Allmen und die Libellen - Martin Suter - E-Book + Hörbuch
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Martin Suter

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Beschreibung

Allmen, eleganter Lebemann und Feingeist, ist über die Jahre finanziell in die Bredouille geraten. Fünf zauberhafte Jugendstil-Schalen bringen ihn und sein Faktotum Carlos auf eine Geschäftsidee: eine Firma für die Wiederbeschaffung von schönen Dingen. Die Geburt eines ungewöhnlichen Ermittlerduos und der Start einer wunderbaren Krimiserie.

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Seitenzahl: 150

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Martin Suter

Allmen und die Libellen

Roman

Die Erstausgabe erschien 2011 im Diogenes Verlag

Für Toni

Alle Rechte vorbehalten

Copyright © 2017

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 257 24177 8 (1. Auflage)

ISBN E-Book 978 3 257 60056 8

Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.

[5]Erster Teil

1

Das graue Licht machte alles flach und leblos. Die Morgendämmerung stand still.

Es war kühl in Allmens gläserner Bibliothek. Vielleicht sollte er Feuer machen. Aber sein letzter Versuch im vergangenen Winter war so kläglich gescheitert, dass er es bleiben ließ. Ohne zu lesen saß er im Lesesessel und fröstelte. Auch das egal.

Die Beine des Flügels hatten drei tiefe Abdrücke hinterlassen. Selbst dieser Anblick löste nichts in ihm aus. Nichts als lähmende Gleichgültigkeit.

Er wusste nicht, wie viel Zeit verstrichen war, seit er Carlos in Mantel und Wollmütze auf das Haus hatte zukommen sehen. Er hatte ihn die Treppe hinaufeilen hören und kurz darauf wieder herunterkommen. Carlos hatte nicht hereingeschaut. Da er kein Licht gesehen hatte, musste er annehmen, Allmen sei im Viennois. Wie jeden Vormittag um diese Zeit.

[6] Jetzt sah er Carlos draußen arbeiten. Er trug seine Arbeitskleidung mit einer anderen, älteren Wollmütze und einer dick gefütterten Arbeitsjacke.

Allmen würde einfach hier sitzen und warten, bis er kam und Mittagessen kochte. Er würde zu ihm in die Küche gehen und sagen: »Carlos?«

Und Carlos würde antworten: »¿Qué manda?«

Und dann würde er sagen: »Es ist so weit, ich brauche las libélulas.«

Und falls er sie herausrückte, würde Allmen genau nach Plan vorgehen. Und falls nicht? Auch egal.

Er musste etwas eingedöst sein, doch dann hörte er Geräusche aus der Küche. Es war noch dunkler geworden. Jeden Moment würde es zu schneien beginnen.

Allmen stemmte sich aus dem Sessel. Als er an der Stelle vorbeiging, wo die Rückseite des Gewächshauses einem hohen Dickicht zugewandt war, schien ihm, als hätte sich dort etwas bewegt.

Dort standen die Parkbäume dicht und dunkel. Die Stämme hoher Tannen und Fichten ragten aus einem fast undurchdringlichen Unterwuchs aus Eiben und Farn. Manchmal sah Allmen an dieser Stelle einen Stadtfuchs herauskommen oder verschwinden, der in den Gärten und Vorplätzen des Villenviertels nach Essbarem suchte.

[7] Er ging zurück, stellte sich an die Glaswand und starrte auf die Stelle.

Ein harter Schlag traf seine Brust. Im Fallen hörte er ein dumpfes Plopp und spürte einen Schmerz am Hinterkopf.

2

Vormittags um halb elf war eine angenehme Stunde im Viennois, vielleicht die angenehmste.

Alles Abgestandene der vergangenen Nacht hatte sich verflüchtigt, und das Muffige des Tages sich noch nicht festgesetzt. Es roch nach der fauchenden Lavazza, an der Gianfranco gerade die Milch für einen Cappuccino aufschäumte, den Croissants auf Tresen und Tischchen und den Parfums und Eaux de Toilette der paar Müßiggänger und Flaneure, denen um diese Zeit das Viennois gehörte.

Einer von ihnen las ein Buch. Ein englisches Paperback, dem er den Rücken gebrochen hatte, damit er es einhändig lesen konnte wie einen Kioskroman und die andere Hand frei hatte für sein spätes Frühstück und die kalte Zigarettenspitze, mit der er sich seit Jahren das Rauchen abgewöhnte.

