Am Abgrund der Unendlichkeit - Bernd Perplies - E-Book

Am Abgrund der Unendlichkeit E-Book

Bernd Perplies

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Beschreibung

Jenseits des galaktischen Domenaions existiert nichts als die Leere, ein Abgrund zwischen den Sternen, den die Völker des Weltenbunds seit jeher fürchten - zu recht, wie sich zeigt, als der Kontakt zu mehreren Randkolonien abbricht und ganze Sternsysteme von unheimlicher Schwärze verschlungen werden. Der Rat der Domänen entsendet sein bestes Schiff, die Lichtbringer, um sich dem Schrecken zu stellen. Doch das Schicksal der Galaxis soll in den Händen anderer ruhen: denen von Bendis Kahain und seiner fragwürdigen Truppe Raumretter.

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Inhalt

CoverÜber dieses BuchÜber den AutorTitelImpressumProlog1234567891011121314151617181920212223242526272829303132333435363738394041424344454647Epilog 1Epilog 2DanksagungPersonenregister

Über dieses Buch

Jenseits des galaktischen Domenaions existiert nichts als die Leere, ein Abgrund zwischen den Sternen, den die Völker des Weltenbunds seit jeher fürchten – zu recht, wie sich zeigt, als der Kontakt zu mehreren Randkolonien abbricht und ganze Sternsysteme von unheimlicher Schwärze verschlungen werden. Der Rat der Domänen entsendet sein bestes Schiff, die Lichtbringer, um sich dem Schrecken zu stellen. Doch das Schicksal der Galaxis soll in den Händen anderer ruhen: denen von Bendis Kahain und seiner fragwürdigen Truppe Raumretter.

Über den Autor

Bernd Perplies, geboren 1977 in Wiesbaden, studierte Filmwissenschaft und Germanistik in Mainz. Parallel zu einer Anstellung beim Deutschen Filminstitut in Frankfurt a. M. wandte er sich nach dem Studium dem Schreiben zu. Heute ist er als Schriftsteller, Übersetzer und Journalist tätig. 2015 erhielt Bernd Perplies den Deutschen Phantastikpreis in der Kategorie »bester deutschsprachiger Roman« für sein Werk Imperium der Drachen - Das Blut des Schwarzen Löwen.

Bernd Perplies

Roman

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Originalausgabe

Dieses Werk wurde vermittelt durch die

Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover

Copyright © 2019 by Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Wibke Sawatzki, Mainz

Umschlaggestaltung: Guter Punkt, München | www.guter-punkt.de

Titelillustration: Arndt Drechsler, Leipzig

eBook-Produktion: hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-7325-5652-6

www.luebbe.de

www.lesejury.de

Prolog

Tiefe Arjon, am äußersten Rand des DomenaionsCoana

Wenn man lange genug in den Abgrund schaut, wird einen der Abgrund verschlingen.

Davon war Coanas Erzeuger immer überzeugt gewesen. Naroan hatte das Leben eines zutiefst spirituellen Mannes geführt und viel über ihrer aller Platz im Universum nachgedacht. Mit seiner Spiritualität war jedoch nicht nur Erleuchtung einhergegangen, sondern auch Furcht – die Furcht vor der Leere, die jenseits der nur auf Karten existierenden Grenzen des Domenaions aufklaffte, jenes Sternenreichs, das im 27. Jahrtausend nach der Zeitrechnung der Orkanoiden am äußersten Rand der Galaxis lag. Wie so viele Gläubige hatte Naroan in dieser Leere einen Abgrund gesehen, eine unendliche Tiefe, aus der jedweder nur erdenkliche Schrecken emporsteigen konnte, um die Domänen des Lebens, welche die Atherier und die Sleen, die Menschen und die Floryll ihre Heimat nannten, zu verheeren. Diese Sorge hatte sich mit zunehmendem Alter in krankhafte Besessenheit gewandelt, und schließlich war Naroan aus Coanas Leben geflohen und hatte sein Heil in einem Kloster der Luminatoren gesucht, jenem Paladin-Orden, der vor vielen Generationen zum Schutz all der Verängstigten gegründet worden war. Seitdem saß Naroan dort wirr im Geiste in seiner Zelle und erwartete Unheil.

Coana hatte, zu ihrer eigenen Beruhigung, das besonnene Wesen und den analytischen Verstand ihrer Erzeugerin geerbt. Daher zog sie die Wissenschaft der Religion vor. Dennoch hatte auch sie im Laufe der Jahre die Faszination ergriffen, die so viele Bewohner des Domenaions überkam, wenn sie den Blick randwärts richteten, auf die sternenlose Unendlichkeit, die sich dort erstreckte. Sie ging an die Große Akademie in Usantalor auf ihrer Heimatwelt Atheria und studierte dort den Kosmos und seine Geheimnisse. Anschließend besuchte sie Einrichtungen des Wissens auf Norton, Shenavis und Belux, und für ein halbes Standard-Jahr lebte sie sogar unter den Orkanoiden, um von diesen wundersamen Geschöpfen zu lernen. Das war noch vor dem politischen Eklat gewesen, der vor zehn Standard-Jahren zwischen den riesigen Quallenwesen und diesen furchtbaren Barakkaranern aufgekommen war. Die Barakkaraner hatten unbedingt seltene Erze auf einem den Orkanoiden heiligen Wander-Asteroiden schürfen müssen. Seitdem hatten die uralten Bewohner der Zwillingsgasriesen Rauras und Navada jeden Kontakt mit den Völkern des Domenaions abgebrochen. Und keine Delegation von Reumütigen, zu denen zugegebenermaßen nie ein Barakkaraner gehört hatte, war imstande gewesen, sie davon zu überzeugen, diese Haltung wieder aufzugeben – ein unschätzbarer Verlust, wie Coana fand. Aber nach ihrer Meinung fragte ja niemand.

Nach ihrem Abschluss hatte Coana eine Weile im astrografischen Zentrum auf Raumstation 41 – die eN’iX hatten eine so prosaische Art, ihre Einrichtungen zu benennen – gearbeitet. Anschließend war sie hierhergekommen, auf die Außenrand-Forschungsstation Tiefe Arjon.

Die Station bestand im Wesentlichen aus einer gewaltigen Sensorphalanx, die sich fächerförmig in Richtung des Leerraums erstreckte. Ihre Aufgabe lag darin, zu ergründen, ob dort draußen mehr als bloß Nichts war. Selbstverständlich gab man dem Ganzen einen wissenschaftlichen Anstrich, aber Coana argwöhnte, dass die Station – ebenso wie ihre elf Geschwister entlang der Grenzen des Domenaions – nicht zuletzt dazu da war, die Bürger der Domänen besser schlafen zu lassen. Wenn es tatsächlich Schrecken gab, die aus dem Abgrund der Unendlichkeit emporsteigen konnten, dann waren es die Tiefe-Stationen, die sie als Erste bemerken würden.

Coana glaubte nicht daran, dass in der Leere etwas existierte. Es widersprach jeder wissenschaftlichen Logik. Jede Form von nennenswertem Leben benötigte Licht und Wärme, ganz gleich wie wenig, und beides gab es nur in Raumregionen, in denen Sterne leuchteten. Doch obwohl es im Abgrund – zumindest für die Augen einer Atherierin wie Coana – buchstäblich nichts zu sehen gab, faszinierte sie diese Schwärze, diese völlige Abwesenheit von Sinneseindrücken.

Gänzlich leer war der Leerraum, trotz seines Namens, allerdings auch nicht. Die hochempfindlichen Apparaturen der Sensorphalanx maßen da draußen eine Vielzahl kosmischer Strahlungen, die meisten von ihnen sehr gewöhnlich, manche bemerkenswert exotisch. Außerdem schossen nicht nur Myriaden atomarer Partikel durch das finstere, eisige Vakuum, sondern auch größere Brocken, karge, zerklüftete Asteroiden-Irrläufer, die bar jeden Lebens einsam ihre Bahn zogen. Aber all das war für das bloße Auge vollkommen unsichtbar. Für Coana, die gemeinsam mit zwei Kollegen einsame Wacht über die Sensorphalanx und den angeschlossenen Analyserechner hielt, präsentierte sich der Abgrund jenseits der Beobachtungsfenster als ein schwarzes Meer, in das nur noch vereinzelte Sternenhalbinseln hineinragten, Ausläufer der Spiralgalaxis, die langsam in diese Finsternis am Rand des Universums expandierte.

»Du tust es wieder«, vernahm Coana eine Frauenstimme hinter ihrem Rücken.

Coana blinzelte mit ihren großen, schwarzen Augen und wandte sich von der kreisrunden Transparentstahlscheibe ab, vor der sie stand. »Ich schaue aus dem Fenster?«, antwortete sie der kleinen, stämmigen Menschenfrau mit dem kurzen, violetten Haar und der rosigen Gesichtshaut, wobei sie fragend den Kopf schief legte.

