Allmen und der Koi - Martin Suter - E-Book

Allmen und der Koi E-Book

Martin Suter

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Beschreibung

Eine Einladung von »Unbekannt« lockt Allmen nach Ibiza auf ein exklusives Anwesen. Die Detektei Allmen International erhält den Auftrag, den verschwundenen Koi »Boy«, fast eine Million wert, ausfindig zu machen. Allmen und seine Crew finden diskreten Zutritt zur abgeschirmten Welt der Insel-High-Society und bekommen Einblick in eine kuriose Sammelleidenschaft.

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Martin Suter

Allmen und der Koi

Roman

Diogenes

Carlos atmete.

Er trug eine Sauerstoffmaske, und der Schlauch einer Infusionsflasche führte in seine Armbeuge. Kabel eines EKGs waren an seinem Körper befestigt und eine Sauerstoffklemme an seinem Zeigefinger. Am linken Oberarm trug er die Manschette eines Blutdruckmessgeräts. An der Seitenwand des Krankenwagens blinkten digitale Anzeigen. Ein Sanitäter saß auf dem zweiten Stuhl und überwachte den Patienten und seine Überwachungsgeräte.

Jetzt öffnete Carlos die Augen ein bisschen, sah Allmen, brachte so etwas wie ein Lächeln zustande und schloss sie wieder.

Das Blut war aus seinem Gesicht gewichen, was seiner Hautfarbe einen Stich ins Gelb‌liche gab. Er trug einen Kopfverband, der auch das rechte Ohr umfasste. An zwei Stellen drang etwas Blut durch das Textilgewebe.

Es herrschte Discoverkehr auf der Autobahn. Viele Taxis und Mopeds waren unterwegs, die dem Krankenwagen trotz Sirene und Blau‌licht kaum Platz machten.

»Gleich sind wir da«, sagte Allmen immer wieder, »gleich!«

Carlos’ Blutdruck war sehr niedrig, und die Herzstromkurve sah unregelmäßig aus. Der Pfleger wurde nervös. Er zog eine Spritze auf und machte eine Injektion in Carlos’ freien Oberarm. Dann telefonierte er. Allmen entnahm dem Gespräch, dass Carlos’ Zustand kritisch war. Der Pfleger bat wiederholt eindring‌lich, dass man ein Team zum Notfalleingang schickte und den Patienten abholte.

Allmen nannte mehrmals Carlos’ Namen, aber sein Partner war jetzt nicht mehr ansprechbar.

Erster Teil

1

Er wusste nicht, wohin die Reise ging, aber er hätte sich etwas Exotischeres gewünscht.

Die Dassault Falcon 2000LXS hätte ihn locker nach Rio, Windhoek oder Bombay geflogen, und er hatte seine Reisegarderobe auch solchen Destinationen angepasst. Deshalb war er etwas enttäuscht, als die japanische Flugbegleiterin ihn schon wieder darauf aufmerksam machte, dass sie den Sinkflug begonnen hätten. Sie waren kaum mehr als eine gute Stunde unterwegs gewesen.

Allmen erhob sich von dem Sofa, auf dem er es sich bequem gemacht hatte, und ging zu einem der breiten Ledersitze, wo er auch während des Starts gesessen hatte.

Er brauchte sich nicht zu bücken, der Passagierraum war beinahe eins neunzig hoch. Er hatte normalerweise zehn Sitzplätze, aber bei dieser Ausführung waren es nur vier. Der Rest wurde gebraucht für einen mit feinen Bambuslamellen abgetrennten Schlafraum.

Auch sonst war der Passagierraum japanisch eingerichtet. Die neun Fenster besaßen Shoji-Jalousien, der Boden war mit Tatami-Matten ausgelegt, die Tische mit kostbarem Urushi-Lack behandelt, und die goldenen Tapeten an den Wänden waren mit bunten Zierfischen bemalt.

Auch die Galley und der kleine Raum für die Flugbegleitung waren im japanischen Stil gehalten. Allmen fiel auf, dass Bad und Toilette behindertengerecht ausgestattet waren, mit Wandklappsitz in der Dusche und überall Klappgriffen.

