Am Anfang allein - J.C. Smith - E-Book

Am Anfang allein E-Book

J.C. Smith

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Beschreibung

Ständig auf der Flucht vor dem Gesetz, missverstanden und allein reist der Geisterjäger Jason Harper durch die USA. Niemand weiß etwas von seinen besonderen Fähigkeiten, mit deren Hilfe der kettenrauchende, ständig fluchende Außenseiter versucht, Menschenleben zu retten. Allein steht er der dunklen Schattenseite unserer Welt gegenüber, in der die Toten den Verstand verlieren und die Lebenden quälen. In Miami gerät Jason an einen übermächtigen Feind. Mit dem Rücken zur Wand muss er erkennen, dass seine Fähigkeiten für dunkle Machenschaften missbraucht werden sollen. Trotz seiner aussichtslosen Situation stellt er sich allein dem Kampf gegen einen Gegner, der keine Skrupel kennt, und schon bald zieht sich eine blutige Spur durch Nordamerika, an deren Ende Jason Harper keine andere Wahl bleibt, als sich seinen schlimmsten Ängsten zu stellen. Band I J.C. Smith

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Seitenzahl: 477

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Für meine Tochter.

Inhaltsverzeichnis

First Cut – In die Finsternis

Second Cut – Rettung im letzten Atemzug

Third Cut – In den Sturm

Fourth Cut – Flammen und Bären

Fifth Cut – Die weiße Frau

Sixth Cut – Flucht

Seventh Cut – Rauch und Asche

Eighth Cut – Zwillinge

Ninth Cut – Eine wahnsinnige Einladung

Tenth Cut – Krieg

Eleventh Cut – Nicht mehr allein

Twelfth Cut – Dunkle Vorzeichen

First Cut – In die Finsternis

„Scheiße, ich komme zu spät. Bestimmt komme ich zu spät“, murmelte Jason und krallte sich verzweifelt am Lenkrad fest.

Der Regen prasselte auf die Windschutzscheibe des alten Chevy, und die Wischer mühten sich verzweifelt, die Sicht frei zu halten. Finstere Wolken machten den späten Nachmittag zur Nacht und das Licht der Scheinwerfer ertrank im nassen Asphalt. Jason sah in den Rückspiegel. Die Lichter der Fahrzeuge warfen seltsame Schatten wie Leichentücher über sein Spiegelbild. Er registrierte die dunklen Ringe unter seinen blauen Augen, die blasse Haut und die schwarzen Haarsträhnen, die in die Stirn hingen. Sein Blick wanderte weiter über das angetrocknete Blut auf seiner rechten Wange.

„Mann, siehst du abgewrackt aus, Alter“, warf Jason dem Spiegelbild entgegen. „Du musst das schaffen. Kapiert? Du musst. Oder es sterben noch mehr Leute deinetwegen.“

Er wandte den Blick wieder der Straße zu. Andere Autos überholten ihn und Jason erhöhte zaghaft den Druck auf das Gaspedal. Gurgelnd quälte sich der Motor ab und die Tachonadel kroch ein wenig weiter.

„Wenn ich das überlebe, dann mache ich endlich meinen Führerschein“, ließ er den alten Wagen wissen. Um sich selbst von den Schrecken der letzten Stunden abzulenken, redete er weiter. „Mit zweiundzwanzig noch keinen Führerschein. Nie dazu gekommen. Immer von einer Scheiße in die nächste geraten.“

Er starrte durch den Sturzbach, der sich über die Front ergoss, und versuchte, den Chevy heil über den Highway raus aus der Innenstadt von Seattle zu lenken. Es war nicht viel los auf der Straße.

„Glück im verkackten Unglück“, grummelte Jason.

Das Unwetter war Fluch und Segen zugleich, denn der Sturm hielt viele davon ab, mit dem Auto zu fahren. Er fingerte an seiner Schachtel Zigaretten herum, angelte sich eine Kippe heraus und schob sie sich zwischen die Zähne. Seine Hand zitterte, als er den Glimmstängel anzündete. Er sog den Rauch tief ein und ließ eine blasse Wolke als kleine Version der schwarzen Ungeheuer am Himmel im Inneren des Autos aufsteigen.