»Du starrst in den Abgrund«, verbesserte sie Meng Shani, »so, als würdest du erwarten, dass dort etwas erscheint.«

Abwehrend hob Coana die schlanke Hand mit den vier langgliedrigen Fingern. »Ich erwarte gar nichts. Ich genieße lediglich die Ruhe, die von der Leere ausgeht.«

Meng Shani lachte leise, während sie zum Getränkeautomaten des Aufenthaltsraums ging und einen heißen Saro-Kava aus ihrer Heimat orderte. »Wo wir hier jeden Abend die Wände zum Beben bringen.« Die Worte klangen ironisch. »Noch mehr Ruhe, und ich würde auf der Stelle einschlafen.«

»Ihr Menschen seid immer so hektisch«, sagte Coana mit einem Seufzen.

»Man muss leben, solange man jung ist«, erwiderte Meng Shani. »Und ich werde nun mal keine zweihundert Jahre alt, so wie du, meine Große.« Sie nahm ihre Tasse, hob sie an die Lippen und nippte an ihrem Kava.

Coana schlug huldvoll die Augenlider nieder, bevor sie sich wieder der Schwärze vor dem Fenster zuwandte. Dabei spürte sie, wie ein Schmunzeln an ihren Mundwinkeln zupfte. Sie mochte die junge Menschenfrau, auch wenn diese sich manchmal gebärdete wie ein wildes Kind.

Meng Shani war die Computerspezialistin und Ingenieurin ihrer kleinen Besatzung. Gemeinsam mit Te’De’O, einem eN’iX, der als Arzt und Biologe arbeitete, lebten die beiden Frauen nun schon seit fast einem Standard-Jahr hier draußen am absoluten Rand. Es stimmte, was Meng Shani sagte: Es war ein sehr ruhiges Leben. Sie bekamen kaum Besuch, und der Großteil ihrer Arbeit bestand aus Datenanalysen. Vermutlich hätte die Station überhaupt keine Besatzung gebraucht. Aber wenn schon nicht die wissenschaftliche, so war doch die psychologische Funktion von Tiefe Arjon zu wichtig, um den Außenposten allein den Automaten zu überlassen. Falls es zu einer Störung kam oder – das Licht mochte sie davor bewahren – einem tatsächlichen Kontakt, wollte der Rat der Domänen biologische – oder im Falle der eN’iX semibiologische – Intelligenz vor Ort wissen, die sich mit dem Problem befassen konnte und es einzuschätzen vermochte.

Coana blickte erneut in die Schwärze. Aus der gepanzerten Fensterscheibe blickte ihr Spiegelbild zu ihr zurück. Sie sah eine schlanke, hochgewachsene Frau mit langen Gliedern und einer weißgrauen, an Meeressäugetiere erinnernden Haut, deren Körper in einem hellen, graubraunen Stationsanzug steckte; nicht hässlich, aber gewiss auch nicht der letzte modische Trend auf Atheria. Ihr dünner Hals wurde von einem hohen Kragen kaschiert; den vollständig haarlosen Kopf mit dem kleinen Mund, den direkt darüberliegenden Atemschlitzen und den großen Augen zierte dezentes Make-up.

Im Grunde hätte es Coana egal sein können, wie sie aussah. Hier draußen gab es keine gesellschaftlichen Empfänge. Aber sie war diszipliniert genug, um auch am hintersten Ende der Galaxis auf ihr Äußeres zu achten. Vielleicht spielte zudem ein wenig Eitelkeit hinein. Es genügte, dass sie mit sechzig Standard-Jahren die Älteste an Bord war. Sie wollte nicht auch noch so aussehen.

Meng Shani trat neben sie. »Du wirkst so nachdenklich«, sagte sie leise, die Tasse mit Kava in beiden Händen. »Stimmt irgendetwas nicht?«

Diese Frage konnte Coana nicht so leicht beantworten. Objektiv betrachtet gab es nichts in ihrem Umfeld, das ihr Anlass zur Sorge hätte geben können. Die Sensorphalanx arbeitete einwandfrei, die Betriebswerte aller Bordsysteme lagen im Normalbereich. Ihr Körper zeigte keine Symptome einer Krankheit, und auch aus der Heimat lagen keine Nachrichten vor, die auf Probleme dort hingewiesen hätten. Alles war gut – dennoch spürte Coana schon den ganzen Tag über eine unterschwellige Unruhe, die auch nicht besser geworden war, seit sie sich hierher, ans Fenster des Aufenthaltsraums, begeben hatte, um in den Leerraum zu blicken. Sonst half ihr das stets dabei, inneren Frieden zu finden. Heute war eher das Gegenteil der Fall; ihre Unruhe wurde noch stärker, während sie in die Schwärze hinausstarrte. »Ich weiß es nicht«, gab sie schließlich zu. »Ich fühle …«

Der Alarm des Computersystems unterbrach sie. Es war ein durchdringendes Jaulen, das sie noch nie außerhalb einer Systemüberprüfung vernommen hatten. Ungläubig schauten sich Coana und Meng Shani an.

»Das ist der Annäherungsalarm von der Phalanx«, entfuhr es der Computerspezialistin.

Für einen Unwissenden hätte dieser Satz nicht außergewöhnlich geklungen. Immer wieder besuchten Versorgungsschiffe Tiefe Arjon, sehr selten kamen auch Wissenschaftlerkollegen vorbei, um Erkenntnisse auszutauschen. Doch Coana und Meng Shani war die ganze Tragweite dieser Aussage bewusst. Die Phalanx wies direkt in den Leerraum hinaus, dorthin, von wo eigentlich nichts kommen konnte. Erst recht nichts, das den Hochleistungs-Multispektralsensoren der Phalanx so lange entging, dass der Annäherungsalarm die erste Warnung darauf darstellte.

»Coana, Meng, kommen Sie bitte sofort in die Zentrale«, drang die Stimme von Te’De’O aus dem Bordlautsprecher. Für gewöhnlich war der eN’iX durch nichts aus der Ruhe zu bringen. Eine präzise Kontrolle über den eigenen Hormonhaushalt machte das möglich. Doch jetzt klang er so angespannt, als habe es in seinem Adrenalindepot eine Fehlfunktion gegeben.

Meng Shani rannte sofort los. Coana folgte ihr etwas beherrschter, wobei ihre langen Beine ihr einen Geschwindigkeitsvorteil verliehen, der dafür sorgte, dass beide Frauen dennoch fast gleichzeitig in der Operationszentrale von Tiefe Arjon eintrafen.

»Was kommt da auf uns zu?«, fragte Meng Shani, während sie den Arbeitsblock in der Mitte des Raums umrundete, um zu Te’De’O zu gelangen, der vor dem Steuersystem der Sensorphalanx an der Rückwand der Zentrale saß.

Der Arzt wandte ihr das glatte, hellblaue Kunstgesicht zu. »Ich weiß es nicht. Aber es ist gewaltig. Und es hat uns beinahe erreicht.«

»Wie gewaltig?« Coana beugte sich über die Anzeigen, denn letzten Endes war sie die Einzige an Bord, die das kosmische Phänomen korrekt einzuschätzen vermochte.

»Dreihundertzwanzigtausend Kilometer im Durchmesser bei veränderlichen Randmaßen.« Te’De’O rief auf seinem Monitor ein Falschfarbenbild auf, das die Sensorphalanx gemacht hatte. Von einem Augenblick zum nächsten war der Weltraum vor ihnen nicht mehr schwarz, sondern von einem giftigen Grün. Te’De’O fuhr die Kameraperspektive zurück, aber es war unmöglich, das ganze Phänomen abzubilden.

Meng Shani entfuhr eine leise Verwünschung. Sie klang vollkommen fassungslos.

Coana starrte auf die Bilddaten, dann rief sie rasch einige weitere Werte der Phalanx ab. Sie spürte, wie ein Zittern durch ihre feine Rückenfinne lief. Mit einem Ruck wandte sie sich ab und eilte auf den Ausgang zu.

»Coana?«, rief Meng Shani ihr nach, aber sie antwortete nicht. Sie wollte zurück zum Aufenthaltsraum. Sie musste das Phänomen mit eigenen Augen sehen – wenn man es überhaupt sehen konnte, denn bis vor wenigen Momenten war ihr nicht das geringste Anzeichen darauf aufgefallen.

»Coana!« Sie vernahm Schritte, als die Menschenfrau ihr nacheilte. »Das Ding kommt direkt auf uns zu! Wir müssen sofort hier weg!«

Die Aufforderung war vollkommen sinnlos. Wenn die Anzeigen in der Zentrale stimmten – und es gab keinen Grund, an ihnen zu zweifeln –, näherte sich das Phänomen mit irrsinniger Geschwindigkeit. Es würde sie erreichen, lange bevor es ihnen gelang, in die Notfähre zu steigen, mit dieser zu starten und den Quantentransit durch den Nullraum zu vollziehen.

