Als Hitler das rosa Kaninchen stahl, Band 1-3 - Judith Kerr - E-Book

Als Hitler das rosa Kaninchen stahl, Band 1-3 E-Book

Judith Kerr

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Beschreibung

Berlin, 1933: Die Nazis kommen an die Macht. In letzter Minute reist Anna mit ihrer jüdischen Familie in die Schweiz. Vieles von dem, was zu ihrem Alltag gehörte, muss in Berlin bleiben - auch ihr rosa Kaninchen. Später flieht Anna nach England und glaubt nach sieben Jahren der Emigration, endlich angekommen zu sein. Da bricht der Luftkrieg über London herein. Nach Kriegsende bleibt Anna in England, aber das Schicksal führt sie noch einmal zurück nach Berlin ... Die neunjährige Anna wächst in einer wohlhabenden, wenig religiösen jüdischen Familie in Berlin auf. Ihr Vater ist ein bekannter Schriftsteller und Journalist, der auch Artikel gegen Hitler und seine Partei veröffentlicht. Als sich Anfang 1933 mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten die politische Lage zuspitzt, ändert sich Annas Leben für immer. Auf der Flucht vor den Nazis beginnt für die Familie eine lange Reise, die sie aus Berlin in die Schweiz und von dort über Frankreich bis nach London führt, wo sie sich schließlich niederlässt. Während deutsche Bomben in der englischen Hauptstadt einschlagen, findet Anna Arbeit als Sekretärin und verliebt sich zum ersten Mal. Als nach dem Krieg ihre mittlerweile wieder in Deutschland lebende Mutter krank wird, kehrt Anna zum ersten Mal seit der Flucht in ihre frühere Heimat zurück. Doch dort trifft sie nicht nur auf ihre Mutter, sondern auch auf lang vergessen geglaubte Erinnerungen …

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Als Ravensburger E-Book erschienen 2017Die Print-Ausgabe erscheint in der Ravensburger Verlag GmbHUngekürzte LizenzausgabeText copyright © Kerr-Kneale Productions Ltd 1971, 1975The author asserts the moral right to be identified as the author of this work.»Als Hitler das rosa Kaninchen stahl« erschien unter dem Titel »When Hitler Stole Pink Rabbit«© 1971 by Judith Kerr»Warten bis der Frieden kommt« erschien unter dem Titel »The Other Way Round«© 1975 by Judith Kerr»Eine Art Familientreffen« erschien unter dem Titel »A Small Person Far Away«© 1978 by Judith KerrUmschlagillustration: Henriette SauvantÜbersetzung aus dem Englischen: Annemarie BöllAlle Rechte dieses E-Books vorbehalten durch Ravensburger Verlag GmbH, Postfach 2460, D-88194 Ravensburg.ISBN978-3-473-47830-9www.ravensburger.de

Judith Kerr

Als Hitler das rosa Kaninchen stahl - Eine jüdische Familie auf der Flucht, Band 1-3

Band 1

Als Hitler das rosa Kaninchen stahl

1

Anna war mit Elsbeth, einem Mädchen aus ihrer Klasse, auf dem Heimweg von der Schule. In diesem Winter war in Berlin viel Schnee gefallen. Er schmolz nicht, darum hatten die Straßenkehrer ihn auf den Rand des Gehsteiges gefegt, und dort bildete er seit Wochen traurige, immer grauer werdende Haufen. Jetzt, im Februar, hatte sich der Schnee in Matsch verwandelt, und überall standen Pfützen. Anna und Elsbeth hüpften mit ihren Schnürstiefeln darüber weg.

Sie trugen beide dicke Mäntel und Wollmützen, die ihre Ohren warm hielten, und Anna hatte auch noch einen Schal umgebunden. Sie war neun, aber klein für ihr Alter, und die Enden des Schals hingen ihr beinahe bis auf die Knie. Der Schal bedeckte auch Mund und Nase, sodass nur die grünen Augen und ein Büschel dunkles Haar von ihr zu sehen waren. Sie hatte es eilig, denn sie wollte noch im Schreibwarenladen Buntstifte kaufen, und es war beinahe Zeit zum Mittagessen. Aber jetzt war sie so außer Atem, dass sie froh war, als Elsbeth stehen blieb und ein großes rotes Plakat betrachtete.

»Da ist wieder ein Bild von dem Mann«, sagte Elsbeth. »Meine kleine Schwester hat gestern auch eins gesehen und gedacht, es wäre Charlie Chaplin.«

Anna betrachtete die starren Augen, den grimmigen Ausdruck. Sie sagte: »Es ist überhaupt nichts wie Charlie Chaplin, außer dem Schnurrbart.«

Sie buchstabierten den Namen unter der Fotografie:

»Adolf Hitler.«

»Er will, dass alle bei den Wahlen für ihn stimmen, und dann wird er den Juden einen Riegel vorschieben«, sagte Elsbeth. »Glaubst du, er wird Rachel Löwenstein einen Riegel vorschieben?«

»Das kann keiner«, sagte Anna. »Sie ist Klassensprecherin. Vielleicht macht er es mit mir. Ich bin auch jüdisch.«

»Das stimmt nicht!«

»Doch. Mein Vater hat vorige Woche mit uns darüber gesprochen. Er sagte, wir seien Juden, und was auch immer geschähe, mein Bruder und ich dürften das niemals vergessen.«

»Aber ihr geht samstags nicht in eine besondere Kirche wie Rachel Löwenstein.«

»Weil wir nicht religiös sind.«

»Ich wünschte, mein Vater wäre auch nicht religiös«, sagte Elsbeth, »wir müssen jeden Sonntag gehen, und ich kriege einen Krampf in meinem Hinterteil.« Sie betrachtete Anna eindringlich. »Ich dachte, Juden hätten krumme Nasen, aber deine Nase ist ganz normal. Hat dein Bruder eine krumme Nase?«

»Nein«, sagte Anna, »der einzige Mensch in unserem Haus mit einer krummen Nase ist unser Mädchen Bertha, und deren Nase ist krumm, weil sie aus der Straßenbahn gestürzt ist und sie sich gebrochen hat.«

Elsbeth wurde ärgerlich. »Aber dann«, sagte sie, »wenn du wie alle anderen aussiehst und nicht in eine besondere Kirche gehst, wie kannst du dann wissen, dass du wirklich jüdisch bist? Wie kannst du sicher sein?«

Es entstand eine Pause.

»Ich vermute …«, sagte Anna, »ich vermute, weil mein Vater und meine Mutter Juden sind, und wahrscheinlich waren ihre Mütter und Väter es auch. Ich habe nie darüber nachgedacht, bis mein Vater vorige Woche anfing, davon zu sprechen.«

»Also, ich finde es blöd!«, sagte Elsbeth. »Das mit Adolf Hitler ist blöd, und dass Leute Juden sind und alles!« Sie fing an zu laufen, und Anna lief hinter ihr her.

Sie hielten nicht eher an, bis sie den Schreibwarenladen erreicht hatten. Jemand sprach mit dem Mann hinter der Theke, und Annas Mut sank, als sie Fräulein Lambeck erkannte, die in ihrer Nähe wohnte. Das Fräulein machte ein Gesicht wie ein Schaf und sagte: »Schreckliche Zeiten! Schreckliche Zeiten!« Jedes Mal wenn sie sagte »Schreckliche Zeiten«, schüttelte sie den Kopf, und ihre Ohrringe wackelten.

Der Ladeninhaber sagte: »1931 war schlimm genug, 1932 war schlimmer, aber lassen Sie sich’s gesagt sein, 1933 wird am schlimmsten!« Dann bemerkte er Anna und Elsbeth und sagte: »Was kann ich für euch tun, Kinder?«

Anna wollte ihm gerade sagen, dass sie Buntstifte kaufen wollte, da hatte Fräulein Lambeck sie entdeckt.

»Das ist die kleine Anna!«, rief Fräulein Lambeck. »Wie geht es dir, kleine Anna? Und wie geht es deinem lieben Vater? Ein wunderbarer Mensch! Ich lese jedes Wort, das er schreibt. Ich habe alle seine Bücher, und ich höre ihn immer im Radio. Aber diese Woche hat er nichts in der Zeitung – hoffentlich ist er nicht krank. Vielleicht hält er irgendwo Vorträge. Oh, wir brauchen ihn so in diesen schrecklichen Zeiten!«

Anna wartete, bis Fräulein Lambeck fertig war. Dann sagte sie: »Er hat die Grippe.«

Diese Bemerkung rief wieder ein großes Wehklagen hervor. Man hätte glauben können, Fräulein Lambecks liebste Angehörigen lägen im Sterben. Sie schüttelte den Kopf, bis die Ohrringe klirrten. Sie schlug Heilmittel vor. Sie empfahl Ärzte. Sie hörte nicht auf zu reden, bis Anna ihr versprochen hatte, ihrem Vater Fräulein Lambecks beste Wünsche für eine schnelle Besserung zu überbringen. An der Tür drehte sie sich noch einmal um und sagte: »Sag nicht, gute Wünsche von Fräulein Lambeck, kleine Anna – sag nur: von einer Verehrerin!« Dann fegte sie hinaus.

Anna kaufte eilig ihre Stifte. Dann standen sie und Elsbeth draußen im kalten Wind vor dem Schreibwarenladen. Hier trennten sich für gewöhnlich ihre Wege, aber Elsbeth zögerte. Sie hatte Anna schon lange etwas fragen wollen, und dies schien ein geeigneter Augenblick.