„Besser“, seufzte er und drückte noch mehr aufs Gas. Der Motor reagierte deutlicher als auf das zaghafte Tippen zuvor und beschleunigte röhrend. Jason sah auf den Tacho, wischte sich mit der Hand über die Stirn und trat noch entschiedener zu. Die Zigarette schräg im Mundwinkel verzog er das Gesicht zu einem schiefen Grinsen.

„Na also, is doch machbar, solange es geradeaus geht. Ich schaff das. Ich lass euch Freaks nicht draufgehen. Ich werde das nicht zulassen.“

Das trocknende Blut ließ sein Grinsen entschlossener aussehen. Ein tiefer Zug an der Zigarette tauchte das Innere des Chevy in unheilvolles Rot.

„Wo bin ich hier nur reingeraten?“, fragte er sich selbst und sah noch einmal in seine dunkelblauen Augen.

Jasons Hände umkrampften das Lenkrad immer fester, während er das Gaspedal bis zum Anschlag durchtrat. Das Brüllen des V8 übertönte den Sturm und der alte Wagen trug seinen Fahrer seinem Schicksal entgegen.

Second Cut – Rettung im letzten Atemzug

Einige Monate zuvor.

Das Lied des Lebens … das sanfte Rauschen des Meeres, Kinderlachen und der Wind in den Blättern der Palmen. Nur eine Note stimmte in dieser Symphonie nicht.

Miamis Strandpromenade briet in der Sonne. Ein leichter Wind wehte vom Meer, gerade genug, um ein wenig Erfrischung zu bringen. Doch trieb er auch etwas anderes, Unsichtbares vor sich her. Es war Mittagszeit und irgendwo spielte ein Musiker auf den belebten Straßen gegen den Lärm der Stadt an. Familien nutzten das schöne Wetter, um ihre Kinder zu beschäftigen, Geschäftsleute schwitzten in ihren Anzügen und durchtrainierte Sportfreaks zeigten ihre Körper.

Unterhalb der Promenade befand sich die Hauptstraße, und der Fußweg führte im Schatten einer Betonwand entlang. Zigarettenstummel lagen neben leeren Kaffeebechern aus Pappe. Zwischen den vergessenen, liegen gelassenen Abfällen stand er, im Dunkeln, wo die meisten das Licht der Sonne suchten. Eine junge, gepflegte Frau im Businessoutfit kam an ihm vorbei. Sie betrachtete ihn abschätzend und verzog das Gesicht, als er an der Zigarette zog. Nur an den auffallend blauen Augen blieb sie kurz hängen. Dann war sie vorbei und der Bursche mit seiner Zigarette schon aus ihrem Kopf verschwunden, als ihr Handy aufdringlich laut klingelte.

Jason drückte die Kippe mit seinem schwarzen Stiefel aus und entließ das letzte bisschen Rauch aus seiner Lunge. Er blickte der wandelnden Kaufhauspuppe hinterher, die ihn eben mit ihrem Ich-binja-so-wichtig-Blick taxiert hatte. Genervt schob er die Hände in die Taschen seiner verwaschenen, einstmals schwarzen Cargopants. So stand er einen Moment reglos da und beobachtete die vorbeifahrenden Autos. Dann nahm er eine Hand aus der Tasche und begann, mit dem Amulett zu spielen, das um seinen Hals hing. Es war ein grün schimmernder Stein, der in leicht angelaufener Bronze gefasst an einer Lederschnur hing. Jason krempelte die Ärmel seines ausgeleierten Shirts hoch und entblößte die Tattoos auf seinen Armen. Dabei lauschte er mit halb geschlossenen Augen in das Treiben um sich herum hinein.

