Allmen und die Erotik - Martin Suter - E-Book

Allmen und die Erotik E-Book

Martin Suter

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Beschreibung

Nicht nur Gefällig-Harmloses lässt sich in edles Porzellan gießen, sondern auch Deftig-Anzügliches in vollendeter Kunst. Allmen und Carlos geraten an einen Schatz wertvoller Porzellanfigürchen für Liebhaber der expliziten erotischen Darstellung. Ein Fall, der sie gehörig ins Schwitzen bringt. Denn sie ermitteln nicht ganz freiwillig. Ein erpresserischer Komplize hat sie in der Hand.

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Martin Suter

Allmen und die Erotik

Roman

Diogenes

Für Toni

Erster Teil

1

»Wissen Sie überhaupt, wer ich bin?«

»Wissen Sie es?« Der Mann sah ihn mit spöttischem Lächeln an. Ein wenig von oben herab, denn er war einen halben Kopf größer als Allmen.

Das einzige Licht in der leeren Bibliothek stammte von ein paar Lampen neben den ledernen Lesesesseln und zwei auf Vitrinen gerichteten Spots. Durch die Tür drang ganz schwach das Gläserklirren und Gemurmel der Gäste der literarischen Gesellschaft Sternwald, die zu ihrer monatlichen Lesung geladen hatte.

Der Mann war im schwachen Licht kaum auszumachen. Er war gekleidet wie ein Bodyguard: schwarzer Anzug, weißes Hemd, schwarze Krawatte. Sein kurzgeschorenes Haar hatte auf den ersten Blick blond ausgesehen, aber es war wohl grau. Seine dichten Augenbrauen waren noch schwarz und sorgfältig getrimmt.

Allmen wandte sich gelangweilt ab und machte zwei Schritte auf die Tür zu.

Der Mann, jetzt ein bisschen lauter: »Ich weiß genau, wer Sie sind. Sie sind der hier.«

Allmen wandte sich um. Der Mann hielt ihm den Bildschirm eines Smartphones entgegen. Allmen sah, dass darauf ein Video lief, konnte aber keine Details erkennen. Der Mann wartete einen Moment, und als Allmen keine Anstalten machte, näher zu treten, kam er auf ihn zu.

Das Video zeigte Allmen. Er trug den mitternachtsblauen Anzug, den er gerade anhatte, und auch die silberne Krawatte. Und er befand sich in einer Bibliothek voller Vitrinen, die zwischen den Bücherregalen eingelassen waren.

In ebenjener Bibliothek, in der er sich in diesem Augenblick befand.

Allmen hob den Blick vom Display und sah in das noch immer spöttische Gesicht des Fremden. Dieser nickte ihm aufmunternd zu. Allmen blickte wieder auf den kleinen Bildschirm.

Er sah sich langsam die Bücherregale entlanggehen und vor einer der Vitrinen stehen bleiben. Er sah, wie er sich umschaute und einen Moment lang direkt in das Objektiv blickte.

Und er sah, wie er sein kleines Taschenmesser aus der Hosentasche nahm, die Klinge herausklappte, sie in den Spalt schob, wo die beiden Flügel, knapp über dem Schloss, zusammenfanden, und den rechten Flügel so weit herauszwängte, bis er ihn fassen konnte.

Noch einmal blickte er über die Schulter, noch einmal sah er direkt ins Objektiv, ohne den zu bemerken, der ihn filmte. Dann zog er. Der Flügel leistete ein wenig Widerstand, nahm den linken ein paar Zentimeter mit, bis der Riegel aus seinem Fach sprang. Allmen glaubte, aus dem kleinen Lautsprecher des Smartphones das metallische Geräusch zu hören, das dabei entstanden war.

Nun sah er, wie er mit einem gezielten Griff einen Gegenstand aus der Vitrine nahm, ihn in die Hosentasche steckte, die beiden Glasflügel wieder so zusammenfügte, dass sie sich schließen ließen, sein Einstecktuch mit einem geübten Griff herauszog und damit über die Stellen der Vitrine wischte, die er berührt hatte.

Der Mann schaltete das Smartphone aus und steckte es in die Brusttasche.

Mit allem, was Allmen noch an Überheblichkeit aufbrachte, sagte er: »Ich kann das erklären. Ich bin Kunstexperte.«

2

Johann Friedrich von Allmen, der auf das »von« gerne verzichtete, um diesem mehr Gewicht zu geben, befand sich auf einer Durststrecke.