»Anna«, sagte Elsbeth, »ist es schön, einen berühmten Vater zu haben?«

»Nicht, wenn man jemandem wie Fräulein Lambeck begegnet«, sagte Anna und machte sich nachdenklich auf den Heimweg, während ihr Elsbeth ebenso nachdenklich folgte.

»Nein, aber abgesehen von Fräulein Lambeck?«

»Es ist eigentlich ganz nett. Zum Beispiel, weil Papa zu Hause arbeitet und wir ihn oft sehen. Und manchmal kriegen wir Freikarten fürs Theater. Und einmal wurden wir von einer Zeitung interviewt, und sie fragten uns, was für Bücher wir gern lesen. Mein Bruder sagte, Karl May, und am nächsten Tag schickte ihm jemand eine Gesamtausgabe als Geschenk.«

»Ich wünschte, mein Vater wäre auch berühmt«, sagte Elsbeth. »Aber das wird er sicher nie, denn er arbeitet bei der Post, und dafür wird man nicht berühmt.«

»Wenn dein Vater nicht berühmt wird, dann wirst du es vielleicht einmal. Wenn man einen berühmten Vater hat, dann wird man fast nie selber berühmt.«

»Warum nicht?«

»Das weiß ich nicht. Aber man hört fast nie von zwei berühmten Leuten aus einer Familie. Das macht mich manchmal ein bisschen traurig.« Anna seufzte.

Sie standen jetzt vor Annas weiß gestrichenem Gartentor. Elsbeth dachte fieberhaft darüber nach, wofür sie vielleicht berühmt werden könnte, als Heimpi, die sie vom Fenster aus gesehen hatte, die Haustür öffnete.

»Du meine Güte«, rief Elsbeth, »ich komme zu spät zum Essen!« – und schon rannte sie die Straße hinunter.

»Du und diese Elsbeth«, schimpfte Heimpi, während Anna ins Haus trat. »Ihr holt mit eurem Geschwätz noch die Affen von den Bäumen!«

Heimpis richtiger Name war Fräulein Heimpel, und sie hatte für Anna und ihren Bruder Max gesorgt, seit diese kleine Kinder waren. Jetzt, da sie größer geworden waren, versorgte sie, wenn die Kinder in der Schule waren, den Haushalt, aber wenn sie nach Hause kamen, musste sie sie immer noch bemuttern. »Wir wollen dich mal auspacken«, sagte sie und nahm ihr den Schal ab. »Du siehst aus wie ein Paket, an dem die Kordel sich gelöst hat.«

Während Heimpi Anna aus den Kleidern schälte, hörte diese, dass im Wohnzimmer Klavier gespielt wurde. Mama war also zu Hause.

»Sind deine Füße auch bestimmt nicht feucht?«, fragte Heimpi. »Dann geh schnell und wasch dir die Hände. Das Mittagessen ist gleich fertig.«

Anna stieg die mit einem dicken Läufer belegte Treppe hinauf. Die Sonne schien zum Fenster herein, und draußen im Garten konnte sie ein paar letzte Schneeflecken sehen. Von der Küche her stieg der Duft eines gebratenen Huhns herauf. Es war schön, aus der Schule nach Hause zu kommen.

Als sie die Badezimmertür öffnete, hörte sie drinnen eiliges Füßescharren, und gleich darauf fand sie sich ihrem Bruder Max gegenüber, der mit puterrotem Gesicht die Hände auf dem Rücken hielt.

»Was ist los?«, fragte sie, noch bevor sie seinen Freund Günther entdeckt hatte, der ebenso verlegen schien.

»Oh, du bist es!«, sagte Max, und Günther lachte. »Wir dachten, es wäre ein Erwachsener.«

»Was habt ihr da?«, fragte Anna.

»Das ist ein Abzeichen. In der Schule gab es heute eine Rauferei. Nazis gegen Sozis.«

»Was sind Nazis und Sozis?«

»Ich hätte doch gedacht, dass du in deinem Alter das wüsstest«, sagte Max, der gerade zwölf war. »Die Nazis sind die Leute, die bei den Wahlen für Hitler stimmen werden. Wir Sozis sind die Leute, die gegen ihn stimmen werden.«

»Aber ihr beiden dürft doch noch gar nicht wählen«, sagte Anna.

»Aber unsere Väter«, sagte Max ärgerlich. »Das ist dasselbe.«

»Jedenfalls werden wir sie schlagen«, sagte Günther. »Du hättest die Nazis laufen sehen sollen! Max und ich haben einen geschnappt und ihm sein Abzeichen abgenommen. Aber ich weiß nicht, was Mama zu meiner Hose sagen wird.« Er blickte traurig auf einen großen Riss in dem verschlissenen Stoff. Günthers Vater war arbeitslos, und sie hatten kein Geld zu Hause für neue Kleider.

»Mach dir keine Sorgen, Heimpi flickt das schon«, sagte Anna. »Kann ich das Abzeichen mal sehen?«

Es war eine kleine rote Emailscheibe mit einem schwarzen Kreuz mit umgebogenen Ecken.

»Das ist ein Hakenkreuz«, sagte Günther, »alle Nazis haben so eins.«

»Was wollt ihr damit machen?«

Max und Günther sahen einander an. »Willst du es haben?«, fragte Max.

Günther schüttelte den Kopf. »Ich darf nichts mit den Nazis zu tun haben. Mama hat Angst, sie könnten mir ein Loch in den Kopf schlagen.«

»Die kämpfen nicht fair«, stimmte Max zu. »Sie benutzen Stöcke und Steine und sonst allerhand.« Er drehte das Abzeichen mit steigendem Unbehagen in den Fingern. »Ich will es jedenfalls auch nicht.«

»Schmeiß es ins Klo!«, sagte Günther. Das taten sie denn auch. Als sie zum ersten Mal abzogen, wurde es nicht hinuntergespült, aber beim zweiten Mal, als gerade der Gong zum Essen rief, verschwand es zur Zufriedenheit aller.

Als sie nach unten gingen, konnten sie immer noch das Klavier hören, aber während Heimpi ihre Teller füllte, hörte die Musik auf. Einen Augenblick später kam Mama herein.

»Hallo Kinder, hallo Günther!«, rief sie. »Wie war es in der Schule?«

Jeder fing sofort an, es ihr zu erzählen, und das Zimmer war plötzlich voller Lärm und Gelächter. Sie kannte die Namen aller Lehrer und erinnerte sich immer, was sie ihr erzählt hatten. Als Max und Günther ihr erzählten, dass der Geografielehrer wütend geworden war, sagte sie: »Kein Wunder, wo ihr ihn vorige Woche so geärgert habt!« Und als Anna ihr erzählte, dass ihr Aufsatz in der Klasse vorgelesen worden war, sagte sie: »Das ist wundervoll – denn Fräulein Schmidt liest selten etwas in der Klasse vor, nicht wahr?«

Wenn sie zuhörte, so sah sie den, der gerade sprach, mit äußerster Konzentration an. Wenn sie sprach, so legte sie ihre ganze Kraft in das, was sie sagte. Sie schien alles, was sie tat, doppelt so heftig zu tun wie andere Leute; sogar ihre Augen waren von einem strahlenderen Blau, als Anna es je gesehen hatte.

Sie fingen gerade mit dem Nachtisch an, es gab heute Apfelstrudel, als das Mädchen Bertha hereinkam, um Mama zu sagen, es sei jemand am Telefon, und ob sie Papa stören solle. »Was für eine Zeit für einen Anruf«, rief Mama und stieß ihren Stuhl so heftig zurück, dass Heimpi danach greifen musste, damit er nicht umfiel. »Und dass keiner von euch wagt, meinen Apfelstrudel aufzuessen!«

Und sie stürzte nach draußen.

Es kam ihnen sehr still vor, nachdem sie gegangen war, obwohl Anna ihre Schritte hören konnte, die zum Telefon eilten und ein wenig später noch schneller zu Papas Zimmer hinauf. In die Stille hinein fragte Anna: »Wie geht es Papa?«

»Besser«, sagte Heimpi. »Die Temperatur ist ein bisschen gefallen.«

Anna aß zufrieden ihren Nachtisch auf. Max und Günther ließen sich dreimal nachgeben, aber Mama war noch immer nicht zurück. Es war seltsam, denn sie mochte Apfelstrudel besonders gern.

Bertha kam, um abzuräumen, und Heimpi nahm die Jungen mit, um nach Günthers Hose zu sehen. »Es hat keinen Zweck, sie zu flicken«, sagte sie, »sie würde wieder platzen, sobald du Luft holst. Aber ich habe noch eine, aus der Max herausgewachsen ist, die wird dir gerade passen.«

Anna blieb im Esszimmer zurück und wusste nicht, was sie tun sollte. Zuerst half sie Bertha. Sie schoben die benutzten Teller durch die Durchreiche in die Küche. Dann fegten sie mit einer kleinen Bürste und einer Schaufel die Krümel vom Tisch. Als sie dann das Tischtuch falteten, erinnerte sie sich an Fräulein Lambeck und ihre Botschaft. Sie wartete, bis Bertha das Tischtuch fest in den Händen hatte, und lief dann zu Papas Zimmer hinauf. Sie konnte Papa und Mama drinnen sprechen hören. »Papa«, sagte Anna, während sie die Tür öffnete, »ich habe Fräulein Lambeck getroffen …«

»Nicht jetzt! Nicht jetzt!«, rief Mama. »Wir haben was zu besprechen.«

Sie saß auf Papas Bettkante. Papa war mit Kissen im Rücken gestützt und sah blass aus. Sie runzelten beide die Stirn.

