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Und weiter geht die Jagd nach den Windmühlenflügeln. Nachdem die Abenteurer um Albert Einstein den ersten, den Luftflügel am Gipfel des Matterhorns gefunden haben, geht es nun nach Norwegen, in ein seltsames Museum. Ein neuer Hinweis des noch unbekannten Helfers führt sie zum Nordmeer, wo sie auf dem Meeresgrund ein Schiffswrack entdecken. Sowie den zweiten, den Wasserflügel. Zu der Reisegruppe ist inzwischen ein Mädchen, die junge Agatha Christie gestoßen, und der noch jüngere Leonardo da Vinci hat sich ihnen ebenfalls angeschlossen. Doch der Bösewicht Amundsen entführt die Kinder in sein unterirdisches Reich auf Schloss Neu Schwanstein. Was sie dort entdecken, und was sie mit den Brüdern Grimm in Steinau erleben, und wie sie aus der Teufelshöhle entkommen können, davon handelt dieser zweite Band.
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Seitenzahl: 212
Veröffentlichungsjahr: 2022
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Für Mischa
Prolog – oder: Was bisher geschah
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebtes Kapitel
Achtes Kapitel
Neuntes Kapitel
Zehntes Kapitel
Elftes Kapitel
Zwölftes Kapitel
Dreizehntes Kapitel
Vierzehntes Kapitel
Fünfzehntes Kapitel
Sechzehntes Kapitel
Siebzehntes Kapitel
Achtzehntes Kapitel
Neunzehntes Kapitel
Zwanzigstes Kapitel
Vorschau auf Band 3
Nachwort
Ich heiße Timo Kegelmann und bin zu der Zeit, in der die Geschichte spielt, dreizehn Jahre alt. Noch immer, muss ich sagen, denn ich habe bald Geburtstag. Aber ich fürchte, ich werde ihn nicht zu Hause feiern können. Nach allem, was bis jetzt passiert ist, bin ich schon froh, wenn ich ihn überhaupt werde feiern können. Ich befinde mich nämlich auf einer Mission. Mit Albert Einstein und einer Windmühle. Einer Windmühle ohne Flügel. Ich soll ihm helfen, die Welt zu retten. Klingt verrückt, ich weiß, aber ich habe mich inzwischen daran gewöhnt.
Albert Einstein ist ein berühmter Physiker, der sogar den Nobelpreis gewonnen hat und der aus dem Jahr 1948 zu mir in das Jahr 1985 gereist ist. Fragt mich nicht, wie. Aber er hat es gemacht. Die Mühle, mit der er reist, kann durch Zeit und Raum springen und ist für die meisten Menschen unsichtbar. Eigentlich können nur Kinder sie sehen. Bis auf wenige Ausnahmen. Aber sie hat auch eine Besonderheit. Jedes Mal, wenn sie durch die Zeit springt, ändert sich das Alter ihres Besitzers, in diesem Fall also das von Einstein. Deshalb ist er als alter Mann losgereist und als junger Mann bei mir angekommen.
Die Flügel der Mühle wurden von einem gewissen Roald Amundsen gestohlen. Das ist ein berühmter Polarforscher, der 1911 als erster Mensch den Südpol bereist und später, 1925, auch den Nordpol als Erster mit einem Luftschiff überquert hat. Deshalb ist er ziemlich sauer, dass er für seine Entdeckungen nicht auch einen Nobelpreis bekommen hat. Und das will er Einstein jetzt heimzahlen. Obwohl der ja nun wirklich nichts dafür kann, dass es für Polarforscher keine Nobelpreise gibt.
Dort, an den Polen, hat Amundsen auch die Windmühlen entdeckt. Am Südpol eine weiße, am Nordpol eine schwarze. Mit Flügeln, die sich rasend schnell drehten. Aber er war der Einzige seiner Expedition, der die Mühlen sehen konnte. Diese sich drehenden Flügel sind, wie wir später erfahren haben, der Motor dafür, dass die Erde sich dreht und dass durch die Erdrotation alles, was sich auf ihr befindet, auch an Ort und Stelle bleibt oder auf den Boden fällt, wenn man es hochhebt und loslässt. Mit anderen Worten, sie bewirken die Erdanziehung. Es handelt sich dabei um einen Luftflügel, einen Wasserflügel, einen Feuerflügel und einen Erdflügel. Nun sind die Flügel der schwarzen Mühle verschwunden, und die weiße Mühle allein kann diese Erdanziehung nicht mehr lange gewährleisten. Dumme Sache.