Über der Lehne seines zweisitzigen Plüschfauteuils lag ein beiger Regenmantel. Er trug einen [8] mausgrauen, auch in dieser zusammengesunkenen Stellung noch annehmbar sitzenden Anzug, eine schmale, kleingemusterte Krawatte und ein eierschalenfarbenes Hemd mit weichem, kleinem Kragen. Er mochte etwas über vierzig sein. Sein gutgeschnittenes Gesicht hätte eine etwas weniger platte Nase verdient.

Auf dem weißgedeckten Tischchen standen ein leerer Unterteller aus schwerem Porzellan mit den Überbleibseln eines Croissants und eine fast leere Tasse, an deren Innerem sich ein Milchschaumbelag festgesetzt hatte. Der Mann war einer der letzten Gäste des Viennois, die »eine Schale« bestellten, wie man früher den Milchkaffee nannte.

Gianfranco brachte eine neue Tasse an den Tisch und stellte die ausgetrunkene auf den freigewordenen Platz auf dem ovalen Chromtablett. »Signor Conte«, murmelte er.

»Grazie«, antwortete Allmen, ohne aufzuschauen.

Sein voller Name lautete von Allmen, mit Betonung auf dem von, wie Vonäsch, Vonlanthen oder von Arx. Es war ein sehr verbreiteter Familienname mit tausendsiebenhundertachtunddreißig Telefonbucheinträgen und hatte ursprünglich keine andere Bedeutung, als dass sein Träger von den Alpen kam. Aber schon in jungen Jahren hatte von [9] Allmen in einer republikanischen Geste auf das »von« verzichtet und diesem damit eine Bedeutung verschafft, die es nie besessen hatte.

Mit seinen beiden Vornamen Hans und Fritz, die er nach Familientradition von seinen beiden Großvätern geerbt hatte, war er umgekehrt verfahren. Er hatte ihnen den bäurischen Geruch genommen, indem er schon früh den bürokratischen Aufwand auf sich genommen hatte, sie amtlich zu Johann und Friedrich zu veredeln. Von seinen Freunden ließ er sich John nennen, Fremden stellte er sich knapp und bescheiden als Allmen vor. Aber in offiziellen Dokumenten hieß er Johann Friedrich von Allmen. Und die Briefumschläge, die er vor dem späten Frühstück im Viennois von seinem Postfach abholte und achtlos neben die Kaffeetasse legte, waren an Herrn Johann Friedrich v. Allmen adressiert, wie es in seinem Briefkopf stand. Diese Schreibweise sparte nicht nur Platz, sie verschob den Akzent auch automatisch vom »O« des »von« auf das »A« von »Allmen«. Und hatte ihm auch zum nur halb scherzhaften Ehrentitel »Conte« verholfen, den ihm Gianfranco verliehen hatte.

Die meisten Nach-zehn-Uhr-Gäste des Viennois kannten sich. Trotzdem hielten sie sich streng an ihre ungeschriebene Sitzordnung. Die einen allein an ihren Tischchen, die sie mit allerlei Mänteln, [10] Handtaschen, Mappen und Lesestoff belegten, damit ja niemand auf die Idee kam, sich dazuzusetzen. Andere zu zweit mit immer demselben Partner, wieder andere mit einer Stammtischrunde in ebenfalls gleichbleibender Besetzung. Manche der Nach-zehn-Uhr-Gäste grüßten sich vernehmlich, manche nickten sich stumm zu, manche ignorierten sich seit Jahren.

Eine der Stammtischrunden befand sich zwei Tische von Allmens Tisch entfernt. Vier Ladenbesitzer, alle um die sechzig, trafen sich dort täglich außer sonntags von Viertel nach zehn bis Viertel vor elf. Ihre und Allmens Präsenzzeiten überschnitten sich jeweils um eine Viertelstunde.

Einen der vier kannte Allmen etwas näher. Er besaß ganz in der Nähe ein gehobenes Antiquitätengeschäft. Sein Name war Jack Tanner. Ein eleganter Mann Ende fünfzig, der sich in seinen Antiquitäten bewegte, als seien sie nicht zum Verkauf bestimmt, sondern einzig zur Befriedigung seiner ästhetischen Ansprüche. Allein durch seine Erscheinung rechtfertigte er die überhöhten Preise seines Angebots. Er war von der für seinen Beruf unabdingbaren Diskretion, sowohl was seine Käufer als auch seine Verkäufer betraf. Das hatte Allmen dazu bewogen, sich für ihn zu entscheiden, wenn er gezwungen war, gewisse bessere Stücke aus seiner [11] Sammlung zu veräußern. Nie ließen sich die beiden bei ihren flüchtigen Begegnungen im Viennois auch nur im Geringsten anmerken, dass sie auch geschäftlich gewisse Berührungspunkte besaßen.