»Aber Papa, sie hat mich gebeten, dir zu bestellen …«

Mama wurde ganz böse. »Um Himmels willen, Anna«, rief sie, »wir wollen jetzt nichts davon hören! Geh weg!«

»Komm nachher zurück«, sagte Papa etwas sanfter. Anna machte die Tür zu. So war das also. Nicht, dass sie Lust gehabt hätte, Fräulein Lambecks blöde Nachricht zu überbringen. Aber sie ärgerte sich doch.

Es war niemand im Kinderzimmer. Sie konnte draußen Stimmen hören. Max und Günther spielten also wahrscheinlich im Garten. Aber sie hatte keine Lust, zu ihnen zu gehen. Ihr Ranzen hing über der Stuhllehne. Sie packte ihre neuen Farbstifte aus und holte sie alle aus der Schachtel. Darunter war ein schönes Rosa und ein ganz schönes Orange, aber am schönsten waren die Blaus. Es waren drei verschiedene Töne, alle schön kräftig, und auch ein Violett. Plötzlich kam Anna eine Idee.

Sie hatte in der letzten Zeit ein paar Gedichte gemacht und sie auch illustriert, und sie waren zu Hause und auch in der Schule sehr bewundert worden. Eins hatte von einer Feuersbrunst gehandelt, eins von einem Erdbeben und eins von einem Mann, der unter schrecklichen Qualen starb, nachdem er von einem Landstreicher verflucht worden war. Sollte sie es einmal mit einem Schiffbruch versuchen? Allerlei Wörter reimten sich auf »See«, und man konnte »Welle« und »helle« reimen, und für die Illustration konnte sie die drei neuen blauen Stifte benutzen. Sie holte sich ein Blatt Papier und fing an.

Bald war sie so in ihre Arbeit versunken, dass sie nicht bemerkte, wie die frühe winterliche Dämmerung sich im Zimmer verbreitete, und sie fuhr hoch, als Heimpi hereinkam und das Licht anknipste.

»Ich habe Plätzchen gebacken«, sagte Heimpi. »Willst du mir helfen, sie zu glasieren?«

»Kann ich das hier zuerst Papa zeigen?«, fragte Anna, während sie das letzte Stückchen blauer See ausmalte. Heimpi nickte. Diesmal klopfte Anna an und wartete, bis Papa »herein« rief. Sein Zimmer sah geheimnisvoll aus, denn nur die Bettlampe brannte, und Papa und sein Bett waren eine erleuchtete Insel mitten in den Schatten. Nur undeutlich konnte sie seinen Schreibtisch mit der Schreibmaschine erkennen und den Stapel Papier, der wie gewöhnlich vom Tisch auf den Boden überquoll. Weil Papa oft noch spät in der Nacht schrieb und Mama nicht stören wollte, stand sein Bett in seinem Arbeitszimmer. Papa sah nicht aus, als ginge es ihm besser. Er saß da und tat überhaupt nichts, sondern starrte nur mit einem angespannten Ausdruck in seinem schmalen Gesicht vor sich hin. Aber als er Anna sah, lächelte er. Sie zeigte ihm das Gedicht, und er las es zweimal durch und sagte, es sei sehr gut, und er bewunderte auch die Illustration. Dann erzählte ihm Anna von Fräulein Lambeck, und sie lachten beide. Er sah jetzt wieder mehr wie sonst aus, darum sagte Anna: »Papa, gefällt dir das Gedicht auch wirklich?«

Papa sagte Ja.

»Meinst du nicht, es sollte fröhlicher sein?«

»Nun«, sagte Papa, »ein Schiffbruch ist ja wirklich nichts Fröhliches.«

»Meine Lehrerin, Fräulein Schmidt, meint, ich sollte über fröhlichere Sachen schreiben, zum Beispiel über den Frühling und über Blumen.«

»Und möchtest du denn über den Frühling und über Blumen schreiben?«

»Nein«, sagte Anna traurig. »Im Augenblick scheine ich nur über Unglücksfälle schreiben zu können.«

Papa lächelte ein wenig schief und sagte, da wäre sie wohl ganz im Einklang mit der Zeit.

»Meinst du denn«, fragte Anna eifrig, »dass es richtig ist, über Unglücksfälle zu schreiben?«

Papa wurde sofort ernst.

»Natürlich«, sagte er. »Wenn du über Unglück schreiben willst, musst du es auch tun. Es hat keinen Zweck, das zu schreiben, was andere Leute hören wollen. Man kann nur dann gut schreiben, wenn man versucht, es sich selbst recht zu machen.«

Anna war von dem, was Papa sagte, so ermutigt, dass sie ihn gerade fragen wollte, ob er wohl glaubte, sie könne eines Tages berühmt werden, aber das Telefon an Papas Bett klingelte laut. Als Papa den Hörer aufnahm, war der gespannte Ausdruck wieder in seinem Gesicht, und Anna fand es seltsam, dass sogar seine Stimme verändert klang. Sie hörte ihn sagen: »Ja … ja …« Auch von Prag war die Rede. Dann verlor sie das Interesse. Aber das Gespräch war bald vorüber.

»Lauf jetzt lieber«, sagte Papa. Er streckte die Arme aus, als wollte er sie an sich drücken. Aber dann ließ er sie wieder sinken.

»Ich will dich lieber nicht anstecken«, sagte er.

Anna half Heimpi, die Plätzchen mit einem Zuckerguss zu versehen – und dann aßen sie und Max und Günther sie – alle außer dreien, die Heimpi in eine Papiertüte steckte, damit Günther sie seiner Mutter mit nach Hause nehmen konnte. Sie hatte noch andere Kleidungsstücke gefunden, aus denen Max herausgewachsen war, sodass ein ganz schönes Paket zusammengekommen war, das er nachher mit nach Hause nehmen sollte.

Für den Rest des Abends spielten sie zusammen. Max und Anna hatten zu Weihnachten eine Sammlung von Spielen bekommen. Sie hatten immer noch Freude daran, damit zu spielen. Die Sammlung enthielt ein Mühlespiel, Schach, Ludo, Domino, ein Damespiel und sechs verschiedene Kartenspiele, alles zusammen in einer wunderschönen Schachtel. Wenn man eines Spiels überdrüssig war, konnte man immer ein anderes spielen. Heimpi saß bei ihnen im Kinderzimmer und stopfte Strümpfe und spielte auch einmal Ludo mit. Nur zu bald war es Zeit, zu Bett zu gehen.

Am nächsten Morgen lief Anna in Papas Zimmer, um ihn zu besuchen. Der Schreibtisch war aufgeräumt. Das Bett war ordentlich gemacht. Papa war fort.

2

Annas erster Gedanke war so schrecklich, dass ihr Atem stockte. Papa war in der Nacht kränker geworden. Man hatte ihn ins Krankenhaus gebracht. Vielleicht … Sie rannte blindlings aus dem Zimmer und Heimpi direkt in die Arme.

»Es ist alles in Ordnung«, sagte Heimpi. »Es ist alles in Ordnung! Dein Vater hat eine Reise angetreten.«

»Eine Reise?« Anna konnte es nicht glauben. »Aber er ist doch krank – er hat Fieber …«

»Er hat sich trotzdem entschlossen zu verreisen«, sagte Heimpi bestimmt. »Deine Mutter wollte es dir alles erklären, wenn du aus der Schule kommst. Ich glaube, jetzt hörst du es besser gleich, und Fräulein Schmidt kann die Daumen drehen und auf dich warten.«

»Was ist denn los? Gehen wir nicht zur Schule?« Max erschien mit hoffnungsvollem Gesicht auf der Treppe.

Dann kam Mama aus ihrem Zimmer. Sie war noch im Morgenrock und sah müde aus.

»Es gibt überhaupt keinen Grund zur Aufregung«, sagte sie. »Aber ich muss euch einiges sagen. Heimpi, können wir noch etwas Kaffee haben? Und ich glaube, die Kinder könnten auch noch ein bisschen frühstücken.«

Als sie erst einmal bei Kaffee und Brötchen in Heimpis Küche saßen, fühlte Anna sich schon viel besser, und sie war sogar imstande, sich darüber zu freuen, dass sie jetzt die Geografiestunde verpassen würde, die ihr besonders verhasst war.

»Die Sache ist ganz einfach«, sagte Mama. »Papa glaubt, dass Hitler und die Nazis die Wahlen gewinnen könnten. Wenn das geschieht, möchte er nicht mehr in Deutschland leben, solange sie an der Macht sind, und keiner von uns möchte das.«

»Weil wir Juden sind?«, fragte Anna.

»Nicht nur, weil wir Juden sind. Papa glaubt, dass dann niemand mehr sagen darf, was er denkt, und er könnte dann nicht mehr schreiben. Die Nazis wollen keine Leute, die anderer Meinung sind als sie.« Mama nahm einen Schluck Kaffee und sah gleich etwas heiterer aus. »Natürlich kann es sein, dass es nicht so kommt, und wenn es so kommt, wird es wahrscheinlich nicht lange dauern – vielleicht sechs Monate oder so. Aber im Augenblick wissen wir es einfach nicht.«

»Aber warum ist Papa so plötzlich weggefahren?«

»Weil ihn gestern jemand angerufen und ihn gewarnt hat, dass man ihm vielleicht den Pass wegnehmen würde. Darum habe ich ihm einen kleinen Koffer gepackt, und er hat den Nachtzug nach Prag genommen – das ist der kürzeste Weg aus Deutschland hinaus.«

»Wer könnte ihm denn seinen Pass wegnehmen?«

»Die Polizei. In der Polizei gibt es ziemlich viele Nazis.«

»Und wer hat ihn angerufen und ihn gewarnt?«

Mama lächelte zum ersten Mal.