Bei seinem letzten Fall ging es um die Rettung seiner Mitarbeiterin María und nicht um ein Honorar. Und bei seinem vorletzten Fall hatte er in einer bei ihm keineswegs seltenen Anwandlung von übertriebener Großzügigkeit auf ein solches verzichtet. Nun war es aber nicht so, dass bei ihm Großzügigkeit anderen gegenüber die Großzügigkeit sich selbst gegenüber beeinträchtigte. Allmen war es seit vielen Jahren gewohnt, Geld unabhängig davon auszugeben, ob er welches besaß oder nicht.

Eine Zeitlang half ihm sein treuer Diener, Carlos, den er fairerweise längst als Geschäftspartner bezeichnen musste, aus der Patsche. Carlos, dessen Umgang mit Geld von seiner Vergangenheit als Schuhputzer und papierloser Einwanderer geprägt war, hatte in der Zeit ihrer gemeinsamen Tätigkeit als Wiederbeschaffer abhandengekommener Kunst einen schönen Batzen beiseitegeschafft und ließ Allmen in den immer wiederkehrenden Zeiten finanzieller Engpässe daran teilhaben. Bis der Punkt erreicht war, an dem es Allmen unangenehm wurde, von der Freigebigkeit Carlos’ abhängig zu sein. In der Regel dauerte es eine ganze Weile, bis dieser Punkt erreicht war. Und wenn es dann so weit war, ließ sich Allmen noch einmal ein wenig Zeit, um etwas dagegen zu unternehmen.

Der kleine Abstecher in die Bibliothek der literarischen Gesellschaft Sternwald war die Maßnahme gewesen, die er zu ergreifen beschlossen hatte.

Die Gesellschaft hatte vor drei Jahren ihr zweihundertjähriges Jubiläum gefeiert und schwamm im Geld. Ihre Gründerväter hatten damals die Eingebung gehabt, das Haus, in welchem die literarische Gesellschaft eingemietet war, zu kaufen, als der Besitzer in finanzielle Widrigkeiten geriet. Das Gebäude stand in bester Passantenlage in der Einkaufsmeile der Stadt und beherbergte seit über hundert Jahren im Parterre und im Mezzanin deren elegantestes Modehaus. In der ersten Etage befanden sich die herrschaftlichen Räume der literarischen Gesellschaft Sternwald, in den beiden darüber die Kontore einer alteingesessenen Anwaltskanzlei.

Die Mieteinnahmen der Liegenschaft erlaubten nicht nur einen symbolisch niedrigen Mitgliederbeitrag und eine exklusive bibliophile Büchersammlung, sondern auch die Anschaffung von Kunstgegenständen, die keinen direkten Bezug zur Literatur hatten. Wie zum Beispiel ein Mini-Fabergé-Ei, das zwar nicht zu den aufregendsten Werken des Hauses gehörte, aber bei einer Auktion mit etwas Hammerglück einen sechsstelligen Betrag erzielen könnte. Oder bei einem diskreten Zwischenhändler aus Allmens Bekanntenkreis einen fünfstelligen.

Allmen war Mitglied der literarischen Gesellschaft Sternwald, nicht nur, weil man als Teil der besseren Gesellschaft der Stadt aus Tradition dabei war, sondern weil er tatsächlich an Literatur interessiert war. Allmen war ein passionierter Allesleser.

Er war nicht nur Mitglied, er gehörte sogar der Anschaffungskommission an, was ihm nicht nur ungehindert Zugang zu den Räumlichkeiten verschaffte, sondern ihn auch über jeden Verdacht erhaben machte.

Dennoch war ihm der Entschluss, seine Durststrecke auf diese Weise zu überbrücken, alles andere als leichtgefallen.

3

»Ich weiß, dass Sie was von Kunst verstehen, Herr von Allmen. Und eine Erklärung brauche ich nicht, ich weiß, dass Sie diese Dinge tun. Und auch, weshalb. Aber Herr Steinthaler ist möglicherweise nicht so auf dem Laufenden, ihm schulden Sie wohl eine Erklärung.«

Ludwig Steinthaler war der langjährige Präsident der literarischen Gesellschaft. Ein hochanständiger Herr, dem Allmen auf keinen Fall diesen Teil der Wahrheit über sich zumuten wollte. Selbst wenn er nur einen unbedeutenden Teil seiner Persönlichkeit ausmachte.