Eine weitere Ungewöhn‌lichkeit in der Ausstattung dieses Privatjets war die Musikanlage. In der ganzen Kabine waren Ultra-High-End-Lautsprecher eingelassen, die das Geräusch der ohnehin leisen Triebwerke spielend übertönten und eine Klangqualität boten, wie sie Allmen selten gehört hatte.

Allmens geheimnisvoller Gastgeber war vielleicht ein behinderter japanischer Musikfreund.

Vor zwei Tagen kam der Anruf einer gewissen Frau Kellerhals von Koller, Bertram und Schmidbauer. Sie wollte María nicht verraten, worum es sich handelte, und bestand darauf, mit dem Inhaber, Herrn von Allmen, verbunden zu werden.

María versprach einen Rückruf in zwei Stunden, denn Herr von Allmen befinde sich in einer externen Besprechung. In Wirk‌lichkeit lag er noch im Bett. Es war morgens um halb neun.

Am nächsten Tag um zehn sprach Allmen in der Kanzlei vor, die drei ganze Etagen eines Hauses aus den Gründerjahren in bester Lage an der Bahnhofstraße einnahm. Er wurde von Frau Kellerhals über ein poliertes knarrendes Parkett in einen mit Vintage-Designermöbeln eingerichteten Salon geführt, wo man ihn ein wenig warten ließ und schließ‌lich zu Dr. Bertram führte.

Dr. Bertram war ein kleiner, hagerer Mann von etwa fünfzig. Er trug einen – nach Allmens Urteil – eng‌lischen Maßanzug, in dessen handgesäumtem Knopf‌loch die winzigste Version des Rotarierabzeichens steckte.

Es dauerte einen Moment, bis er sich von seinem Bildschirm losreißen konnte, die Lesebrille abnahm, sich erhob, Allmen begrüßte und zu der Corbusier-Sitzgruppe führte, über der ein Ölbild von Cuno Amiet hing, ein Gehöft in einer bunten Sommerlandschaft.

Frau Kellerhals hatte offenbar Anweisungen, dem Besucher nichts anzubieten, und verließ das Büro.

»Wie flexibel sind Sie?«, fragte Dr. Bertram.

»In welcher Hinsicht?«

»In zeit‌licher.«

Allmen war momentan äußerst flexibel, die Auf‌tragslage von Allmen International Inquiries war angespannt und das seit, nun ja, nicht erst gestern. »Wir versuchen, uns in puncto Flexibilität nach Mög‌lichkeit situativ den Bedürfnissen unserer Mandantschaft anzupassen«, erwiderte Allmen.

Dr. Bertram nickte. »Sehr gut. Die Situation würde näm‌lich Ihre sofortige Abreise und temporäre Ortsabwesenheit erfordern.«

»Sofortige?«

»Morgige.«

»Wohin?«, erkundigte sich Allmen.

»Das beträfe dann den zweiten Punkt, für den Ihre Flexibilität erforder‌lich wäre: Ich kann Ihnen das Ziel aus Diskretionsgründen nicht nennen.«

»Verstehe.«

»Richten Sie sich für einen Aufenthalt in süd‌lichen Wetterverhältnissen ein. Und sehen Sie garderobenmäßig auch etwas für den Abend vor. Wie berechnen Sie Ihre Dienste?«

Allmen hatte gehoff‌t, dieses Thema komme nicht zur Sprache, aber er hatte Carlos und María versprochen, ihm nicht auszuweichen. So gab er denn nach kurzem Zögern die Antwort, die sie mit ihm eingeübt hatten: »Die Agentur verrechnet eine Tagespauschale und im Falle eines Erfolgs eine Erfolsprämie.«

Dr. Bertram wartete.

Allmen hatte auch die Zahlen geübt, aber er tat so, als wüsste er nicht, worauf Bertram wartete.

»In welcher Höhe«, half dieser schließ‌lich etwas gereizt nach.

»Zweitausend«, ließ Allmen mög‌lichst beiläufig verlauten.