Vor dem Schaufenster neben Allmens Tischchen begannen die Passanten ihre Schirme aufzuspannen. Die graue Suppe über den Dächern nieselte jetzt als kalter Wasserstaub auf die Stadt. Allmen verschob seinen Aufbruch und bestellte noch eine Schale.

Es war kurz nach halb zwölf, als er sich zum Gehen bereitmachte, obwohl das Wetter sich nicht gebessert hatte. Er gab Gianfranco das Zeichen für die Rechnung, unterschrieb sie und drückte dem Ober eine Zehnernote in die Hand. Allmen hatte gelernt, das bisschen Geld, über das er noch verfügte, in seine Kreditwürdigkeit zu investieren anstatt in seinen Lebensunterhalt.

Gianfranco brachte ihm den Mantel und begleitete ihn zum Ausgang. Er blickte der Gestalt, die mit hochgeschlagenem Mantelkragen zwischen den Regenschirmen verschwand, versonnen nach und murmelte: »Un cavaliere.«

[12] 3

Der Intercity mit Neigetechnik fuhr durch die nebelverhangenen Weinberge des Neuenburgersees, von dem nicht einmal das Ufer zu sehen war. Allmen hatte ein Abteil für sich. Auf dem blauen Nebensitz stand ein geräumiger Pilotenkoffer aus braunem Schweinsleder. Er las noch immer in seinem Krimi.

Als die sanfte Mikrophonstimme Yverdon-les-Bains ausrief, unterbrach er seine Lektüre. Der Name rief eine Jugenderinnerung wach. Er hatte ihn zu Beginn der achtziger Jahre oft bei Tischgesprächen gehört. Sein Vater hatte in der Gegend viel Geld in Land investiert, von dem er hoffte, dass es im Zusammenhang mit der Eröffnung eines Teilstücks der Autobahn A5 in die Bauzone umgezont würde. Die Sache ging schief, und sein Vater schrieb es nicht seinen mangelnden Französischkenntnissen zu, sondern dem »welschen Schlendrian« der Yverdoner Lokalpolitiker.

Es blieb einer der wenigen geschäftlichen Misserfolge seines Vaters. Er hinterließ dem Sohn ein Millionenvermögen. Dessen Fundament hatte er mit einem einzigen Umzonungsbeschluss gelegt, an dem er, wie es damals im Dorf hieß, nicht unbeteiligt gewesen sei. Der Schwarzacker, das Herzstück [13] seines Landwirtschaftsbetriebs, war der Bauzone einverleibt worden und lag kurze Zeit später dank der Eröffnung eines Autobahnteilstücks plötzlich im Einzugsgebiet der Stadt. Was den Grundstückspreis des Schwarzackers vervielfachte. Allmens Vater fand Geschmack an diesem Mechanismus und begann systematisch in Landwirtschaftsgrundstücke potentieller Einzugsgebiete zu investieren. Die Rechnung ging oft genug auf, um nach seinem frühen Tod– die regelmäßigen großzügigen Bewirtungen von Lokalpolitikern mit Einfluss auf Umzonungsbeschlüsse hatten ihren Tribut gefordert – seinem einzigen Sohn so viel Geld zu hinterlassen, dass dieser bei etwas Umsicht und Geldverstand nie hätte zu arbeiten brauchen.

Aber Umsicht und Geldverstand gehörten zu den wenigen Gaben, die Fritz, wie ihn sein Vater auch nach der Namensänderung noch nannte, ganz abgingen. Er war kein Zahlenmensch, sein Gebiet waren die Sprachen. Er lernte sie leicht und gerne und hatte sich ihrem Studium über Jahre in den Hauptstädten dieser Welt gewidmet. Er sprach neben Schweizerdeutsch, seiner Muttersprache, fließend und akzentfrei Französisch, Italienisch, Englisch, Portugiesisch und Spanisch. Er konnte sich auf Russisch und Schwedisch unterhalten, und mit einem lupenreinen Bühnendeutsch könnte er auch [14] aufwarten, wenn er nicht die Erfahrung gemacht hätte, dass sein Schweizer Akzent besser ankam.

