesperrten Bereich hinter ihrem Rücken, in dessen Mitte er die Umrisse der Leiche ausmachen konnte. Hätte er ein Stück näher an die Absperrung treten können, hätte er auch das Gesicht des Toten erkannt.

»Warte noch einen Augenblick«, antwortete sie, und ihr Gesicht verriet Unruhe. »Ich wusste nicht, dass sie dich schicken.«

Charkows Ungeduld schlug in Unverständnis um. Seit sieben Jahren arbeitete er nun schon mit Francine Boviard zusammen. Sie war schnell, exakt und sie vertraute neben ihrem großen Fachwissen auch ihren Gefühlen. Eine Fähigkeit, die Charkow sehr schätzte. Am Tatort war sie der ruhende Pol. Nichts brachte sie so schnell aus der Fassung. Jetzt war es anders. Das spürte er. So hatte er sie noch nie erlebt. Und das verunsicherte ihn.

»Es ist nicht meine erste Leiche. Verdammt, was ist los mit dir?«, fragte er gereizt.

»Da vorne liegt Gian«, sagte sie nach einigen Schritten mit erstickter Stimme.

»Gian? Welcher Gian?«, fragte er verständnislos.

»Unser Gian«, antwortete sie.

Charkow sah, dass sie den Tränen nahe war. Erst verstand er nicht. Doch dann wurde ihm bewusst, von wem sie redete. Alle Kraft schien in diesem Augenblick aus seinem Körper zu weichen, und er begann zu zittern.

»Nein. Das ist nicht wahr«, sagte er tonlos.

Francine wich seinem fragenden Blick aus. Charkow drehte sich um und lief zur Absperrung. Francine gab sich keine Mühe mehr, ihn daran zu hindern. Sie sah ihm nach, wie er sich unter dem Absperrband hindurch duckte und zögernd auf Gians Leiche zuging.

Einige Schritte vor dem Toten blieb Charkow stehen. Er bat den Kriminaltechniker, der gerade ein weißes Kunststofftuch über den toten Körper legen wollte, um ihn vor den neugierigen Blicken der Wanderer zu schützen, damit noch zu warten.

Gian lag auf dem Rücken, und sein rechter Arm ruhte unter dem Kopf, so, als ob er schlafen würde. Charkow fiel ein, dass dies in seiner bisherigen beruflichen Laufbahn der erste Tote war, den er kannte. Er hielt einen Augenblick inne. Es kostete ihn viel Kraft, sich der Leiche zu nähern. Sein Wunsch, Gewissheit zu erhalten, war stärker als sein Unbehagen.

Als er neben Gian niederkniete, spürte er die Nässe des Grases. Die Sonne hatte ihren Zenit überschritten, und die Bäume am Rand des Tatorts spendeten keinen Schatten mehr. Die Luft war tropisch feucht, und Charkow lief der Schweiß den Rücken hinunter. Ungläubig blickte er in die starren Augen des Toten. Es bestand kein Zweifel. Vor ihm lag sein Jugendfreund.

Wütend verscheuchte er die Fliegen von Gians Gesicht.

Der Tod hat keine Würde, dachte er.

Francine war ihm gefolgt und stand nun hinter ihm. Sanft legte sie die Hand auf seine Schulter.

Nur mit Mühe konnte er einen klaren Gedanken fassen. Das Einzige, was er für Gian noch tun konnte, war, die Ursache seines Todes zu ermitteln.

»Darf ich ihn schon bewegen?«

Sie blickte ihn erstaunt an, als hätte er etwas Ungewöhnliches gefragt. Dann nickte sie.

Vorsichtig berührte er Gians Kinn und bewegte seinen Kopf langsam nach rechts, um die Gesichtshälfte, die leicht dem Boden zugewandt war, zu betrachten. Der Kopf hatte an der linken Schläfe ein kleines Einschussloch. Der Austrittskanal mündete oberhalb der rechten Schläfe in einer sehr viel größeren Wunde. Der Regen hatte das Blut weggewaschen. Gians Gesichtszüge zeigten Erstaunen, und sein Blick war auf die Pistole gerichtet, die er in seiner linken Hand hielt. Nicht unweit glänzte eine Patronenhülse im Gras. Ein Mitarbeiter des wissenschaftlichen Dienstes hatte ihren Fundort mit einem Plastikschild markiert.

