Als Johanna träumte - Petjo Bangeow - E-Book

Als Johanna träumte E-Book

Petjo Bangeow

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Beschreibung

"Als Johanna träumte" ist ein Roman, der die Kehrseite der Transgenderbewegung thematisiert. Eine begleitende Psychotherapie von Transsexuellen stellt für Betroffene, Ärzte und Psychotherapeuten meist nur eine Formalität dar, um die Voraussetzungen für eine Hormonbehandlung zu erfüllen. Das kann fatale Folgen haben! Denn vor allem durch das Nicht-Wahrnehmen von den eigentlichen psychologischen Nöten von Heranwachsenden entsteht nicht selten ein Schaden. Dabei bietet die Psychotherapie die idealen Rahmenbedingungen, um die eigene identitäre Orientierungslosigkeit besser zu verstehen und eine Lösung für diese sichtbar zu machen. Der Roman beschreibt einen solchen Therapieprozess eines pubertären Mädchens, welches sich als Junge identifiziert. Im Zuge ihrer Therapie erfährt sie, welche übergeordnete Funktion ihre Transsexualität in der vulnerablen Zeit ihrer Pubertät hat. Ein geflüchteter Vater, eine geringe soziale Integration, eine emotional wenig präsente Mutter und eine tiefsitzende Selbstablehnung sind zentrale Themen, mit welchen sich die Protagonistin lernt in der Therapie auseinanderzusetzen. Ein nervenaufreibender Prozess, der mit einer bitteren Erkenntnis endet. Aus der Erzählperspektive der Protagonistin wird die psychologische Innenansicht des typischen transsexuellen Heranwachsenden skizziert, wie sie der Autor aus seiner langjährigen Erfahrung als Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut bereits vielfach beobachtete.

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Seitenzahl: 333

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Gewidmet meiner geliebten Mutter,

Elvira Bangeow

21.2.1950 – 12.3.2023

Inhalt

Vorwort

1. Die frühe Enttäuschung

2. Eine Erschütterung

3. Die Tragik eines Missverständnisses

4. Ein Herz außer Kontrolle

5. Das Wiedersehen

6. Zwischen Sehnsucht und Hass

7. Die erste Selbstbetrachtung

8. Intime Nähe, enttäuschte Lust

9. Von der Hoffnung auf Annäherung

10. Eine tiefe Betrachtung

11. Unerwartete Irritationen

12. Zwischen Vertrauen und Verrat

13. Beziehungskarussell

14. Tiefgehende Erkenntnisse

15. Das böse Erwachen

Epilog

Glossar

Danksagungen

Vorwort

Es ist etwas mehr als ein Jahr her, als ich einen Artikel in einer Fachzeitschrift publiziert hatte, in welchem ich meine Erfahrungen in der psychotherapeutischen Arbeit mit transsexuellen Heranwachsenden darlegte und Hypothesen daraus ableitete, welche psychologischen Mechanismen sich hinter einer Transsexualität verbergen können. Ich hatte betont, keine wissenschaftliche Fundiertheit für meine Hypothesen vortragen zu können, sondern lediglich meine Beobachtungen mit Kollegen teilen und Handlungsempfehlungen aussprechen zu wollen. Ich sprach mich vor allem dafür aus, Transsexualität gerade wegen der wichtigen Entstigmatisierung mit professioneller Sachlichkeit zu behandeln. Das impliziert auch kein von Ideologie geprägtes Handeln in die Diagnostik und Therapie mit Betroffenen einzubringen, sondern die nötige therapeutische Neutralität zu bewahren. Als vermeintlich lösungsorientierter Umgang wird in der Praxis die Medikamentierung der Betroffenen mit Pubertätsblockern forciert, gleichwohl der Einsatz dieser Medikamente in einigen europäischen Ländern wie Frankreich, Schweden oder England nicht mehr so unkritisch betrachtet wird, wie es jüngst der Fall war. Psychologische Indikationsschreiben, die als eine Voraussetzung für eine Hormontherapie zu sehen sind, stellen in der Praxis, zumindest nach meinen Beobachtungen, des Öý fteren lediglich >Gutachtenattrappen< dar. Dass Kollegen bereit sind, pseudogutachtlich positiv für teils irreversible medizinische Eingriffe zu bescheiden, lässt eine ideologiegeprägte Haltung anmuten. Auf diesen Missstand, welcher nicht nur gegen die für Psychotherapeuten geltende Sorgfaltspflicht verstößt, sondern grobfahrlässig mit den Schicksalen vieler junger Menschen umgeht, machte ich in meinem Artikel aufmerksam. Argumentativ stützte ich meine Ausführungen auf einen Artikel, der einige Wochen zuvor im Deutschen Aý rzteblatt erschienen war.

Nachdem mein Artikel zwei Tage in der Önlineversion verfügbar war, rief mich eine Kollegin aus dem Redaktionsbeirat der Fachzeitschrift an, die ich sehr schätze. Sie erklärte mir, dass es aus der Kollegenschaft Aufregung über meinen Artikel gegeben habe. Mails und Anrufe hätten die Redaktion erreicht, in denen man sich empört wegen meiner Ausführungen gezeigt habe. Zugleich bekam ich selbst einige Mails von Kollegen, denen es ein Anliegen war, mich zu beleidigen. Kollegen, die mir meine Expertise absprachen, ohne mit mir jemals in einen fachlichen Diskurs gegangen zu sein. Andere Kollegen wiederum schrieben mir Mails, in denen das andere Extrem eingenommen wurde; quasi >Anti-Trans<-Parolen. Und all das als Reaktionen auf einen Artikel, in welchem ich für mehr Sachlichkeit und weniger ideologische Aufladung plädierte. Insofern bekräftigte mich diese Erfahrung darin, dass das Thema Transsexualität polarisiert. Auch unter Psychotherapeuten.

Nur mit einzelnen Kollegen war ein fachlicher Austausch zu meiner Arbeit möglich. Die große Mehrheit dieser Kollegen lobte meine Beobachtungen und Schlussfolgerungen, die ich zog. Einige wenige teilten mir ihre eigenen Erfahrungen und Ansichten aus der Arbeit mit transsexuellen Patienten mit, die von meinen abwichen. Und genau darum sollte es gehen. Verschiedene Sichtweisen zu einem Thema zu bündeln und durch die Argumentationen des Gegenübers ggf. eine Erweiterung seiner eigenen Sicht auf die Dinge zu erfahren, anstatt sich kontroversen Meinungen von vornherein zu verschließen. Ganz im Sinne von Hegel, nach welchem eine These und eine Antithese zu einer Synthese führen. Manchmal scheint es so, als sei uns eine gesunde Diskussionskultur abhandengekommen. Ein Begriff, der einen sachlichen Diskurs zum Thema Transsexualität fast unmöglich macht, ist der Begriff transphob. Andersdenkenden eine pathologische Angst als Motiv für ihre Sichtweise zu unterstellen, obwohl sie eventuell rationale Gründe vortragen könnten, warum sie die Dinge anders sehen, gleicht einer Diskreditierung. So wie ich sie erfahren habe. Diese besorgniserregende Dynamik hat mich dazu inspiriert dieses Buch zu schreiben.