»Auch ein Polizist. Einer, den Papa nie getroffen hat; einer, der seine Bücher gelesen hat und dem sie gefallen haben.«

Anna und Max brauchten einige Zeit, um all das zu verdauen. »Nun«, sagte Mama, »bis zu den Wahlen sind nur noch zehn Tage. Entweder die Nazis verlieren, dann kommt Papa zurück – oder sie gewinnen, dann fahren wir zu ihm.«

»Nach Prag?«, fragte Max.

»Nein, wahrscheinlich in die Schweiz. Dort spricht man Deutsch. Papa könnte dort schreiben. Wir würden wahrscheinlich ein Haus mieten und dort bleiben, bis alles vorbei ist.«

»Auch Heimpi?«, fragte Anna.

»Auch Heimpi.«

Es klang ganz aufregend. Anna fing an, es sich vorzustellen – ein Haus in den Bergen … Ziegen … oder waren es Kühe? …

Da sagte Mama: »Und dann noch eins.« Ihre Stimme klang ernst.

»Dies ist das Allerwichtigste«, sagte Mama, »und wir brauchen dabei eure Hilfe. Papa möchte nicht, dass irgendjemand erfährt, dass er Deutschland verlassen hat. Ihr dürft es also niemandem verraten. Wenn euch jemand nach ihm fragt, müsst ihr sagen, dass er noch mit Grippe im Bett liegt.«

»Darf ich es nicht einmal Günther sagen?«, fragte Max.

»Nein, weder Günther noch Elsbeth noch sonst jemandem.«

»Also gut«, sagte Max. »Aber es wird nicht leicht sein. Die Leute fragen immer nach ihm.«

»Warum dürfen wir es denn niemandem sagen?«, fragte Anna.

»Warum will Papa nicht, dass es jemand weiß?«

»Sieh mal«, sagte Mama. »Ich habe euch alles erklärt, so gut ich konnte. Aber ihr seid beide noch Kinder. Papa glaubt, die Nazis könnten … könnten uns Schwierigkeiten machen, wenn sie wissen, dass er weg ist. Darum will er nicht, dass ihr darüber redet. Also, werdet ihr tun, um was er euch bittet, oder nicht?« Anna sagte, natürlich würde sie es tun.

Dann schickte Heimpi die beiden zur Schule. Anna machte sich Sorgen darüber, was sie sagen sollte, falls sie jemand fragte, warum sie zu spät kam, aber Max meinte: »Sag einfach, Mama hätte verschlafen – das hat sie doch auch.«

Aber es interessierte sich niemand sehr dafür. Die Klasse war in der Turnhalle und übte Hochsprung, und Anna sprang höher als alle anderen. Sie war so froh darüber, dass sie für den Rest des Morgens beinahe vergaß, dass Papa in Prag war.

Als es Zeit war, nach Hause zu gehen, fiel ihr alles wieder ein, und sie hoffte nur, dass Elsbeth keine unbequemen Fragen stellen würde – aber Elsbeth hatte wichtigere Dinge im Kopf. Ihre Tante wollte mit ihr am Nachmittag in die Stadt gehen und ihr ein Jo-Jo kaufen. Was für eins sollte sie sich wünschen, was riet ihr Anna?

Und welche Farbe? Die hölzernen taten es, im Ganzen gesehen, am besten, aber Elsbeth hatte ein leuchtend orangefarbenes Jo-Jo gesehen. Es war zwar aus Blech, aber die Farbe hatte es ihr angetan. Anna sollte nur Ja oder Nein sagen.

Als Anna zum Mittagessen nach Hause kam, war dort alles wie gewohnt. Am Morgen hatte sie erwartet, es werde alles anders sein.

Weder Anna noch Max hatten Aufgaben auf, und es war zu kalt, um hinauszugehen. Sie setzten sich darum am Nachmittag auf den Heizkörper im Kinderzimmer und schauten aus dem Fenster. Der Wind rappelte an den Fensterläden und jagte die Wolken in großen Fetzen über den Himmel.

»Vielleicht schneit es wieder«, sagte Max.

»Max«, fragte Anna, »möchtest du gern in die Schweiz gehen?«

»Ich weiß nicht«, sagte Max. Er würde so vieles vermissen. Günther … die Bande, mit der er Fußball spielte … die Schule … Er sagte: »Ich vermute, wir würden in der Schweiz auch zur Schule gehen.«

»Oh ja«, sagte Anna. »Ich glaube, es würde Spaß machen.« Sie schämte sich beinahe es zuzugeben, aber je länger sie darüber nachdachte, desto lieber wollte sie hin. In einem unbekannten Land zu sein, wo alles anders war – in einem anderen Haus zu wohnen, in eine andere Schule mit anderen Kindern zu gehen … Sie wünschte sich, das alles kennenzulernen, und obgleich sie wusste, dass es herzlos war, lächelte sie.

»Es wäre ja auch nur für sechs Monate«, sagte sie entschuldigend, »und wir wären alle beisammen.«

Der folgende Tag verlief normal. Mama bekam einen Brief von Papa. Er war gut in einem Hotel in Prag untergebracht, und es ging ihm viel besser. Dies machte allen das Herz leichter.

Ein paar Leute fragten nach Papa, waren aber ganz zufrieden, als die Kinder sagten, er habe die Grippe. Die Grippe war so verbreitet, dass sich niemand wunderte. Das Wetter blieb kalt, und die Pfützen, die beim Tauwetter entstanden waren, froren wieder fest zu – aber es schneite immer noch nicht.

Am Samstagnachmittag endlich wurde der Himmel dunkel, und plötzlich begann es in dichten, wirbelnden weißen Flocken zu schneien. Anna und Max spielten mit den Kindern der Kentners, die ihnen gegenüber wohnten. Sie hielten inne, um den Schnee fallen zu sehen.

»Wenn es nur etwas früher angefangen hätte«, sagte Max, »ehe der Schnee hoch genug liegt zum Rodeln, ist es dunkel.« Als Anna und Max um fünf Uhr nach Hause gingen, hatte es eben aufgehört zu schneien. Peter und Marianne Kentner brachten sie zur Tür. Der Schnee bedeckte die Straße mit einer dichten, trockenen, knirschenden Decke, und der Mond schien darauf.

»Wir könnten doch beim Mondlicht rodeln«, sagte Peter. »Glaubst du, das würde man uns erlauben?«

»Wir haben es schon früher getan«, sagte Peter, der vierzehn war. »Geht und fragt eure Mutter.«

Mama sagte, sie könnten mitgehen, müssten aber zusammenbleiben und um sieben wieder zu Hause sein. Sie zogen ihre wärmsten Sachen an und machten sich auf den Weg.

Der Grunewald lag nur eine Viertelstunde weit entfernt, und dort bildete ein bewaldeter Abhang eine ideale Schlittenbahn hinunter auf einen zugefrorenen See. Sie hatten hier schon oft gerodelt, aber da war es immer hell gewesen, und man hatte die Rufe der anderen Kinder gehört. Jetzt war nur das Singen des Windes in den Bäumen zu vernehmen, das Knirschen des frischen Schnees unter ihren Füßen und das sanfte Schwirren der Schlitten, die sie hinter sich herzogen. Über ihnen war der Himmel dunkel, aber der Boden glänzte bläulich im Mondlicht, und die Schatten der Bäume lagen wie schwarze Bänder darauf.

Am oberen Rande des Abhangs blieben sie stehen und blickten nach unten. Niemand war vor ihnen hier gewesen. Der schimmernde Schneepfad erstreckte sich unberührt und vollkommen weiß bis ans Seeufer hinunter.

»Wer fährt zuerst?«, fragte Max.

Anna hatte gar nicht die Absicht gehabt, aber jetzt tanzte sie auf und ab und rief: »Oh bitte, bitte, lasst mich!«

Peter sagte: »Also gut – die Jüngste zuerst.«

Damit war sie gemeint, denn Marianne war zehn.

Sie setzte sich auf ihren Schlitten, zog das Steuerseil fest an, tat einen tiefen Atemzug und stieß ab. Der Schlitten setzte sich ziemlich langsam in Bewegung.

»Los«, schrien die Jungen hinter ihr her. »Stoß dich noch mal ab.«

Aber sie tat es nicht. Sie behielt die Füße auf den Kufen und ließ den Schlitten sich langsam beschleunigen. Der pulvrige Schnee stäubte um sie herum in die Höhe. Die Bäume glitten vorüber, zuerst langsam, dann immer schneller. Das Mondlicht tanzte um sie herum. Schließlich war es, als flöge sie durch eine silbrige Masse. Dann stieß der Schlitten gegen die Schwelle am Fuß des Abhangs, schoss darüber hinweg und landete auf dem Eis des Sees. Es war herrlich.

Die anderen kamen kreischend und schreiend hinter ihr her. Sie kamen mit dem Kopf voran, mit dem Bauch auf dem Schlitten liegend, sodass der Schnee ihnen direkt ins Gesicht stäubte. Dann fuhren sie, auf dem Rücken liegend, die Füße nach vorn ausgestreckt, und die schwarzen Wipfel der Tannen schienen nach hinten wegzufliegen. Dann drängten sich alle auf einem Schlitten zusammen und kamen dadurch so in Fahrt, dass der Schlitten beinahe bis in die Mitte des Sees schoss. Nach jeder Fahrt stapften sie mühsam keuchend den Abhang wieder hinauf und zogen die Schlitten hinter sich her. Trotz der Kälte schwitzten sie in ihren Wollsachen.