Dr. Bertram machte sich eine Notiz mit der Nonchalance eines Mannes, dessen Tage ein Vielfaches davon kosteten. »Plus Spesen, nehme ich an.«

Allmen konnte nicht umhin zu antworten: »Davon gehe ich aus, aber das Pekuniäre überlasse ich offen gestanden dem Accounting. Es wird sich mit Ihnen in Verbindung setzen.«

»Aber die Höhe der Erfolgsprämie dürf‌te Ihnen bekannt sein.« Dr. Bertrams Stimme besaß nun einen ironischen Unterton.

»Zwanzig Prozent des Wertes des Wiederzubeschaffenden«, sagte Allmen leichthin und wechselte im selben Atemzug das Thema. »Haben Sie eine Ahnung, wie lange die Ortsabwesenheit dauern könnte?«

Dr. Bertram hatte sich eine weitere Notiz gemacht und sah nun auf. »Das liegt ganz an Ihnen, Herr von Allmen.«

 

Er sah aus dem Fenster auf das wirre Muster der Gischtspuren, die die Speedboote in das Meer zogen. Bald würde die Küste zu sehen sein. Von Korsika? Sardinien? Sizilien? Malta? Mallorca? Ibiza?

Das tiefe Blau des Meeres hellte sich auf, wurde smaragdgrün und transparent, dunkle Algenbänke waren zu erkennen und schwarze Riffe. Dann von gelben Sandstränden gesäumte Klippen, von weißen Kuben gescheckt.

Allmen wusste jetzt, wo er sich befand. Er sah die Bucht von Talamanca mit ihrem vollbesetzten Jachthafen, den Hafen, die Zitadelle, die Hotelkästen und überfüllten Strände von Figueretes und Playa d’en Bossa, den knallblauen Wasserpark, die rotbraunen Felder: Sie landeten auf Ibiza.

Der Pilot setzte ganz am Anfang der Landepiste auf und bremste so stark ab, dass es ihm noch reichte für die Abzweigung, die zum Vorfeld führte, an dem der kleine Terminal der General Aviation lag.

2

Es roch immer noch gleich im Terminal der General Aviation von Ibiza: nach feuchtem Mörtel.

Das letzte Mal war er in Freddy Turnbills angejahrter Hawker Beechcraf‌t hier gelandet, einer gemüt‌lichen, immer etwas muffigen Turboprop-Maschine, mit der ihn sein alter Schulfreund hatte abholen lassen.

Er kannte Freddy aus der Zeit der Charterhouse School und hatte ihn seither nie mehr ganz aus den Augen verloren. Sein Vater, George Turnbill, war ein Ibiza-Pionier gewesen. Er hatte in den sechziger Jahren auf einem bewaldeten Hügel eine große Finca gekauft und ein paar umliegende Hügel dazu. Freddy, der einzige Erbe, hatte das Anwesen geerbt und verbrachte dort einen Teil des Sommers. Den Rest des Jahres verteilte er auf die anderen Liegenschaften der internationalen Samm‌lung seines Vaters.

Ein alter Mann fuhr einen Gepäckwagen mit Allmens Koffern heran und lud sie auf das Förderband der Sicherheitskontrolle. Es waren viele Stücke. Allmen hatte zwar nur das Nötigste eingepackt, aber Allmen hatte nun einmal mehr nötig als andere Leute.

Eine junge Frau in der Uniform der Guardia Civil schwatzte, ohne auf den Bildschirm zu achten, mit einem hochgewachsenen athletischen Mann in schwarzer Hose und enganliegendem schwarzem T-Shirt. Er gab wortkarge Antworten und lud dabei beiläufig das durchleuchtete Gepäck vom Laufband wieder auf den Gepäckwagen.

Erst als das letzte Stück auf dem Wagen lag, blickte er Allmen an, kam auf ihn zu und begrüßte ihn. »Mein Name ist Bajrush. Ich bringe Sie zu Mister Garrett.«

Allmen folgte ihm. Der alte Mann mit dem Gepäckwagen kam nach.

Die Sonne brannte auf den fast leeren Parkplatz vor dem Terminal. Bajrush griff in die Hosentasche, und der Kofferraumdeckel einer weißen Limousine sprang auf. Als sie sie erreicht hatten, begann der alte Mann, Allmens Gepäck in den Kofferraum zu laden. Bajrush öffnete die Fahrertür und startete den Motor, dann schlug er die Tür wieder zu. Allmen nahm an, er habe die Klimaanlage eingeschaltet.