Als Johanna träumte beschreibt die Geschichte eines transsexuellen jungen Menschen, weshalb sie nicht für alle Transsexuellen als repräsentativ zu sehen ist. Aber sie beschreibt die psychologische Innenansicht eines Betroffenen, wie ich sie vielfach aus der Perspektive als Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut beobachten und über viele Jahre hinweg begleiten konnte. Die Begegnungen mit transsexuellen Jugendlichen in meiner Praxis erfahre ich oft als bereichernd. Sowohl aus fachlicher als auch aus menschlicher Sicht. Es sind in der Regel intelligente, kreative und fantasiereiche junge Menschen, mit denen sich psychotherapeutisch gut arbeiten lässt. Es sind in sozialer und emotionaler Hinsicht aber auch zumeist bedürftige Menschen, die nicht selten eine lange Geschichte von Vernachlässigung, Missbrauch oder Ausgrenzung mit in die Therapie bringen.

Dieses Buch soll Betroffene, Kollegen und Interessierte dazu anregen, aus einem anderen Verständnis heraus über Transsexualität nachzudenken. Wichtig ist zu betonen, dass ich mich in diesem Buch auf eine spezifische Form der Transsexualität beziehen möchte; die juvenile Transsexualität, die sich, wie der Name bereits verrät, auf Heranwachsende bezieht. Das Buch soll verdeutlichen, dass Transsexualität ein Lösungsversuch für innerpsychische Konflikte darstellen kann. Transsexualität kann auf negativen Beziehungserfahrungen basieren, die mit einer chronischen emotionalen Vernachlässigung oder einer offenkundigen Ablehnung durch Mitmenschen verbunden sind. In diesem Zusammenhang soll gezeigt werden, dass Transsexualität nicht zwangsweise den Grund für eine soziale Ausgrenzung darstellt, sondern auch als Reaktion auf eine unzureichende soziale Integrität verstanden werden kann. Selbstwertstörungen können den Wunsch heranwachsen lassen, nicht mehr die (selbst-) abgelehnte Person sein zu müssen. Und die arrivierte Transgenderbewegung öffnet diese Tür. In diesem Kontext, so soll verdeutlicht werden, kann Transsexualität eine übergeordnete Funktion in einem Lebensabschnitt junger Heranwachsender haben; quasi als überlebenswichtige transitorische Phase. Diese ist mitunter durch eine extreme Fokussierung auf die Autonomie gekennzeichnet, indem ausschließlich Ich definiere wer und was ich bin. Die Autonomiefixierung zieht nach sich, dass (sowohl seitens der Gesellschaft, als auch seitens der Transsexuellen selbst) eine Abgrenzung zu Nicht-Transsexuellen stets überbetont wird (>Du bist ganz anders als die anderen< bzw. >Ich bin ganz anders als die anderen<). Solch eine Abgrenzung bringt mit sich, dass man nicht mehr im Kontakt zu seinen Mitmenschen steht. Die Verwendung selbst bestimmter Pronomen, wie >they/them< (zu deutsch: sie/ihnen) kann als eine von vielen Formen einer solchen Abgrenzung verstanden werden. In dem Buch Kulturkaleidoskop meines Freundes Gunnar Riemer, bezeichne ich in einem meiner Beiträge (auch wenn in einem anderen Kontext), Sprache als eine gesellschaftliche Konvention. Eine nicht-binäre Person, welche als Einzelperson im englischen Plural angesprochen werden möchte, unterstreicht ihre Abgrenzung von der Gesellschaft von sich aus, indem sie erwartet, dass die gängige sprachliche Konvention für sie aufgehoben wird, da sie selbst eine Spezifik für sich beansprucht.

In dem vorliegenden Buch sollen verschiedene Themen, die Transsexuelle in der Auseinandersetzung mit sich selbst und ihrer Umwelt betreffen, in einer fiktiven Geschichte behandelt werden. Zum besseren Verständnis dieses psychologischen Romans, habe ich diesem Buch ein Glossar beigefügt, in welchem dem Leser fachspezifische und jugendtypische Begriffe erläutert werden. Außerdem wird dargelegt, auf welche namenhaften Personen bestimmte psychologische Erkentnisse zurückzuführen sind, auf die ich mich in dem Buch beziehe. Damit möchte ich sicherstellen, dass das geistige Eigentum anderer bewahrt wird.

Damit dieses Buch unterhaltsam zu lesen ist, ist es in Teilen zugespitzt geschrieben, an mancher Stelle provokant formuliert und in psychologischer Hinsicht vereinfacht dargestellt; so viel sei den Kritikern vorweggenommen. Denn trotz meiner offenen Wertschätzung gegenüber Transpersonen muss ich auch wegen dieses Buches mit Kritik rechnen; vor allem mit unsachlicher und emotional aufgeladener.

In meinem damaligen Artikel sprach ich mich dafür aus, dass transsexuelle Menschen Unterstützung bekommen sollten, und ich spreche mich hier noch einmal dafür aus. Und ich spreche mich dafür aus, dass diese Unterstützung insbesondere beinhalten sollte, dass man den vielen jungen Betroffenen zuhört und ihnen einen Rahmen bietet um zu erkunden, was sie tatsächlich bewegt. Für solch einen Rahmen ist die Psychotherapie bestens geeignet. Nicht etwa um Transsexualität als Pathologie zu heilen. Sondern um mit Betroffenen gemeinsam die psychologischen Wirkmechanismen hinter ihrer Transidentität zu verstehen und ihnen somit den Weg für eine aufgeklärte Entscheidung über eine medikamentöse oder operative Behandlung zu ebnen. Nahezu alle meiner transsexuellen Patienten entschieden sich nach Abschluss eines solchen psychotherapeutischen Prozesses für keine solcher Maßnahmen und >versöhnten sich< mit ihrem biologischen Geschlecht. Der Grund dafür war in aller Regel, dass sie ihr Identitätskonzept transsexuell zu sein, für sich infragestellten. Die Wenigen, für die dieses Identitätskonzept weiterhin Bestand hatte, entschieden sich dann mit meiner Unterstützung für eine medikamentöse und im weiteren Verlauf auch für eine geschlechtsangleichende Maßnahme. Das betraf in den vergangenen zehn Jahren zwei meiner Patienten.