»Der Vorgang ist selbstverständlich mit Herrn Steinthaler abgesprochen. Es handelt sich um einen Test im Rahmen unseres Sicherheits-Updates. Da sind Nachbesserungen nötig, wie Sie selbst festgestellt haben dürften.«

»Seltsam, genau zu diesem Zweck hat mich Herr Steinthaler engagiert.«

Der Mann griff in die Hosentasche, brachte eine Notenklammer zum Vorschein, klaubte zwischen den Banknoten eine Visitenkarte hervor und reichte sie Allmen. »Allsecur« lautete das Logo, das in Rot über die ganze Breite der Karte lief. Darunter stand »Security Systems« und über der Adresse »Wilhelm ›Bill‹ Krähenbühler, Managing Partner«.

»Typisch Steinthaler«, lachte Allmen, »doppelt genäht hält besser.«

Krähenbühler ließ das spöttische Lächeln auf seinem Gesicht erlöschen. »Wollen wir rübergehen?«

»Rüber« war der große Salon, in dem die Lesung von Katja Feldmann stattgefunden hatte und in dem jetzt die Gäste ein kleines Flying Dinner einnahmen.

Die Bibliothek besaß zwei Türen. Die eine führte in den besagten Raum, die andere durch zwei Leseräume zum Hinterausgang der Etage, von der aus eine Treppe zum Hinterausgang des Gebäudes führte.

Aber Krähenbühler schien diesen zweiten Ausgang zu kennen, ging im Halbkreis um Allmen herum und versperrte ihm den Weg.

Wortlos streckte er die Hand aus.

Allmen zögerte, nahm dann das Fabergé-Ei aus der Hosentasche und händigte es aus. »Sie werden sehen, alles klärt sich auf.« Er straffte die Schultern und gab sich Mühe, nicht allzu gottergeben auszusehen, während Krähenbühler ihn zum großen Salon geleitete.

Als sie die hohe Flügeltür erreichten und der Sicherheitsmann die Hand nach der Türklinke ausstreckte, sagte Allmen: »Können wir das nicht diskreter handhaben?«

Krähenbühler sah ihn mit seinem süffisanten Lächeln an. »Aus Sicherheitsgründen?«, fragte er. Dann öffnete er die Tür.

Die Zuhörer standen in Grüppchen auf der freien Fläche zwischen den leeren Stuhlreihen und der Bühne mit dem Tisch und dem unberührten Glas Wasser. Ein paar Kellner mit Tabletts voller Getränke oder Fingerfood standen herum und warteten auf Abnehmer. Ein weißhaariger Mann mit randloser Brille überragte das kleine Grüppchen, mit dem er sich angeregt unterhielt. Steinthaler, der Präsident, mit Katja Feldmann, der Autorin und dem Star des Abends, und ein paar Bewunderern.

Allmen ließ sich widerstandslos zur Schlachtbank führen, in Gedanken weit in der Zukunft, in der diese Episode nur noch eine vage, unangenehme Erinnerung sein würde.

Das war ein Trick, den er schon als kleiner Junge entdeckt hatte: die Gegenwart überspringen. Er wusste aus Erfahrung, dass alles vorbeiging, das Angenehme wie das Unangenehme. Beim Angenehmen konzentrierte er sich auf die Gegenwart, beim Unangenehmen auf die Zukunft.

Er war in seiner Jugend ein leidlich guter Skifahrer gewesen und eine Zeitlang mit mäßigem Erfolg Rennen gefahren. Jedes Mal, wenn er stürzte, hatte er im Sturz an das nächste Rennen gedacht und so den Sturz, noch während er stattfand, in die Vergangenheit verdrängt.

So verfuhr er jetzt auch bei der Konfrontation mit Steinthaler.

Krähenbühler wartete höflich auf eine Lücke in der Konversation der Gruppe, bis Steinthaler sich an ihn und Allmen wandte: »Ach, ich sehe, Sie haben unseren Literaturexperten kennengelernt.«

»Ja, eine spannende Begegnung«, erwiderte Krähenbühler. »Wir scheinen dieselben Interessen zu haben.«

»Ach, ich wusste nicht, dass Sie ein Freund der Literatur sind, Herr Krähenbühler.«

»Nein, nein, ich meine Herrn von Allmens Expertise in Fragen der Sicherung von Kunstgegenständen.«

Steinthaler sah Allmen überrascht an. »Ich dachte, lieber John, du lebst davon, dass die Leute ihre Kunstgegenstände nicht sichern.«

Allmen lachte. Dann brachte er die Geistesgegenwart auf zu sagen: »Ich schlage vor, wir besprechen die Sache in deinem Büro, lieber Ludwig.«

Steinthaler schien ganz froh zu sein über den Vorwand, sich zu entschuldigen, und bat die beiden Sicherheitsexperten in sein Büro.