Coana erreichte den Aufenthaltsraum und trat erneut an das große Panoramafenster. Was sie dort sah, verschlug ihr den Atem. Wenn man lange genug in den Abgrund schaut, wird einen der Abgrund verschlingen.

Heute war es so weit.

1

Raumschiff Leitstern, im freien Raum, System LZ-724Bendis Kahain

Das Raumschiff driftete einsam am Rand eines unbewohnten Sonnensystems im All. Die Energie schien komplett ausgefallen zu sein, um den Antrieb hatte sich eine Wolke gefrorener Gase gebildet und im diskusförmigen Rumpf klafften große Löcher. Trümmer trieben kaum noch um das Schiff herum. Sie waren seit dem Angriff ebenso in der endlosen Nacht verschwunden wie alles, was beim explosiven Verlust der Atmosphäre aus dem Rumpf des Wracks geblasen worden war.

Dass das Gefährt, seiner Bauform zufolge ein Transporter der Nark, Opfer eines Angriffs durch Raumpiraten geworden war, hatten sie dem Notruf entnommen. Doch selbst wenn Bendis Kahain, Captain des Raumrettungskreuzers Leitstern, und seine Mannschaft nichts davon gewusst hätten, wären die Anzeichen unverkennbar gewesen. Deutlich waren die Brandspuren von Plasmakanonen und die Einschlagkrater von Erschütterungsraketen am Rumpf auszumachen, der ursprünglich in kräftigen Rot- und Brauntönen lackiert gewesen war, jetzt jedoch, bedeckt von einer Patina aus Eis und Trümmerstaubpartikeln, überwiegend stumpf und grau wirkte.

»Es sieht so aus, als wären wir zu spät gekommen«, drang die mechanische Stimme aus dem Vocoder, der an Katiktaks Anzugkragen befestigt war. Das Zirpen und Klackern der Kieferwerkzeuge des insektoiden Silphi-Piloten der Leitstern untermalte die übersetzten Worte.

»Ich glaube auch nicht, d-dass dort noch jemand zu retten ist«, pflichtete ihm Shem Randon bei. Der Computerspezialist saß an den Sensorkontrollen und begutachtete die Daten, die ihm sowohl auf dem Monitor als auch in seiner Datenbrille angezeigt wurden. »Ich orte k-keine Rettungskapseln oder P-p-peilsignale von Raumanzügen.«

»Glauben heißt nicht wissen«, sagte Kahain fest. »Unsere Aufgabe ist es, sicherzugehen. Bring uns in Position für eine Bergungsoperation. eL’Ha, mach FABS 1 und 2 bereit.«

»Sofort, Captain. Ich starte die Drohnen, sobald wir den minimalen Sicherheitsabstand zum Zielobjekt erreicht haben.« Die silberhäutige eN’iX, die bislang das Geschehen auf dem zentralen Brückenbildschirm verfolgt hatte, wandte sich ihrer Station zu. Der helle Schein der Deckenleuchten spiegelte sich auf ihrem kahlen Schädel, und an den ringförmigen Akustiksensoren, die links und rechts von ihrem Kopf den Platz von Ohren einnahmen, huschte blaues Licht im Kreis. Das Licht deutete auf erhöhte Konzentration hin, war im Grunde aber eine Spielerei, die vor allem dem Zweck diente, andere Besatzungsmitglieder der Leitstern darauf hinzuweisen, dass eL’Ha in Ruhe gelassen werden wollte, weil sie beschäftigt war.

Neben Kahain erhob sich Neena Costa von ihrem Platz. »Ich bin mit Venk und Umbra in der Schleuse und warte auf deinen Befehl zum Übersetzen.«

»Verstanden.« Kahain nickte der jungen, hellhäutigen Frau zu, die daraufhin zur Luke eilte. Costa war der Erste Offizier auf der Leitstern und darüber hinaus die beste Bergungsspezialistin, die Kahain kannte. Er schätzte sich glücklich, sie noch immer an Bord zu haben, obwohl sie in den letzten vier Jahren mehr als nur ein Angebot von anderen Captains erhalten hatte. Aber er hatte ihr, als sie sich kennenlernten, das Leben gerettet, und diese gute Tat in seiner an fragwürdigeren Taten nicht armen Laufbahn vergalt sie ihm nach wie vor durch ihre unverbrüchliche Loyalität.

Heute waren sie einmal mehr im Begriff, eine fragwürdigere Tat zu begehen. Natürlich schickte Kahain die Drohnen und den Bergungstrupp zum Wrack hinüber, um nach Überlebenden zu suchen. Das war ihre Pflicht, und Wunder geschahen schließlich immer wieder. Aber im Grunde rechnete er nicht damit, irgendwelche Besatzungsmitglieder retten zu können. Er hatte das Raumschiff und seine Mannschaft innerlich bereits abgeschrieben, als sie der Notruf erreicht hatte, denn die Übertragung war furchtbar verstümmelt gewesen. Wie erwartet hatte es Shem fast eine Stunde gekostet, um die angefügten Koordinaten herauszufiltern, die sich darüber hinaus als derart weit entfernt erwiesen, dass Katiktak vier Sprünge hatte berechnen müssen, bevor sie ihr Ziel erreichten. In der Zwischenzeit hatten sich die Übeltäter längst durch den Nullraum davongemacht, und das Schiff war bloß noch ein leblos dahintreibendes Wrack im endlosen Sternenmeer.

Es war tragisch, wie jeder Tod im All, den Kahain und seine Truppe von der Raumrettung nicht verhindern konnten. Doch die Situation bot auch gewisse Möglichkeiten, die sich eine eher schlecht bezahlte Raumschiffbesatzung nur ungern entgehen ließ. Kahains Leute – oder zumindest die meisten von ihnen – bildeten da keine Ausnahme.

»Die Leitstern liegt jetzt längsseits neben dem Wrack«, meldete Katiktak wenige Augenblicke später. »Wir haben die Geschwindigkeit angepasst und halten den Standard-Sicherheitsabstand.«

»Danke«, erwiderte Kahain. Als der an eine flügellose, aufrecht gehende Heuschrecke erinnernde Silphi an Bord gekommen war, hatte es anfangs einige Missverständnisse gegeben, weil der Schwarmabkömmling Katiktak stets im Plural von sich sprach. Mittlerweile aber hatte sich die ganze Besatzung daran gewöhnt.

Kahain wandte sich an eL’Ha. »Schick die FABS raus.«

»Sie sind unterwegs«, bestätigte die eN’iX, deren schlanke Kunsthände auf den Steuereinrichtungen lagen.

Auf dem Bildschirm tauchten zwei metallische Objekte auf, die durch die Schwärze auf das Wrack zuschossen.

Die »ferngesteuerten Aufklärungs- und Bergungssonden« – kurz FABS – hatten etwa die Größe eines Menschen und bestanden praktisch nur aus Sensoren, Greifarmen und Schubdüsen, die um einen zylindrischen Kern angeordnet waren. Sie dienten als schnelle Vorhut der Raumretter, erkundeten Gefahrenstellen und suchten nach Überlebenden, damit sich Neena Costa, Venk Hobric und Umbra darauf konzentrieren konnten, zu helfen, statt durch das Wrack zu irren.

»Umschalten auf die Kameraperspektive der FABS«, befahl Kahain.

Randon kam dem Befehl nach, und sofort sprang das treibende Schiff näher. Während er den verheerten Rumpf betrachtete und nach dem besten Punkt für ein Eindringen ins Innere suchte, strich sich Kahain langsam mit der Hand über den kurzen, gepflegten Bart, den er sich hatte wachsen lassen, seit ihn das Haupthaar auf seinem dunkelhäutigen Schädel im Stich gelassen hatte. »Da.« Er deutete auf ein besonders großes Loch an der Oberseite des Diskus. »Leuchte mal dort hinein. Das sieht nach einem größeren Raum aus. Könnte ein Frachtbereich oder Fährenhangar sein.« Beides bot erfahrungsgemäß Aussicht auf Beute, die sich leicht bergen und zur Leitstern bringen ließ.

Eigentlich schrieben die Raumregularien im Domenaion vor, dass havarierte Raumschiffe dem jeweiligen Heimathafen gemeldet werden mussten, damit mögliche Eigner retten konnten, was noch zu retten war. Aber wer merkte schon, wenn vorher ein paar Tonnen Reaktorkühlmittel, einige Computerterminals oder Munitionskisten verschwanden – von privaten Wertgegenständen ganz zu schweigen? Nach einem solchen Angriff verlor sich eine Menge Zeug draußen in der Leere. Und an Orten wie Quintus Ira oder den unteren Ebenen von Basis Zentrat, wo sich hervorragend diskrete Geschäfte abwickeln ließen, stellte niemand Fragen, wie dieses Zeug seinen Weg in die Laderäume der Leitstern gefunden hatte.