Also sind wir losgezogen, um Amundsen die Flügel wieder abzunehmen, und haben zum Glück Helfer gefunden. Als Erster stieß der französische Schriftsteller Jules Verne im Jahr 1839 zu uns. Allerdings war er da erst elf Jahre alt. Aber er konnte die Mühle sehen. Als wir ihn im Hafen von Nantes, wo er sich auf ein Schiff schmuggeln wollte, entdeckten, war er sofort mit von der Partie. Leider verlor ich auf diesem Schiff, dessen Name übrigens «Nautilus» war, meinen Hund Bo. Doch dazu kommen wir später noch mal.
Kurz darauf trafen wir am Hafen den Komponisten Frédéric Chopin. Der gab uns einen Hinweis, mit dessen Hilfe wir als nächsten Punkt unserer Reise einen berühmten Berg, das Matterhorn in der Schweiz, identifizieren konnten. Dazu mussten wir allerdings in das Jahr 1309 zurückreisen.
Wenn du den ersten Band unserer Geschichte gelesen hast, weißt du das alles natürlich schon und kannst direkt zum ersten Kapitel weiterspringen. Falls du den ersten Band nicht gelesen hast, solltest du jetzt mit Lesen aufhören und dir den ersten Band kaufen oder schenken lassen oder – nein, war nur Spaß. Ich erzähle weiter:
Im Jahr 1309 entdeckten wir direkt am Matterhorn eine schwarze Ritterburg. Und über der Burg am Gipfel des Matterhorns klebte eine Wolke ganz aus Eis, auf der wir den ersten Flügel, den Luftflügel vermuteten. Praktischerweise gibt es am Matterhorn einen starken Luftwirbel, der alles, was er erfasst, nach oben trägt. Unpraktischerweise war die Burg aber komplett verrammelt, von Hunderten von Rittern bewacht und von einem tiefen Burggraben umgeben, der von einem Wasserfall gespeist wurde.
Hier lernten wir Walther kennen, einen sechsjährigen Jungen, dessen Vater in der Burg gefangen gehalten wurde und der, wie sich später herausstellte, auf den Namen Wilhelm Tell hörte. Der Vater, nicht der Sohn. Ja, genau, der Wilhelm Tell mit dem Apfel. Walther, sein Sohn (der mit dem Apfel auf dem Kopf), konnte nicht nur die Mühle sehen, sondern hatte auch einen geheimen Eingang in die Burg entdeckt. Damit war unsere Reisegruppe auf vier Personen angewachsen. Außerdem entdeckten wir tief unten im Burggraben ein Wikingerschiff, das dort eigentlich nicht hingehörte.
Der Plan, den wir dann in die Tat umsetzten, war so abenteuerlich, dass es mir heute noch schwerfällt zu glauben, dass wir ihn wirklich durchgezogen haben. Walther kroch durch die Öffnung, die für uns andere leider zu eng war, in den Geheimgang und in die Burg, kletterte auf die Burgmauer und schoss mit einem Katapult auf einen Felsen, der ziemlich wacklig am Rand des Burggrabens stand. Er war nämlich wie sein Vater ein guter Schütze. Der Felsen stürzte wie erwartet ins Wasser und verstopfte den Abfluss des Wasserfalls. Dadurch stieg das Wasser rapide an und hob dabei das Wikingerschiff nach oben. Die Ritter sahen das, und weil ihnen ein Wikingerschiff in ihrem Burggraben ebenso merkwürdig vorkam wie uns, öffneten sie das Tor und Jules und ich schlüpften mit dem Segel, das wir auf dem Schiff gefunden hatten, in die Burg. «Ein Segel kann man immer gebrauchen», hatte Jules gemeint. Na ja.
Albert, der durch den Zeitsprung ins Jahr 1309 wieder ein alter Mann geworden war, war in der Mühle zurückgeblieben. Er hätte uns nur behindert. Entschuldige, Albert, aber das stimmt.
Zusammen mit Walther kletterten wir auf den höchsten Turm und gelangten mithilfe des Segels und des Aufwinds auf die Eiswolke. Das klingt jetzt alles ziemlich easy, aber in Wirklichkeit gab es erhebliche Komplikationen und Widerstände, die wir zu überwinden hatten. Vier Elefanten und ein Meerschweinchen spielten dabei eine nicht unwesentliche Rolle. Aber das genauer zu schildern, würde hier zu weit führen, dafür gibt es ja den ersten Band.