Sie setzten sich in die Biedermeiergruppe vor dem gewaltigen Kachelofen, und Allmen konzentrierte sich auf die Zukunft. Eine ferne Zukunft musste es sein in Anbetracht der Tragweite der Situation.

Er sah zwar, wie Krähenbühler das Fabergé-Ei aus der Tasche zog und es Steinthaler überreichte, aber er war in Gedanken so weit weg, dass er nicht hörte, was er dazu sagte.

Erst als er bemerkte, dass Steinthaler ihm anerkennend zunickte, schaltete er zurück in die Gegenwart und hörte ihn sagen: »Das ist allerdings eine sehr drastische Beweisführung, lieber John. Überzeugender hättest du mir die mangelhafte Sicherung unserer kleinen Nippes nicht vor Augen führen können als mit diesem simulierten Diebstahl, bravo. Du rennst bei mir damit offene Türen ein. Wie du siehst, habe ich Herrn Krähenbühler aus der gleichen Sorge aufgeboten.«

Eine zweite Fähigkeit, die Allmen schon als Junge gelernt hatte, war: In Sekundenbruchteilen wieder voll da zu sein, egal, wie weit weg er sich eben noch befunden hatte.

Wenn sein Vater ihn morgens um sechs weckte – Allmen hatte einen weiten Schulweg, als er noch auf dem Bauernhof seines Vaters lebte –, brachte er es fertig auszusehen, als hätte er schon lange wachgelegen. Um augenblicklich wieder in Tiefschlaf zu fallen, sobald der Vater das Zimmer verlassen hatte.

So reflexartig reagierte er jetzt auch auf Steinthaler. »Ich möchte Herrn Krähenbühler auf gar keinen Fall um diesen Auftrag bringen.«

»Da machen Sie sich mal keine Sorgen«, beruhigte ihn Krähenbühler, »wir werden noch oft Gelegenheit zur Zusammenarbeit finden.«

4

Carlos gegenüber erwähnte er den Vorfall natürlich nicht. Und es gelang ihm auch, diesen vor sich selbst geheim zu halten.

Aber Krähenbühler brachte sich zwei Tage später selbst in Erinnerung.

Allmen nahm das Frühstück wie immer in Zeiten von Durststrecken nicht im Viennoise ein, sondern zu Hause. Und es war wie immer nach zehn Uhr geworden, bis er auftauchte.

María servierte ihm sein Rührei – es war Freitag – und sagte: »Ein Mann mit einem schwierigen Namen hat angerufen – Crayanbala. Er wollte Sie sprechen.«

Spanisch war eine der Sprachen, die Allmen fließend sprach, und er verstand sofort, wie er Crayanbala zu übersetzen hatte: Mit seiner schlimmsten Befürchtung, Krähenbühler!

Er hatte sein Frühstück noch nicht beendet, als das Telefon klingelte.

»Für Crayanbala bin ich nicht da!«, rief er María zu. »Aber fragen Sie ihn, worum es sich handelt.«

Als sie zurückkam, sah er ihr an, dass er es gewesen war. »Was wollte er?«

»Etwas Geschäftliches, sagte er. Ich habe gesagt, Geschäftliches könne er auch mir sagen, ich sei Ihre persönliche Assistentin.«

»Und?«

»Er sagte, etwas persönliches Geschäftliches, er müsse Sie sprechen. Sofort. Ich habe gesagt, das geht nicht, Sie seien nicht hier. Er sagte, dann warte er. Ich sagte, dann müsse er lange warten. Er sagte: Bis er aus den Federn kommt? Ich sagte: Herr von Allmen hat keine Federn.«

Allmen beglückwünschte sich zum wiederholten Mal zu seinem Entschluss, Carlos’ Freundin zu seiner persönlichen Assistentin gemacht zu haben. »Und was hat der darauf erwidert?«

»Erst wenn ich das Hühnchen mit ihm gerupft habe, wird er keine haben. Ich habe gefragt, was das bedeutet, er hat geantwortet, Sie werden verstehen. Verstehen Sie es?«

Allmen gab keine Antwort, bis María ihn aus seinen Gedanken riss mit der Frage: »Soll ich ihn reinlassen?«

»Er ist hier?«

»Vor dem Tor.«

Das Grundstück, auf dem die Villa und das Gartenhaus, das Allmen bewohnte, standen, besaß nur diesen Eingang. Krähenbühler hatte ihm nun schon zum zweiten Mal den Fluchtweg abgeschnitten. »Dann soll Carlos ihn halt hereinbitten und in der Halle warten lassen.«

Was Allmen als Halle bezeichnete, war das winzige Vestibül, von dem aus die steile, knarrende Treppe nach oben zu den zwei Mansarden führte, die Carlos und María bewohnten, und die Tür zum mit Möbeln überfüllten Wohnzimmerchen, in dem sie sich befanden.