Über ihm flanierten Spaziergänger und fleißige Jogger rannten schwitzend an Fast-Food mampfenden Touristen vorbei. Leute in Businessanzügen eilten dazwischen dahin, immer auf der Jagd nach dem nächsten Geschäftsabschluss, während Kinder ihre Eltern um Eis anbettelten. Jason hörte einen besonders aufdringlichen Jungen immer wieder auf seine Eltern einreden, so laut, dass er problemlos jedes Wort verstand.

„Alle in der Klasse haben eins! Das neueste! Nur ich nicht. Das geht nicht, verstehst du, Honey.“

„Nenn deine Mom nicht so!“, blaffte jemand dazwischen, wohl der Vater.

„Du hast mir gar nichts zu sagen, Nicht-Dad!“, keifte der Junge zurück. Anscheinend doch nicht der Vater.

„Ich mag es nicht, wenn ihr beiden so schreit. Reißt euch gefälligst zusammen! Was sollen denn die Leute denken? Benimm dich, Shawn. Du hast gerade letzte Woche ein neues Smartphone bekommen.“

Sie entfernten sich und mit ihnen ihre hohle Unterhaltung. Nicht Jasons Welt. Nicht mal im Ansatz. Diese Art von Leben hatte er lange hinter sich gelassen. Er hörte das Meeresrauschen, das klagende Kreischen der Möwen und die Gespräche der Passanten. Das alles interessierte ihn nicht. Er lauschte nach etwas anderem, wartete auf etwas, von dem er ahnte, dass es bald passieren musste. Ein paar Schritte neben ihm führte eine Treppe hinauf in die Welt aus Sonne und Lachen, weißem Sandstrand und lebendigen Menschen. Ein junges Paar kam gerade vorbei. Der Mann hatte sein Handy in der Hand. Die beiden gingen weiter, ohne einen Blick für den seltsamen Burschen, der da so lässig an der Wand lehnte, übrig zu haben. Jason sah ihnen kurz nach, ehe er sich wieder konzentrierte.

Er lauschte hinein in das Lied des Lebens, hörte den Klang des Meeres auf eine Art, die dem Rest der Menschheit verwehrt blieb. In dem sanften Rauschen vermischt mit dem Dröhnen der Großstadt erklang eine falsche Note.

Jason stieß sich von der Wand ab, verstaute das Amulett unter seinem Shirt und ging zügig die Treppe hoch. Er blinzelte, als er in die Sonne trat. Einige Leute betrachteten ihn skeptisch. Jason ignorierte sie und verließ den breiten Streifen aus Beton in Richtung Wasser. Der Rest der Welt war ihm so egal, dass ein Skateboarder ihm gerade noch ausweichen konnte.

„Ey, du beschissener Freak!“, schnauzte Boarderboy Jason an.

Der ging weiter und überhörte die Beleidigung. Sein Blick war ganz auf das Ufer konzentriert, während seine Stiefel in dem weißen Sand versanken und jeden Schritt mühsam machten.

Irgendein Typ spottete hinter ihm her. „Manson, verzieh dich wieder in deinen Keller, sonst zerfällst du noch zu Staub!“ Als Antwort hob Jason kurz den rechten Arm, ballte eine Faust und streckte den Mittelfinger. „Du Penner!“, grölte der Mann hinter ihm her. Jason ignorierte ihn und ließ den Arm wieder sinken.

Überall lagen Menschen auf ihren Handtüchern oder mitgebrachten Liegen, ließen sich von der Sonne bräunen, während Kinder spielten und umhertobten. Ein Sonnyboy warf ein Frisbee und sein Hund jagte freudig hinter der bunten Scheibe her. Jason behielt nur das Wasser und die Badenden im Auge und stapfte weiter auf das blaue Meer zu. Eine leichte Brandung spülte harmlose Wellen an den Strand. Ideal für kleine Kinder. Er lauschte, suchte nach der Disharmonie im Lied des Lebens, im Song der Welt, versuchte, die Ursache der falschen Note zu finden. Der Klang führte seinen Blick auf das Wasser.

„Das ist es also“, murmelte er.