So hatte er das Leben eines internationalen Bummelstudenten geführt, bis ihn der Treuhänder seines Vaters von dessen plötzlichem Tod unterrichtete.

Kurt Fritz von Allmen war erst 62 gewesen und hatte geglaubt, dass ihm noch viel Zeit bleiben würde, seinen Nachlass zu regeln. Der Witwer hatte kein Testament gemacht, seine momentane Lebenspartnerin ging leer aus, und obwohl er sich über den aufwendigen Lebensstil seines Alleinerben im Klaren war, hatte er für die Verwendung seines Vermögens noch keine Auflagen hinterlassen.

Zu Lebzeiten hatte er Fritz an der langen Leine geführt. Er war gelernter Landwirt und hatte keine Erfahrung mit den Lebenshaltungskosten eines internationalen Studenten. Kam dazu, dass er stolz war auf seinen studierten Sohn und auch darauf, es ihm ermöglichen zu können, dass dieser es besser hatte als er damals. Allmens Vater war nicht viel gereist. Früher, als Bauer, hielten ihn die Kühe am Ort und später die Geschäfte. Er hatte keine Ahnung, was Hotels in Paris und New York kosteten, wie viel man in London für Schuhe und Kleider rechnen musste und wie hoch der Preisunterschied zwischen einem Economy- und einem First-Class-[15] Ticket war. Was Allmens Vater an Weltgewandtheit fehlte, hatte Allmen zu viel.

Er wandte sich wieder seinem Buch zu. Gerade wurde Morges angekündigt.

4

Allmen holte seinen affektiertesten englischen Akzent hervor, als er der Ladenbesitzerin erklärte, dass er sich bloß ein wenig umsehen wolle. Die Frau – sie mochte um die fünfzig sein und war bei seinem Eintreten aus einem Hinterzimmer gekommen – schaltete sofort auf Englisch um. Falls er Fragen habe, stehe sie zur Verfügung.

Das Antiquitätengeschäft war vollgestellt mit Regalen und Vitrinen. Es war spezialisiert auf Porzellan und besaß ein breitgefächertes Angebot von preisgünstigen Nippes über teure Meißener Figuren bis zu wertvollen chinesischen Vasen und Figurinen.

Allmen ließ sich Zeit. Ging von Objekt zu Objekt, verweilte bei den Stücken, die sein besonderes Interesse weckten, und besah sie vornübergebeugt und so aufmerksam, wie es eben ging, ohne die Hände zu benutzen.

Eine viereckige Vase, die mit »Période Kangxi, [16] famille verte, CHF 8300« angeschrieben war, übersah er geflissentlich und konzentrierte sich auf vier Teetassen von leuchtendem Gelb. Tasse und Untertasse waren mit Gold umrandet, und jede Tasse trug das Emblem der Hamburg America Line. Das Set war mit dreihundertzwanzig Franken angeschrieben.

»Das nehme ich«, sagte er in blasiertem Oxford English zur Ladenbesitzerin, die ihm bei seinem Rundgang mit etwas Abstand gefolgt war. »Wenn Sie es mir als Geschenk verpacken könnten, bitte. Einzeln, wenn möglich.«

Und dann tat sie, was er sich erhofft hatte: Sie trug die Tassen, je zwei aufs Mal, in den hinteren Raum.

Während er sie mit Papier und Schere hantieren hörte, versicherte er sich noch einmal, dass nirgends eine Überwachungskamera lauerte, ging zum Regal mit der Kangxi-Vase und ließ sie in der tiefen Innentasche seines Mantels verschwinden.

Dann stellte er sich in die Tür zum Hinterzimmer und unterhielt sich mit der Ladenbesitzerin, während sie sich mit den Geschenkverpackungen abmühte.

»Für meine Frau«, erklärte er, »heute ist unser Hochzeitstag. Ich hoffe, meine Maschine nach London fliegt bei diesem Nebel.«

[17] 5

Als Jack Tanner am nächsten Morgen das Viennois betrat, saß Allmen bereits da und nickte ihm zu. Diskret deutete er auf den Pilotenkoffer, der auf seinem Nachbarstuhl stand. Tanner nickte zurück. Eine knappe Stunde später stand Allmen vor seinem Geschäft.