Charkow betrachtete die Waffe in Gians Hand. Das Bild, das er vor sich sah, widersprach seinem innersten Gefühl. Was war hier passiert? Alles in ihm sträubte sich gegen die Offensichtlichkeit dieser Situation, die einen Selbstmord zeigte. Und er wusste, warum. Gestern hatte Gian zweimal versucht, ihn anzurufen. Beide Male ließ Charkow ihn auf den Anrufbeantworter sprechen, weil er keine Lust hatte, mit ihm zu reden. Gian hatte ihn wieder einmal um Unterstützung bei der Recherche zu einem Artikel gebeten. Da Gian in den letzten Jahren meistens nur aus diesem Grund anrief, hatte er die Anrufe nicht angenommen. Als Charkow das Band später abhörte, war Gians Stimme voller Tatendrang und Hoffnung.

Ein Mensch, der vorhat, sich umzubringen, klingt anders, dachte Charkow.

»Das hier stimmt nicht. Es ist inszeniert«, sagte er und betonte jedes Wort.

»Was meinst du damit?«, fragte Francine erstaunt.

»Es soll wie Selbstmord aussehen. Aber es war keiner.«

»Erstens, es sieht wie Selbstmord aus – ich habe keine Anhaltspunkte für eine andere Annahme –, zweitens musst du mir erst einmal erklären, warum du das Offensichtliche einfach ausschließt.«

»Er hat mich angerufen.«

»Wann?« Sie versuchte erst gar nicht, ihr Erstaunen zu verstecken.

»Gestern.«

»Warum?«

»Gian brauchte wieder meine Hilfe bei einer Recherche. Glaub mir, seine Stimme klang nicht wie die eines Suizidgefährdeten. Ihm ging es gut. Er wirkte aufgeräumt.«

»Wann war das genau?« Francine sah ihn verwirrt an.

»Gestern. Er rief zweimal an. Gegen Morgen und am Abend noch einmal.«

»Hast du mit ihm gesprochen?«

»Nein. Er hinterließ zwei Nachrichten auf meinem Anrufbeantworter.«

»Was genau hat er gesagt?«

»Ich solle ihn zurückrufen, um Informationen für ihn zu prüfen. Welche Art von Informationen, sagte er nicht.«

»Du könntest der Letzte gewesen sein, der mit ihm Kontakt hatte«, bemerkte Francine. »Aber das wirst du sicher bald bei der Telefongesellschaft in Erfahrung bringen. Angenommen, es wäre eine inszenierte Tötung, dann …«

»… hatte der Täter einen weiteren Schuss aus der Waffe in der Hand des Toten abgefeuert, damit wir Schmauchspuren finden«, beendete Charkow ihren Gedanken.

Francine nickte. »Wir haben Schmauchspuren an seiner linken Hand gefunden.« Sie dachte nach. Der Gedanke, dass Gian ermordet worden war, schien ihr Unbehagen zu bereiten. »In diesem Fall war es jemand, der genau wusste, was er tat.«

»Die Jungs von der Spurensicherung müssen nach einer zweiten Patronenhülse suchen«, sagte Charkow.

»Der Täter hat die Hülse bestimmt mitgenommen.«

»Vielleicht. Vielleicht auch nicht.« Er stand auf, um den Kriminaltechniker, der Fotos von der Leiche machte, zu fragen, ob er eine zweite Hülse gefunden hatte. Kurz angebunden schüttelte dieser den Kopf.

»Sucht alles noch einmal mit dem Metalldetektor ab!«, blaffte Charkow ihn ungeduldig an.

In der Zwischenzeit waren nun auch Staatsanwalt Walter Kummer, der Pressesprecher und Charkows Assistentin Priska Künzler eingetroffen. Sie warteten hinter der Absperrung auf die ersten Ergebnisse. Der Krankenwagen verließ den Tatort, an seiner Stelle näherte sich jetzt der Leichenwagen der Sommerwiese.

»Wie lange ist Gian schon tot?«, wollte Charkow von Francine wissen.

»Etwa vier bis sechs Stunden. Er wurde irgendwann heute Morgen getötet.«

Charkow versuchte, sich zu erinnern, was er zu dieser Zeit gemacht hatte. Wurde Gian ermordet, während er heute Morgen die Akten für die Staatsanwaltschaft prüfte? Oder war es geschehen, als er zu Nikolaj in die Klinik fuhr? Diese Fragen lenkten ihn nur von der einen einzigen Frage ab, die er sich nicht stellen wollte: Warum hatte er Gian nicht zurückgerufen? Hätte er es getan, wäre vielleicht alles anders gekommen. Vielleicht wäre Gian nicht an diesen Ort gegangen, sondern sie hätten sich in einem Café in der Stadt getroffen. Und Gian würde vielleicht noch leben.