Dann fing es wieder an zu schneien. Zuerst bemerkten sie es kaum, aber dann erhob sich ein Wind, der ihnen die Flocken ins Gesicht blies. Plötzlich blieb Max mitten auf dem Abhang, den sie gerade wieder mit dem Schlitten hinaufstiegen, stehen und sagte: »Wie spät ist es? Sollten wir nicht zurückgehen?«

Niemand hatte eine Uhr, und sie merkten plötzlich, dass sie keine Ahnung hatten, wie lange sie schon hier waren. Vielleicht war es schon sehr spät, und die Eltern warteten zu Hause. »Kommt«, sagte Peter, »wir wollen uns sofort auf den Weg machen.« Er zog die Handschuhe aus und schlug sie gegeneinander, um den verkrusteten Schnee abzuschütteln. Seine Hände waren rot vor Kälte. Auch Annas Hände waren rot, und sie merkte erst jetzt, dass sie eiskalte Füße hatte.

Auf dem Rückweg war es kalt. Der Wind blies ihnen durch die feuchten Kleider, und da der Mond jetzt hinter Wolken verborgen war, lag der Pfad schwarz vor ihnen. Anna war froh, als sie aus den Bäumen traten und wieder auf der Straße waren. Bald kamen Straßenlaternen, Häuser mit erleuchteten Fenstern, Läden. Sie waren beinahe zu Hause.

Das erleuchtete Zifferblatt einer Kirchturmuhr zeigte ihnen die Zeit. Es war doch noch nicht ganz sieben. Sie seufzten erleichtert auf und gingen jetzt langsamer. Max und Peter fingen an, über Fußball zu sprechen. Marianne band zwei Schlitten aneinander, hüpfte wild auf der leeren Fahrbahn vor ihnen her und hinterließ im Schnee ein Netzwerk sich überschneidender Spuren. Anna humpelte hinterher, weil ihr die kalten Füße wehtaten.

Sie konnte sehen, wie die Jungen vor ihrem Haus stehen blieben; sie redeten immer noch und warteten auf sie, und sie hatte sie fast eingeholt, als sie ein Gartentor knarren hörte. Jemand bewegte sich auf dem Gehsteig neben ihr, und plötzlich wurde eine Gestalt sichtbar. Einen Augenblick war Anna sehr erschrocken, aber dann erkannte sie, dass es nur Fräulein Lambeck in einer kurzen Pelzjacke war. Sie trug einen Brief in der Hand.

»Kleine Anna«, rief Fräulein Lambeck. »Dass ich dir hier im Dunkeln begegne! Ich wollte nur zum Briefkasten gehen und hätte gar nicht erwartet, einen verwandten Geist zu treffen. Und wie geht es deinem lieben Papa?«

»Er hat die Grippe«, sagte Anna automatisch.

Fräulein Lambeck blieb stehen. »Er hat immer noch Grippe, kleine Anna? Du hast mir schon vor einer Woche gesagt, dass er Grippe hat.«

»Ja«, sagte Anna.

»Er liegt immer noch zu Bett? Hat immer noch Fieber?«

»Ja«, sagte Anna.

»Oh, der arme Mann!« Fräulein Lambeck legte ihre Hand auf Annas Schultern. »Wird auch wirklich alles für ihn getan? Kommt der Arzt zu ihm?«

»Ja«, sagte Anna.

»Und was sagt der Arzt?«

»Er sagt … ich weiß es nicht«, antwortete Anna.

Fräulein Lambeck beugte sich vertraulich vor und sah Anna ins Gesicht. »Sag mir, kleine Anna«, sagte sie, »wie hoch ist die Temperatur deines lieben Vaters?«

»Ich weiß es nicht«, schrie Anna, und die Worte klangen gar nicht so, wie sie es eigentlich beabsichtigt hatte. Es war eher eine Art von Quieken. »Verzeihen Sie, aber ich muss jetzt nach Hause!« – und sie rannte so schnell sie konnte auf Max und die geöffnete Haustür zu.

»Was ist los?«, fragte Heimpi in der Diele. »Hat dich jemand aus ’ner Kanone geschossen?«

Anna konnte Mama durch die halb offene Tür des Wohnzimmers sehen. »Mama«, rief sie, »ich hasse es, alle wegen Papa anzulügen. Es ist schrecklich. Warum müssen wir es denn tun? Ich wünschte, das wäre nicht nötig.«

Dann sah sie, dass Mama nicht allein war. Onkel Julius (der nicht wirklich ihr Onkel, sondern ein alter Freund von Papa war) saß in einem Sessel auf der anderen Seite des Zimmers. »Beruhige dich«, sagte Mama in scharfem Ton. »Wir alle hassen es, wegen Papa zu lügen, aber im Augenblick bleibt keine andere Wahl. Ich würde es nicht von dir verlangen, wenn es nicht notwendig wäre.«

»Fräulein Lambeck hat sie sich geschnappt«, sagte Max, der hinter Anna eingetreten war. »Du kennst doch Fräulein Lambeck? Sie ist grässlich. Man kann ihre Fragen nicht beantworten, auch wenn man die Wahrheit sagen darf.«

»Arme Anna«, sagte Onkel Julius mit seiner hellen Stimme. Er war ein sanfter, kleiner und zarter Mann, den sie alle sehr gernhatten. »Euer Vater bittet mich, euch zu sagen, wie sehr er euch beide vermisst, und er lässt euch tausendmal grüßen.«

»Du hast ihn also gesehen?«, fragte Anna.

»Onkel Julius kommt gerade von Prag zurück«, sagte Mama. »Papa geht es gut, und er will, dass wir ihn am Sonntag in Zürich in der Schweiz treffen.«

»Am Sonntag?«, sagte Max. »Aber das ist ja schon in einer Woche. Das ist der Tag der Wahlen. Ich dachte, wir würden abwarten, wer gewinnt?«

»Dein Vater hat beschlossen, dass wir nicht abwarten sollen.«

Onkel Julius lächelte Mama an. »Ich glaube, er nimmt das alles zu ernst.«

»Warum?«, fragte Max. »Was befürchtet er denn?«

Mama seufzte. »Seit Papa davon gehört hat, dass man ihm seinen Pass wegnehmen wollte, hat er Angst, man könnte uns auch unsere Pässe nehmen, und dann können wir nicht mehr aus Deutschland hinaus.«

»Aber warum sollten sie das tun?«, fragte Max. »Wenn die Nazis uns nicht mögen, dann sind sie doch bestimmt froh, uns loszuwerden.«

»Genau«, sagte Onkel Julius. Er lächelte wieder Mama zu. »Dein Mann ist ein wunderbarer Mensch mit einer wunderbaren Einbildungskraft, aber – offen gesagt – ich glaube, in dieser Sache hat er den Kopf verloren. Aber wie auch immer – ihr werdet in der Schweiz herrliche Ferien verbringen, und wenn ihr in ein paar Wochen zurückkommt, gehen wir alle zusammen in den Zoo.« Onkel Julius war Zoologe und ging ständig in den Zoo.

»Lasst mich wissen, wenn ich euch mit irgendetwas behilflich sein kann. Natürlich sehen wir uns noch.« Er küsste Mama die Hand und ging.

»Sollen wir wirklich am Sonntag fahren?«, fragte Anna.

»Am Samstag«, sagte Mama. »Es ist eine lange Reise in die Schweiz. Wir werden unterwegs in Stuttgart übernachten müssen.«

»Dann ist dies unsere letzte Woche in der Schule!«, sagte Max. Es schien unfassbar.

3

Danach ging alles sehr schnell, wie in einem Film, der auf Zeitraffer gestellt ist. Heimpi war den ganzen Tag mit Aussortieren und Packen beschäftigt. Mama war fast immer fort oder sie telefonierte. Sie musste sich um die Vermietung des Hauses kümmern; die Möbel sollten, wenn sie abgefahren waren, eingelagert werden. Jeden Tag, wenn die Kinder aus der Schule kamen, sah das Haus leerer aus.

Eines Tages halfen sie Mama gerade, Bücher zu packen, als Onkel Julius vorbeikam. Er betrachtete die leeren Regale und lächelte: »Die werdet ihr alle wieder einräumen!«

In dieser Nacht erwachten die Kinder vom Lärm der Feuerwehrwagen. Es war nicht nur einer oder zwei, sondern mindestens ein Dutzend, die mit lautem Schellengeklingel die Hauptstraße entlangkamen. Als sie aus dem Fenster schauten, war der Himmel über der Innenstadt von Berlin leuchtend orangerot.

Am nächsten Morgen redete jeder von dem Feuer, das den Reichstag zerstört hatte, das Gebäude, in dem das deutsche Parlament zusammentrat. Die Nazis sagten, das Feuer sei von Revolutionären gelegt worden und die Nazis seien die Einzigen, die solche Vorkommnisse verhindern könnten – daher müsse ihnen jeder bei den Wahlen seine Stimme geben. Aber Mama hörte, dass die Nazis selber das Feuer gelegt hätten.

Als Onkel Julius an diesem Nachmittag kam, sagte er zum ersten Mal nichts davon, dass Mama in ein paar Wochen wieder in Berlin sein werde.