Es lag in einem der letzten nicht renovierten Häuser mitten im Bankenviertel. Schon als Tanner es, vor bald dreißig Jahren, übernommen hatte, war es ein Antiquitätengeschäft gewesen. Den Namen, Les Trouvailles, hatte er von seinem Vorgänger übernommen. Nicht, weil er ihm besonders gefallen hätte, aber der altmodische Schriftzug aus polierten Messinglettern auf dunkelgrüner Lackfarbe hatte es ihm angetan.

Der Laden besaß drei kleine Schaufenster mit Sicherheitsglas und altmodischen Sensoren, die bei einem Einbruchsversuch einen Alarm auslösen würden. Oder auch nicht, das System hatte sich noch nie in einem Ernstfall bewähren müssen.

Zu den Sicherheitsvorkehrungen von Les Trouvailles gehörte auch, dass die Ladentür stets verschlossen war und die Kunden klingeln mussten. Das tat Allmen jetzt.

Nach einer Weile kam Jack Tanner persönlich an [18] die Tür. Seit seine langjährige Mitarbeiterin, Frau Freitag, in Pension gegangen war, führte er das Geschäft allein. Es kam kaum Laufkundschaft, die meisten Kunden wollten direkt mit dem Inhaber sprechen. Und wenn er bei seinem Frühstücksstammtisch im Viennois war, hing das Schild »Bin gleich zurück« an der Tür.

Der Ausstellungs- und Verkaufsraum des Ladens war eingefasst von Einbauvitrinen, die zur ursprünglichen Einrichtung gehörten. Die Objekte darin waren beleuchtet von beweglichen Spots, die an einer Stromschiene an der Decke angebracht waren. In der Mitte stand eine Reihe Tischvitrinen für Schmuck, Silber und kleinere Nippes. Der Raum war von einer etwas verstaubten Eleganz und roch nach dem Wachs, mit dem das knarrende Riemenparkett gebohnert wurde.

Durch eine Schiebetür gelangte man in einen Nebenraum, der zur einen Hälfte als Ausstellungsfläche für Möbel, zur anderen als Lager diente. Von dort aus führte eine Tür in das kleine Büro von Tanner, die Sakristei, wie er es nannte. Dorthin folgte ihm Allmen. Der Raum wurde von einem Biedermeierschreibtisch mit einem gepolsterten Drehstuhl aus der gleichen Epoche dominiert. Beides habe während des Zweiten Weltkriegs im Büro von General Guisan in dessen Hauptquartier gestanden [19] und sei deshalb unverkäuflich, behauptete Tanner. Für Besucher stand einzig ein zweiplätziges Louis-Philippe-Sofa zur Verfügung.

Tanner bot es ihm nicht an. Er deutete auf den Schreibtisch und sagte: »Dann lass mal sehen.«

Die diskrete Geschäftsbeziehung zwischen den beiden bestand schon seit einigen Jahren. Am Anfang war Allmen ein guter Kunde gewesen, vor allem für amerikanisches Silber und Art déco. Später, als Allmens finanzielle Schwierigkeiten ihn zum Handeln zwangen, wurde er vom Kunden zum Lieferanten. Er verkaufte Tanner immer wieder Stücke aus seiner Sammlung. Der war zwar knauserig, aber was ihm an Großzügigkeit fehlte, machte er durch Diskretion wett.

Im Lauf der Zeit war Allmens Vorrat an verzichtbaren Stücken so geschrumpft, dass er begann, auf Flohmärkten und in Provinzläden auf die Jagd nach verkäuflichen Stücken zu gehen. Aber Jacks Preispolitik drückte so schwer auf Allmens Marge, dass er nach einer anderen Lösung suchen musste. Per Zufall fand er sie in einem Antiquitätengeschäft im Elsass. Er kaufte eine kleine Madonnenstatue, und während der Verkäufer damit beschäftigt war, sie zu verpacken, dachte Allmen: Ich könnte dem jetzt unbemerkt diese Rosenthal-Figurengruppe klauen, wenn ich wollte. Und dann wollte er.

[20] Mit der Zeit perfektionierte er die Technik, das Verkaufspersonal durch einen Kauf so abzulenken, dass er unbemerkt etwas mitgehen lassen konnte. Seine Kleidung, sein Auftreten und die Tatsache, dass er ja etwas kaufte, machte ihn vertrauenswürdig und in der Erinnerung unverdächtig.