María verließ den Raum, und Allmen begab sich in das Treibhaus, das er als Bibliothek, Musikzimmer und Büro benutzte. Dort setzte er sich in seinen Lieblingssessel und nahm sich vor, den Kerl lange warten zu lassen.

Er hörte die Schritte auf dem Gartenweg, die Tür zum Vestibül, die Stimmen und danach nichts mehr. Nach zwei, drei Minuten klopfte es an die Glasscheiben des Treibhauses. In der Lücke zwischen zwei Bücherregalen stand Krähenbühler und winkte ihm zu. Allmen blieb nichts übrig, als Carlos zu klingeln und ihm zu sagen, er solle ihn hereinbitten.

Krähenbühler hatte das spöttische Lächeln vom letzten Mal aufgesetzt, als Carlos ihn hereinführte.

Allmen begrüßte ihn mit der üblichen Erklärung, die er für Besucher bereithielt, die das erste Mal mit seiner wirklichen Wohnsituation konfrontiert waren: »Bitte verzeihen Sie, dass ich Sie in meinem kleinen Refugium empfange. Ich benutze es ganz gerne als kreativen Rückzugsort. Viel inspirierender als die große Villa.«

Krähenbühler musterte ihn mitleidig. »Geben Sie sich keine Mühe. Ich weiß, dass die Villa Ihnen nicht mehr gehört und Sie in dieser Hütte hausen. Ich weiß auch sonst allerhand über Sie, Herr Vonallmen.« Er sprach den Namen in einem einzigen Wort aus, mit der Betonung auf dem »von«, was ihm jeglichen aristokratischen Anstrich nahm.

Carlos räusperte sich. Er hatte unbemerkt in der Tür gestanden und musste zumindest den letzten Satz von Krähenbühler mitbekommen haben. »Tee?«, fragte er, »Kaffee?«

Allmen sah seinen ungebetenen Gast fragend an.

»Nichts«, antwortete der. »Kommen wir zur Sache.«

»Zu welcher Sache?«, fragte Allmen.

Krähenbühler schwieg und sah zu Carlos hinüber, der noch immer in der Tür stand.

»Herr de Leon ist Teilhaber der Agentur. Falls es sich um etwas Geschäftliches handelt, haben wir keine Geheimnisse.«

»Und als Teilhaber betrifft die Sache ihn auch persönlich.« Krähenbühler winkte Carlos heran. »Kommen Sie, Carlos, setzen Sie sich zu uns!«

Carlos sah Allmen an, und als dieser mit den Schultern zuckte, näherte er sich und ließ sich auf dem Hocker nieder, den er benutzte, wenn er Allmens Schuhe putzte.

»Ab sofort haben Sie einen dritten Teilhaber, meine Herren«, eröffnete ihnen Krähenbühler. »Einen stillen.«

Wieder warf Carlos seinem patrón und Partner einen fragenden Blick zu, und wieder zuckte dieser nur mit den Schultern.

»Ich bin von nun an zu einem Drittel an Ihren Einnahmen beteiligt. An Ihren Ausgaben hingegen nicht.«

»Warum das?«, wagte Carlos nun zu fragen.

»Weil mir einiges über Herrn Allmens Ausgabepolitik zu Ohren gekommen ist.«

Carlos wurde jetzt etwas deutlicher. »Ich meine: Warum sollten wir mit diesem Vorschlag einverstanden sein?«

Krähenbühler grinste Allmen an. »Ein paar Geheimnisse scheinen Sie vor Ihrem Teilhaber doch zu haben.« Er nahm sein Smartphone aus der Brusttasche und zeigte Carlos das Video aus der literarischen Gesellschaft.

Carlos nickte stumm.

»Aber keine Angst: Ihre Einnahmen werden nicht kleiner. Im Gegenteil, ich werde dafür sorgen, dass sie wachsen.«

5

Carlos machte doch Tee. Einen echten Lapsang Souchong, wie ihn Allmen nach dem Frühstück und vor dem Aperitif zu genießen pflegte. Carlos tat dies ungebeten, weil er eine Pause brauchte, um sich vom Schock zu erholen und seine Gedanken zu ordnen.

