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Andreas, der Bauer vom Schrannenhof, hat seine Frau verloren. Sie starb bei der Geburt ihres ersten Kindes. So sehr der Bauer den kleinen Bernd liebt - der Tod der geliebten Frau hat ihn zu einem traurigen, mit dem Schicksal hadernden Menschen werden lassen.
Mit seinem Hof geht es bald gefährlich bergab. Die alte Magd Rosl sieht die Katastrophe auf den Schrannenhof zukommen. Verzweifelt bittet sie schließlich Anna, die junge Schwägerin der verstorbenen Bäuerin, um Hilfe. Das Mädchen gibt seine Stellung als Magd in der Steiermark auf und kommt auf den Schrannenhof.
Der kleine Bernd liebt seine Tante vom ersten Augenblick an. Doch der Bauer selbst will, dass Anna wieder geht. Er will sich nicht helfen lassen - und er hat Angst davor, sich eines Tages in die schöne Schwester seiner Frau zu verlieben ...
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Seitenzahl: 145
Veröffentlichungsjahr: 2018
Cover
Impressum
Seine schöne Schwägerin
Vorschau
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige eBook-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
© 2018 by Bastei Lübbe AG, Köln
Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller
Verantwortlich für den Inhalt
Titelbild: Michael Wolf
Datenkonvertierung eBook: Blickpunkt Werbe- und Verlagsgesellschaft mbH, Satzstudio Potsdam
ISBN 978-3-7325-6016-5
www.bastei-entertainment.de
Seine schöne Schwägerin
Heimatroman um eine verhängnisvolle Liebe
Von Maria Fernthaler
Andreas, der Bauer vom Schrannenhof, hat seine Frau verloren. Sie starb bei der Geburt ihres ersten Kindes. So sehr der Bauer den kleinen Bernd liebt – der Tod der geliebten Frau hat ihn zu einem traurigen, mit dem Schicksal hadernden Menschen werden lassen.
Mit seinem Hof geht es bald gefährlich bergab. Die alte Magd Rosl sieht die Katastrophe auf den Schrannenhof zukommen. Verzweifelt bittet sie schließlich Anna, die junge Schwester der verstorbenen Bäuerin, um Hilfe. Das Mädchen gibt seine Stellung als Magd in der Steiermark auf und kommt auf den Schrannenhof.
Der kleine Bernd liebt seine Tante vom ersten Augenblick an. Doch der Bauer selbst will, dass Anna wieder geht. Er will sich nicht helfen lassen – und er hat Angst davor, sich eines Tages in die schöne Schwester seiner Frau zu verlieben …
»Bernd, komm her!« Die Stimme der alten grauhaarigen Magd drang über den Hof.
Auf einem Holzstapel saß ein fünfjähriger Junge und blickte gedankenverloren in den hereinbrechenden Abend. Blond und blauäugig war der Bub, und sein rundes Gesicht mit den unzähligen Sommersprossen auf der Stupsnase war in Kummerfalten gelegt.
»Bernd, so hör doch! Das Essen steht auf dem Tisch«, drang abermals die energische Frauenstimme aus dem Küchenfenster, und widerwillig schickte sich der Kleine an, seinen unbequemen Platz auf dem Holz zu verlassen.
Beide Hände in die Taschen seiner Lederhose vergraben und den Kopf zu Boden gesenkt, so kam er über den Hof. In der Tür des alten Bauernhauses stand eine kleine, rundliche Frau mit mahnendem Gesicht. Kopfschüttelnd blickte sie dem Jungen entgegen.
»Dass man dich immer ein paarmal rufen muss, Bernd! Hast du denn gar keine Ohren im Kopf?«, sagte sie und fuhr liebevoll durch das wirre blonde Haar des Kleinen.
»Ich hab auf den Vater gewartet, Rosl. Wird er heut wieder net mit uns essen?«
Zwei tieftraurige Augen schauten die alte Magd an. Der schnürte sich die Kehle zusammen. Fünf Jahre lang ging das nun so, und fast immer wartete der Bub vergebens, dass der Vater rechtzeitig nach Hause kam, um mit ihm zu essen.
»Vielleicht kommt er heut, Bernd, ich weiß es net«, sagte die alte Frau beruhigend und führte das Kind in die Küche, in der es nach frisch gebackenen Schmalznudeln roch. Es war Bernds Lieblingsessen. Doch selbst die Schmalznudeln konnten seine Miene nicht aufhellen.