Auf der Eiswolke entdeckten wir zu unserer großen Überraschung eine exakte Kopie der schwarzen Burg, aber ganz aus schwarzem Eis. Im Hof dieser Burg, deren Tor weit offen stand, befand sich eine ganze Armee von Eisriesen. Unbewegliche Ritter von fast drei Metern Größe. Sie waren gerade nicht aktiv, weil ihr Gebieter, der Polarforscher Amundsen, nicht zu Hause war. Der lieferte sich momentan in einer anderen Zeit ein Rededuell mit Einstein. Deshalb war es für uns auch kein Problem, in den höchsten Turm dieser Burg zu gelangen und dort den Luftflügel der Mühle zu entdecken und mitzunehmen.
Dann wurde es allerdings wirklich brenzlig, denn die Herren der Burg kamen zurück und die Eisriesen-Armee erwachte. Es gelang uns, die Ritter auszutricksen und über einen hölzernen Aufzug, den wir am Wasserfall entdeckten, mit dem Flügel zurück auf den Boden und zurück zu Einstein und der Mühle zu kommen. Dass dabei die gesamte Eiswolke samt Burg einstürzte und die andere schwarze Burg am Fuß des Matterhorns unter sich begrub, war nicht geplant, aber kam auch nicht ungelegen.
Die Bösewichte waren allerdings in einem Luftschiff entkommen und hatten zu meiner Freude (und meinem Entsetzen!) auch meinen tot geglaubten Hund Bo an Bord, den sie angeblich in Frankreich aus dem Wasser gefischt hatten.
Wir setzten Walther Tell bei seinem Vater Wilhelm, der aus der Burg flüchten konnte, ab. Durch eine besondere Klappe in der Mühle, die Pforte des Vergessens, hatte der Junge alle Erinnerungen an das Abenteuer verloren. Dann verstauten wir den Luftflügel in der Mühle und fuhren weiteren Abenteuern und dem zweiten Flügel entgegen. Amundsen und seine Kumpane, die ihr Hauptquartier in der Eis-Burg verloren hatten, suchten in einer neuen Zuflucht im Jahr 1886 Unterschlupf. In den Gewölben unter dem Schloss Neuschwanstein, wie ich später erfuhr. Wir dagegen fuhren nach England, ins Jahr 1903. Und da geht unsere Geschichte weiter.
England, Torquay, 1903– Albert war mit uns am nächsten Morgen schon früh aufgebrochen. Als wir fast alle zur gleichen Zeit aus unseren Betten gekrochen waren und uns im Wohnraum der Mühle getroffen hatten, wussten wir, dass wieder etwas geschehen war. Albert war nämlich wieder jung, so wie damals, als er mich von meinem Zuhause abgeholt und in das Abenteuer hineingezogen hatte. Wir liefen noch in Schlafanzügen zur Steuerkonsole und zu dem großen Aussichtsfenster. Die Anzeige stand auf England, 1903. Das Fenster zeigte einen Badeort und steile Klippen im Hintergrund.
«Hast du wieder geträumt, Timo», sagte Albert und hob die Augenbrauen. «Gib’s zu!»
«In der Tat, das habe ich», antwortete ich aufgeregt. «Ich habe von einer …»
»Sag nichts», unterbrach er mich. «Ich will mich überraschen lassen. Ich glaube, das ist der Ärmelkanal. Wir sind in England.» Er zeigte zu den Klippen und zog sich wie ein britischer General seinen Schlafrock fester.
«Wie kommst du denn auf England?», fragte ich erstaunt.
«Weil da vorne eine Straße ist und die wenigen Autos auf der linken Seite fahren. Die Mühle muss heute Nacht, als wir geschlafen haben, ein Stück gerollt sein. Wahrscheinlich durch das Zeit-Tor in dem kleinen Wäldchen.»
Er erzählte uns von seinem Ausflug in die Zukunft und dem Treffen mit Amundsen und Dietrichson, und von den beiden Bäumen, die wohl so etwas wie einen Übergang geschaffen hatten.
«Damit stellt sich die Frage, was wir im Jahr 1903 in England finden werden.»