Inmitten der kleinen, friedlich plätschernden Wellen entdeckte er, wonach er gesucht hatte, und beschleunigte seine Schritte. Als er sah, wie es sich einem kleinen Mädchen näherte, stürmte er los. Der Sand spritze unter seinen Stiefeln hoch, er taumelte, fing sich wieder und versuchte, schneller zu werden. Schweiß rann seinen Rücken hinab und sein Shirt klebte binnen Sekunden an seinem Körper. Er rannte weiter, ignorierte die wütenden Rufe der Leute, die er im Vorbeilaufen mit Sand bespritzte. Gemotze und Beschwerden folgten ihm, wie die Abdrücke, die seine Armeestiefel hinterließen.

Ein winziger Strudel bewegte sich quer zur Strömung und wogte schnell durch das seichte Wasser auf das vielleicht sechs oder sieben Jahre alte Mädchen zu. Jason schrie nicht, er ignorierte das Brennen in seinen Muskeln, den Schweiß, der ihm in die Augen lief, und das Rasseln in seiner Lunge. Er verschwendete keinen Gedanken an etwas anderes als das Mantra, das er immer und immer wieder in seinem Kopf wiederholte, seit er den Strudel entdeckt hatte:

Böse Geister, gehet fort. Böse Geister, gehet fort.

Und immer so weiter. Er spürte, wie seine Beine lahm wurden, ballte die Fäuste und rannte weiter. Er würde es nicht rechtzeitig schaffen. Er würde kämpfen müssen.

Das blonde Mädchen in dem bunten Badeanzug stand aufrecht im Wasser und befüllte einen kleinen, roten Eimer. Der Strudel erreichte das Kind, riss es ruckartig von den Beinen und zerrte es unter die Wellen. Es wollte schreien, doch es reichte nur für ein abgehacktes: „Mo …!“ Niemand bemerkte es.

Seine Mutter, die auf ihr Handy starrte und die ach so wichtigen Nachrichten in den sozialen Netzwerken las, sagte nur: „Nicht jetzt Schatz, Mommy ist beschäftigt.“

Der Eimer tanzte verspielt auf den Wellen. Jason vergeudete keine Luft mit Schreien. Er erreichte die Grenze zwischen Strand und Meer, quälte sich einige mühsame Schritte weit ins Wasser und sprang unelegant in die Wellen. Er klatschte flach auf die Oberfläche und tauchte unter. Es war nicht kalt, aber das Salz brannte gnadenlos in seinen Augen. Er blickte sich hastig um. Die Kleine war vor ihm, und wurde immer weitergezogen. Dorthin, wo es tiefer wurde.

So gut es mit Stiefeln und Klamotten ging, schwamm er auf das Mädchen zu. Binnen Sekunden war seine Kleidung vollgesogen und zog ihn nach unten. In seinem rechten Bein kündigte sich ein Krampf an. Aber Jason ließ nicht locker. In seinem Kopf donnerte das Mantra in einer Endlosschleife immer weiter.

Böse Geister, gehet fort. Böse Geister, gehet fort.

Vor ihm strampelte das Mädchen mit panisch weit aufgerissenen Augen gegen das Wasser an. Die Kleine reckte ihm ihre Hände entgegen. Jason konnte endlich sehen, was sie gepackt hatte. Was von oben wie ein Strudel ausgesehen hatte, glich jetzt dem Antlitz eines entstellten Jungen, dessen Gesicht grausam verzerrt war. Inmitten der blauen See schimmerte der Geist in einem dunklen Grün, seine Haare wogten wie Seetang und die Augen glänzten rot. Er, nein, es hatte das Mädchen umschlungen und glitt mit ihr weiter in Richtung offenes Meer.

In seinem Kopf schrie Jason: Lass sie frei, lass sie gehen, sie ist voller Unschuld!