Der Kofferraum war zu klein für Allmens Gepäck, die beiden Männer mussten zwei Koffer auf dem Beifahrersitz verstauen.

Allmen steckte dem alten Mann einen Fünfzig-Euro-Schein zu und bekam ein zahnloses Lächeln geschenkt. Dann sank er in die weißen Lederpolster des Maybach. Die auf die Höchststufe eingestellte Klimaanlage hatte bereits einen angenehmen Temperaturunterschied zu draußen hergestellt.

Auf der vierspurigen Flughafenstraße staute sich der Hochsaisonverkehr. Bajrush brauchte eine halbe Stunde, bis er end‌lich den Kreisverkehr in Richtung Ibiza-Stadt erreicht hatte. Dort wählte er die Straße nach Norden. Der Verkehr wurde etwas flüssiger.

Nach etwa zwanzig Minuten auf der Hauptstraße bog Bajrush in ein unmarkiertes geteertes Sträßchen ein. Es führte sie über viele Kurven vorbei an Trockenmauern, Feldern mit Johannisbrotbäumen, fast kahlen Mandelbäumen und silbergrün glänzenden Olivenbäumen auf einen Hügel hinauf. Sie durchquerten ein schmales Pinienwäldchen, und als die Limousine dessen Schatten verließ, waren sie auf der Hügelkuppe angekommen. Auf ihr stand ein halbes Dutzend kalkweißer kubischer Gebäude. Weit unten lag still und mächtig das Meer.

Der Maybach fuhr auf das große Anwesen zu. Ein Gittertor öffnete sich und gab den Blick frei auf ein Pförtnerhaus, aus dessen Tür ein junger Mann trat und die Limousine durchwinkte. Sie bogen in eine Palmenallee ein, die in eine Vorfahrt mündete. Aber Bajrush fuhr am Eingang des größten Hauses vorbei und hielt vor einem kleineren Gebäude.

Ein Mann kam auf den Wagen zu und öffnete die Wagentür für Allmen. Er war gleich gekleidet wie der Pförtner, weiße Hosen und marineblaues T-Shirt mit der Aufschrift »Can Pes«. Wie ein Mitglied der Crew einer Jacht. Er begrüßte ihn auf Eng‌lisch und führte ihn ins Haus.

Die Räume waren weiß. Weiße Wände, weiße Decken, weiße Böden. Sie waren sparsam möbliert mit ausgesuchten ibizenkischen Antiquitäten und auf unter zwanzig Grad gekühlt.

Sein Begleiter öffnete eine weiße Tür zu einem Wohnraum mit weißen Polstermöbeln. Deckenhohe Schiebefenster gaben den Blick frei auf einen palmenbestandenen Vorgarten. Eine Verbindungstür führte zu einem Schlafzimmer mit einem zwei auf zwei Meter großen Bett und den gleichen Schiebefenstern wie im Wohnzimmer. Das En-Suite-Bad besaß ein Jacuzzi und eine Outdoor-Dusche im Schatten einer kleinen Gruppe Washington-Palmen.

Zwei Männer brachten das Gepäck und verließen das Appartement mit Allmens Begleiter. Kurz darauf klopf‌te es, und Bajrush betrat den Raum. »Bitte halten Sie sich um siebzehn Uhr bereit, ich werde Sie abholen und zu Mister Garrett bringen.«

»Indoor?«, fragte Allmen.

»Outdoor.«

»Formell?«

»Casual«, antwortete Bajrush. »Brauchen Sie Hilfe mit dem Gepäck?« Er schien überrascht, als er ein Ja zur Antwort bekam.

Allmen setzte sich in einen der Sessel aus Schlagsahne und schaute dem Hünen zu, wie er einen Koffer nach dem andern öffnete und seinen Inhalt etwas unbeholfen in die Schränke räumte. Als er den ersten Anzug aus seinem Kleidersack nahm, bat Allmen: »Glauben Sie, Sie könnten das ein wenig aufbügeln lassen?«

Bajrush nahm ein kleines Walkie-Talkie vom Gürtel und sprach einen leisen kurzen Befehl hinein. Kurz darauf brachte einer der Helfer einen fahrbaren Garderobenständer. Bajrush hängte die acht Anzüge daran, und sie wurden weggebracht.