Dr. phil. Petjo Bangeow

Cottbus, 06.10.2024

KAPITEL 1

Die frühe Enttäuschung

>>Es ist nicht die Enttäuschung selbst, die uns trifft, sondern unser Umgang mit ihr.<< - Viktor E. Frankl

Das Ticken der Wanduhr machte ihn wahnsinnig. Und dazu diese furchtbare Musik aus dem Radio. Eigentlich mochte er Musik, aber nicht diese. Nicht hier. Nicht unter den ganzen Kindern, die in diesem Wartezimmer ihre Bazillen herumschleuderten. Nicht unter den alten Leuten, die wegen ihrer ständigen Wehwehchen die Wartezeiten unnötig verlängerten. Er war frustriert. Das spürte er deutlich. Er war immer frustriert, wenn er hier sein musste. Wenn die Welt etwas gerechter wäre, müsste er nicht hier sein. Toleranz ist es, was er brauchte. Das ist das was alle Leute brauchten, die so waren wie er. Er musste hier sein. Das war der einzige Weg irgendwann einmal endlich er sein zu können. Doch Dr. Tylor würde ihn wieder vertrösten, wieder an der langen Leine halten. Jedes Mal, wenn er bei ihr war, fühlte er sich von ihr belächelt. So wie von fast allen Leuten. In seiner kleinen Heimatstadt Naperville nahe dem Chicagoer Großstadt Jungle war nicht viel Öffenheit für Transpersonen zu erwarten. Nur seine Community und vielleicht noch einige wenige tolerante Leute da draußen, zeigten ein offenes Weltbild, in dem auch Platz für ihn war. Und der Rest? Der Rest würde früher oder später auch zu der Einsicht kommen, dass Transsexualität normal war. Und dass die Welt eben nicht nur aus männlich oder weiblich bestand. Er spürte wie seine Hitzewallungen einsetzten. Wie sein Herz vor Hass in seiner Brust wütete. Und wie sein Puls in seiner Halsschlagader um sich schlug. Er fragte sich, ob es gut wäre voller Wut in das Wartezimmer zu Dr. Tylor zu gehen. Vielleicht würde ihn seine Wut, in die er sich soeben gedanklich hineinmanövrierte, kämpferischer machen. Denn das war das, worin er sich seit Jahren befand. Ein Kampf gegen die Intoleranz und zugleich gegen sich selbst. Und er war fest entschlossen ihn zugewinnen.

Die Tür zum Sprechzimmer öffnete sich. Eine Mutter kam mit ihrem blassen Jungen heraus. Der Junge sah aus als würde er keinen einzigen Tropfen Blut mehr in seinen Adern tragen. Seine dicken Augenringe verhießen, dass er keine angenehmen Tage hinter sich und vermutlich auch nicht vor sich hatte. Hoffentlich desinfizierte Dr. Tylor auch ordentlich, bei all diesen Bazillen. Er hatte keine Lust sich hier etwas einzufangen und dann womöglich noch ernsthaft krank zu werden.

>>Johanna Westers, bitte!<<

>>Jonathan! Ich heiße Jonathan Westers, Dr. Tylor!<<

>>Fangen wir nicht gleich im Wartebereich damit an. Komm einfach herein, bitte!<< Dr. Tylor winkte ihn durch die offene Tür hinein und rollte entnervt mit ihren Augen. Sie sprach ihn seit eh und je mit dem falschen Namen und Pronomen an. Genauso wie seine Mutter und einige Lehrer. Ganz zu schweigen von einigen Spinnern in der Schule. Er wusste, dass Dr. Tylor ihn demonstrativ mit Johanna ansprach. Sie nahm ihn mit seiner Transidentität nicht ernst. Umso schlimmer, dass er auf sie angewiesen war.

Als er das Sprechzimmer betrat roch es nach Desinfektionsmittel. Das hatte er gehofft. Somit konnte er sein eigenes, ohne welches er nie eine Arztpraxis betrat, in seinem Rucksack lassen.

>>Was führt dich zu mir?<<, fragte Dr. Tylor mit einem vorahnenden Ton.

>>Meine Pubertät schreitet voran. Sie wissen was das für mich bedeutet. Ich fühle wie meine Brüste immer weiterwachsen und ich weiß nicht mehr wie eng ich meinen Binder noch anlegen soll, um sie mir abzuschnüren. Meine Stimme ist nun schon sehr weiblich. Finden sie nicht auch? Ich klinge nicht mehr wie ein Kind, die alle die gleiche piepsige Stimme haben. Ich werde immer mehr zu einer biologischen Frau. Sie wissen, dass das nicht der richtige Körper für mich ist. Also bitte helfen Sie mir endlich!<< Seine Stimme klang fordernd und verzweifelt zugleich.

Dr. Tylor seufzte. Da saß sie nun vor ihm. Wie immer in ihrer typischen Haltung. Die Ellenbogen auf dem Schreibtisch aufgestützt und ihren Kopf auf ihren Händen abgelegt. Ihre langen dunklen Locken verdeckten ihre Wangen, sodass sie ihn wie ein Ninja durch einen Sichtschlitz prüfend ansah. Ihre Augen verrieten ein Lächeln hinter ihren Händen. Er spürte wie seine Hitzewallungen einsetzten. Er fühlte sich wieder belächelt. Wie sie es immer tat, bevor sie ihn mit einem Trostpreis nach Hause schickte. Die Gummibärentüte konnte sie sich aber diesmal sparen. Er ist gekommen, um zu kriegen was ihm zustand.

>>Und was möchtest du konkret von mir?<<

>>Das wissen Sie doch! Jedes Mal, wenn ich hier bin, sprechen wir über die gleichen Dinge. Ich brauche etwas, das meine Verweiblichung aufhält.<<

>>Du kennst meine Haltung. Pubertätsblocker sollten mit Bedacht verordnet werden. Und ich habe einfach meine Zweifel, ob es in deinem Fall der richtige Weg ist. Zumindest derzeit noch.<< Ihr Ton klang beschwichtigend. Nicht etwa wie jemand, der ihm gegenüber böse eingestellt war. Doch der Versuch immer wieder zu beschwichtigen war nur ein Teil ihres Spiels. Ein Spiel, in welchem es ihr erlaubt war ihre Machtposition auszukosten und sich über Minderheiten hinwegzusetzen. Jonathan hatte es fast täglich mit solchen Menschen zu tun. Menschen, die meinten besser über ihn Bescheid zu wissen, obwohl sie von der Sache nicht den Hauch einer Ahnung hatten.>>Mal abgesehen davon, dass du recht hast, was deine Verweiblichung angeht, habe ich die Befürchtung, dass du dich da in den vergangenen Monaten mental in etwas verrannt hast, in dem du festzustecken scheinst.<<