Kahain war weder aus Überzeugung noch mit großer Begeisterung ein Dieb. Aber er zog es vor, seinen Leuten einen gewissen Freiraum für Nebenverdienste zu gönnen, wenn das bedeutete, dass sie dann mit größerem Eifer ihrem alles andere als angenehmen Job nachgingen. Er griff nur ein, wenn er merkte, dass Hobric, Umbra oder Katiktak ihre Prioritäten bei einer Rettungsoperation falsch setzten. Das kam jedoch so gut wie nie vor. Dafür sorgte Costa schon.

»Ich dringe mit FABS 1 ins Innere vor«, kommentierte eL’Ha eigentlich unnötigerweise das Geschehen auf dem Bildschirm. »FABS 2 überprüft weiter die Außenhülle.«

»Wie sieht es aus?«, meldete sich Costa aus der Schleuse über Funk.

»Wir sind noch bei der ersten Untersuchung des Wracks«, informierte sie Kahain. »Bis jetzt haben wir einen guten Einstieg an der Oberseite gefunden.«

»Keine Fracht- oder Passagierluken?«

»Es gibt eine Frachtluke unter dem Rumpf«, meldete eL’Ha. »Allerdings ist der Rahmen verzogen. Sie wird sich höchstwahrscheinlich nicht öffnen lassen. Die zwei Passagierluken an Steuerbord und Backbord in Bugnähe sehen intakt aus, wenn auch ohne Energie. Ihr müsstet sie mit der Fusionszelle des Werkzeugschlittens koppeln.«

»Der Einstieg über die Oberseite ist bequemer«, sagte Kahain. »Auch für Umbra.«

»Willst du damit sagen, dass ich dick bin, Captain?«, drang die grollende Stimme der Rhinoa aus dem Deckenlautsprecher.

»Er würde niemals dick sagen«, warf Venk Hobric über Funk fröhlich ein. »Höchstens stattlich.«

Er bekam ein mürrisches Brummen zur Antwort.

Kahain schmunzelte. »Keine Sorge, Umbra. Du bist genau richtig.«

»Das will ich meinen!«

So scherzhaft der Wortwechsel gemeint war, Kahains Hinweis hatte eine gewisse Berechtigung. Schon der kleinste erwachsene Rhinoa, dem er je begegnet war, hatte ihn um einen Kopf überragt und war sicher doppelt so schwer wie er gewesen. Umbra gehörte zu den eher eindrucksvollen Exemplaren ihrer Spezies, ein dickhäutiger und kraftstrotzender grauer Koloss mit stets griesgrämig wirkendem Gesichtsausdruck und zwei kurzen, kegelförmigen Hörnern auf dem breiten Nasenrücken. Die meisten von Menschen gebauten Raumschiffe wurden von ihr als etwas beengt wahrgenommen. Nark-Raumer hingegen waren für ihre großzügigen Innenräume bekannt.

»Der Hyperfusionsreaktor ist kalt, die Treibstofftanks leer«, meldete eL’Ha, die FABS 2 in der Zwischenzeit weiter um das Schiff herumgeführt hatte. »So wie ich das sehe, ist das Wrack sicher für den Bergungstrupp.«

»Verstanden.« Kahain lehnte sich auf seinem Kommandostuhl zurück. »Neena, ihr seid am Zug.«

2

Raumschiff LeitsternNeena Costa

Weiter hinten im Schiff, in der geräumigen Schleuse, die an den kleinen Hangar für Bergungsgeräte angrenzte, bestätigte Neena Costa den Befehl mit einem knappen Nicken. »Wir sind unterwegs.« Dann wandte sie sich an ihre Leute, die bereits im Raumanzug neben ihrem Transportmittel warteten. »Alle Helm schließen und aufgesessen. Wir gehen Schlittenfahren.«

»Aye, XO.« Venk Hobric grinste Costa breit an, während er seinen Helm aufnahm und über den Kopf stülpte. Klickend rastete die mit zwei kleinen Strahlern sowie rundum verlaufenden Stoßschutzbügeln versehene Transpariplasthaube ein, mit einem leisen Zischen aktivierte sich die Versiegelung. Seine Magnetsohlenstiefel klackten über den Metallgitterboden, als der sehnige, blonde Mann zu dem Transportschlitten hinüberstapfte und aufstieg. Er hob einen Daumen, um Bereitschaft zu signalisieren.

Im nächsten Augenblick ächzte der Schlitten – im Grunde ein flaches Metallgerüst mit Schubdüsen, Scheinwerfern, Werkzeugcontainern und sogar einem Drucksarg für die Beförderung von Verletzten –, als sich Umbra zu dem Menschen gesellte. Die Rhinoa trug einen vom Raumrettungskommando spezialangefertigten Anzug, denn obwohl ihr Volk vor fast hundert Jahren den Quantentransitantrieb des Domenaions übernommen hatte, waren nach wie vor so wenige der eindrucksvollen Dickhäuter im All unterwegs, dass man Schutzausrüstung für sie nicht einfach von der Stange kaufen konnte.

Anfangs hatte sich die Raumrettung gesträubt, Umbra überhaupt auf einem ihrer Schiffe dienen zu lassen. Rhinoa waren extrem kräftig, aber nicht unbedingt für ihr Geschick berühmt, und oft erforderte die Befreiung von Opfern einer Havarie höchste Präzision und Feingefühl. Aber der Captain hatte darauf bestanden, sie an Bord nehmen zu dürfen. »Wer helfen will, sollte helfen dürfen«, hatte er damals argumentiert. »Außerdem wird sich ihre Kraft gewiss als nützlich erweisen.«

Damit hatte er recht behalten.

Costa schwang sich als Letzte auf den Schlitten, dann aktivierte sie mit ihren Armbandkontrollen den Schleusenmechanismus. Als nach dem Druckausgleich die Außentüren aufglitten, gab sie Schub auf die Manövrierdüsen und steuerte den Schlitten hinaus ins All. Schweigend legten sie den Weg zu dem Wrack zurück.

Sie hatten solche Einsätze schon so oft durchgeführt. Trotzdem ging der Anblick des zerstörten Schiffs Costa noch immer an die Nieren. Sie wusste aus eigener Erfahrung, wie es sich anfühlte, wenn die fragile Hülle, die einen vor der Eiseskälte und dem Vakuum des Weltraums schützte, zu versagen drohte, wenn Feuersbrünste die wertvolle verbliebene Schiffsatmosphäre auffraßen und überlastete Leitungen explodierten und Mannschaftskameraden in den Tod rissen. Wer Glück hatte, konnte sich zu einer Notkapsel retten. Alle übrigen warteten in irgendeiner der immer kleiner werdenden Blasen an Lebensraum in den Räumen und Gängen des Wracks und beteten, dass Retter kommen würden, um sie in Sicherheit zu bringen. Costa war damals von Kahain geholt worden. Aber der Großteil ihrer Mannschaftskameraden war zuvor ums Leben gekommen.

»Alles in Ordnung, Boss?«, grollte Umbra, der offenbar Costas verkniffene Miene aufgefallen war.

»Ja.« Sie zwang sich zu einem Lächeln und verdrängte die dunklen Gedanken. Sie musste sich auf den Job konzentrieren, denn nur wenn sie ihn gut machte, konnte sie dafür sorgen, dass anderen armen Seelen das gleiche Glück zuteilwurde wie ihr selbst.

»Ich frage mich, warum die Piraten überhaupt das Schiff angegriffen haben«, sagte sie, um rasch das Thema zu wechseln. »Es handelt sich um keinen Frachter und offensichtlich auch nicht um einen Luxusliner. Was für Beute haben die sich erhofft?«

»Vielleicht waren sie einfach auf ein leichtes Ziel aus«, warf Hobric ein. »Das Schiff sieht unbewaffnet aus. Manche dieser Banden hier draußen sind verzweifelt genug, um selbst Müllfrachter anzugreifen in der Hoffnung, noch irgendwas Verwertbares zu erbeuten.«

Costa schnaubte leise. »Wir leben in einer wundervollen Galaxis. Und nie sind die Paladine da, wenn man sie braucht.«

Ihr Gespräch verstummte, als der Schlitten das Wrack erreichte. eL’Ha hatte das Trudeln des havarierten Schiffs in der Zwischenzeit etwas verringert, indem sie mit einer ihrer Drohnen, die speziell zu dem Zweck mit starken Einmal-Boostern bestückt waren, für gezielten Gegenschub sorgte. Dadurch fiel es Costa und den anderen leichter, an der Außenhülle unweit des Einstiegslochs festzumachen. »Wir lassen den Schlitten hier, bis wir ihn brauchen«, ordnete Costa an. »Ich gehe voran. Hobric, du trägst die Medo-Ausrüstung, Umbra, du den Schneidlaser.«

Nacheinander ließen sie sich durch das Loch ins Schiffsinnere sinken. Gemeinsam mit der Energieversorgung war auch die künstliche Schwerkraft ausgefallen, sodass sie sich mit ihren Magnetstiefeln sichern mussten, um sich durch das Schiff zu bewegen. In einer intakten Umgebung hätte Costa darauf verzichtet und sich einfach schwebend durch die Gänge bewegt. Eine entsprechende Ausbildung besaßen sie alle. Aber in einem Wrack war die Gefahr einfach zu groß, sich an einer scharfen Kante oder herausragenden Metallstrebe den Anzug aufzureißen, wenn man nicht sehr vorsichtig vordrang.