«Genauer gesagt in Torquay in Devon», sagte Jules und zeigte auf ein Schild, das am Ortseingang stand und dem Besucher sagte, wo er sich gerade befand.
Wir zogen uns schnell frische Kleider an – es war hier und in dieser Zeit bei Weitem nicht so kalt wie in der Schweiz – und traten vor die Tür. Der Mühlenflügel hing zu unserer Beruhigung noch an seinem Platz. Obwohl es schon Herbst war, liefen hier alle in sommerlicher Bekleidung herum und beachteten uns gar nicht. Urlaubsgäste, auch fremd aussehende, waren in dem Badeort an der Tagesordnung. Während Jules gleich loslief, nahm Albert mich zur Seite.
«Timo, wir sollten uns hier nicht zu lange aufhalten.»
«Wieso?», sagte ich. «Es sieht hier doch ganz friedlich und ungefährlich aus.»
«Ich meine die Zeit», sagte Albert. «Im Jahr 1903 lebe ich bereits. 1903 war ich vierundzwanzig. Es gibt mich jetzt also zweimal auf dieser Erde. Ich weiß nicht, ob das Auswirkungen auf diesen Körper, also quasi mein zweites Ich hat.»
Bevor ich etwas dazu sagen konnte, hörten wir aus einem Garten in der Nähe fröhliches Kinderlachen.
«Oh, Madge, du spielst wie eine Anfängerin», rief eine helle Mädchenstimme.
«Und du spielst unfair», antwortete die Stimme eines jungen Mannes.
«Halt dich da raus, Monty», sagte nun eine dritte, ebenfalls weibliche Stimme. «Mary spielt nicht unfair. Sie spielt wie ein schottischer Hafenarbeiter.» Alle drei lachten, dann hörte man wieder das Schlagen eines Balles. Wir gingen näher zu dem Haus und spähten über die Hecke. Ein junger Mann und eine junge Frau, beide um die zwanzig, liefen über den Rasen und versuchten einem jüngeren Mädchen einen Badmintonball abzunehmen. Das Mädchen war aber immer flinker, schlug Haken und entkam so den beiden.
Albert ging einen Schritt zurück und schaute auf das Gartentor, das in der Nähe der Hecke und nur angelehnt war.
«Miller», las er auf einem Schild. «Hier wohnen die Millers. Mary, Madge und Monty Miller. Und höchstwahrscheinlich auch ihre Eltern.»
«Nie gehört», sagten Jules und ich fast gleichzeitig. Albert grinste.
In diesem Moment segelte der Badmintonball über die Hecke und knallte Jules genau gegen den Kopf. Er schaute etwas dumm aus der Wäsche und hob ihn auf. Da flog auch schon die Gartentür auf und das junge Mädchen aus dem Garten stand vor uns.
«Hallo. Entschuldigung, kann ich unseren Ball wiederhaben?», sagte sie und grinste uns dabei frech an. Sie mochte dreizehn oder vierzehn Jahre alt sein und hatte blonde Locken, die über den Ohren zu Zöpfen geflochten waren.
«Natürlich», sagte Albert, nahm Jules den Ball weg und gab ihn dem Mädchen.
«Habe ich dich getroffen?», fragte sie erschrocken und zeigte auf den roten Fleck, der sich auf Jules’ Stirn gebildet hatte. «Das tut mir leid», fügte sie mit unschuldigem Augenaufschlag hinzu. Jules brachte kein Wort heraus und starrte sie nur an.
«Du bist Mary Miller?», fragte Albert dann noch beiläufig.
Mary schaute ihn argwöhnisch an. «Kenne ich Sie?»
«Nein, nein», sagte Albert schnell. «Meine Enkel sagten, dass du hier wohnst. Sie kennen dich wohl aus der Schule.» Jules und ich hoben wie auf ein Kommando dümmlich grinsend eine Hand. Dann stieß ich Albert erschrocken an und zeigte auf sein Gesicht. Er verstand.
«Meine Neffen, wollte ich sagen. Meine Neffen.»
Albert hatte kurz übersehen, dass er kein alter Mann mehr war.
«Mary, wo bleibst du denn?», kam ein Ruf aus dem Garten.
«Nie gesehen», sagte Mary mit grimmigem Blick auf uns Jungs. Dann lief sie in den Garten zurück. Am Tor blieb sie kurz stehen und drehte sich um.
«Schicke Windmühle. Gehört die Ihnen? Wo sind denn die Flügel?» Dann war sie weg.