Allmen blickte dem fahrenden Garderobenständer besorgt nach. Er hätte sich nur einen Teil seiner Garderobe aufbügeln lassen sollen. Normalerweise hätte er sich jetzt frischgemacht und umgezogen.

3

Allmen öffnete die hohe Glastür zum palmenbestandenen Vorgarten. Heiße Luft vermischte sich mit der fast kalten des Zimmers. Er trat hinaus. Ohne Jackett und Krawatte und mit hochgerollten Hemdsärmeln.

Die Sonne brannte unerbitt‌lich auf die windstille, ausgetrocknete Insel herunter. Er war froh um seinen federleichten, zusammenrollbaren Panama. Und – wenn er ehr‌lich war – um die seltene Gelegenheit, einen Hut ‌tragen zu dürfen. Er besaß eine Samm‌lung ausgesuchter Hüte, die er auf seinen Reisen überall in der Welt zusammengekauft hatte, in der Hoffnung, dass Hüte für den Mann wieder in Mode kamen. Aber bis jetzt hatte er zu seinem Bedauern erst das Comeback der gleichmacherischen Bärte erlebt.

Es war still. Nur die Zikaden vom nahen Pinienwald waren zu hören und das gelegent‌liche Plätschern, wenn er an einer Palme vorbeikam, in deren Bewässerungsfurche Wasser aus einem Schlauch floss.

Die Vegetation war tropisch. Keine der heimischen Pflanzen wie Mandel-, Oliven-, Johannisbrot-, Orangen- und Zitronenbäume, sondern Hibiskus, Tiaré, Frangipani, Guave, Elefantenohren, Riesenfarne, Kokospalmen und eine ganze Samm‌lung exotischer Palmen. Alles, was wächst bei viel Sonne, genug Wasser und Temperaturen, die nie unter null sinken.

Allmen wollte das Anwesen erkunden und danach die Zeit, bis seine Anzüge aufgebügelt waren, mit etwas Lektüre verbringen.

Vor dem Hauptgebäude, abgeschirmt durch eine blühende Hibiskushecke, lag ein Pool von olympischen Dimensionen. Sein überlaufender süd‌licher Rand verlor sich in der Unend‌lichkeit des Meeres.

Allmen setzte sich in einen weißen Korbsessel unter einem noch weißeren Sonnenschirm am Poolrand und zog das Paperback, das er gerade las, aus der Jacketttasche, Panikherz von Benjamin von Stuckrad-Barre.

Das Zirpen der Zikaden hörte abrupt auf, als hätte eine höhere Macht den Befehl dazu gegeben.

Allmen vertiefte sich in die Lektüre.

Er wusste nicht, wie lange er gelesen hatte, als er das Geräusch von Schritten hörte, etwas schlurfend, wie von Schlappen.

Er sah auf. Am schmalen Ende des Pools stand eine junge Frau mit schwarzglänzendem geradem Haar. Sie trug einen bunten, fast bodenlangen Sarong, und ihr Oberkörper war entblößt. Sie sah aus, als wäre sie einem Gemälde von Paul Gauguin entstiegen.

Sie beachtete ihn nicht, und Allmen vermutete, dass sie sich seiner Anwesenheit nicht bewusst war.

Er erhob sich von seinem Korbsessel, wandte sich diskret ab und wartete eine Weile, um ihr die Gelegenheit zu geben, sich zu bedecken.

Als er sich wieder umwandte, stand sie nackt am Poolrand, blickte kurz zu ihm herüber und sprang geschmeidig mit einem Kopfsprung ins türkisfarbene Wasser. Mit fast lautlosen Kraulzügen glitt sie an ihm vorbei.

Allmen setzte sich wieder und versuchte, sich auf seine Lektüre zu konzentrieren.

Aber er ertappte sich dabei, dass er ihre Bahnen zählte. Und dabei, dass er nach dreißig über den Buchrand schielte und zusah, wie sie aus dem Pool stieg und, ohne sich abzutrocknen, mit ausgebreiteten Armen begann, den Pool zu umrunden.