Wie erwartet, befand sich unter dem Einschussloch ein Frachtraum, der allerdings so gut wie leer gefegt war. Was die Dekompression nicht mit sich gerissen hatte, mussten die Piraten geraubt haben. Costa versuchte das enttäuschte Brummen von Venk Hobric zu überhören. Der Mann mochte ein guter Raumretter sein, aber seine Neigung, bei Einsätzen auch immer nach Beute zu schielen, damit er und ein paar der anderen sich etwas dazuverdienen konnten, ärgerte sie. Es warf ein schlechtes Licht auf die Raumrettung. Aber Costa wusste, dass Kahain in diesen Dingen die Zügel seiner Leute absichtlich locker ließ, und sie wollte seine Autorität nicht untergraben. Also biss sie die Zähne zusammen und schwieg.

Rasch überprüften sie, ob nicht jemand in den verbliebenen paar Containern Zuflucht gesucht hatte – das kam immer wieder vor, denn die meisten Container ließen sich luftdicht versiegeln, und manche waren auch ziemlich gut isoliert. Da das nicht der Fall war, begaben sie sich auf den tunnelgroßen Gang hinaus, der bis auf ein paar kleine Notleuchten im Dunkeln lag.

»An diese Nark-Architektur werde ich mich nie gewöhnen«, murmelte Hobric. »Man könnte mit einem Bus hier durchfahren.«

»Na ja, die Nark dienen den Orkanoiden, und die sind nun mal ziemlich groß«, sagte Costa.

»Ob einige von den Quallen an Bord waren?«, fragte sich Umbra.

»Unwahrscheinlich«, meinte Costa. »Die Kerle verlassen nicht gern ihre Heliumwolken.«

»Umso eigenartiger, dass die Nark auf ihren Schiffen immer Platz für sie lassen«, fand Hobric.

»Tja, für den Fall, dass doch mal einer auf Reisen gehen will.« Costa aktivierte die Komm-Frequenz, mit der sie Kontakt zur Leitstern hielten. »Leitstern, hier Costa. Was sagt FABS 1 über das Schiffsinnere?«

»Deck eins bis drei im Heckbereich rund um den Hyperfusionsreaktor sind Strahlungszonen«, meldete eL’Ha. »Die Sonde hat zwei tote Besatzungsmitglieder gefunden. Überlebende gibt es keine. Die Toten wurden markiert und können am Ende der Operation geborgen werden. Ich werde jetzt versuchen, die Eindämmung der Brennkristalle zu stabilisieren, damit dieser Bereich des Schiffs wieder sicher wird.«

»Mach dir unseretwegen keine Mühe. Wo niemand zu retten ist, müssen wir nicht hin.«

»Dass niemand zu retten ist, heißt nicht, dass dort nichts zu holen wäre«, brummte Hobric, aber leise genug, dass Costa es entschied zu ignorieren.

»Ich schlage vor, wir teilen uns auf«, sagte sie stattdessen. »Ich dringe zur Brücke vor und sichere alle Flugdaten für die Eigner. Ihr schaut euch Deck zwei an. Dort müssten die Passagierkabinen liegen, wenn das Schiff der Standardbauweise der Nark entspricht. Überprüft, ob noch jemand in seiner Kabine eingesperrt ist. Ansonsten: Standardprozedur. Alles klar?«

Der sehnige Mensch und die hünenhafte Rhinoa bestätigten. Standardprozedur, das bedeutete, dass sie ständig in Funkkontakt blieben und sofort wieder zusammenkamen, wenn jemand einen Überlebenden fand. Dabei würde derjenige, der dem Schlitten am nächsten war, diesen abholen und zum Einsatzort bringen, damit sie das schwere Schneidgerät und den Drucksarg verfügbar hatten, wenn sie ihn brauchten.

Sie trennten sich, und Costa marschierte den Tunnel hinunter in Richtung Bug. Es war dunkel um sie, denn selbst die Notbeleuchtung war teilweise ausgefallen. Im Schein ihrer Helmlampen sah sie Raureif auf dem Boden und an den Wänden glitzern, wo sich gefrorene Atmosphäre niedergeschlagen hatte. Trümmerstücke schwebten durch den Gang, manche von ihnen gefährlich scharfkantig, sodass sie aufpassen musste, wenn sie an ihnen vorbeischritt.

»Wir haben drei weitere tote Nark gefunden«, meldete Hobric über Funk. »Sie tragen zivile Kleidung – keine Waffen, keine Rüstungen.« Er schwieg kurz. »Eigentlich ungewöhnlich für Nark, wenn man bedenkt, wie aggressiv sie sind.«

»Vielleicht waren es Forscher oder Händler«, mutmaßte Costa. »Nicht alle Nark sind Krieger. Außerdem beeinflussen die Lehren der Orkanoiden sie von Generation zu Generation mehr. Irgendwann werden sie noch verträgliche Nachbarn.«

Hobric lachte. »Den Tag erleben wir nicht mehr.«

»Nein, vermutlich nicht«, gestand sie.

Sie erreichte das Druckschott, das zur Brücke führte. Es sah aus, als wäre es mit roher Gewalt aufgesprengt worden. Mit einem unguten Gefühl in der Magengrube drang Costa weiter vor. Tatsächlich wurde dieses bestätigt, als sie in den Raum trat.

Offensichtlich hatte hier ein Kampf stattgefunden. Die Brücke lag im Zentrum des Schiffs und war daher nicht von außen getroffen worden. Dadurch hatte die Besatzung Zeit gehabt, Raumanzüge anzulegen und sich zu bewaffnen, bevor die Angreifer sie erreicht hatten. Viel geholfen hatte das nicht. Grimmig presste Costa die Lippen zusammen, als sie die frei im Raum schwebenden Leichen sah, umgeben von glitzernden braunen Eiskristallen, die ohne Zweifel Nark-Blut waren. Sie mochte die braun geschuppten Humanoiden mit den irritierend gelben Augen und den spinnenbeinähnlichen Kopfanhängseln nicht sonderlich, denn ungeachtet dessen, was Costa Hobric soeben gesagt hatte, waren die meisten Nark tatsächlich ziemlich streitsüchtig. Trotzdem empfand sie einen Anflug von Mitleid mit ihnen, als sie in die gefrorenen Gesichter mit den stumpfen Augen und den verzerrten Mündern blickte, die sie aus eingeschlagenen Helmvisieren anstarrten. Es war furchtbar, so zu sterben.

Costa atmete tief durch und schob einen Toten beiseite, um an die Konsole zu gelangen, von der aus sie hoffte auf den Hauptrechner zugreifen zu können. Mit einem Multiwerkzeug, das sie am Gürtel trug, öffnete sie die Verkleidung, dann schloss sie eine faustgroße mobile Energiezelle an. Die Zelle hatte nur eine begrenzte Ladung, aber zum Betrieb eines Computers genügte sie für gewöhnlich. Doch es geschah nichts.

»Na toll«, murmelte Costa. Sie umrundete die Konsole und sah das Problem. Ein geschwärztes Loch prangte in der Rückseite. Irgendjemand hatte die Konsole mit seiner Plasmawaffe geröstet.

Sie versuchte es an einer zweiten, aber auch hier hatte sie kein Glück. Wie es aussah, hatte der Hauptrechner selbst etwas abbekommen. Entweder war seine Schutzverkleidung beschädigt worden und die Schaltkreise waren schlichtweg erfroren, oder ein direkter Treffer hatte ihn lahmgelegt.

»Leitstern an Costa«, drang Kahains Stimme aus ihrem Helmlautsprecher. »Wie geht es voran, Neena? Wir hören gar nichts mehr von euch.«

»Ich bin auf der Brücke«, erwiderte Costa. »Hier wurde ein Blutbad angerichtet. Außerdem ist der Hauptrechner hinüber. Ich baue jetzt das Sicherheitslogbuch aus – wenn das Schiff eins hat.« Im Domenaion waren derart redundante Systeme bei Raumschiffen Pflicht, aber die Nark waren bloß Nachbarn des Sternenbunds. Und trotz ihrer uralten Mentoren war diese Spezies nicht unbedingt das, was man hochtechnisiert genannt hätte. Dinge wurden robust gebaut, um Gefahren zu überstehen. Ausgeklügelte Schutzmechanismen waren dagegen eher selten, was nicht zuletzt daran lag, dass Dinge wie Sicherheitsgurte an Sesseln oder eben Backup-Lösungen für Computer in den Augen der Nark etwas für Feiglinge waren.