«Was war das denn?», sagte ich und rümpfte die Nase.
«Das war Mary Miller,» sagte Albert.
«Und wer ist Mary Miller? Den Namen habe ich noch nie gehört.»
«Das ist die Frau, die in – lass mich kurz überlegen – ziemlich genau elf Jahren einen Oberst Archibald Christie heiraten wird und dann anfängt Romane zu schreiben. Kriminalromane. Aber weil sie der Meinung ist, dass Mary Christie nicht seriös genug ist, weil es zu sehr nach Merry Christmas klingt und weil Mary auch nur ihr zweiter Vorname ist, wird sie ihren ersten verwenden. Agatha. Das, ihr Lieben, war gerade die junge Agatha Christie. Die erfolgreichste Kriminalschriftstellerin der Welt. Und sie hat, wie ihr zweifellos bemerkt haben werdet, unsere Mühle gesehen.»
England, Torquay, 1903– Da das Wetter trotz der Jahreszeit noch sehr warm war, gingen wir an den Strand und überlegten, was wir jetzt tun sollten. Wir befanden uns im Jahr 1903. England hatte noch einen König und Deutschland sogar einen Kaiser. Viel mehr wusste ich über diese Zeit auch nicht. Es gab noch nicht sehr viele Autos, und manche fuhren noch mit Dampf, aber Luftschiffe waren schwer im Kommen. Außerdem hatte England weltweit die meisten Kolonien.
Am Strand herrschte reges Treiben. Wir hatten wohl ein Wochenende erwischt, denn viele Familien mit Kindern hatten Decken und Handtücher, Sonnenschirme und Picknickkörbe dabei und genossen die späten Sonnenstrahlen. Das Wasser war allerdings wohl zu kalt, denn Schwimmer sah man keine. Nur zwei Hunde tobten durch die Wellen und erinnerten mich schmerzlich an meinen Bo.
«Wie geht es denn jetzt weiter?», sprach Jules die Frage aus, die uns allen auf der Zunge lag. Der Name Agatha Christie sagte ihm natürlich nichts, weil er viel früher als sie gelebt hatte, oder leben würde, oder, ach, das war schon kompliziert. Ich dagegen war völlig baff. Das war eben die berühmte Schriftstellerin gewesen, die über siebzig Kriminalromane schreiben würde? Ich wusste, dass ein Theaterstück von ihr, «Die Mausefalle», seit über dreißig Jahren ununterbrochen in London gespielt wurde. Ich war dreizehn und kam aus dem Jahr 1985. Ich ahnte damals nicht, dass es im Jahr 2021 immer noch gespielt werden würde. Und dass es Dutzende Filme ihrer Bücher gab und geben würde.
«Nun ja», antwortete Albert und riss mich damit aus meinen Gedanken. «Wir haben den ersten Flügel gefunden. Den sogenannten Luftflügel. Das ist doch schon mal was. Und wir haben einen weiteren Mitreisenden entdeckt. Oder besser, eine Mitreisende.»
«Aber kannst du dir vorstellen, was Mary Miller, die spätere Agatha Christie, dazu bewegen kann, mit drei wildfremden Männern in einer seltsamen Mühle durch die Geschichte zu reisen?», erwiderte ich. Irgendwie waren wir an einem toten Punkt angelangt.
Albert lächelte und zeigte erst auf mich und dann auf Jules.
«Na ja, drei MÄNNER ist jetzt nicht gerade der Begriff, den ich wählen würde. Da du genauso alt bist wie sie, und Jules sogar noch jünger, sind ihre Vorbehalte vielleicht nicht ganz so groß.»
«Wir müssen erst mal schauen, was wir als Nächstes tun können», sagte Jules und kritzelte dabei mit einem Stock im Sand. «Lasst uns eine Liste machen. Was suchen wir, was haben wir, was ist abgehakt und was noch zu erledigen?»
«Wir suchen vier Windmühlenflügel. Feuer, Wasser, Luft und Erde. Jeder Flügel ist einem Element zugeordnet», sagte Albert sofort.
«Falsch», erwiderte Jules.
«Wie bitte?» Albert hob erstaunt die Augenbrauen und eine steile Falte zeigte sich auf seiner Stirn.
«Die Reihenfolge ist falsch», sagte Jules. «Auf der Rückseite des Briefes, den du von Amundsen bekommen hast, was stand da?»