Nun seufzte Jonathan. >>Kommen Sie mir bitte nicht wieder mit diesem Zeug. Ich bin mental völlig gesund. Trans zu sein ist keine Krankheit.<<

>>Alles was ich möchte ist mich an einige Standards zu halten. Hast du dir denn über meine letzte Empfehlung Gedanken gemacht?<<

>>Was soll ich bei einem Therapeuten? Er wird mich auch nicht ernstnehmen, da doch anscheinend alle voreingenommen bei Leuten wie mir sind.<<

>>Du meinst so voreingenommen, wie du es gerade einem Therapeuten gegenüber bist, den du noch nicht einmal kennengelernt hast?<<

Er fühlte sich ertappt. Deshalb raste er in den Angriffsmodus. >>Das Einzige was ich zurzeit brauche, sind einfach nur Pubertätsblocker. Was ist daran so schwer zu verstehen!?<< Seine erhobene Stimme ließ Dr. Tylor in ihren Sessel zurückfallen, von wo aus sie ihn resigniert anschaute.

Er war reflektiert genug um zu verstehen, dass das nicht der richtige Ton war, um einen Wunsch durchzusetzen. >>Verzeihen Sie, Dr. Tylor. Es ist nur so, dass ich immer mehr in Verzweiflung gerate. Ich weiß, dass es für jemanden wie Sie schwer vorstellbar ist, wie man sich in einem falschen Körper fühlt. Aber glauben Sie mir bitte, wenn ich Ihnen sage, dass ich nicht aus langer Weile hergekommen bin. Es ist mir ein ernstes Anliegen!<<

>>Das habe ich schon verstanden, Johanna. Ich bin mir nur unsicher, ob ich dir nicht vielleicht eine andere Hilfe eröffnen kann, ohne dass es gleich Medikamente sein müssen.<<

>>Vielleicht können Sie damit anfangen mich endlich mit Jonathan anzusprechen.<<

Dr. Tylor seufzte in ihrer typischen Art. >>Du suchst mich nun seit einigen Monaten mit der gleichen Bitte auf.<<

>>Seit bald einem halben Jahr, um genau zu sein. Und das auch nur, weil mich keine andere Arztpraxis in Naperville als Neupatienten akzeptiert.<<

>>Und ich habe dein Anliegen verstanden. Ich verstehe auch deine Not. Nur habe ich den Eindruck, dass du mit der Entscheidung für eine Hormontherapie zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch warten solltest. Das ist eine Entscheidung, die man nicht so einfach treffen sollte.<<

>>Sie sagen selbst, dass Sie einen Eindruck haben. Das ist nichts Konkretes. Wenn Sie mir einen konkreten Einwand nennen würden, könnte ich Ihre Haltung vielleicht besser verstehen. Aber das können Sie nicht. Das konnten Sie bisher in keinem unserer Gespräche.<< >>Aus medizinischer Sicht gelten Pubertätsblocker zwar als weitestgehend unbedenklich, aber sie sind längst nicht mehr unumstritten. Es gibt einige Länder in Europa, die davon abgekommen sind diese Medikamente ohne weiteres zu verordnen. Ich möchte nur gerne, dass du deinen Entschluss ordentlich durchdenkst. Das ist alles, was ich mir für dich wünsche. Besonders, weil du in vier Jahren volljährig wirst und dich einer Mastektomie unterziehen möchtest. Ich bin keine Psychologin, weshalb ich dich einfach gerne für eine Weile einem sehr kompetenten Fachmann vorstellen wollen würde. Ich bin der Meinung, dass er dich in dieser Entscheidungsfindung unterstützen sollte.<<

So eine Art Gespräch hatte Jonathan erwartet. Anstatt Akzeptanz und Unterstützung, würde sie einfach die >Psycho-Karte< spielen. Doch Jonathan war gerissener als sie. Vermutlich würde es schneller gehen, wenn er sich auf dieses Spiel für eine Weile einließe. Er dachte darüber nach ein oder zwei Mal zu diesem Therapeuten zu gehen, um sie zufriedenzustellen. Dann hätte er seinen Teil erfüllt.

>>Vielleicht können wir uns auf einen Kompromiss einigen. Ich gehe zu diesem Therapeuten und Sie verschreiben mir bis dahin einen Blocker, mit dem Sie sich wohlfühlen.<<

>>Ich bin es gewohnt die Entscheidungen als Aý rztin zu treffen und daran würde ich mich gerne weiterhin halten, wenn es dir nichts ausmacht. Wir sind hier nicht auf dem Wochenmarkt, um zu verhandeln.<< Ihr Ton klang streng. >>Wenn der Therapeut grünes Licht gibt, bin ich bereit dir ein GnRH-Analogon zu verschreiben. Deren Effekte sind für mich vertretbar.<<

Jonathan spürte, wie er diesem Transfeind unter dem langen Arztkittel am liebsten an die Gurgel gehen wollte. Menschen wie sie waren genau sein Problem. Aber er würde diesen Kampf gewinnen. Auch, wenn es dafür Öpfer geben musste. Ein Öpfer war offenbar darin zu sehen, sich mit diesem Psycho-Arzt hinzusetzen und hirnrissige Gespräche über seine Kindheit zu führen. Das war es doch, was alle Therapeuten taten. Sie reichte ihm eine Visitenkarte. Jonathan zögerte einen Moment, aber nahm sie dann an.

Peter Daniels, PhD

Psychotherapist

219 North Ave

Naperville, IL 60540

630-456-7890 Phone

630-456-7885 Fax

>>Er ist wirklich gut. Vertraue mir! Er war einige Zeit krank und hat nach der Pause jetzt seine Praxis wiedereröffnet. Aktuell stehen die Chancen also recht gut zeitnah einen Termin zu bekommen.<<

>>Ich mache das nur, damit Sie endlich Ruhe geben. Wenn dieser Typ wirklich nicht voreingenommen ist, wird er grünes Licht geben. Ich hoffe Sie halten dann auch Ihr Versprechen.<<

>>Selbstverständlich werde ich das.<<

Jonathan hätte ihr ihr zufriedenes Grinsen am liebsten aus dem Gesicht gewischt. Erstrecht, als Sie ihren Trostpreis aus der Schublade holte. Er fühlte sich immer wie ein kleines Kind, wenn sie das tat. Dagegen spürte er einen enormen Widerstand. Trotzdem nahm er die Gummibärentüte wieder an. Irgendetwas in ihm sehnte sich nach solchen Aufmerksamkeiten. Das lag nicht nur daran, dass er schon als Kind Gummibären liebte. Kind zu sein hatte auch etwas Mystisches für ihn. Wahrscheinlich, weil seine Kindheit für ihn schlecht greifbar erschien. Er hatte wenig Erinnerungen an seine Kindheit, was vielleicht auch besser so war. Nicht nur, dass sein Vater ihn und seine Mutter einfach sitzenließ. Seine Mutter war danach auch kaum mehr wiederzuerkennen. Sie schien nicht mehr für ihn zugänglich. Sie wirkte völlig mit sich beschäftigt und fand dennoch keinen Weg aus ihrem Trennungsschmerz. Genauso wie er selbst. Doch um ihn ging es in der Familie ohnehin schon lange nicht mehr.