Die letzten Tage, die Anna und Max in der Schule verbrachten, waren sehr seltsam. Da sie niemandem von ihrer Abreise erzählen durften, vergaßen sie es während der Schulstunden selbst immer wieder. Anna freute sich, als sie eine Rolle in einem Stück bekam, das in der Schule aufgeführt werden sollte, und es fiel ihr erst später ein, dass sie in Wirklichkeit nie darin auftreten würde. Max nahm die Einladung zu einer Geburtstagsgesellschaft an, an der er nie würde teilnehmen können. Dann kamen sie nach Hause in die immer leereren Zimmer mit den Holzkisten und Koffern, zum endlosen Aussortieren von Besitztümern. Am schwierigsten fiel es ihnen zu entscheiden, was von den Spielsachen mitgenommen werden sollte. Sie wollten natürlich die Spielesammlung mitnehmen, aber sie war zu groß. Am Ende blieb nur Platz für ein paar Bücher und eines von Annas Stofftieren. Sollte sie sich für das rosa Kaninchen entscheiden, das ihr Spielgefährte gewesen war, solange sie sich erinnern konnte, oder für ein neues wolliges Hündchen? Es war doch schade, den Hund zurückzulassen, da sie noch kaum Zeit gehabt hatte, mit ihm zu spielen, und Heimpi packte ihn ihr ein. Max nahm seinen Fußball mit. Mama sagte, wenn es sich herausstellen sollte, dass sie sehr lange in der Schweiz bleiben müssten, könnte man jederzeit Sachen nachschicken lassen.

Als am Freitag die Schule aus war, ging Anna zu ihrer Lehrerin und sagte ruhig: »Ich komme morgen nicht in die Schule. Wir fahren in die Schweiz.«

Fräulein Schmidt schien gar nicht so überrascht, wie Anna das erwartet hatte, sondern nickte nur und sagte: »Ja … ja … ich wünsche dir Glück.«

Auch Elsbeth schien nicht sehr interessiert. Sie sagte, sie wünschte, sie könnte auch in die Schweiz fahren, aber das wäre nicht sehr wahrscheinlich, weil ihr Vater bei der Post arbeitete. Am schwersten war es, sich von Günther zu trennen. Nachdem sie zum letzten Mal zusammen aus der Schule gekommen waren, brachte Max ihn mit zum Mittagessen, obgleich es nur Butterbrote gab, denn Heimpi hatte keine Zeit gehabt zu kochen. Nachher spielten sie ziemlich lustlos Verstecken zwischen den gepackten Kisten. Es machte keinen Spaß, denn Max und Günther waren so bedrückt, und Anna musste sich Mühe geben, um ihre Aufregung zu unterdrücken. Sie hatte Günther gern und es tat ihr leid, ihn zu verlassen. Aber sie konnte immer nur denken: Morgen um diese Zeit sitzen wir schon im Zug … am Sonntag um diese Zeit sind wir in der Schweiz … und am Montag um diese Zeit …?

Schließlich musste Günther nach Hause. Heimpi hatte während des Packens eine Menge Kleidungsstücke für seine Mutter aussortiert, und Max ging mit ihm, um ihm tragen zu helfen. Als er zurückkam, schien er fröhlicher. Er hatte solche Angst davor gehabt, von Günther Abschied nehmen zu müssen. Nun war wenigstens das vorüber.

Am nächsten Morgen waren Max und Anna fertig, lange bevor es Zeit war zu gehen. Heimpi sah nach, ob ihre Nägel sauber waren, ob beide ein Taschentuch hatten – Anna bekam zwei, denn sie war etwas erkältet – und ob ihre Socken ordentlich durch Gummibänder hochgehalten wurden.

»Gott weiß, wie ihr allein zurechtkommen wollt«, brummte sie.

»Aber in vierzehn Tagen sind wir doch wieder zusammen«, sagte Anna.

»In vierzehn Tagen kann sich ganz schön Dreck auf einem Hals festsetzen«, sagte Heimpi düster.

Dann gab es bis zur Ankunft des Taxis nichts mehr zu tun. »Wir wollen noch einmal durch das Haus gehen«, sagte Max. Sie fingen ganz oben an und gingen von dort nach unten. Alles sah ganz verändert aus. Alle kleineren Gegenstände waren verpackt worden; Teppiche waren aufgerollt, und überall standen Kisten, Zeitungspapier lag herum. Sie gingen von einem Raum in den andern und riefen: »Auf Wiedersehn, Papas Schlafzimmer … auf Wiedersehn, Flur … auf Wiedersehn, Treppe …«

»Werdet mir nicht zu aufgeregt«, sagte Mama, als sie an ihr vorbeikamen.

»Auf Wiedersehn, Diele … auf Wiedersehn, Wohnzimmer …« Sie kamen zum Ende, da rief Max: »Auf Wiedersehn, Klavier … auf Wiedersehn, Sofa«, und Anna fiel ein mit: »Auf Wiedersehn, Vorhänge … auf Wiedersehn, Esstisch … auf Wiedersehn, Durchreiche …!«

Gerade als sie rief: »Auf Wiedersehn, Durchreiche!«, öffneten sich die beiden kleinen Klappen, und Heimpi streckte von der Küchenseite her den Kopf hindurch. Plötzlich zog sich Annas Magen zusammen. Genau das hatte Heimpi manchmal getan, um Anna zu amüsieren, als sie noch klein war. Sie hatten ein Spiel gespielt, das »durch die Durchreiche gucken« hieß, und Anna hatte es geliebt. Wie konnte sie einfach so weggehen? Wider Willen füllten sich ihre Augen mit Tränen, und sie rief etwas ganz Unvernünftiges: »Oh Heimpi, ich will nicht von dir und der Durchreiche weggehen!«

»Ich kann ja wohl schlecht die Durchreiche in meinen Koffer packen«, sagte Heimpi und kam ins Esszimmer.

»Kommst du auch bestimmt in die Schweiz?«

»Ich wüsste nicht, was ich sonst tun sollte«, sagte Heimpi. »Deine Mama hat mir den Fahrschein gegeben, und ich habe ihn in meinem Portmonee.«

»Heimpi«, sagte Max, »wenn du plötzlich feststellst, dass du noch sehr viel Platz in deinem Koffer hast – nur für den Fall, versteht sich –, glaubst du, dass du dann die Spielesammlung mitbringen könntest?«

»Wenn … wenn … wenn …«, sagte Heimpi. »Wenn meine Großmutter Räder hätte, wäre sie ein Omnibus.« Das war das, was sie immer sagte.

Dann läutete die Türklingel. Das Taxi war da, und es blieb keine Zeit mehr. Anna umarmte Heimpi. Mama sagte: »Vergessen Sie nicht, dass am Montag die Männer wegen des Klaviers kommen«, und dann umarmte auch sie Heimpi. Max konnte seine Handschuhe nicht finden und hatte sie dann doch in der Tasche. Bertha weinte, und der Mann, der sich um den Garten kümmerte, war plötzlich da und wünschte ihnen gute Reise.

Gerade als das Taxi abfahren wollte, kam eine kleine Gestalt angerannt, die etwas in der Hand trug. Es war Günther. Er drückte Max durchs Fenster ein Paket in die Hand und sagte etwas von seiner Mama, das man nicht verstehen konnte, weil das Taxi gerade anfuhr. Max schrie laut: »Auf Wiedersehn«, und Günther winkte. Dann fuhr das Taxi langsam die Straße hinauf. Anna konnte noch das Haus sehen und Heimpi und Günther, die winkten … sie konnte immer noch ein Stückchen vom Haus sehen … am Ende der Straße fuhren sie an den Kentner’schen Kindern vorbei, die zur Schule gingen. Sie sprachen miteinander und blickten nicht auf. Sie konnte immer noch ein Eckchen vom Haus durch die Bäume hindurch sehen … dann fuhr das Taxi um die Ecke, und jetzt war das Haus endgültig verschwunden.

Es war seltsam, mit Mama und ohne Heimpi in einem Zug zu sitzen. Anna war ein wenig besorgt, dass ihr schlecht werden könnte. Als sie klein war, war ihr im Zug immer übel geworden, und selbst jetzt, da sich das ausgewachsen hatte, nahm Heimpi immer für alle Fälle eine Papiertüte mit. Hatte Mama eine Papiertüte?

Der Zug war sehr besetzt, und Anna und Max waren froh, dass sie Fensterplätze hatten.

Sie blickten beide in die graue Landschaft hinaus, die vorüberflog, bis es zu regnen begann. Dann beobachteten sie die Regentropfen, die gegen die Scheibe klatschten und langsam nach unten rannen, aber auch das wurde nach einiger Zeit langweilig. Was nun? Anna betrachtete Mama aus dem Augenwinkel. Heimpi hatte in solchen Fällen immer ein paar Äpfel oder Süßigkeiten bei sich. Mama hatte sich in ihrem Sitz zurückgelehnt. Sie hatte die Mundwinkel heruntergezogen und starrte auf die Glatze des Herrn, der ihr gegenübersaß. Auf dem Schoß hielt sie die große Handtasche, auf der ein Kamel abgebildet war und die sie von einer Reise mit Papa mitgebracht hatte. Sie hielt die Tasche sehr fest. Anna vermutete, weil die Fahrkarten und die Pässe darin waren. Sie hielt sie so fest, dass einer ihrer Finger sich tief in das Gesicht des Kamels hineinbohrte.