Als er zurückkam, saßen Allmen und Krähenbühler da, als hätten sie sich, seit Carlos den Raum verlassen hatte, nicht bewegt.

Carlos schenkte die Tassen voll, auch sich eine, und setzte sich wieder auf seinen Hocker.

Allmen räusperte sich. »Können Sie das etwas erläutern?«

»Das mit den wachsenden Einnahmen, nehme ich an.«

»Und den ganzen Rest.«

Krähenbühler nahm seinen Tee vom Beistelltisch. Das fast durchsichtige chinesische Porzellantässchen bildete einen rührenden Gegensatz zu seiner ungeschlachten Hand mit den dichtbehaarten Fingern. »Mein Fach«, erklärte er, »ist die Sicherung von Wertgegenständen. Und Ihres ist deren Wiederbeschaffung. Da müssen wir uns doch zusammentun.«

»Und wie wachsen dadurch unsere Einnahmen?« Carlos war selbst überrascht über die Keckheit seiner Frage.

»Ich sorge für das Verschwinden und Sie für das Auftauchen.«

Jetzt meldete sich auch Allmen zu Wort. »Glauben Sie nicht, dass es dem Ruf Ihres Unternehmens schadet, wenn die Wertsachen Ihrer Kunden verschwinden?«

Krähenbühler korrigierte ihn: »Meiner künftigen Kunden.« Er sah Allmen und Carlos triumphierend an.

»Eine Werbeaktion für Ihr Unternehmen?«

»Wenn Sie so wollen. Ich komme bei meiner Akquisitionstätigkeit an Adressen mit sicherungswürdigen Wertgegenständen. Wenn davon was wegkommt, kommen wir beide ins Spiel. Sie, um es wiederzubeschaffen, ich, um es danach besser zu schützen.«

Carlos schaltete sich ein: »Und wer sorgt für das Verschwinden?«

»Mal Sie, mal ich, je nachdem.«

Alle drei schwiegen.

Schließlich sagte Allmen vage: »Und wenn wir nicht mitmachen …?«

»Erraten«, sagte Krähenbühler, zog sein Smartphone aus der Brusttasche und hielt es in die Höhe.

6

Als Carlos den ungebetenen Gast zum Tor gebracht hatte, verließ Allmen gerade zum Ausgehen gekleidet das Gärtnerhaus. »Rufen Sie den Wagen«, bat er im Vorbeigehen. Lieber wartete er eine Viertelstunde beim Tor auf Herrn Arnold, als dass er Carlos’ stummen Vorwurf ertrug.

Es war ein kühler, grauer Junitag, und er wünschte, er hätte sich die Zeit genommen, einen Schal und einen Mantel auszuwählen. Und er ärgerte sich, dass er nicht auf die Uhr geschaut hatte, bevor er sich zu dieser überhasteten Flucht vor Carlos’ Fragen entschlossen hatte. Es war nämlich halb zwölf, die Zeit, zu der die Mitarbeiter der K, C, L & D Treuhand begannen, die Villa, die einst ihm gehörte, zu verlassen, um etwas zu essen. Wahrscheinlich einen Salat-to-go in einer Plastikbox. Ihn schauderte bei der Vorstellung.

Allmen vermied jeglichen Kontakt mit den Leuten in seiner Villa. So konnte er die Tatsache verdrängen, dass er sie nicht deshalb nicht mehr bewohnte, weil er keine Lust mehr hatte, sondern weil sie ihm nicht mehr gehörte.

Vorläufig nicht mehr gehörte. Eines Tages, davon war er überzeugt, würde die Villa Schwarzacker wieder zum Verkauf stehen, und er, Johann Friedrich von Allmen, würde von seinem Vorkaufsrecht Gebrauch machen, das er sich, unter dem nachsichtigen Schmunzeln der Käuferschaft, neben dem lebenslangen Nutzungsrecht des Gärtnerhauses vertraglich hatte zusichern lassen.

Die Haustür ging auf, und zwei Buchhalterinnen mittleren Alters betraten den Plattenweg. Für ihn bestand die gesamte Belegschaft der Villa aus Leuten, die sich mit Buchhaltung befassten, für jemanden mit seiner Einstellung zu Geld die niedrigste aller denkbaren Tätigkeiten.

Allmen wollte sich hinter den mächtigen Flieder zurückziehen, der die Thujahecke abschloss, als der achtundsiebziger Cadillac Fleetwood mit abmontiertem Taxischild vor das schmiedeeiserne Tor glitt. Die Zeit reichte Allmen gerade noch, um aufs Trottoir zu treten und zu warten, bis Herr Arnold ihm den Schlag öffnete.