***

Am Montagmorgen durchlief Dr. Daniels seine typische Routine in der Praxis. In der Zeit, in der er wegen Krankheit nicht praktizierte, fehlte ihm die Arbeit mit seinen Patienten. Er war aus Leidenschaft Psychotherapeut. Selbst krank zu sein, passte so gar nicht in das Selbstkonzept des knapp vierzigjährigen sportlichen Mannes, der sich gerne sportlich-elegant kleidete. Er erschien äußerlich etwas eitel mit seinem akkuraten Seitenscheitel und seiner Herrenweste. Sein Jaguar mit V8 Motor auf dem Parkplatz direkt vor dem Praxiseingang ließ ihn nicht weniger extravagant erscheinen. Doch im Grunde war er ein Liebhaber des guten Stils. Seine Patienten waren stets von seiner zugänglichen, humorvollen und empathischen Art als Therapeut überrascht, was sich zunächst schwer mit seinem äußeren Erscheinungsbild vereinbaren ließ. Vor etwas mehr als einem Jahr stellte sein Hausarzt den Verdacht eines Bauchspeicheldrüsenkarzinoms, der sich zu seiner großen Erleichterung nicht bewahrheitete. Das war eine sehr bewegende Zeit, die er intensiv mit seiner Frau und seiner kleinen Tochter verbrachte. Heute war seine vierte Arbeitswoche nach der langen Pause. Die meisten Patienten, die in seinem Terminkalender standen, waren Neuanmeldungen, die nun auf einen Therapieplatz bei ihm hofften.

Jonathan Westers stand als erster auf dem heutigen Plan. Dr. Daniels wusste durch das kurze Telefonat, dass er sich wegen seiner Transidentität vorstellen würde. Als er die Tür zu seinem Wartezimmer öffnete, sah er ein junges Mädchen, das offensichtlich verzweifelt versuchte wie ein Junge auszusehen. Sie trug ihr kurzes Haar nach hinten gegelt. Ihr Kleidungsstil war jugendtypisch, aber irgendwie unstimmig. Es wirkte fast so, als hatte sie ihre Kleidung allein nach einem knabenhaften Look zusammengestellt, unabhängig davon, ob die Kleidungsstücke zusammenpassten. Eine dunkle Herren Cargo Shorts mit schwarzen Lederboots. Ein Nirvana Shirt, über das sie eine helle Jeansjacke trug. Dr. Daniels pflegte transsexuelle Patienten mit ihrem gewünschten Pronomen anzusprechen, da es zum einen ein Zeichen seiner Akzeptanz war und da ohne dem eine tragbare therapeutische Beziehung ohnehin kaum vorstellbar war. Die therapeutische Beziehung zwischen dem Patienten und dem Therapeuten spielte für ihn eine Schlüsselrolle in der Behandlung. Nicht nur, dass Vertrauen und Sympathie wichtig waren, um sich emotional aufeinander einlassen zu können. Noch vielmehr diente die Beziehung diagnostischen und therapeutischen Zwecken. Er verstand es aus dem Verhalten seiner Patienten, welches sie ihm gegenüber an den Tag legten, Schlussfolgerungen für deren Alltagsbeziehungen abzuleiten. Er beobachtete, wie seine Patienten mit ihm in Kontakt traten, wie sie auf seine Fragen und Antworten reagierten, ob sie Gefühle offen ansprachen oder dazu tendierten sie non-verbal zu kommunizieren. Somit bot allein die Interaktion zwischen ihm und seinen Patienten bereits unheimlich viel therapeutisches Material, welches er für die gemeinsame Arbeit nutzen konnte.

>>Jonathan Westers?<<

>>Ja, genau. Ich habe einen Termin um 8 Uhr.<<

>>Richtig. Bitte, komm doch herein.<< Dr. Daniels machte eine einladende Geste mit seiner Hand, während er Jonathan die Tür aufhielt.

Das Behandlungszimmer war im britischen Stil eingerichtet. An den Wänden hingen große Gemälde mit Sigmund Freud und Jean-Martin Charcot. Jonathan setzte sich auf eine lange Chesterfield Couch, zu welcher noch eine kürzere im Neunziggradwinkel stand. Ein quadratischer Beistelltisch aus dunklem Holz füllte den leeren Raum zwischen den beiden Sofas und der Ecke des Zimmers. Jonathan fiel eine hölzerne Taschentücherbox auf. Ansonsten wurde der Tisch von einer riesigen orientalischen Tischlampe eingenommen. Rechts daneben eine Plastik aus Ton eines nackten Frauenkörpers. Der Körper hatte ausladende Hüften, erschien insgesamt aber etwas zu lang gezogen. Links von der Lampe stand eine Urkunde in einem edlen Holzrahmen. Dr. Daniels nahm in einem Öhrensessel Platz, der mit den beiden Sofas eine dreieckige Sitzanordnung bildete. Hinter Dr. Daniels Sessel, quasi gegenüber von Jonathan, nahm eine riesige Bücherwand die gesamte Länge des Raumes ein. Psychologische und medizinische Fachbücher sowie Therapiemanuale in Hülle und Fülle. Jonathan fragte sich beim Anblick der vielen Bücher, ob Dr. Daniels tatsächlich all diese Bücher gelesen hatte oder, ob sie vielmehr einen dekorativen Zweck erfüllten. Er konnte sich schwer vorstellen, dass jemand so viel Zeit seines Lebens mit dem Lesen verbrachte.

>>Was kann ich für dich tun, Jonathan?<<

>>Ich bin trans!<< Jonathan schien ihn zunächst mit der Aussage prüfen zu wollen, indem er dem nichts hinzufügte. Stattdessen sah er Dr. Daniels prüfend an. Dieser ließ keine Regung blicken.