So leichtfertig Allmen sein Geld ausgab, so streng hütete er sein kleines Arbeitskapital, das der Finanzierung der Ablenkungskäufe diente und der Bahnreisen. Denn diese Tätigkeit beschränkte er konsequent auf die weitere Umgebung seiner Stadt.

Allmen packte die Vase aus und stellte sie auf den Tisch.

Jack Tanner nahm sie in die Hand, begutachtete sie und sagte: »Zweitausend.«

Tanners Preisangebote waren immer endgültig. Nur selten raffte sich Allmen zu einem schwachen Einwand auf. Er wusste, dass er damit nur ein Schulterzucken erntete.

Es blieb ihm auch nichts anderes übrig, als Tanners Preise zu akzeptieren, er war sein einziger Abnehmer. Es musste ihm klar sein, dass Allmens Ware längst nicht mehr nur aus dessen Sammlung stammte. Aber er fragte nie nach deren Herkunft. Und noch nie hatte Allmen eines seiner Objekte in der Auslage oder Ausstellung von Les Trouvailles gesehen.

[21] Tanner musste Kunden an der Hand haben, die ebenfalls sehr diskret waren und nicht nach der Herkunft fragten.

Allmen nickte, nahm das Geld entgegen und verabschiedete sich, bis zum nächsten Mal.

6

Das schmiedeeiserne Tor zu seinem Haus war frisch lackiert. Hochglänzendes Schwarz mit Gold für die Spitzen der Staketen, die sich beidseits der Torpfosten an der Buchshecke entlang fortsetzten. Allmen fand, es wirke etwas neureich, aber es sah besser aus als der Rost von früher.

Am rechten Pfeiler waren zwei Messingschilder angebracht, ein großes und ein kleines. Auf dem großen stand »K, C, L & D Treuhand«, auf dem kleinen »J. F. V. A.«.

Im linken Pfeiler war, ebenfalls aus poliertem Messing, eine Gegensprechanlage eingelassen mit zwei Klingelknöpfen. Der obere war mit »K, C, L & D«, der untere mit »J. F. V. A.« beschriftet.

Allmen drückte auf den unteren.

Nach ein paar Sekunden fragte eine misstrauische Männerstimme:

»Ja?«

[22]»Soy yo«, antwortete Allmen, »ich bin’s.«

Der Türöffner summte, Allmen betrat den Plattenweg, der zur verzierten Eichentür der Villa führte. Auf etwa halbem Weg verschwand er hinter einem sorgfältig manikürten Buchs.

Er war in einen Weg eingebogen, der um die Villa herum in den parkähnlichen Garten führte. Ein gepflegter Rasen, da und dort gesäumt oder durchsetzt von Moorbeeten mit tiefgrünen Rhododendren und schon herbstlich gefärbten Azaleen. Alles feierlich bewacht von altem Baumbestand aus Riesentannen, Zedern, Platanen und Magnolien.

Dort, im Dauerschatten der Parkbäume, stand ein kleines Gärtnerhaus, an dessen Westfassade sich ein Treibhaus anschloss.

Die Haustür stand offen, im engen Vestibül wurde Allmen von einem kleinen Mann erwartet. Er hatte glattes, sorgfältig gescheiteltes blauschwarzes Haar und die Gesichtszüge eines Mayas. Er trug ein weißes Kellnerjackett zu einem weißen Hemd, eine schwarze Hose und einen schwarzen Schlips. Allmen begrüßte ihn auf Spanisch.

»Hola, Carlos.«

»Muy buenas tardes, Don John«, antwortete Carlos, nahm ihm den nassen Mantel ab, hängte ihn an einen Bügel und ging damit zu einer Tür unter der steilen Holztreppe, die zu den Mansarden [23] führte. Ihre Schwelle lag zwei Treppenstufen tiefer als die Diele.

Dahinter lag ein Raum, der früher als Waschküche für die Villa gedient hatte und entsprechend überdimensioniert war. Jetzt standen darin eine Waschmaschine und ein Trockner, ein paar Wäscheleinen waren gespannt. Der größte Teil des Raumes war von Kisten und Möbelstücken besetzt, die sich bis unter die Decke stapelten. Hier lagerte Allmen diejenigen Stücke aus seinem früheren Leben, die entweder unentbehrlich oder unverkäuflich waren.