Er wusste nicht, ob er aufstehen oder sitzen bleiben sollte. Als sie ihn fast erreicht hatte, beschloss er, dass sitzen bleiben diskreter sei.

Und aufschauen höf‌licher als weiterlesen.

Allmen blickte auf und sah sie an.

Noch immer hatte sie die Arme ausgebreitet. Auf ihrer braunen Haut glitzerten nur noch vereinzelte Wassertropfen.

Er nickte ihr zu.

Sie nickte nicht zurück, sah ihm aber kurz in die Augen und lächelte.

Allmen fühlte sich ermutigt, ihr nachzuschauen.

Sie ging weiter, blieb kurz vor der Hibiskushecke stehen, riss eine Blüte ab, steckte sie sich hinter das rechte Ohr und schlenderte weiter bis zu der Stelle, wo ihr Sarong am Boden lag. Sie bückte sich, hob ihn auf, schlang ihn routiniert um die Hüfte und verschwand im Schatten dichtgepflanzter niedriger Palmen, die einen schmalen Weg säumten.

Allmen widmete sich wieder seiner Lektüre. Noch immer hatte er Mühe, sich darauf zu konzentrieren.

4

Als Allmen zurück ins Zimmer kam, hing seine Garderobe in den Schränken. Er duschte und zog einen Anzug aus sehr leichter khakifarbener Baumwolle an, dazu ein weißes Leinenhemd mit offenem Kragen. Acht Stück hatte er davon mitgebracht, Leinen knittert so rasch.

Punkt siebzehn Uhr holte Bajrush Allmen ab. Er führte ihn auf einem kurvigen, leicht abfallenden Weg durch einen Palmenhain zu einer Plattform, auf der ein weißer Golfcart geparkt war. Sie kamen an einer Treppe vorbei, die zu einer Eisentür hinunterführte, sie stand offen. Maschinengeräusche drangen herauf.

Ein paar Meter weiter hinter zwei Gruppen Riesenelefantenohren lag am Fuß eines terrassierten Hanges ein großer Teich. Auch er gesäumt von verschiedenen Palmenarten, Elefantenohren und Riesenfarn. An einigen Stellen des Ufers wuchs Schilf, ein paar andere waren von Seerosenblättern bedeckt, zwischen denen üppige Blüten schwammen.

Der Teich war etwa dreißig Meter lang und zwischen sechs und zwölf Meter breit. An seiner schmalsten Stelle führte eine zier‌liche japanische Brücke zum gegenüberliegenden Ufer.

Garrett saß auf einem aufblasbaren Kissen am Teichrand und ließ die dünnen Beine ins Wasser baumeln. Als Allmen näher kam, sah er, dass sie von einem Knäuel aus großen bunten Fischen umgeben waren.

Neben dem Kissen stand ein Kübel, aus dem er etwas Läng‌liches, Braunes nahm, ins Wasser hielt und in die weitgeöffneten Mäuler steckte. Mit der freien Hand streichelte er die zutrau‌lichen Tiere.

Als er Allmen bemerkte, gab er ihm seine nasse Hand. Dann tätschelte er den Marmor neben sich, als Auf‌forderung, sich neben ihn zu setzen.

Allmen kauerte sich nieder.

Garrett war wohl über siebzig, hatte weiße lange, schüttere Haare und trug eine weiße Hose und ein weißes Hemd, dessen oberste drei Knöpfe geöffnet waren. Allmen sah seine eingefallene Brust. Sie war tätowiert, mehrere Halsketten baumelten davor.

»Hier. Bedienen Sie sich.« Er deutete auf den Kübel. Allmen fasste hinein und nahm etwas heraus. Es war ein getrocknetes Insekt.

»Seidenraupen. Ihr Lieblingshäppchen.«

Allmen hielt es mit spitzen Fingern.

»C’mon, die beißen nicht.«

Allmen hielt die Raupe ins Wasser. Sofort schloss sich weich und schlüpfrig ein Fischmaul um seinen Daumen und Zeigefinger. Allmen zog die Hand erschrocken zurück.