>>Möchtest du mir etwas mehr darüber erzählen?<<

>>Dr. Tylor, meine Aý rztin, weigert sich mir Pubertätsblocker zu verschreiben, bevor ich nicht von einem Therapeuten begutachtet wurde.<<

>>Ich verstehe. Und möchtest du denn begutachtet werden?<<

>>Es ist nicht so, als hätte ich eine Wahl.<<

>>Das sehe ich anders. Du kannst dich dagegen entscheiden und dafür in Kauf nehmen, keine Pubertätsblocker von deiner Aý rztin zu erhalten. Aber da du hier bist, scheint es dir sehr wichtig zu sein. Also hast du dich entschieden hierherzukommen.<<

>>Wenn Sie es so sehen möchten, meinetwegen.<<

>>Wann hast du bemerkt, dass du trans bist?<<

>>Das ging vor etwa einem Jahr los. Und seit einem halben Jahr bitte ich Dr. Tylor um Pubertätsblocker. Also könnten Sie die Begutachtung nun durchführen, damit ich sie endlich bekomme?<<

>>Ich befürchte, dass ist nicht mit einer Sitzung getan, Jonathan. Eine Begutachtung ist recht komplex und wird einige Zeit beanspruchen. Allerdings bin ich mir unsicher, ob ich der Richtige für dich bin. Denn ich schreibe schon eine lange Zeit keine Gutachten mehr. Sie beanspruchen einfach viel Zeit, die mir dann für meine psychotherapeutische Arbeit fehlt. Wenn du möchtest kann ich dir vielleicht eine Kollegin empfehlen, von der ich weiß, dass sie begutachtet.<<

>>Ich wurde aber hierhergeschickt, damit Sie diese Begutachtung durchführen. Also sagen Sie mir jetzt nicht, dass Sie keine Zeit dafür haben.<< Jonathans Ton wurde rau und seine Hitzewallungen setzten ein. Wenn er aus seiner Impulsivität heraus jemanden gegenüber laut wurde, war es ihm oft selbst etwas unangenehm. Dr. Daniels lehnte sich in seinen Sessel zurück und schaute ihn prüfend an. Er nahm solch ein Verhalten seiner Patienten nie persönlich, denn es bot vielmehr das nötige therapeutische Material. Jonathan reagierte ganz offensichtlich aus einem aggressiven Bewältigungsmodus heraus. Er stand unter unheimlichen Druck, den er soeben an Dr. Daniels weiterzugeben schien. Psychotherapeuten, die mit sich im reinen waren, wie Dr. Daniels, würden nicht gekränkt oder selbstverteidigend auf solch ein Verhalten reagieren.

>>Jonathan, du klingst sehr fordernd. Dadurch kommt ein unheimlicher Druck bei mir an. Ich kann mir vorstellen, dass das womöglich auch deinen eigenen Zustand gut beschreibt. Nicht nur, dass du wegen deiner fortschreitenden Pubertät unter einem zeitlichen Druck stehst; du stehst vermutlich auch emotional unter Druck. Jetzt, wo du mir dein Anliegen lautstark vorgetragen hast, frage ich mich, ob du oft das Gefühl hast mit deinem Problem nicht Gehör zu finden.<<

>>Genau das ist das Problem, Doc. Weder meine Mutter, noch meine Aý rztin oder sonst wer nimmt mich ernst. Als ob ich gegen Wände reden würde. Niemand hört mir wirklich zu, sondern schickt mich gleich wieder weg.<<

>>Dadurch hast du vermutlich die Tendenz zum Schreien entwickelt.<<

Jonathan ließ das Gesagte einen Moment auf sich wirken. Irgendwie fühlte er sich durch Dr. Daniels Aussage kritisiert, obwohl er insgeheim verstand, dass es der Wahrheit entsprach. Vielleicht waren diese Rückmeldungen durch Dr. Daniels auch irgendwie hilfreich. Aber er war nicht gekommen, um sich therapieren zu lassen, sondern um die psychologische Bestätigung zu erhalten, dass er trans war. Dr. Daniels war in dieser Hinsicht aber keine besondere Hilfe. Das war bereits gesagt.

>>Wahrscheinlich haben Sie Recht, mit dem was Sie sagen. Aber es hilft mir nicht mit meinem Problem weiter. Also reden wir nicht um den heißen Brei herum, Doc. Sie werden mir kein Gutachten erstellen?<<

>>Jonathan, es ist mir wichtig, dich von vornherein in Klarheit zu lassen. Es bringt uns beide nicht weiter, wenn ich dir etwas vormache, ohne dass ich es einhalten werde. Ginge es um ein therapeutisches Anliegen, wäre ich dir gerne behilflich. Begutachtungen hingegen führe ich nicht mehr durch. Das hat nichts mit deinem speziellen Fall zu tun. Das gilt auch für Begutachtungen, die das Gericht von mir wünscht. Zum Beispiel, wenn es um Schuldfähigkeitsfragen von Angeklagten geht. Ich kann dir also dahingehend leider nicht weiterhelfen.<< Jonathan erhob sich und sah sichtlich enttäuscht aus. Dr. Daniels spürte die Not dieses jungen Menschen, der endlich im Einklang mit seiner Geschlechtsidentität leben wollte. Aber er musste einsehen, dass er, wie bei manch anderen Patienten auch, in diesem Fall nichts für ihn tun konnte.

>>Dann werde ich nicht weiter unsere Zeit verschwenden, Doc. Wir können es kurz machen und das Gespräch an dieser Stelle beenden.<<

>>Das verstehe ich. Ich wünsche dir viel Erfolg auf deinem Weg, Jonathan. Doch bevor du gehst, hier …<< Dr. Daniels reichte ihm zwei Visitenkarten. >>Das sind zwei Kollegen, die sich intensiv mit Begutachtungen beschäftigen. Ich bin sicher, einer von ihnen kann dir weiterhelfen.<<

Das >Danke< musste sich Jonathan förmlich erzwingen, denn er hatte nicht das Gefühl, dass Dr. Daniels irgendeinen Dank verdient hatte. Er war einer wie alle anderen, die sich nicht solidarisch zu ihm verhielten. Das hatte Jonathan bei Dr. Tylor schon vorhergesagt. Doch er würde diese Gutachter anrufen. Welche Wahl hatte er schon?