»Verstanden«, bestätigte Kahain. »Was treiben Hobric und Umbra?«

»Keine Ahnung. Sie sind in der Tat verdächtig still.« Costa überprüfte, ob der Einsatzkanal noch offen war. Allem Anschein nach schon. Aber sie wusste selbst, dass es Tricks gab, mithilfe derer man sich unterhalten konnte, ohne dass es unliebsame Gesprächsteilnehmer auf dem gleichen Kanal mitbekamen. »Hobric, Umbra! Seid ihr noch da?«

»Aber natürlich, XO«, meldete sich Hobric bemerkenswert schnell. »Wir haben Deck 2 jetzt vollständig durchsucht und außer Trümmern und Toten nichts gefunden. Sind auf dem Weg zu Deck 3. Da unten befindet sich zwar nur noch Bordtechnik, glaube ich, aber, he, wir wollen ja gründlich sein, nicht wahr?«

»So ist es.« In Costas Ohren klang der Raumretter zu gut gelaunt für eine derart mühselige und langweilige Aufgabe, aber auch das war etwas, das sie zu ignorieren entschied. Sie hatte schon genug Sorgen.

Mehrere Minuten lang suchte sie auf dem Schlachtfeld der ehemaligen Brücke nach der Box des Sicherheitslogbuchs, doch vergeblich. Wie es aussah, hatten auch diese Nark es nicht für nötig befunden, die Vorkommnisse auf ihrem Schiff aufzuzeichnen. »Die Versicherung wird begeistert sein«, murmelte Costa, nur um sich gleich darauf zu fragen, ob Versicherungen nicht auch etwas für Feiglinge waren.

Wie es aussah, war diese ganze Operation ein Reinfall gewesen. Sie würden das Schiff mit einer Nullraum-Peilboje markieren und dann das Raumkommando der Nark über den Vorfall informieren. Allerdings gab es da nicht viel zu sagen. Jemand hatte das Schiff angegriffen, jetzt waren alle tot. Was genau passiert war, würden sie wohl nie herausfinden. Ab und zu kam es vor, dass Bergungen so endeten. Costa fand es dennoch extrem unbefriedigend.

Eine Hand legte sich auf die Seite ihres Helms. Costa schreckte zurück und drehte sich. Eine der Nark-Leichen war in der Schwerelosigkeit neben sie gedriftet und nun gegen sie geprallt. Costa atmete geräuschvoll aus und fluchte leise.

»Alles okay, Boss?«, fragte Umbra über Funk.

»Ja. Ich bin nur mit einem Toten zusammengestoßen und … Heiliger Abgrund!« Sie riss die Augen auf, als sie im Licht ihrer Helmlampen sah, dass sich der Mund des Nark hinter dem intakten Visier seines Helms schwach bewegte und er sie mit gläsernem Blick anstarrte. »Hobric, Umbra, zu mir! Wir haben einen Überlebenden!«

Sie wandte sich ihm ganz zu und überprüfte rasch seinen Anzug. Auf Hüfthöhe wies er ein blutiges Loch auf, aber es klebte irgendeine undefinierbare Masse darauf, die offenbar dafür gesorgt hatte, dass nicht aller Sauerstoff entwichen war. Ein Blick auf seinen Überlebenstornister zeigte ihr, dass die Energie der Anzugheizung so gut wie erschöpft war und der Druckluftvorrat ebenfalls im roten Bereich lag. »Umbra, bring den Schlitten mit. Ich will nicht, dass er uns auf dem Weg zur Leitstern wegstirbt.«

»Verstanden, Boss«, gab die Rhinao zurück. »Sind gleich da.«

Die Augenlider des Nark senkten sich langsam, und sein Kopf sackte zur Seite. »Nein, nein, nein.« Costa suchte nach den Anschlüssen für seine Lebenserhaltung, aber sein Anzug verwendete keine standardisierten Buchsen. Wenn sie versucht hätte, ihm aus ihrem Anzug Sauerstoff zu spenden, hätte sie nur Atmosphäre ins Vakuum geleckt. Und alle Adapter lagen im Schlitten. Sie packte seinen Helm und legte ihr Visier gegen das seine. »Halten Sie durch!«, schrie sie den Mann an. »Wir holen Sie hier raus. Nur noch ein paar Minuten.«

Ihr kam der Gedanke, dass die Anzüge der toten Nark womöglich noch Reserven besaßen, und sie begann hektisch, die Leichen zu überprüfen. Die Energieanzeige sah bei allen gleich schlecht aus, denn dem Anzug war es egal, ob er Tote oder Lebende wärmte. Aber Sauerstoff gab es noch reichlich, und so zog Costa einem der Toten den flachen Tornister vom Rücken und koppelte ihn mit dem Anzug des Überlebenden. »Komm schon«, murmelte sie. »Atme. Lebe.«

Doch der Nark rührte sich nicht.

3

Raumschiff Leitstern / Raumschiff LichtbringerBendis Kahain / Anterion »Eisenhand« Corn

»Wie ist die Lage, Neena?«, wollte Kahain an Bord der Leitstern wissen.

»Der Nark liegt jetzt im Drucksarg«, berichtete seine Stellvertreterin über Funk. »Er ist ohne Bewusstsein, aber am Leben. Ich schätze, er ist ein Fall für die Krankenstation.«

»Doktor Rahla hält sich bereit«, sagte Kahain.

»Sehr gut. Wir machen uns auf den Rückweg, sobald Hobric und Umbra das übrige … Bergungsgut eingesammelt haben.«

Kahain verzog keine Miene. »Verstanden.«

Neben ihm hob eL’Ha den Kopf. »Captain, ich frage mich wirklich …«

»Ich weiß«, unterbrach er sie. »Und ich glaube nicht, dass du es als eN’iX jemals begreifen wirst. Also solltest du dir darüber vielleicht einfach nicht den Kopf zerbrechen. Spart Prozessorkapazitäten.«

»Ich verfüge über ein Gehirn, Captain, genau wie du, und ich bezweifle, dass es irgendeine Frage gibt, die dessen Verarbeitungsfähigkeiten auslasten könnte.« Die silberhäutige Frau zögerte. »Aber ich denke, ich verstehe, was du meinst. Im Grunde gehen mich die fragwürdigen Geschäfte mancher meiner Mannschaftskameraden nichts an.«

»Das ist die richtige Einstellung, eL’Ha. Und nun starte bitte eine Peilboje, damit wir hier …«

»Captain!« Diesmal wurde Kahain das Wort abgeschnitten, und zwar von Shem. »Ich o-orte eine Nullraumblase schräg hinter uns.«

»Ein Schiff?« Kahain richtete sich auf. »Wie weit entfernt?«

»Etwa f-fünfzig Kilometer.«

Damit saßen ihnen die Neuankömmlinge fast im Nacken.

»Könnten das die Piraten sein?«, warf Katiktak ein.

»Ich hoffe nicht«, knurrte Kahain. »Das würde mir gehörig den Tag verderben.« Der Gedanke war nicht ganz abwegig. Es kam vor, dass Wracks von Plünderern als Lockmittel eingesetzt wurden, um danach den Rettern aufzulauern.

»Das Sprungportal b-bildet sich«, rief Shem. »Es kommt jemand hindurch!«

»Waffen aufladen. Raketenluken öffnen.« Die Leitstern mochte kein Kampfschiff sein, aber gerade um solchen Fallen zu entgehen, war sie stärker bewaffnet, als man gemeinhin von einem Raumrettungskreuzer erwartete. Ein paar der Modifikationen hatte Kahain eher eigenmächtig vorgenommen. Da aber alle wussten, warum, sagte niemand etwas – solange mit den Waffen kein Unfug getrieben wurde.

»Captain, wir empfangen eine K-Kennung.« Shem Randons Augen weiteten sich, und als er weitersprach, schwang in seiner Stimme unüberhörbar Ehrfurcht mit. »Es … es ist die Lichtbringer! Das Flaggschiff des Luminatoren-Ordens!«

Kahain flucht leise. »Auch das noch.«

»Quantentransit beendet. Alle Stationen melden volle Einsatzbereitschaft, mein Lord.«

»Sehr gut, Paladin Garla.« Paladin-Admiral Anterion »Eisenhand« Corn löste das Sicherheitsgeschirr und erhob sich von seinem Platz. Er trat auf den großen Brückenbildschirm zu, der ihnen eine Sicht auf den Raum vor dem Bug des Schlachtschiffs bot. Noch zeigte er nichts als Sterne an. »Entfernung zum Ziel, Knappe Talvi?«

»Zweiundfünfzig Kilometer, mein Lord«, erwiderte die dunkelhäutige Menschenfrau, die gemeinsam mit einem barakkaranischen Sensorspezialisten an den Ortungskontrollen saß. Sie justierte die Bugsensoren, und der Anlass ihres Hierseins sprang in den Fokus: ein Nark-Schiff, das einen Notruf abgesendet hatte, allerdings einen grauenhaft verstümmelten.