»Mama«, sagte Anna, »du zerquetschst das Kamel.«

»Was?«, fragte Mama. Dann merkte sie, was Anna meinte, und lockerte ihren Griff. Das Gesicht des Kamels wurde frei, und zu Annas Erleichterung sah es genauso dumm und hoffnungsvoll aus wie sonst.

»Langweilst du dich?«, fragte Mama. »Wir fahren durch ganz Deutschland hindurch. So eine lange Reise habt ihr noch nie gemacht. Hoffentlich hört der Regen bald auf, damit ihr draußen alles sehen könnt.«

Dann erzählte sie ihnen von den Obstgärten in Süddeutschland – Obstgärten über Kilometer hin. »Wenn wir nur diese Reise später im Jahr hätten machen können«, sagte sie, »dann hättet ihr sie blühen sehen.«

»Vielleicht sind wenigstens ein paar Blüten schon raus«, sagte Anna.

Aber Mama meinte, es sei noch zu früh, und der kahle Mann stimmte ihr zu. Dann sagten sie, wie schön es wäre, und Anna wünschte, sie könnte es sehen.

»Wenn die Blüten jetzt noch nicht heraus sind«, sagte sie, »können wir sie denn ein andermal sehen?«

Mama antwortete nicht sofort. Dann sagte sie: »Ich hoffe es.« Der Regen ließ nicht nach, und sie verbrachten eine lange Zeit mit Ratespielen, in denen, wie sich herausstellte, Mama sehr gut war. Obgleich sie vom Land nicht viel sehen konnten, bemerkten sie doch eine Veränderung in den Stimmen der Menschen, jedes Mal wenn der Zug hielt. Manche waren kaum zu verstehen, und Max kam auf die Idee, unnötige Fragen zu stellen, zum Beispiel: »Ist das Leipzig?« oder »Wie spät ist es?«, nur um die Antwort in dem fremden Akzent zu hören.

Sie aßen im Speisewagen zu Mittag.

Es war großartig, mit einer Speisekarte, von der man wählen konnte, und Anna aß Würstchen mit Kartoffelsalat, das war ihr Lieblingsgericht. Ihr war überhaupt nicht übel.

Später am Nachmittag ging sie mit Max durch den ganzen Zug, von einem Ende zum andern. Dann blieben sie im Gang stehen. Es regnete immer heftiger, und die Dämmerung kam sehr früh. Selbst wenn die Obstgärten in Blüte gestanden hätten, hätten sie es nicht sehen können. Annas Kopf schmerzte, und die Nase begann zu laufen, als wollte sie mit dem Regen draußen Schritt halten. Sie rückte sich auf ihrem Platz zurecht und wünschte, sie wären in Stuttgart.

»Warum siehst du dir Günthers Buch nicht an?«, sagte Mama. In Günthers Paket waren zwei Geschenke gewesen. Das eine, das Günther für Max bestimmt hatte, war ein Geschicklichkeitsspiel – eine kleine durchsichtige Dose, auf deren Boden sich das Bild eines Drachen mit offenem Rachen befand. Man musste drei winzige Bällchen in das offene Maul bugsieren. Das war in einem fahrenden Zug sehr schwierig.

Das andere war ein Buch für beide Kinder von Günthers Mutter. Es hieß: »Sie wurden berühmt«, und sie hatte hineingeschrieben: »Vielen Dank für all die schönen Sachen – etwas zum Lesen für die Reise.« Das Buch beschrieb die Jugend verschiedener Menschen, die berühmt geworden waren, und Anna, die sich für dieses Thema interessierte, hatte es zuerst eifrig durchgeblättert. Aber es war so langweilig geschrieben, der Ton war so belehrend, dass sie allmählich die Lust verlor. All den berühmten Leuten war es schlecht ergangen. Der eine hatte einen Vater, der trank. Ein anderer stotterte. Noch ein anderer musste Hunderte von schmutzigen Flaschen waschen. Sie hatten alle eine schwere Kindheit gehabt. Offenbar musste man eine schwere Kindheit haben, wenn man berühmt werden wollte.

Sie döste in ihrer Ecke und wischte sich die Nase mit ihren beiden durchnässten Taschentüchern und wünschte, dass sie bald nach Stuttgart kämen und dass sie eines Tages doch noch berühmt würde. Und während der Zug in der Dunkelheit durch Deutschland ratterte, ging es ihr immer wieder durch den Kopf: »Schwere Kindheit … schwere Kindheit … schwere Kindheit … schwere Kindheit …«

4

Plötzlich fühlte Anna, dass sie sanft geschüttelt wurde. Sie musste eingeschlafen sein. Mama sagte: »Also, in ein paar Minuten sind wir in Stuttgart.«

Anna zog verschlafen den Mantel an, und bald saßen sie und Max vor dem Eingang des Stuttgarter Bahnhofs auf den Koffern, während Mama nach einem Taxi suchte. Es regnete immer noch in Strömen, der Regen trommelte auf das Bahnhofsdach und fiel wie ein durchsichtiger Vorhang zwischen ihnen und dem dunklen Platz vor ihnen. Es war kalt.

Schließlich kam Mama zurück. »Was für eine Stadt!«, rief sie. »Hier ist ein Streik ausgebrochen, und es verkehren keine Taxis. Aber seht ihr das blaue Zeichen dort drüben?«

Auf der anderen Seite des Bahnhofsvorplatzes flimmerte es blau durch die Nacht. »Das ist ein Hotel«, sagte Mama. »Wir nehmen nur mit, was wir für die Nacht brauchen, und laufen durch den Regen, so schnell wir können.«

Das große Gepäck wurde aufgegeben, dann kämpften sie sich über den Bahnhofsplatz hinüber. Anna trug einen Koffer, der ihr dauernd gegen die Beine schlug, und der Regen fiel so dicht, dass sie kaum etwas sah. Einmal trat sie in eine tiefe Pfütze und machte sich die Füße ganz nass. Aber schließlich waren sie doch im Trockenen. Mama bestellte Zimmer, und dann aßen sie und Max etwas. Anna war zu müde. Sie ging sofort zu Bett und schlief gleich ein.

Als sie am Morgen aufstanden, war es noch dunkel.

»Bald werden wir Papa sehen«, sagte Anna, als sie im spärlich beleuchteten Speisesaal frühstückten. Es war noch niemand auf, und der Kellner mit den verschlafenen Augen schien ihnen die altbackenen Brötchen und den Kaffee, den er vor sie hinknallte, zu missgönnen. Mama wartete, bis er wieder in die Küche gegangen war. Dann sagte sie: »Bevor wir nach Zürich kommen und Papa treffen, müssen wir die Grenze zwischen Deutschland und der Schweiz überqueren.«

»Müssen wir aus dem Zug aussteigen?«, fragte Max.

»Nein«, sagte Mama. »Wir bleiben in unserem Abteil, und dann kommt ein Mann und sieht sich unsere Pässe an. Genau wie ein Fahrkartenkontrolleur. Aber« – und sie blickte jedem der Kinder in die Augen – »das ist sehr wichtig: Wenn der Mann kommt, um unsere Pässe anzusehen, dann will ich, dass keiner von euch ein Wort sagt. Versteht ihr? Nicht ein Wort.«

»Warum nicht?«, fragte Anna.

»Weil der Mann sonst sagen könnte: Was für ein schrecklich schwatzhaftes Mädchen, ich nehme ihr lieber den Pass ab«, sagte Max, der immer schlecht gelaunt war, wenn er nicht genug geschlafen hatte.

»Mama«, rief Anna flehend, »das würde er doch nicht tun – ich meine, unsere Pässe wegnehmen?«

»Nein … nein, vermutlich nicht«, sagte Mama. »Aber für alle Fälle – Papas Name ist recht bekannt – und wir wollen in keiner Weise die Aufmerksamkeit auf uns lenken. Wenn der Mann also kommt – kein Wort. Denkt daran – nicht ein einziges, winziges Wort!«

Anna versprach, daran zu denken.

Es hatte endlich aufgehört zu regnen, und es war ganz leicht, den Platz vor dem Bahnhof zu überqueren. Der Himmel fing gerade an, hell zu werden, und nun konnte Anna überall die Wahlplakate sehen. Ein paar Leute standen vor einem Haus, das als Wahllokal gekennzeichnet war, und warteten darauf, dass es geöffnet wurde. Anna fragte sich, für wen sie wohl stimmen würden.

Der Zug war beinahe leer, und sie hatten ein Abteil für sich, bis an der nächsten Station eine Frau mit einem Korb einstieg. Anna konnte in dem Korb etwas rumoren hören – es musste etwas Lebendiges darin sein. Anna blickte Max an, um herauszufinden, ob es ihm auch aufgefallen sei, aber er hatte immer noch schlechte Laune und schaute mit gerunzelter Stirn zum Fenster hinaus. Auch Anna wurde verdrießlich, und es fiel ihr ein, dass ihr der Kopf wehtat und ihre Stiefel immer noch vom gestrigen Regen feucht waren.

»Wann kommen wir zur Grenze?«, fragte sie.

»Ich weiß nicht«, sagte Mama. »Es dauert noch eine Weile.«

Anna bemerkte, dass ihre Finger sich wieder in das Gesicht des Kamels eindrückten.

»Vielleicht in einer Stunde? Was meinst du?«, fragte Anna.

»Immer musst du Fragen stellen«, sagte Max, obwohl es ihn gar nichts anging. »Warum kannst du nicht den Mund halten?«

»Warum kannst du’s nicht?«, sagte Anna. Sie war tief beleidigt und suchte nach etwas, womit sie ihn verletzen könnte. Schließlich platzte sie heraus: »Ich wünschte, ich hätte eine Schwester!«

»Ich wünschte, ich hätte keine«, sagte Max.