Albert hob die Augenbrauen noch höher und ich befürchtete fast, dass sie ihm hinten am Kopf herunterfallen würden. «Also, da muss ich mal nachschauen. Der Brief ist in meinem …»
«An der Luft gehärtet und im Wasser geboren, im Feuer geformt und in der Erde verloren. In Raum und Zeit für immer verborgen. Aura, Aqua, Ignis, Terra.» Jules schaute uns strahlend an.
«Na, sag mal», brummte Albert. «Hast du ein fotografisches Gedächtnis? Genau das steht hinten auf dem Brief.»
«Die Reihenfolge kann kein Zufall sein», fuhr Jules fort und ging nicht weiter auf die Frage nach dem fotografischen Gedächtnis ein. «Luft, Wasser, Feuer und Erde. Den Luftflügel haben wir als Erstes gefunden. Dann wäre jetzt der Wasserflügel dran, wenn es bei der Reihenfolge bleibt.»
Albert und ich waren so verblüfft, dass wir kein Wort herausbrachten. Aber der Junge könnte recht haben. Jedenfalls hatten wir sonst keine anderen Anhaltspunkte. Möglicherweise waren in der Mühle noch weitere Hinweise verborgen, wie die Leinwand mit dem Matterhorn. Aber trotz gründlicher Untersuchung hatten wir bis jetzt nichts weiter entdecken können.
«Gut. Nehmen wir an, du hast recht», sagte Albert gespielt wohlwollend. «Was wissen wir also, das in irgendeiner Form mit Wasser zusammenhängt?»
«Eis hat bis jetzt immer eine Rolle gespielt», sagte ich. «Am Nordpol, wo die Mühle stand, gibt es jede Menge davon. Auch die schwarze Burg auf der Wolke war aus Eis. Aus schwarzem Eis. So schwarz wie die Mühle.»
«Guter Hinweis», sagte Jules und notierte sich etwas in seinem Notizbuch.
«Das Schiff, auf das du in Nantes klettern wolltest», fügte Albert hinzu. «Das Schiff, das sich im Sturm losgerissen hat und auf dem Timos Hund – na ja, du weißt schon.» Er räusperte sich verlegen.
«Die Nautilus», flüsterte Jules andächtig.
«Bo lebt», sagte ich sofort. «Amundsen und seine Verbrecherbande haben ihn gekidnappt. Haben ihn angeblich aus dem Wasser gezogen. Wer’s glaubt.»
«Das Wikingerschiff im Burggraben», kam ein Beitrag von Albert. «Der Wasserfall und der Abfluss.»
«Und die leuchtenden Fische im Burggraben», fügte ich noch hinzu.
«Wir haben einen Anhaltspunkt», rief Albert plötzlich und sprang auf. «Hammerfest, Norwegen. Der Eisbärenclub. Das Wikingerschiff in der Schweiz kam aus Hammerfest. Auch wenn mir noch völlig unklar ist, wie es in das Jahr 1309 und in den Burggraben gelangen konnte. Wenn wir wüssten, wann es dort im Museum ausgestellt wurde, oder werden wird, von unserer Zeitachse aus betrachtet, könnte uns das einen Hinweis geben.»
«Was stand denn noch mal auf der Plakette, die an dem Schiff befestigt war?», fragte ich.
«Eisbärenclub Hammerfest», sagte Albert. «Auf Norwegisch natürlich. Der Eisbärenclub ist ein Museum.»
«Da stand noch mehr», erwiderte Jules. Albert zog erneut die Augenbrauen hoch und legte die Stirn in Falten. Hoffentlich wurde das nicht zur Angewohnheit. Jules kramte in seiner linken Hosentasche, dann in der rechten und zog schließlich einen ziemlich zerknitterten Zettel heraus. Den Zettel, den er vor sechshundert Jahren auf dem dunklen Schiff auf die Plakette gelegt hatte, um sie mithilfe eines Bleistiftes abzupausen, oder besser gesagt, durchzurubbeln. Er strich das Papier glatt und legte es vor uns in den Sand.
«Isbjørnklubben Hammerfest» war undeutlich, aber doch erkennbar zu lesen. Und darunter, ein ganzes Stück kleiner, «1952».