Er rutschte auf seinen Platz unter dem Herrgottswinkel, und für eine Weile ging sein Blick hinauf zu dem Bild, das eine junge Frau zeigte. Sie stand hoch oben auf dem Heuwagen und trug auf dem kastanienbraunen Haar ein buntes Kopftuch. Dieses Bild war alles, was dem Kind von seiner Mutter geblieben war.
»Iss deine Nudeln, Bub, sonst werden sie kalt. Ich hab dir extra eine Vanillesoße dazu gemacht.«
Doch noch blieben die Nudeln unberührt.
»Wenn die Mutter noch bei uns wär, dann wär alles anders«, meinte der Bub andächtig, »dann könnt der Vater net immer oben sitzen im Wald.«
»Dorthin geht er, wenn er mit seinen Gedanken allein sein will, Bernd. Freilich wär es anders, wenn deine Mutter noch leben tät. Dann hörte man endlich wieder Lachen auf dem Schrannerhof. Jetzt könnt man manchmal meinen, er wär ausgestorben.«
»Erzähl mir von früher«, bat der kleine Bub und begann endlich zu essen.
Die alte Rosl seufzte. Was sollte sie ihm erzählen, dem kleinen Knirps von gerade mal fünf Jahren? Dass es einmal glückliche Zeiten gegeben hatte auf dem alten Hof? Lachen und Frohsinn waren in dem großen Haus gewesen und ein junges verliebtes Paar, dem das Glück aus den Augen geleuchtet hatte. Drei Jahre waren sie verheiratet gewesen, die Agnes und der Andreas, als sich endlich der heiß ersehnte Nachwuchs angekündigt hatte.
Dann lag nach knapp acht Monaten der kleine Bernd in der Wiege, sechs Wochen zu früh. Der alte Dorfarzt bangte um sein Leben und um das der jungen Bäuerin. Während das Kind durchkam, schloss die junge Frau ihre Augen für immer.
In dieser Nacht verschwand der junge Bauer und tauchte erst nach zehn Tagen wieder auf. Er war ein anderer geworden, selbst die besten Freunde erkannten ihn nicht wieder. Und während er früher arbeitsam und fleißig gewesen war, verbrachte er nun seine Tage damit, im Wald zu sitzen und hinunter aufs Dorf zu schauen. Stundenlang saß er dort, verbittert und einsam.
Das einzige Interesse galt noch dem Kind. Was sonst auf dem Hof vorging, schien er kaum wahrzunehmen. So verfiel der stolze Besitz mit der Zeit, und nach einigen Jahren war der Schrannerhof nicht mehr das, was er einst war.
Jeder versuchte, dem Andreas Burger, seinem Besitzer, ins Gewissen zu reden, doch alles Reden war vergebens. Wenn er auch versprach, sich in Zukunft wieder mehr um den Hof zu kümmern, so saß er doch weiterhin oben im Wald oder verbrachte Stunden auf dem Friedhof am Grab der verstorbenen Bäuerin.
Sollte sie das dem kleinen Jungen erzählen, der sie andächtig anschaute? Der Kleine hatte eine freudlose Kindheit, und wäre sie nicht gewesen, was wäre wohl aus ihm geworden? So erzählte sie ihm von der Mutter, die bei allen Leuten beliebt gewesen war, und freute sich, dass die blauen Augen aufstrahlten und nebenbei der Teller leer wurde.
»Ich hätt sie gern bei mir, die Mutter«, sagte Bernd.
»Wirst schon noch bessere Zeiten erleben, Büberl«, entgegnete die alte Frau begütigend, »aber schau hinauf zur Uhr. Es ist gleich sieben. Jetzt heißt es sich waschen und ins Bett gehen.«
Bernd verzog sein Gesicht und schaute hinaus auf den Hof.
»Kann ich net auf den Vater warten?«, bettelte er.
Rosl schüttelte den Kopf.
»Es kann Nacht werden, bis er vom Wald herunterkommt. Also, marsch in deine Kammer. Wenn ich fertig bin mit dem Geschirr, komm ich noch hinauf.«
Sie stellte einen Teller mit Nudeln für den Bauern ins Ofenrohr, damit sie warm blieben. Der Bub schickte sich an zu gehen. Wenn die Rosl in einem solchen Ton sprach, dann war es besser zu folgen. Außerdem wollte er sie nicht ärgern, denn nach dem Vater war sie das Liebste, was er auf der Welt hatte.