Als die beiden Buchhalterinnen das Tor erreichten, hatte er sich bereits in das weinrote Lederpolster sinken lassen, und Herr Arnold trat mit der Einfühlsamkeit eines Herrschaftsfahrers aufs Gas.

Die Hecken und gemauerten Umfriedungen der Anwesen des Villenhügels glitten vorbei und halfen Allmen, in eine freundlichere Wirklichkeit einzutauchen.

Herr Arnold schwieg. Er war es gewohnt, nichts zu sagen, bis Allmen ihn ansprach, was dieser in der Regel auch tat. Aber diesmal blieb er stumm, bis auf ein knappes »Goldenbar, bitte«.

Allmen war kein guter Schweiger in Gesellschaft. Der Grund, weshalb er sich jetzt so gedankenversunken gab, war ein taktischer. Er hatte Herrn Arnolds Dienste schon sehr lange nicht mehr beglichen. Der Fahrer war sich zwar von seinem Lieblingskunden ausgedehnte Zahlungsfristen gewohnt, aber Allmen pflegte diese jeweils durch mehr als großzügige Trinkgelder wettzumachen. Doch diesmal hatte er die Geduld des guten Mannes dermaßen strapaziert, dass er seine Dienste schon eine ganze Weile nicht mehr in Anspruch genommen hatte, um dem Thema aus dem Weg zu gehen.

Er wusste, dass Herr Arnold die Bestellung als Zeichen interpretierte, dass die Durststrecke vorüber und Allmen wieder bei Kasse war. Wenn er jetzt ein Gespräch eröffnete, wären sie rasch bei dem Thema, das er vermeiden wollte.

Vor der Goldenbar tat Allmen so, als hätte er erst bemerkt, dass sie am Ziel waren, als Herr Arnold die Tür öffnete. Er bedankte sich und ging an ihm vorbei zum Eingang, ein Bild der Zerstreutheit.

Auch die Goldenbar hatte Allmen in letzter Zeit gemieden, denn er stand bei Jorge, dem Barkeeper, ebenfalls tief in der Kreide. Aber auch bei Jorge war sein Vertrauensvorschuss noch nicht ganz aufgebraucht, und er begann unaufgefordert einen Negroni zu mixen, Allmens bevorzugten Aperitif um diese Zeit.

Allmen entspannte sich. Der Spanier Jorge, sein Leben lang Barmann und mehrfach ausgezeichnet, weit über dem Rentenalter, würde niemals eine Bemerkung über Allmens Zahlungsrückstände machen. Doch als er den Drink auf den goldbedruckten Glasuntersatz vor Allmen stellte, ließ er seinen goldenen Eckzahn aufblitzen und sagte: »On the house.«

Für einen kurzen Moment verlor Allmen die Fassung. Dann hob er das Glas und erwiderte: »To the house«, trank einen Schluck und nahm sich vor, Jorge für diese Rettung mit einem Trinkgeld zu belohnen, wie er es noch nie gesehen hatte. Sobald die Durststrecke vorbei war.

Die Bar füllte sich, und Allmen nippte an seinem Negroni. Gerade als er beschloss, das allerletzte Schlückchen nicht mehr weiter hinauszuzögern, brachte Jorge ein frisches Glas.

»Von dem Herrn dort«, erklärte er.

Allmen wandte sich in die Richtung, in die Jorge deutete.

Dort saß Krähenbühler und prostete ihm zu.

7

Vor der Rampe stand ein Möbelwagen mit der Aufschrift »LOGINEW International Transports & Relocation«. Zwei Männer in grünen Overalls schoben Plattformwagen mit Kartons aus dem Laderaum.

»Die Sachen von Expats aus Holland«, erklärte Herr Enderlin. »Ziehen in eine möblierte Wohnung, bis ihr Haus bezugsbereit ist, und lagern ihre Sachen bei uns ein.«

Herr Enderlin war ein kleiner übergewichtiger Mann im Pensionsalter. Er machte für Krähenbühler, der, wie er vorgab, etwas suchte, wo er während eines längeren Auslandaufenthalts seine Wohnungseinrichtung unterbringen konnte, eine Führung durch das Lager.

Er grüßte die beiden Männer im Vorbeigehen, führte seinen prospektiven Kunden zur verwaisten Portiersloge neben dem Eingang und entschuldigte sich für ein »Momäntli«.