«Das ist es», jubelte Albert und sprang wie ein Känguru durch den Sand. «Jules, du bist grandios. Die Jahreszahl hatte ich komplett übersehen. 1952. Das Schiff ist im Jahr 1952 gebaut und in dem Museum in Hammerfest ausgestellt worden. Wir kennen den Ort, wir kennen die Zeit, wir können loslegen.»
«Ja», stimmte ich ihm, weniger begeistert, zu. «Wir müssen nur noch Mary Miller einladen, mit uns zu kommen.»
«Vielleicht wird das gar nicht so schwer werden», sagte Jules und grinste uns vergnügt an. «Schaut mal, wer da drüben sitzt und uns schon eine ganze Weile beobachtet.»
Tatsächlich saß auf einer kleinen Mauer, die den Strand von der Straße trennte, das junge Mädchen, das gerade noch, vermutlich mit seinen Geschwistern, im Garten Badminton gespielt hatte. Wären die langen, blonden Locken nicht gewesen, man hätte sie in der halblangen Hose und der ausgewaschenen Bluse für einen Jungen halten können. Als sie merkte, dass wir sie anschauten, sprang sie lässig von der Mauer und schlenderte wie zufällig zu uns herüber. Dabei tat Mary so, als suche sie etwas im Sand. Jedenfalls glaube ich, dass sie nur so tat.
«Na, gefällt euch unser Strand?», fragte sie keck und stellte sich zwischen uns und die Sonne, sodass wir geblendet zu ihr hochblinzeln mussten. Jules ließ derweil heimlich den Zettel wieder in der Hosentasche verschwinden. «Für einen Badeurlaub habt ihr aber nicht die richtigen Kleider an. Ich kenne einen Laden hier in der Nähe, da könnt ihr Badeanzüge kaufen.»
Während ich noch überlegte, wie im Jahr 1903 wohl Badeanzüge für Männer aussehen würden, und Jules sagte: «Zum Baden ist es zu kalt», antwortete Einstein: «Vielen Dank, Fräulein Miller, aber wir sind mitnichten zum Baden hierhergekommen. Um ehrlich zu sein, sind wir – wegen Ihnen hierhergekommen.»
Jetzt war es an Mary, die Augenbrauen zu heben.
«Also» fuhr er fort, «ich will jetzt keinen falschen Eindruck erwecken. Wir hegen keinerlei unlautere Absichten oder so. Und meine Enkel – äh, Neffen kennen Sie auch nicht aus der Schule. Sie kennen Sie eigentlich überhaupt nicht.»
Ich fühlte mich verpflichtet, dem stotternden Physiker beizustehen, indem ich ganz einfach die Wahrheit sagte.
«Entschuldige, aber Albert, der nebenbei auch nicht unser Onkel, sondern ein berühmter Physiker ist, meint Folgendes: Er, mein junger Freund Jules Verne aus Frankreich und ich, Timo Kegelmann aus Deutschland, sind mit dieser Mühle durch die Zeit hierhergereist, weil wir ihre Flügel finden müssen, die ein sehr böser Mann gestohlen hat. Wenn uns das nicht gelingt, bedeutet das das Ende der Welt. Und du musst uns dabei helfen. Warum, das wissen wir noch nicht, aber es ist so.»
Ich hatte alles erwartet, Empörung, Ablehnung, Skepsis, aber nicht die Frage, die sie daraufhin stellte.
«Jules Verne? Doch nicht DER Jules Verne. Der muss doch inzwischen, lass mich überlegen, über siebzig sein.»
Albert bekam Schnappatmung, Jules einen knallroten Kopf und ich geriet in Erklärungsnot. Diese vermaledeiten Zeitsprünge. Natürlich, Verne war 1828 geboren, er war im Jahr 1903 ein alter Mann und zum Glück noch am Leben, das wusste ich. Gar nicht auszudenken, wenn Mary jetzt gesagt hätte: Aber der ist doch tot! Natürlich haben weder Albert noch ich daran gedacht, dass die junge Agatha Christie den Namen Jules Verne eventuell kannte oder vielleicht sogar Romane von ihm gelesen hatte. Was offensichtlich der Fall war. Bevor noch ein falsches Wort fallen konnte, ging ich in die Offensive.
«Komm, ich zeig dir unsere Mühle. Dann wirst du alles glauben.»
Zu meiner großen Überraschung folgte sie mir auf der Stelle, als ich über den warmen Sand lief und meine verdutzten Mitreisende zurückließ.
Deutschland, Schloss Neuschwanstein, 1886–