Seine Kammer war klein, und es gab nur wenige Spielsachen. Er spielte auch gar nicht gern hier oben, wo er immer allein war. Am liebsten war er unten auf dem Hof und wartete, bis die Kinder vom Nachbarhof von der Schule kamen. Der eine, der Hansl, der war schon sechs, und er war sein allerbester Freund.
Als der Bub im Bett lag, hörte er von draußen das Zwitschern der Vögel. Es war schön auf dem Schrannerhof, und nirgendwo wäre er lieber gewesen. Wenn der Vater nur mehr Zeit gehabt hätte! Hansls Vater spielte sogar am Sonntag mit den Kindern, und darauf war der Bernd ein wenig neidisch.
Er hörte die Rosl die Treppe heraufkommen und laut schnaufen.
»Jetzt wird gebetet, Bernd. Draußen ist es gleich dunkel«, sagte sie.
Die Hände des Kindes falteten sich gehorsam, und leise sprach es die gelernten Worte.
»Weckst du mich morgen früh, bevor der Vater geht, gell«, bettelte er, und die Rosl versprach es ihm. Dann stieg sie wieder hinunter in die Küche und setzte sich mit dem Nähkorb unter den Herrgottswinkel. Sie ging nie schlafen, bevor der Bauer nicht im Hause war. Meist kam er erst bei Einbruch der Nacht.
Die Kuckucksuhr schlug neun, als sie endlich Schritte hörte. Gleich darauf stand Andreas Burger, der Bauer vom Schrannerhof, in der Küche. Sorgenvoll blickte die Magd ihm entgegen.
Ein blonder Vollbart umrahmte ein gebräuntes Gesicht, zwei blaue Augen schauten die alte Frau trüb an. Er war groß und sehr hager, der alte Anzug schien förmlich an seinen knochigen Schultern zu hängen. Niemand erkannte in ihm jenen Andreas Burger wieder, der einst ein gut aussehender junger Bursche gewesen war, dem die Herzen der Mädchen zugeflogen waren.
»Kommst spät, Anderl! Ich hab dir die Nudeln in das Rohr gestellt.« Sie wollte sich erheben, doch er winkte müde ab.
»Lass es sein, Rosl. Ich hab keinen Hunger und geh gleich hinauf in meine Kammer … Schläft der Bub schon?«
»Ja, er hat lange auf dich gewartet. Du müsstest dich mehr um das Kind kümmern, Bauer. Außer dir hat es doch niemanden.« Rosl musterte ihn mit strengem Blick. »Die Rechnungen für die Saatbestellung vom Frühjahr sind gekommen. Wir werden sie in den nächsten Tagen bezahlen müssen«, fuhr sie fort.
Das schmale Gesicht des Bauern verzog sich zu einem ironischen Lächeln.
»Von was soll ich sie denn bezahlen, Rosl? Das letzte Geld ist für das Kalb draufgegangen, das im Stall steht.«
»Dann musst du es eben wieder verkaufen, Andreas. Sonst schicken sie uns den Gerichtsvollzieher.«
»Kann man denn hier net in Frieden leben?«, fragte er grimmig.
Die alte Frau schaute ihn vorwurfsvoll an.
»Das könntest du schon, Anderl. Aber dazu müsstest du wieder der Bauer werden, der du einmal warst. Schau dir an, wie alles verfällt um dich herum. Der Stall müsste erneuert werden, das Haus frisch gestrichen. Die Zäune sind morsch. Das Getreide steht meterhoch und müsste geerntet werden. Ich bin eine alte Frau und hab genug im Haus zu schaffen.«
»Es verlangt auch keiner von dir, dass du dich um den Hof kümmerst«, knurrte er böse, »und wenn du es ruhiger haben willst, dann geh doch.«
Rosl traten die Tränen in die Augen.
»So sollte dich dein Vater reden hören, Andreas! Als junge Magd bin ich auf den Schrannerhof gekommen und hab seitdem nur ihm gedient. Und jetzt willst du mich wegschicken. Denkst du denn nur an dich und net an den Buben, den dir deine Frau hinterlassen hat?«
Andreas setzte sich auf die Bank und vergrub das Gesicht in den Händen. Die alte Frau sah, dass die mageren Schultern in tiefem Schmerz zuckten. Sofort versiegten ihre Tränen. Es tat ihm leid, was er eben gesagt hatte, das wusste sie, ohne dass er sie um Verzeihung bat. Seine Verzweiflung tat ihr weh.