KAPITEL 2

Eine Erschütterung

>>Erschütterungen zeigen uns oft, wie flexibel wir sein können, auch wenn wir uns brüchig fühlen.<< – Margaret Atwood

Die Sonne weckte ihn durch den dünnen Spalt zwischen den beiden zugehangenen Gardinen. Was nutzten Gardinen, wenn die Sonne sich an einem Samstagmorgen ihren Weg viel zu früh durch sie hindurch bahnte und einen mitten ins Gesicht brannte. Seine Mutter schien schon auf zu sein. Er konnte das alte Radio aus der Küche hören. Er hätte gerne mit ihr gemeinsam gefrühstückt. So wie früher, als sie ihm seine Marmeladenbrote schmierte, während er am Tisch saß und sie mit kindlich-neugierigen Fragen löcherte. Geduldig ist sie auf all seine Fragen eingegangen. Damals hatte sie sich noch Zeit für ihn genommen. Mittlerweile war er sich unsicher, ob er ihr überhaupt noch begegnen wollte. Seitdem sein Vater sie verlassen hatte, hatte sich ihre Beziehung drastisch verändert. Und seit seiner Pubertät war es wie bei einer Ehe, in der sich über die Jahre der Wurm eingeschlichen hatte, ohne zu merken, dass es bereits zu spät geworden war, um die Beziehung zu retten. Mit seiner Mutter war es immer so eine Sache. Mit Sicherheit liebte er sie. Sie war lange Zeit das Einzige, was er hatte. Andererseits reichte auch nur ein falsches Wort und sie wurde ausfällig. Somit wollte er ihr gerne nahestehen und sie zugleich auf sichere Distanz halten. Er hatte Angst, sie zu lieben, da er jedes Mal daran zerbrach, wenn sie Streit hatten. Als Kind hatten solche Streitigkeiten für ihn Schuld und Selbstzweifel zur Folge, die in einem Anfall von Selbsthass mündeten. Seine Mutter war eine typisch amerikanische Kleinstadt-Mom. Etwas rau, aber durchaus aufopferungsvoll für ihr Kind. Zumindest, wenn es darum ging, durch einen schlecht bezahlten Job in einem Restaurant für einen vollen Kühlschrank und eine beheizte Wohnung zu sorgen. Mit Männern war sie durch, seitdem sein Vater sie sitzen ließ. Sie hatte gelernt, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen und als alleinerziehende Mutter zu funktionieren. Sie war vor allem gewissenhaft, wenn es um ihren Job und die Haushaltsplanung ging. Eine selbstorganisierende, unabhängige Frau. Manchmal fragte er sich, ob sie noch Bedürfnisse hatte. Öb sie noch irgendetwas von ihrem Leben erwarten würde. Öb sie insgeheim doch Sehnsüchte nach einem starken Mann an ihrer Seite hatte. Öb sie vom Reisen träumte. Öb sie unerfüllten Kindheitsträumen nachtrauerte. Öder, ob sie sich damit abgefunden hatte, dass ihr Leben aus ihrem Job und ihrem Haushalt bestand, während das große Highlight ein Cafébesuch mit ihrer besten Freundin Susann war, die mit ihrem Leben nicht zurechtkam. Jonathan bemerkte in solchen Momenten, dass er fast nichts über seine Mutter wusste. Und das, obwohl er sein ganzes Leben mit ihr verbrachte. Das war nur möglich, wenn man gelernt hatte, nebeneinanderher zu leben.

An diesem Samstagmorgen entschied er sich dafür mit seiner Mutter auf Distanz zu bleiben. Das war immer die sichere Variante. Denn er wollte sich diesen Samstag nicht durch einen dieser morgendlichen Konflikte mit ihr verderben. Er setzte sich an seinen Laptop, nahm die dicken Kopfhörer und drehte die Musik auf, um das Radio aus der Küche zu übertönen. Mal schauen, was im Forum schon los war. Heute Abend stand eine Party an. Seine Mutter hatte ihm verboten, hinzugehen. Abgesehen davon, dass sie ihn immer noch mit Johanna ansprach, schien es ihr relativ egal zu sein, dass er trans war. Zumindest sprachen sie kaum darüber. Prinzipiell schien ihr vieles, was ihn betraf, egal zu sein. Denn sie sprachen auch sonst wenig miteinander.

In ihren Augen war er zu jung, um auf eine dieser Transpartys ins Bunny Hanas zu gehen. Der Club war bekannt für seine LGBTQ-Partys. Dafür wurde er auch regelmäßig von der örtlichen Jugend überfallen oder Leute beim Verlassen des Clubs verprügelt. Seine Mutter machte sich Sorgen, dafür hatte er Verständnis. Öbendrein war diese Transidentität für sie ohnehin nur eine Phase, die wieder vorbeigehen würde. Und sich dafür verprügeln zu lassen, war es ihrer Meinung nach die Sache nicht wert. Denn sobald er zur Vernunft kommen würde, wird er sich eines Tages nicht mehr als Teil dieser Community sehen. Jonathan hasste es, wenn sie so ahnungslos daher sprach. Doch er würde heute auf dieser Party sein. Das stand außer Frage. Das war eine der wenigen Gelegenheiten, um Zeit mit seiner >Familie< zu verbringen. Jonathan war in einem Alter, in dem die Peer-Gruppe die Familie ablöste. Das hatte nichts mit trans zu tun. In der Pubertät lösten sich Jugendliche, wie er einer war, von ihren Eltern nun einmal ab. Damit ging einher, dass sie eigene Wertvorstellungen, Menschenbilder und Weltanschauungen entwickelten. Das war als ein ernstzunehmendes Zeichen von Autonomie zu verstehen. Dafür brauchte es aber neue Identifikationsfiguren jenseits der Eltern, um heranreifende Werte und Identitätsfragen mit der Welt anderer Jugendlicher abgleichen und modifizieren zu können. So formte sich Identität. Eine Form des Selbst, welches sich im Klaren darüber war, wie es sich wahrnahm, wie es von anderen wahrgenommen würde und wie es von anderen wahrgenommen werden wollte. Pubertär zu sein hieß also nicht nur körperlich zu reifen, sondern auch die Welt der Eltern zu hinterfragen, ja gar zu kritisieren, um sich eine eigene autonome Welt schaffen zu können. Doch wie sollte man sich von jemanden ablösen, dem man ohnehin nicht nahestand? Und wohin wollte man sich orientieren, wenn man viel zu lange niemanden hatte? Die Community war die erste Konstante in Jonathans Leben. Hier konnte er sein, wie er war. Er musste sich nicht positionieren, ob er weiblich, männlich, nichtbinär, homo, hetero, bi, pan oder sonst etwas war. Er war für alle einfach nur Jonathan. Früher wurde er immer nur auf sein Anderssein reduziert. Das ging in seiner Erinnerung schon in der Grundschule los. Es ging nie um ihn als Person, sondern immer nur um belanglose Merkmale. Zu pummelig, zu klein, zu langsam, zu weinerlich … Diese Zeit hatte er nun hinter sich gelassen. Endlich hatte auch er seinen Platz gefunden. In einer Gesellschaft der Benachteiligten und Vergessenen. Aber sie würden sich in Zukunft immer mehr Gehör verschaffen. Das stand außer Frage. Die zunehmende Wahrnehmung der LGBTQ-Community in Medien und Gesellschaft stellte die Weichen bereits in die richtige Richtung.