»Scheiße! Vielleicht, vielleicht, vielleicht!«, fluchte er leise.

Francine sah ihm an, dass er sich Selbstvorwürfe machte. »Max, du kannst nichts dafür. Hör auf, dir die Schuld an etwas zu geben, das du nicht hättest verhindern können.«

»Wo ist Gians Mobiltelefon?«, fragte er unvermittelt.

»Wir haben nichts gefunden. Weder seine Brieftasche noch seine Wohnungsschlüssel.«

»Sucht danach!« Ihm schoss ein weiterer Gedanke durch den Kopf. »Ich muss Maja informieren.«

»Maja? Du willst es seiner Mutter sagen? Max, du solltest den Fall abgeben!«

»Warum?«

»Du bist mit dem Opfer befreundet.«

Er blickte sie irritiert an. »Nein. Wir waren befreundet. Wir haben uns aus den Augen verloren«, verbesserte er sie. »Und ich werde diesen Fall leiten.«

Francine seufzte. Sie wusste, dass sie keine Chance hatte, sich gegen seinen Entscheid zu stellen. Trotz seines Dickkopfes schätzte sie ihn. Er war nicht nur einer der fähigsten leitenden Ermittler, sondern ein Mensch, den sie auf den ersten Blick in ihr Herz geschlossen hatte. Sie war sich ihrer Gefühle ihm gegenüber nicht sicher. Es gab Augenblicke, in denen sie sich seine Nähe wünschte. Sie wäre auch bereit gewesen, sich auf ein Abenteuer mit ihm einzulassen. Aber ihr war bewusst, dass es wie ein Flug ohne Instrumente durch eine mondlose Nacht gewesen wäre.

»Ich fahre morgen zu Maja«, unterbrach er ihre Gedanken.

»Lass es einen Beamten im Engadin übernehmen. Er soll nach Soglio fahren und es Maja sagen«, versuchte sie, ihn zu beschwichtigen, obwohl sie wusste, dass es nichts nützte.

»Nein, sie soll es von mir erfahren.«

»Wie du willst. Du bist ein verdammter Dickschädel. Aber bitte, wenn du meinst, über den Dingen zu stehen …«

»Ich stehe nicht über den Dingen! Aber ich habe immer den notwendigen Abstand zu einem Fall«, verteidigte er sich barsch und legte das weiße Tuch über Gians Leiche.

»Na dann«, sagte Francine resigniert und zeigte in Richtung des Absperrbandes, unter dem sich Walter Kummer gerade hindurch bückte. »Du kannst das ja versuchen, Walter zu erklären.«

»Gian und ich sind zusammen aufgewachsen.« Charkow hielt sie am Arm, um sie am Weggehen zu hindern. »Walter weiß davon nichts.«

»Ich bin ihm das schuldig.«

Erst jetzt merkte sie, wie wichtig es für ihn war, diesen Fall zu lösen. Sie hasste solche Situationen. Charkows Eigensinn hätte sie widerstehen können, doch jetzt forderte er einen Freundschaftsdienst.

»Ich werde dir nicht im Weg stehen«, sagte sie knapp, entzog sich seinem Griff und gab vor, in ihrem Instrumentenkoffer etwas zu suchen. So musste sie wenigstens nicht als Erste Kummer in die Augen blicken.

Ein kräftiger, untersetzter Mann mit Halbglatze, wachen Augen und einem schlecht sitzenden Anzug lief auf sie beide zu.

Walter Kummer war seit 25 Jahren Staatsanwalt für Gewaltdelikte. Er half, wo er konnte, und war immer eine Stütze für Charkow und seine Kollegen.

Charkow wusste, dass er auch jetzt auf ihn zählen konnte.

»Mann, Maxim! Was machst du im Sperrbereich?«, fragte Kummer und wandte sich gleichzeitig dem Chef des technischen Dienstes zu. »Ihr seid doch fertig, nicht wahr?«

Dieser schüttelte den Kopf, und sein Blick verriet, dass er Charkows Verhalten nicht richtig fand. »Ist doch sonst nicht deine Art!«, bemerkte er mürrisch.

»Ich glaubte, das Opfer zu kennen«, gab Charkow zu.

»Und?«, hakte Kummer nach.

Charkow zögerte. Es fiel ihm schwer, Kummer zu belügen. Und er spürte Francines vorwurfsvollen Blick im Rücken.