Garretts Lachen ging in einen Hustenanfall über, der eine ganze Weile anhielt. Bajrush füllte einen Kaffeelöffel mit einer Flüssigkeit aus einem Medizinfläschchen und flößte sie Garrett ein.

Als dieser wieder sprechen konnte, sagte er: »Die beißen nicht. Die haben ihre Zähne im Schlund. Schlundzähne. Damit können sie nur Algen zermalmen. Und reden.«

Allmen war exzentrische Klienten gewohnt und hakte nicht nach. Garrett musste es selbst tun.

»Wirk‌lich. Ohne Witz. Die knirschen mit den Schlundzähnen und unterhalten sich so.«

Allmen lächelte. »Ich hatte im Charterhouse einmal einen roommate, der knirschte auch mit den Zähnen. Aber nur in der Nacht. Und ich verstand nicht, was er knirschte.«

»War er auch so schön wie der?« Der alte Mann deutete mit dem Kinn auf den Fisch, der sich den Bauch streicheln ließ und sich bewegte, als würde er sich an die hagere Hand kuscheln. Er war schneeweiß und hatte nur einen einzigen roten Punkt auf dem Kopf.

»Er ist ein Tancho Kohaku. Mit einem Schönheitsfehler, leider.« Garrett fasste mit der anderen Hand ins Wasser und hob den Fisch ein wenig hoch. Jetzt sah Allmen unterhalb des Mauls zwei kleine rote Flecken.

»Die beiden Kleckse haben mich ein Vermögen gekostet. Als er ganz jung war, hatte er sie noch nicht. Und plötz‌lich waren sie da. Zuerst ein schwaches Gelb, dann ein kräftiges Orange und nun dieses Blutrot.«

Garrett schwieg nachdenk‌lich. Er kam Allmen bekannt vor. So, wie einem jemand bekannt vorkam, den man nicht persön‌lich, sondern nur aus den Medien kannte. Aber er konnte ihn nicht plazieren.

Er fasste sich ein Herz, fischte noch einmal ein paar Seidenraupen aus dem Kübel und hielt sie ins Wasser. Sofort nahm ein Koi seinen Finger in den Mund, als wollte er daran lutschen.

»Spüren Sie, wie weich das Wasser ist?«, fragte Garrett.

Für Allmen fühlte es sich einfach an wie Wasser, aber er nickte.

»Es ist eine Wissenschaft. Die Kohaku brauchen weiches Wasser; wenn es zu hart ist, bekommen sie schwarze Sommersprossen. Doch wenn es zu weich ist, schadet es dem Teich.«

Am anderen Ufer standen jetzt zwei Männer. Sie trugen japanische Arbeitskimonos mit kurzen Hosen und standen bis zu den Knien im Wasser. Einer hielt eine Stange, an dessen Ende ein Netz befestigt war, der andere einen Eimer.

»Und das sind die Wissenschaftler, Yuki und Yuma. Sie sind verantwort‌lich für die Wasserqualität. Haben Sie den technischen Raum gesehen? Sie sind daran vorbeigekommen.«

»Mehr gehört als gesehen.«

»Das sind die Pumpen. Das Wasser wird vierundzwanzig Stunden am Tag gefiltert, temperiert, auf dem richtigen pH-Wert gehalten und in der richtigen Strömung. Zwei Notaggregate haben wir. Zwei! Damit das System nie bei einem Stromausfall – und davon gibt es einige auf dieser Insel, vor allem in der Hochsaison –, damit es bei einem Stromausfall weiterhin das Wasser perfekt hält. Perfekt!«

Sie schwiegen und lauschten dem fernen Summen der Anlage.

Plötz‌lich rief Garrett: »Yuma!« So laut, dass der Ruf in einen Hustenanfall überging.

Beide Japaner sahen herüber. Bajrush rief: »Engine!«

Einer der Koi-Pfleger watete aus dem Wasser, stellte den Eimer ab und entfernte sich. Kurz darauf klang das Motorengeräusch gedämpf‌ter und verstummte schließ‌lich ganz.

Garrett erholte sich diesmal ohne Bajrushs Hilfe von seinem Hustenanfall. Er atmete vorsichtig tief durch, schloss die Augen und legte den Kopf in den Nacken.