»Ist schon gut, Andreas, ich weiß, dass du es net so gemeint hast. Aber ich bitt dich noch einmal: Komm wieder zu dir. Denk an den Buben und dass du es ihm schuldig bist, ein guter Vater zu sein. Die Agnes wär net zufrieden, könnt sie dich vom Himmel aus sehen.«
»Red net von ihr«, seufzte er, und sein Blick ging hinauf zu dem Bild im Herrgottswinkel. »Ich kann net leben ohne sie«, fügte er tonlos hinzu.
»Du musst es, Andreas, schon wegen dem Kind. Er hat dich so lieb, dein Bub. Und er ist dir wie aus dem Gesicht geschnitten. Sei dem Herrgott dankbar, dass er dir geblieben ist.«
»Warum hat er mir sie genommen? Sie war doch alles für mich«, fragte der verzweifelte Mann. Nach einer Weile stand er auf.
»Ich schau noch nach dem Buben. Gute Nacht, Rosl.«
Sie hörte ihn die Stiege hinaufsteigen zur Kinderkammer. Jeden Abend stieg er dort hinauf und setzte sich an das Bett seines schlafenden Kindes.
Der kleine Bernd schlief ruhig und mit einem Lächeln auf den Lippen. Das runde Gesicht hatte sich im Schlaf gerötet, und der Bauer strich ihm das wirre Haar aus der Stirne.
Wenn sie ihn so sehen könnte, die Agnes! Wie hatten sie sich beide dieses Kind gewünscht und wie glücklich waren sie gewesen, als ihr der Dorfarzt die Mitteilung gemacht hatte. Noch heute sah er sie vor sich, wie sie in seine Arme gefallen war, unter Lachen und Weinen.
»Wir werden ein Kind haben, Andreas, endlich einen Erben«, hatte sie gesagt, und er hatte sich über ihre roten Lippen gebeugt und sie geküsst. Warum nur konnte er es nicht vergessen, warum stand ihr Bild Tag und Nacht vor seinen Augen?
Als er sie zum ersten Mal gesehen hatte, bei einem Dorffest, da war es um ihn geschehen gewesen. Der bildhübschen Agnes war es nicht anders ergangen. Sein Vater hatte ihm den Hof übergeben, und sie konnten schon bald heiraten. Damals hatten sie geglaubt, das Glück würde ihnen ewig zulachen.
Nun war sie fort, und ihm war nur das Kind geblieben. Er liebte den kleinen Kerl über alles und konnte es ihm doch nicht zeigen.
Der Hof war Andreas nicht mehr wichtig, er dachte auch nicht daran, ihn zu erhalten, dem Buben zuliebe. Manchmal gab es Zeiten, wo er den Hof hasste. Dieses alte Haus, in dem er so glücklich gewesen war und jetzt so einsam und allein. Die Rosl hatte recht, der Hof würde verfallen, und er, der Bauer, war nicht imstande, ihn zu erhalten.
Der Bub bewegte sich kurz im Schlaf. Zärtlich strich Andreas dem Kind noch einmal über die runden Wangen. Er würde schon durchkommen, sein Bub, und sich später einmal im Leben behaupten. Und hoffentlich mehr Glück finden auf seinem Lebensweg als sein Vater.
***
Die Maisonne schaute durch das Küchenfenster auf den grauen Haarknoten der alten Magd, die am Tisch saß und kopfschüttelnd die Mahnschreiben, die in den letzten Wochen und Monaten gekommen waren, durchsah.
Zwei oder drei Rechnungen hatten sie noch bezahlen können, aber jetzt war die Kasse leer, und die paar Münzen, die sie noch hatten, mussten reichen für das tägliche Brot.
Wie oft hatte sie in den vergangenen Tagen den jungen Bauern gedrängt, etwas zu tun, um den drohenden Konkurs aufzuhalten! Doch er hatte nur seine Wiesen gemäht und das Heu eingebracht. Und dann war er wieder hinauf in den Wald gegangen und den ganzen Tag verschwunden gewesen.
Es hatte keinen Sinn mehr, mit ihm zu sprechen, der Hof war ihm gleichgültig geworden. Und wenn man sie morgen auf die Straße setzte, dann war ihm das vielleicht sogar recht.
Draußen auf dem Hof spielte der kleine Bernd mit einem Ball, und die Sonne ließ seinen blonden Haarschopf golden glänzen.