Krähenbühler beobachtete ihn durch das Logenfenster, das an einer Stelle für den Austausch zwischen Portier und Besucher perforiert war, wie er eine Schublade des Schreibtischs öffnete und etwas herausnahm.

Als er zurückkam, hatte er einen großen Schlüsselbund in der Hand.

Die Lagerräume waren früher Büros gewesen. Auf den Böden lag noch der fleckige, senfgelbe Nadelfilz mit den Abdrücken von Schreibtischen und Korpussen und den Bodensteckern für die Arbeitsplätze ohne Wandberührung. Da und dort klebten noch Witzzeichnungen und Kartengrüße an den Fensterscheiben.

In den falschen Decken waren mit milchigem Kunststoff verkleidete Leuchtstoffröhren eingelassen, von denen viele flackerten oder gar nicht brannten.

Die Luft war abgestanden und roch nach den Kartons, die sich wohl in den meisten Räumen stapelten.

Die Türen trugen Lagernummern, von denen jeweils eine mit der Nummer eines Schlüsselanhängers an Enderlins Bund übereinstimmte.

»Haben Sie auch langjährige Kunden?«, wollte Krähenbühler wissen.

»Unser langjährigster Kunde«, erklärte Enderlin, »lagerte schon bei uns, als wir noch Schmid Transport AG hießen und diese Lagerräume noch Büros waren. Achtzehn Jahre.«

»Darf ich das einmal sehen?«

»Ich dachte, Sie suchen etwas Kurzfristiges?«

»Schon. Aber Sie wissen ja, wie das Leben spielt. Aus dem Kurzfristigen kann schnell einmal etwas Langfristiges werden.«

Enderlin lachte. »Wem sagen Sie das.« Er führte ihn in die dritte Etage zur Lagernummer 46234 und schloss die Tür auf.

»Ich zeige Ihnen das ganz inoffiziell. Genau genommen darf ich das nicht.«

Das Lager enthielt Vitrinen verschiedener Größen aus Nussbaumholz. In jeder war in der Mitte des Rahmens über der Glastür in poliertem Messing der Schriftzug »Sterner Söhne« intarsiert.

Die Vitrinen waren leer.

Auf verzinkten Lagerregalen reihten sich nummerierte Kartons gleicher Größe.

Es roch anders als in den übrigen Räumen, älter.

»Was ist in den Kartons?«, fragte Krähenbühler.

»Das Inventar von Sterner Söhne. Das war eine Porzellanhandlung. Als der Inhaber das Geschäft auflöste, lagerte er es hier ein.«

»Und niemand will das Zeug?«

»Offenbar nicht. Solange die Lagermiete regelmäßig eintrudelt, kann das hierbleiben, bis es schwarz wird.«

Enderlin hielt Krähenbühler die Tür auf, löschte das Licht, schloss den Lagerraum 46234 wieder ab und setzte die Führung fort.

Am Ende des Korridors der vierten Etage, bei der Tür zum Treppenhaus, befand sich eine geschlossene Deckenluke. Krähenbühler blickte hinauf. »Und da oben gibt es noch mehr Lagerräume?«

»Nein, früher, als das noch Büros waren, diente der Dachboden als Abstellkammer. Heute ist er leer. Das heißt, ich nehme es an. Ich war schon seit Jahren nicht mehr dort oben.«

Krähenbühler nickte. Er hatte sich informiert. Die Loginew benutzte nur die Hälfte des Gebäudes als Lagerhaus. Die andere diente noch immer ihrem ursprünglichen Zweck. Man konnte dort günstige Büros mieten, und die Mieter waren junge IT-Leute, Künstler, Musikproduzenten. Und Studenten, die die Räume unerlaubterweise in Wohngemeinschaften nutzten.

Die Leute gingen dort zu jeder Tages- und Nachtstunde ungehindert ein und aus. Krähenbühler wusste es. Er hatte es selbst ausprobiert. Er war vor ein paar Tagen mit dem Aufzug bis in die vierte Etage gefahren. Und über die heruntergelassene Holztreppe ungehindert auf den gemeinsamen Dachboden gelangt.

8

Als Allmen zurück zur Villa Schwarzacker kam, war er nicht mehr sicher auf den Beinen. Krähenbühlers unerwarteter Auftritt in der Goldenbar hatte seinen Versuch, der Wirklichkeit zu entfliehen, zunichtegemacht. Und er war versucht zu glauben, dass dieser es genau darauf angelegt hatte.

Er musste ihn schon lange beobachtet haben. Er wusste Bescheid über seine Schwächen und über seine Situation und war entschlossen, diese auszunutzen. Er verfolgte ihn.