»Ein Jugendfreund.«

Kummer schien abzuwägen und blickte Charkow direkt ins Gesicht. »Komm mit.«

Sie verließen den abgesperrten Bereich. Priska wollte etwas sagen, doch Kummer hob die Hand, bat sie, damit zu warten, und führte Charkow hinter die Einsatzfahrzeuge, wo sie sich ungestört unterhalten konnten.

»Wie gut wart ihr befreundet?«

»Das ist alles lange her. Wir wuchsen beide in Soglio auf. Haben uns dann aber später aus den Augen verloren«, log Charkow.

Kummer schien zu merken, dass Charkow nicht ganz die Wahrheit sagte. »Hast du damit irgendwelche Schwierigkeiten?

»Nein!«

»Na gut.« Kummer wandte sich an Francine. »Was haben wir hier?«

»Bis jetzt haben wir noch eine eindeutige Suizidsituation«, murmelte sie in ihren Instrumentenkoffer hinein, ohne Kummer anzusehen.

»Noch?«, fragte er erstaunt.

»Wie immer kann ich das erst bestätigen, nachdem ich die Leiche genauer untersucht habe.«

»Sicher, sicher«, bestätigte er erleichtert ihre Worte. »Also morgen?«

Sie gab ihre Suche im Instrumentenkoffer auf. »Sicher, Walter, morgen.«

»Ihr braucht mich hier nicht mehr?«

»Wir müssen in die Wohnung des Toten«, sagte Charkow.

»Ich besorge dir den Durchsuchungsbefehl. Sonst noch was?«

»Ja, ich will mit der Mutter reden.«

»Das können die Kollegen aus St. Moritz übernehmen.«

»Nein, ich will es ihr sagen«, sagte Charkow zögernd.

Kummer warf ihm einen prüfenden Blick zu.

»Die Mutter des Toten kennst du auch?«

»Ja sicher. Schließlich sind wir im selben Dorf aufgewachsen. Sie soll die Nachricht vom Tod ihres Sohnes von mir erfahren. Außerdem möchte ich ihr einige Fragen stellen.«

»Mhm … hast du mir noch was zu sagen?« Sein Gesicht verriet, dass er abwog, die Situation neu zu bewerten.

Charkow verneinte, und Walter Kummer fuhr sich mit der Hand über die kahle Stelle am Kopf.

»Also gut. Geh hin, sag es ihr, stell deine Fragen und komm wieder zurück. Im Augenblick haben wir wichtigere Fälle als diesen Suizid. Entschuldige, auch wenn du den Toten kanntest, aber wir vermissen seit einer Woche dieses 15-jährige Mädchen. Die Kollegen wären sicher froh, wenn du sie unterstützen würdest.«

»Ich melde mich bei dir, sobald ich zurück bin.«

Als Kummer wegfuhr, trat Priska zu Charkow. »Was haben wir hier, Chef?«

»Wenn du mich fragst, einen Mord.« Er betrachtete düster die dunkle Wolke über ihnen.

Der Platzregen setzte so schnell wieder ein, wie er vor einer Stunde aufgehört hatte. Fluchtartig verließen die Schaulustigen den Tatort, als die ersten dicken Tropfen auf das weiße Leichentuch aus Kunststoff klatschten.

Charkow rannte mit Priska zu seinem Dienstwagen. Francine und ihr Team zogen sich fluchend in den Mannschaftswagen zurück. Der Regen würde die wenigen Spuren, die sie vielleicht noch hätten finden können, endgültig zunichtemachen.

»Wenn eine zweite Patronenhülse auftaucht, ruf mich gleich an!«, rief Charkow ihr durch den Regen nach, bevor sie die Seitentür des Mannschaftswagens zuschob.

4. Kapitel

Der Fluss Limmat teilte Zürich in zwei Hälften: Die Menschen glaubten in eine gute und eine schlechte. Die gutelag am linken Ufer, die schlechte am rechten. In dieser befand sich Gians Wohnung, inmitten der Altstadt, zwischen Bordellen, Buchantiquariaten, Striplokalen und kleinen Handwerksbetrieben, die dem Niederdorf seinen unverwechselbaren Charakter gaben. Das andere Ufer beheimatete Bankzentralen, die Tradition und alle möglichen Seilschaften. Allmählich verschwanden die Grenzen, und Charkow hatte immer öfters das Gefühl, dass die ganze Stadt zunehmend der Gier und dem Profit verfiel.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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