Da ging Rosl ein Gedanke durch den Kopf. Schon des Buben wegen durfte sie nicht aufgeben und musste kämpfen, damit ihm sein Erbe erhalten blieb und der Schrannerhof nicht in fremde Hände fiel.
Sie stand auf und suchte im Küchenkasten nach den alten Briefen. Die verstorbene Bäuerin hatte eine Schwester gehabt. Rosl hatte sie nur einmal bei der Hochzeit gesehen. Damals war Anna fast noch ein Kind gewesen, noch keine fünfzehn Jahre alt. Sie arbeitete als Magd auf einem Hof in der Steiermark, die Fahrt dorthin war weit. Deswegen hatten sich die Schwestern auch nicht oft gesehen.
Obwohl Rosl sich kaum mehr an Anna erinnern konnte, erhoffte sie Hilfe von ihr. Wenn es möglich wäre, dass sie auf den Hof kam, gelang es ihr vielleicht, aus dem Bauern wieder einen Menschen zu machen.
Für den kleinen Buben wär es gut, wenn eine junge Frau käme, dachte die Magd. Sie selber war alt und konnte ihm die Mutter nicht ersetzen. Wenn sie einmal nicht mehr war, dann war Bernd mit seinem Vater allein.
Der Gedanke, Anna zu holen, machte sich immer mehr in der alten Frau breit. An einem der nächsten Tage brachte sie Bernd hinüber zum Nachbarhof. Die Bäuerin konnte das Kind gut leiden, und es war schon öfter geschehen, dass Bernd eine Nacht über bei seinem Freund Hansl geblieben war.
»Machst du eine Reise zur Verwandtschaft?«, wollte die Bäuerin wissen.
Rosl dachte nicht daran, ihr ihr Geheimnis auf die Nase zu binden.
»Was zum Anziehen braucht der Bub, und meine Schwester kann ich bei der Gelegenheit gleich mit besuchen. Weißt ja, dass sie in der Stadt verheiratet ist.«
»Ist gut für dich, wenn du einmal wegkommst vom Schrannerhof«, sagte die Nachbarin. »Du kannst unbesorgt fahren, der Bernd ist bei mir gut aufgehoben.«
Das wusste die alte Frau, und deswegen saß sie ziemlich beruhigt im Zug, der sie aus ihrem kleinen Dorf im Salzburger Land hinein in die Steiermark bringen sollte.
Fünf Stunden dauerte die Fahrt. Die Zeit verging wie im Fluge, denn Rosl hielt mit allen möglichen Fahrgästen ein Schwätzchen.
»Kann ich dir helfen?«, fragte der Mann in Uniform, als sie in Niederau etwas unbeholfen auf dem Bahnsteig stand.
Rosl holte ihren zerknitterten Zettel aus der Tasche.
»Da schau her, zu diesem Hof möcht ich.«
Der Bahnhofsvorsteher setzte seine Brille auf und las umständlich. Doch dann erhellte sich sein Gesicht.
»Der Tannenhof ist der letzte Hof im Dorf und gehört fast schon zu den Berghöfen. Net leicht hinaufzusteigen bei der Hitze am Mittag.« Mitleidig schaute er sie an.
Resolut steckte Rosl ihren Zettel wieder ein.
»Ich dank dir schön, und gehen kann ich noch. Auch wenn es heiß ist.«
Nachdem sie eine halbe Stunde gegangen war und das Dorf mit dem etwas schiefen Kirchturm hinter sich gelassen hatte, führte der Weg ziemlich steil in die Höhe. Oben sah sie einige Höfe liegen. Wenn der Mann recht hatte, dann war das erste mit dicken, alten Tannen umgebene Haus der Tannenhof.
Kinder spielten auf dem Hof und schauten der alten Frau neugierig entgegen.
»Ich möcht zur Anna. Ist die da?«, wollte Rosl wissen.
Ein älterer Bub nickte eifrig.
»Die ist in der Küche und hilft der Mutter. Geh nur hinein.«
Rosl klopfte an die Tür. Zwei Frauen standen am Herd, und die jüngere musste die Anna sein. Sie sah ihrer Schwester nicht eine Spur ähnlich. Kleiner war sie und zierlicher und hatte dunkle Haare, während die der Agnes kastanienbraun gewesen waren.
»Ich bin die Rosl vom Schrannerhof«, sagte Rosl, und jetzt ging ein Erkennen über das Gesicht der Jüngeren.