Einige Schritte entfernt gab Stern-Paladin Hamnion Garla einen Laut der Überraschung von sich. »Mein Lord, wir sind nicht die Ersten«, sagte der atherische Erste Offizier der Lichtbringer und sprach damit aus, was alle bereits auf dem Bildschirm sahen. »Es scheint ein Schiff der Raumrettung zu sein, das dort längsseits schwebt.«

Corn kniff leicht die Augen zusammen. »Senden sie ein Kennungssignal?«

»Ja, mein Lord«, antwortete Ritter Levant, ein schlanker, blasser Mensch von Galeorn, der die Funkstation besetzte. »Es ist die Leitstern.«

Einen Moment lang schwieg Corn. Er legte seine menschliche und die metallene Hand hinter dem Rücken zusammen und presste die Lippen zu einem schmalen Strich aufeinander. Dann holte er tief Luft. »Na, das ist eine Weile her.«

»Ihr kennt die Leitstern?«, fragte Garla, der sich zu ihm gesellte.

»Ich kenne ihren Captain, Bendis Kahain«, knurrte Corn. »Er war früher einer von uns – bevor er unehrenhaft aus dem Orden ausgestoßen wurde.«

»Was hat er sich zuschulden kommen lassen?«

»Er hat den Orden verraten – mehr müssen Sie im Augenblick nicht wissen.«

»Natürlich nicht.« Der Atherier neigte fragend den weißgrauen, haarlosen, auf seinem langen Hals sitzenden Schädel. »Sollen wir sie rufen?«

»Wir fliegen zuerst etwas näher. Ich will sehen, was Kahain dort treibt. Wenn er tatsächlich bloß eine Raumrettungsoperation durchführt, bieten wir unsere Hilfe an. Wenn nicht …« Corn wandte sich ab, um zu seinem Kommandosessel zurückzukehren. »… kann er sich auf etwas gefasst machen.«

»Was macht die Lichtbringer?«, fragte Kahain, denn noch war auf dem Brückenbildschirm die Perspektive der Bugkamera zu sehen: der winzige Schlitten mit seinen Leuten, der mit einem provisorischen Anhänger voller »Fundstücke« auf dem Weg zur Leitstern war.

»Sie n-nähert sich uns.« Mit einer nervösen Geste rückte Shem Randon seine Brille zurecht.

»Hol sie auf den Schirm«, befahl Kahain. »Und, Katiktak, gib ein bisschen Schub auf die Steuerdüsen, sodass wir zwischen die Luminatoren und unseren Schlitten driften. Die müssen nicht so genau sehen, was hier passiert.«

»Geht klar, Captain«, klackte der Silphi. »Wir werden das ganz unauffällig machen.«

Das Bild auf dem Hauptschirm wechselte zu einer Seitenkamera und vergrößerte den Bereich des Alls, aus dem sich das unvermittelt aufgetauchte Ordensschlachtschiff näherte.

»D-das ist ein ganz schöner B-Brocken«, stellte Randon fest.

»Ja, das Flaggschiff des Luminatoren-Ordens, ein wahres Prachtstück.« Kahain gab sich keine Mühe, seinen Sarkasmus zu verbergen. Doch es ließ sich nicht leugnen. Die Lichtbringer war imposant und wirkte obendrein unglaublich massiv. Ihr Rumpf starrte vor Waffen, und es waren genug Raumsoldaten an Bord, um damit selbst mittelgroße Kolonien zu befrieden, die Schwierigkeiten bereiteten oder hatten. Wo sie auftauchte, ging es normalerweise um galaktische Politik. Simple Rettungseinsätze gehörten nicht zu ihrem Einsatzprofil. Dass sie ausgerechnet hier auftauchte, war entweder ein unfassbarer Zufall – oder an dem Wrack war mehr dran, als sie bislang gedacht hatten.

»Die k-kommen immer näher«, meldete Randon. »Die werden sehen, w-was Venk und Umbra im Sch-Schlepptau haben.«

»Vielleicht können wir sie ablenken. Ich habe das Gefühl, es wird Zeit, dass ich meinem alten Freund Corn ›Hallo‹ sage.«

»Mein Lord, wir empfangen einen Ruf der Leitstern«, rief Ritter Levant.

»Verstanden«, erwiderte Corn. Er war versucht, nicht zu antworten. Sollte Kahain doch ein wenig im eigenen Saft schmoren und sich fragen, warum die Lichtbringer über sie gekommen war. Aber diese Art von Schikane war eines Luminatoren – insbesondere eines von seinem Rang – unwürdig. »Stellen Sie die Verbindung her.«

Levant drückte eine Sensortaste und nickte ihm dann stumm zu. Es gab keine Bildübertragung, aber das wunderte Corn nicht. Die wenigsten Captains ließen sich von ihren Gesprächspartnern auf die Brücke schauen. So etwas passierte nur bei offiziellen diplomatischen Gesprächen.

Der Admiral hob die Stimme. »Hier spricht Paladin-Admiral Corn vom Schlachtschiff Lichtbringer. Was kann ich für Sie tun, Captain Kahain?«

»Die Frage wollte ich Ihnen gerade stellen, Admiral«, ertönte die Stimme des Mannes, der es in den Rängen der Luminatoren so weit hätte bringen können, wenn er nicht so dumm gewesen wäre, sich gegen den Orden zu stellen. »Wir sind mit einer Bergungsoperation beschäftigt«, fuhr Kahain fort. »Was führt Sie in diese Gegend?«

»Wir haben einen Notruf empfangen, genau wie Sie.«

»Seit wann kümmern Sie sich persönlich um solche Lappalien? Dafür haben Sie doch Ihre Paladine.«

Corns Metallhand schloss sich um die Lehne seines Sessels, während er versuchte, ruhig zu bleiben. Es waren nicht so sehr die Worte als vielmehr der Tonfall, der seinen Unmut erregte. Er konnte sich bereits das Getuschel unter den niederen Mannschaftsrängen vorstellen, wenn das Gespräch mit diesem impertinenten Kahain auf der Lichtbringer die Runde machte. »Sie vergessen, wen Sie vor sich haben, Kahain. Zeigen Sie etwas mehr Respekt.«

»Es lag nicht in meiner Absicht, respektlos zu sein«, gab Kahain zurück, ohne allerdings besonders bedauernd zu klingen. »Ich bin nur neugierig.«

»Das dürfen Sie sein. Unsere Mission geht Sie trotzdem nichts an. Wir waren schlicht in der Nähe, als der Notruf einging.«

»Nun, Sie kommen zu spät. Die Leitstern hat das Wrack bereits untersucht. Hier gibt es für Sie und Ihre Leute nichts mehr zu finden.«

Garla, der sich zuvor mit dem barakkaranischen Sensorspezialisten unterhalten hatte, trat hinzu und beugte sich vor, um Corn ins Ohr zu flüstern: »Sie stehlen Bergungsgut.«

Corn bedeutete dem Offizier mit einem Fingerschnippen und einem weisenden Zeigefinder stumm, dass er seinen Fund auf den Hauptbildschirm legen sollte. Dort tauchte ein Bild auf, das ein kleines Bergungsgefährt zeigte. In der Vergrößerung war neben drei Insassen in Raumanzügen eindeutig ein Anhänger mit Bauteilen zu sehen.

Mit einem finsteren Lächeln beugte Corn sich auf seinem Sessel nach vorne. »Ich glaube, ich habe schon etwas gefunden, Captain Kahain – und zwar ein Schiff voller Diebe. Verbessern Sie mich, wenn ich irre, aber so wie das auf den Kameras der Lichtbringer aussieht, haben sich Ihre Leute bei der Untersuchung des Wracks nicht nur auf Überlebende konzentriert.«

Kahain drückte die Kanalunterbrechung an seinem Sitz und fluchte leise. »Er hat es also doch gesehen.«

»Was m-machen wir jetzt?«, fragte Randon. Die Lichtbringer war mittlerweile so nah, dass sie die ferne rote Riesensonne des Systems vollständig verdeckte.

»Gute Frage.« Einen Moment lang betrachtete Kahain grimmig das gewaltige Schiff seines einstigen vorgesetzten Offiziers und Mentors. Corn hielt sich derweil zurück. Er glaubte Kahain in die Ecke gedrängt zu haben und schien den Moment voll und ganz auskosten zu wollen. Die Frage war, wie erpicht er darauf war, das Gesetz, für das die Luminatoren standen, durchzusetzen. Wir werden es herausfinden, dachte Kahain, der es zwar ganz sicher nicht auf einen Waffengang mit der Lichtbringer anlegen würde, aber auch nicht vorhatte, sich einfach so geschlagen zu geben.