Dreiundzwanzig Leute waren schon im Forum aktiv. Hier bewegte sich etwas. Die allgemeine Spannung auf den heutigen Abend spürte jeder hier. Es wurden Treffpunkte ausgemacht, um gemeinsam hinzugehen. In der Fantasie waren einige schon volltrunken. Es wurde geflirtet. Das was unter partylustigen Jugendlichen eben nun einmal so Thema war. Daran merkte man, dass diese Leute sich in nichts von anderen Jugendlichen unterschieden. Nur ihre sexuelle Örientierung und ihre Geschlechtsidentität passten nicht in die gesellschaftliche Erwartung.

>>Was geht ab, Jonathan!?<<, hallte es durch seinen Kopfhörer, der noch von der Musik viel zu laut eingestellt war. Jemand hatte einen Videoanruf in der Gruppe gestartet.

>>Ich schaue mir das Treiben hier so an und muss sagen, ich bekomme immer mehr Bock auf heute Abend, wenn ich mir das hier so anhöre.<<

Ace war online. Ace war ein nicht-binärer Typ mit dem Jonathan schon öfter zu einer Party ins Bunny Hanas ging. Er war fast neunzehn. Da sie quasi um die Ecke voneinander wohnten, bot es sich immer an mit ihm zur Party zu gehen und mit ihm gemeinsam nach Hause zu laufen. Ace war nicht Jonathans Typ. Zu feminin und weich. Jonathan stand ohnehin auf richtige Kerle. Sie sollten etwas Animalisches haben und am besten auch sportlich sein. Ein Typ auf den womöglich die meisten Mädchen in seinem Alter standen, nur dass er sie eben als homosexueller Transmann begehrte. Ace und er verstanden sich sehr gut. Und es war einfach sicherer nicht allein zum Club zu laufen.

>>Ace, wie sieht es aus? Gehen wir wieder zusammen? Ich würde zusehen, dass ich mich gegen 21 Uhr aus dem Fenster verabschiede und warte dann an der Ecke.<<

>>Musst du dich immer noch heimlich aus dem Haus schleichen?<<, zog Ace ihn auf. Ein paar andere stimmten auf die Hohnhymne ein. >>Soll ich dir einen Muttizettel mitbringen, damit sie dich reinlassen?<<

Jonathan ärgerten solche Kommentare. Aber in der Community lief es nun einmal nicht anders, als anderswo. Es wurde sich geneckt, verhöhnt und am Ende doch wieder vertragen. Und man hielt zusammen. Denn tatsächlich war es für Jonathan nicht immer leicht, mit seinen vierzehn Jahren in den Club zu kommen. Erst seitdem er durch Kontakte innerhalb der Community an einen gefälschten Ausweis kam, hatte sich dieses Problem endgültig erledigt. Er zeigte den Ausweis stolz in die Kamera. >>Das ist mein Muttizettel, ihr Schwätzer.<< Schon hatte er die Lacher auf seiner Seite. Es gab auch einige in dem Forum, die nicht aus der unmittelbaren Nähe von Naperville kamen, aber die Gespräche aufmerksam verfolgten.

>>Hey man, pass auf Kleiner!<<, sagte jemand mahnend, dessen Kamera ausgeschaltet blieb. >>Du weißt nicht, ob Anscheißer hier Undercover mithören.<<

>>Ist mir egal, um ehrlich zu sein.<< Jonathan musste seinen Platz als einer der Jüngeren in der Community behaupten. Dazu verhalf ihm sein raues Mundwerk meistens ganz gut, durch welches er seine tiefsitzende Unsicherheit gekonnt zu überspielen gelernt hatte. Ace kam zurück auf den Punkt, als er das Gespräch wieder an sich zog.

>>Ich warte kurz nach Neun um die Ecke. Aber lass mich nicht wieder länger warten, wie beim letzten Mal. Ich habe keine Lust wegen deiner Probleme mit Mami zu spät bei der Party aufzukreuzen.<<

Jonathan verabschiedete sich vorerst aus dem Forum und legte seine Kopfhörer ab. Als er aus seinem Zimmer trat, bemerkte er, dass das Radio aus der Küche verklungen war. Auf dem Küchentisch stand eine Packung Cornflakes, daneben ein Zettel. >Die Milch reicht noch für eine Portion. Bin einkaufen und treffe dann Susann zum Kaffee. Sie macht viel durch. Kuss, Mom.< Nun würde er ihr bis zum Mittag auf jeden Fall nicht begegnen.

Er ging ins Badezimmer, um sich fertig zu machen. Das war stets ein harter Kampf mit sich selbst. Besonders beim Duschen, wenn er mit seinem weiblichen Körper in Berührung kam. Er ekelte sich besonders vor seiner Scheide und seinem Busen. Sich dort zu berühren fühlte sich fremd für ihn an. Als ob es nicht er selbst war, den er berühren musste. Diese Fremdheit war vermutlich wichtig, damit es einigermaßen erträglich für ihn blieb. Als ob sein Geist ihn davor schützen wollte, Nähe zu seinem falschen Körper zuzulassen. Eine Art Schutzmechanismus vor der unerträglichen Realität seiner Weiblichkeit, welcher er so gerne entfliehen wollte. Sein Haarwuchs an den Beinen war so ziemlich das Einzige, was dem Ekel etwas entgegenzusetzen hatte. Wobei er besonders dafür angeekelte Blicke in der Schule erntete. Wenn sich Jonathan im Spiegel betrachtete, sah er ein unstimmiges Bild. Er sah sein noch leicht kindliches, feminines Gesicht, sein schulterlanges Haar und seine haarigen Beine. Lediglich an seinen braunen Augen fand er Gefallen. Seine schmalen Schultern und weichen Rundungen passten für ihn hingegen überhaupt nicht in das Bild, welches er gerne von sich gehabt hätte. Doch das mit Abstand schlimmste äußerliche Merkmal, war sein Busen. Manchmal hatte er die Fantasie, sich seinen Busen mit einem Messer einfach abzuschneiden. Diese Gedanken machten ihm Angst, weshalb er es im Badezimmer meist kurz hielt, um sich seinen autoaggressiven Fantasien nicht zu lange auszusetzen.

Als er aus dem Badezimmer trat, lag die Einsamkeit schwer in der Luft. Einsamkeit war eines dieser Dinge, die Jonathan am meisten fürchtete. Wenn er einsam war, fühlte er sich nämlich seiner selbst ausgesetzt. Etwas, mit welchem er sich nur ungern auseinanderzusetzen vermochte. Also setzte er sich mit seinen Cornflakes vor seinen Laptop und ging online in die Community. Nah an den anderen dran, um sich selbst fern zu sein.

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