»Mama!«, wimmerte Anna.

»Oh, um Himmels willen, hört auf!«, rief Mama. »Haben wir nicht schon Sorgen genug?« Sie umklammerte die Tasche mit dem Kamel und schaute immer wieder hinein, um zu sehen, ob die Pässe noch da waren.

Anna zappelte missmutig auf ihrem Sitz herum. Alle Leute waren grässlich. Die Frau mit dem Korb hatte ein großes Stück Brot mit Schinken herausgezogen und aß es.

Lange Zeit sagte keiner ein Wort. Dann begann der Zug langsamer zu fahren.

»Entschuldigen Sie«, fragte Mama, »kommen wir jetzt an die Schweizer Grenze?«

Die Frau mit dem Korb schüttelte kauend den Kopf.

»Da siehst du es«, sagte Anna zu Max, »Mama stellt auch Fragen.«

Max machte sich nicht einmal die Mühe, ihr zu antworten, sondern verdrehte nur die Augen. Anna hätte ihm gern einen Tritt versetzt, aber das hätte Mama bemerkt.

Der Zug hielt und fuhr wieder an, hielt und fuhr wieder an. Jedes Mal fragte Mama, ob dies die Grenze sei, und jedes Mal schüttelte die Frau mit dem Korb den Kopf. Schließlich, als der Zug wieder einmal langsam fuhr und einige Gebäude in Sicht waren, sagte die Frau mit dem Korb: »Ich glaube, jetzt kommen wir gleich hin.«

Sie warteten schweigend, während der Zug in der Station hielt. Anna konnte Stimmen hören und wie die Türen anderer Abteile geöffnet und geschlossen wurden. Dann kamen Schritte den Gang entlang, die Tür ihres eigenen Abteils wurde aufgestoßen, und der Passkontrolleur kam herein. Er trug eine Uniform, die der eines Schaffners glich, und hatte einen großen braunen Schnurrbart.

Er blickte in den Pass der Frau mit dem Korb, nickte, stempelte ihn mit einem kleinen Gummistempel und gab ihn ihr zurück. Dann wandte er sich an Mama. Mama reichte ihm die Pässe und lächelte. Aber die Hand, die jetzt die Tasche hielt, krallte sich wie in einem Krampf in den Kopf des Kamels.

Der Mann prüfte die Pässe. Er schaute Mama an und verglich ihr Gesicht mit dem auf dem Passfoto, dann musterte er Max und Anna. Er zückte schon seinen Gummistempel. Plötzlich schien ihm etwas einzufallen, und er sah sich die Pässe noch einmal an. Endlich stempelte er sie und gab sie Mama zurück. »Gute Reise«, sagte er, während er die Tür aufschob.

Nichts war geschehen. Max hatte sie ganz umsonst erschreckt. »Da siehst du …«, rief Anna, aber Mama warf ihr einen Blick zu, der sie sofort verstummen ließ.

Der Passkontrolleur schloss die Tür hinter sich. »Wir sind immer noch in Deutschland«, sagte Mama.

Anna fühlte, wie sie krebsrot wurde. Mama steckte die Pässe in die Tasche zurück. Es herrschte Schweigen. Anna hörte wieder das Kratzen im Korb, die Frau kaute an einem zweiten Schinkenbrot, Türen öffneten und schlossen sich weiter hinten im Zug. Es schien ewig zu dauern.

Dann fuhr der Zug wieder an. Er rollte ein paar Hundert Meter weiter und hielt wieder. Wieder wurden Türen geöffnet und geschlossen. Diesmal ging es schneller. Stimmen sagten: »Zoll … haben Sie etwas zu deklarieren …?« Ein anderer Mann kam ins Abteil. Mama und die Frau sagten beide, sie hätten nichts zu verzollen, und er machte ein Zeichen mit Kreide auf alle Gepäckstücke, auch auf den Korb der Frau. Noch einmal warteten sie, dann ertönte ein Pfiff, und schließlich fuhren sie wieder. Diesmal erhöhte sich die Geschwindigkeit des Zuges, und schließlich ratterte er gleichmäßig durch die Landschaft.

Nach langer Zeit fragte Anna: »Sind wir jetzt in der Schweiz?«

»Ich glaube ja. Ich bin nicht sicher«, sagte Mama.

Die Frau mit dem Korb hörte auf zu kauen. »Oh ja«, sagte sie gemütlich, »das ist die Schweiz. Wir sind jetzt in der Schweiz – das ist mein Land.«

Es war herrlich.

»Schweiz«, sagte Anna. »Wir sind wirklich in der Schweiz.«

»Es wurde auch Zeit«, sagte Max und grinste.

Mama stellte die Tasche mit dem Kamel neben sich auf den Sitz und lächelte.

»Also«, sagte sie, »jetzt werden wir bald bei Papa sein.«

Anna kam sich plötzlich ganz komisch und wie beschwipst vor. Sie wollte unbedingt irgendetwas Besonderes und Aufregendes sagen oder tun, es fiel ihr aber nichts ein – so wandte sie sich schließlich an die Schweizerin und fragte: »Entschuldigen Sie, aber was haben Sie da in Ihrem Korb?«

»Das ist mein Büssi«, sagte die Frau mit der weichen Stimme. Anna fand das Wort schrecklich komisch. Sie verbiss sich das Lachen, schaute zu Max hinüber und sah, dass er sich beinahe vor unterdrücktem Lachen wälzte.

»Was … was ist ein Büssi?«, fragte Anna, aber die Frau hatte schon den Deckel des Korbes auf einer Seite hochgeschlagen, und bevor sie antworten konnte, ertönte ein helles »Iiii…« und der Kopf eines struppigen schwarzen Katers streckte sich aus der Öffnung.

Anna und Max konnten sich nicht mehr halten. Sie schüttelten sich vor Lachen.

»Er hat dir geantwortet«, japste Max. »Du hast gesagt: ›Was ist ein Büssi?‹ und er hat gesagt: …«

»Iiich!«, kreischte Anna.

»Kinder, Kinder!«, sagte Mama, aber es war zwecklos, sie konnten nicht aufhören zu lachen. Sie lachten über alles, was sie sahen, die ganze Fahrt bis nach Zürich. Mama entschuldigte sich bei der Frau, aber die sagte, es störe sie nicht, sie habe nichts gegen gute Laune. Jedes Mal wenn das Gelächter aufhörte, brauchte Max nur zu sagen: »Was ist ein Büssi?«, und Anna rief: »Iiich!«, und wieder platzten sie los. Sie lachten immer noch, als sie in Zürich auf dem Bahnsteig standen und nach Papa Ausschau hielten.

Anna sah ihn zuerst. Er stand neben einem Kiosk. Sein Gesicht war blass, und er betrachtete ängstlich und angespannt die Leute, die mit dem Zug angekommen waren.

»Papa«, schrie sie, »Papa!«

Er drehte sich um und sah sie. Und dann fing Papa, der immer so würdig wirkte und nie etwas in Hast tat, plötzlich an zu laufen. Er legte die Arme um Mama und drückte sie an sich. Dann umarmte er Anna und Max. Er drückte sie alle an sich und wollte sie nicht loslassen.

»Ich konnte euch nicht entdecken«, sagte Papa. »Ich hatte Angst …«

»Ich weiß«, sagte Mama.

5

Papa hatte im besten Hotel von Zürich Zimmer für sie reserviert. Im Hotel gab es eine Drehtür, dicke Teppiche und überall viel Gold. Da es erst zehn Uhr morgens war, frühstückten sie noch einmal, während sie über alles redeten, was geschehen war, nachdem Papa Berlin verlassen hatte.

Zuerst schien es so, als hätten sie ihm unendlich viel zu erzählen, aber bald fanden sie, dass es schön war, einfach zusammen zu sein, ohne überhaupt etwas zu sagen. Während Anna und Max sich durch zwei verschiedene Arten von Brötchen und vier verschiedene Sorten von Marmelade hindurchaßen, saßen Papa und Mama einfach da und lächelten einander an. Immer wieder fiel ihnen irgendetwas ein. Papa fragte: »Hast du die Bücher mitbringen können?« Oder Mama sagte: »Die Zeitung hat angerufen, sie wollen, wenn möglich, noch in dieser Woche einen Artikel von dir haben.« Aber dann verfielen sie wieder in ihr zufriedenes Lächeln.

Schließlich hatte Max den letzten Tropfen seiner heißen Schokolade ausgetrunken, sich die letzten Brötchenkrümel von den Lippen gewischt und fragte: »Was sollen wir jetzt machen?« Irgendwie hatte niemand daran gedacht.

Nach einer Weile sagte Papa: »Kommt, wir wollen uns Zürich ansehen.« Sie stiegen zuallererst auf einen Berg. Der Hang war so steil, dass man mit einer Zahnradbahn hinauffahren musste. Das war eine Art von Aufzug auf Rädern, der in einem beängstigenden Winkel nach oben stieg. Anna war noch nie in einer solchen Bahn gewesen. Sie spürte eine Art Erregung, ab und zu warf sie auch ängstliche Blicke auf das Kabel, um zu schauen, ob es Zeichen von Verschleiß zeige.

Vom Gipfel des Hügels konnte man sehen, dass Zürich sich an einem Ende eines riesigen blauen Sees zusammendrängte. Der See war so