»Wir könnten die Lichtbringer darauf hinweisen, dass wir uns im freien Raum befinden«, sagte eL’Ha. Ihre strahlend blauen Augen funkelten – ein Lichteffekt, der Heiterkeit vermitteln sollte. »LZ-724 wird derzeit noch nicht offiziell vom Domenaion beansprucht, auch wenn es am Rand seines Einflussgebiets liegt. Außerdem sind weder die Nark noch die Orkanioden Mitglieder des Völkerbundes. Ihre Schiffe fallen also nicht unter die Jurisdiktion der zentralen Raumfahrtbehörde. Das bedeutet, dass sie unter das ältere allgemeine Raumrecht fallen. Du verstehst, was ich meine, Captain?«

Auf Kahains Miene breitete sich ein Lächeln aus. »Gepriesen sei dein Datenspeicher voller normalerweise unnützer Informationen.«

»Ich merke mir niemals unnütze Dinge«, widersprach die eN’iX. »Höchstens Dinge, deren Nutzen nicht im ersten Moment ersichtlich sein mag.«

»Nenn es, wie du willst, es könnte uns jedenfalls im Augenblick den Hals retten.« Kahain öffnete den Kanal zum Luminatoren-Schiff wieder. »Entschuldigen Sie die kleine Unterbrechung«, wandte er sich an Corn, »aber Ihr Vorwurf hat eine kleine Debatte in meiner Besatzung ausgelöst. Vielleicht sollten Sie sich mal mit Ihrem Spezialisten für Raumrecht beraten, Admiral. Denn so wie wir das sehen, findet hier kein Verbrechen statt, sondern eine vollkommen legitime Wrackbergung. Wir halten uns außerhalb des Hoheitsgebiets des Domenaions auf, und dieses Schiff gehört auch zu keiner Mitgliedswelt.«

»Das heißt, Sie geben zu, Gegenstände aus diesem Schiff entfernt zu haben?«, drang die Stimme des Admirals aus dem Brückenlautsprecher.

»Es lässt sich wohl schlecht leugnen, was auf allen Rumpfkameras zu sehen ist«, entgegnete Kahain.

»Haben Sie Überlebende an Bord gefunden?«

Kahain wollte bereits antworten, doch dann hielt er inne. Ihm wurde klar, dass Corn die Frage nicht grundlos gestellt hatte. Es gab Regeln für Bergungen von Wracks. Er hatte sie nicht alle im Kopf, aber er wusste immerhin, dass ein Wrack eigentlich nicht ausgeschlachtet werden durfte, solange noch ein potenzieller Eigner an Bord war. Und das konnte jeder Überlebende sein.

Seine nächsten Worte wählte der Captain daher mit Bedacht. »Tut mir leid, Admiral, aber auf diesem Schiff lebt niemand mehr.«

Eine Weile herrschte Schweigen am anderen Ende der Verbindung. Kahain fragte sich, wie gut die Kameras der Lichtbringer waren und ob jemand schlau genug war, zu überprüfen, ob der Drucksarg an dem Bergungsschlitten aktiviert war. Wenn jemand sah, dass Costa und die anderen im Begriff waren, eines der Besatzungsmitglieder des Nark-Schiffes an Bord der Leitstern zu bringen, würde Kahains ohnehin wackelige Verteidigung in sich zusammenbrechen wie ein Kartenhaus bei einem Erdbeben.

»Sie wissen, Captain, dass ich das Wrack und die Leitstern überprüfen lassen könnte«, meldete sich der Paladin-Admiral erneut.

»Das könnten Sie, ja«, bestätigte Kahain. »Sie könnten aber auch froh darüber sein, dass wir Ihnen die Überprüfung des havarierten Schiffs abgenommen haben, und Ihre eigentliche Mission fortsetzen. Sie haben hier draußen doch sicher Wichtigeres zu tun, als sich mit der Besatzung eines Raumrettungskreuzers herumzuschlagen.«

Wieder folgte ein kurzes Schweigen. »Sie haben recht. Wir werden stattdessen eine Meldung über den Zwischenfall an die Nark-Regierung senden. Sie wird mit Ihnen die Übergabe des Wracks und aller seiner durch Sie gesicherten Bestandteile besprechen. Sollte es dann später Beschwerden geben, weiß ich ja, mit wem ich darüber ein ernstes Gespräch führen muss, nicht wahr, Captain Kahain?«

Der war froh, dass ihr Gespräch ohne Bildübertragung ablief, ansonsten hätte er sich zusammenreißen müssen, um seine Miene unter Kontrolle zu halten. »Ich unterhalte mich immer wieder gern mit Ihnen, Admiral«, presste er hervor. »Es ist fast so schön wie in alten Zeiten.«

»Ja, wie in alten Zeiten.« Auf der Brücke der Lichtbringer wechselte Corn einen grimmigen Blick mit seinem Ersten Offizier. Der Gedanke, Kahain festzusetzen und wegen seines fragwürdigen Charakters der Justiz zu übergeben, war verführerisch. Aber in dem Punkt hatte der Raumretter recht: Jede Untersuchung würde Zeit kosten, und das Vergehen, das man diesen Leuten vorwerfen konnte, wog vergleichsweise gering. Wahrscheinlich kamen sie am Ende mit einem blauen Auge davon. Die Raumrettung hatte überall viele Freunde, und niemand wollte die Männer und Frauen bestrafen, die einem vielleicht irgendwann einmal den Hals retten mussten. Havarien im All kamen schließlich immer wieder vor.

Zeitverschwendung, dachte Corn und schloss die ganze Operation in sein Urteil ein. »Benehmen Sie sich, Captain Kahain«, sagte er zum Abschied. »Der Orden mag Sie vergessen haben, aber ich behalte Sie im Auge. Und wenn Sie irgendwann den einen Fehler zu viel machen, werde ich da sein, um Sie zur Rechenschaft zu ziehen.«

»Retten Sie einfach weiterhin die Galaxis.« Hörbarer Unmut hatte sich in Kahains Stimme geschlichen. »Dann haben Sie und Ihre Leute genug für das Domenaion getan.«

»Unser Dienst ist nie genug«, sagte Corn, zufrieden, dass er am Ende ihres Gesprächs die Oberhand hatte. »Aber ich erwarte nicht, dass Sie das verstehen, Kahain. Lichtbringer Ende.« Er gab Ritter Levant das Zeichen, die Verbindung zu trennen.

»Wir fliegen weiter?«, fragte Garla.

»Ja. Sicherheitsabstand herstellen und Quantentransit berechnen. Wir springen, sobald alles bereit ist.«

»Ihnen ist bewusst, dass die uns wahrscheinlich belogen haben, was Überlebende angeht?«

»Ja, wahrscheinlich. Aber darum sollen sich die Nark kümmern. Ritter Levant, senden Sie einen Bericht an die Raumfahrtbehörde auf Aonark. Übermitteln Sie die Koordinaten des Wracks und die Kennung der Leitstern. Weisen Sie darauf hin, dass wir eine Untersuchung des Rettungskreuzers auf Diebesgut hin empfehlen. Und senden Sie eine Kopie der Kommunikation an unsere Freunde dort draußen. Captain Kahain und seine Leute dürfen gern wissen, was ihnen blüht.«

»Ja, mein Lord.«

Wenige Minuten später war die Lichtbringer wieder verschwunden, und Bendis Kahain empfing sein Außenteam in der Schleuse. Doktor Gonian Rahla war mit einer Rolltrage eingetroffen. Nun eilte die hochgewachsene Atherierin mit eleganten Bewegungen zu dem Drucksarg, öffnete ihn und begann den bewusstlosen Nark einer ersten Untersuchung zu unterziehen. »Umbra, helfen Sie mir, ihn auf die Trage zu legen«, bat die Ärztin.

Mit einem bestätigenden Schnauben schob die hünenhafte Rhinoa ihre Arme unter den Leib des Nark und hob ihn ohne größere Anstrengung hinüber auf die Trage.

»Danke.« Rahla betätigte die Kontrollen der Trage und manövrierte sie auf den Korridor hinaus. »Venk, bitte folgen Sie mir. Wir müssen diesem Mann den Anzug ausziehen und ihn versorgen.«

»Aye, Doc«, bestätigte der blonde Mann, der in der Zwischenzeit Helm, Handschuhe, Werkzeuggurt und Überlebenstornister abgelegt hatte. Er zog den Verschluss seines Anzugoberteils auf und trottete hinter der Ärztin her. Im Hintergrund standen die Kisten mit ausgeschlachteten Bauteilen. Wären sie lebendig gewesen, hätte man gesagt, dass sie versuchten, ganz unauffällig zu wirken. Doch diesmal konnte Kahain sie nicht übersehen.

»Costa, Umbra, wartet«, sagte er, als auch die beiden Frauen anfingen, sich aus ihren Raumanzügen zu schälen. »Ihr schafft diese Sachen wieder zurück zum Wrack. Wir lassen sie hier.«