Der Blick des Jungen traf auf Jasons. Das Ding schrie ihn an und die Schallwellen bombardierten Jasons Ohren. Er strampelte verzweifelt weiter, hatte kaum noch Luft in den Lungen. Die Angriffe trafen ihn wie Schläge, er fühlte sich wie ein beschissener Punchingball. Jason fokussierte sich und nahm das Mantra trotz der Schmerzen wieder auf. Das endlose Wiederholen in seinem Kopf wurde immer intensiver, immer kraftvoller.

Böse Geister, gehet fort! Böse Geister, gehet fort!

Der Geist begann wie wild zu zucken, und sein hassverzerrtes Gesicht wand sich in Agonie. Jason streckte verzweifelt einen Arm nach vorne und schaffte es knapp, die Hand des Mädchens zu greifen. Sie war bereits ohnmächtig, und er sah die Luftblasen, die im Austausch für das salzige Seewasser ihre Lungen verließen. Die blonden Haare trieben in der Strömung. Er zerrte an dem Mädchen, kämpfte darum, sie frei zu bekommen. Das bösartige Ding kreischte und schrie und ließ Jasons Trommelfell schmerzen. Der Lärm war wie eine Serie aus Schlägen auf seinen schmächtigen Körper. Jetzt hatte er die andere Hand am Arm des Mädchens. Ihm wurde schwindelig, und er spürte, dass er es dem Kind bald gleichtun würde. Der Atemreflex würde ihn zwingen, den Mund zu öffnen, und dann würde er Wasser schlucken. Verzweiflung und Wut rangen in ihm, während er mit aller Kraft versuchte, das Kind den Fängen dieses bösen Dinges zu entwinden.

In seinem Kopf rotierte unaufhörlich das Mantra: Böse Geister, gehet fort! Böse Geister, gehet fort!

Die Erscheinung raste, schrie und kreischte weiter und warf den Kopf hin und her. Aber sie gab ihr Opfer nicht frei. Langsam verließ Jason die Kraft. Alles an ihm war schwer und müde. Er sank dem gut drei Meter entfernten Grund entgegen und spürte die Stärke, mit der der Geist sie immer weiter in Richtung der offenen See zerrte.

Er nahm all seine Kraft zusammen und schrie seine Wut mit der ihm verbliebenen Luft heraus: „Böse Geister, gehet fort!“

Mit einem Schlag waren Jason und das Mädchen frei. Das Ding löste sich kreischend in einem grünen Wirbel auf und verschwand. Er spürte den Grund unter seinen Stiefeln, stieß sich mit aller Kraft ab und schoss mit der Kleinen im Schlepptau nach oben. Er schob sie mit seinen Armen hoch, sodass sie noch vor ihm die Oberfläche erreichte. Ihr Kopf durchbrach die Oberfläche und Jasons folgte ihr. Prustend sog er seine brennenden Lungen mit Luft voll.

Ihr Kopf hing schlaff zur Seite und sie rührte sich nicht. Jason trat Wasser, so gut er konnte. Seine Klamotten und der schlaffe Kindskörper in seinen Armen zogen ihn wieder nach unten. Jason versuchte, sich an den Rettungsgriff zu erinnern, denn ohne würden sie es nicht schaffen, an der Oberfläche zu bleiben. Zu allem Überfluss meldete sich der Krampf in seinem Bein mit aller Kraft zurück. Jason japste und keuchte. Seine Augen tränten vom Salzwasser. Erneut schloss sich die See über seinem Kopf. Mit letzter Kraft hielt er den leblosen Körper in seinen Händen nach oben. Plötzlich packte jemand das Mädchen und zog sie grob hoch. Jason hatte keine andere Wahl, als sie loszulassen. Sein Kopf kam wieder über Wasser und schnaufend holte er Luft.

„Du Scheißkerl!“, schrie jemand seinen Hinterkopf an. „Was fällt dir Arschloch ein?“

Jason wollte protestieren, doch er wurde beiseitegeschoben und schon schloss sich das Meer wieder über ihm. Er schluckte Wasser und würgte, während er sich verzweifelt wieder hochkämpfte. Japsend zog er sich wieder an die Wasseroberfläche und orientierte sich. Der Unbekannte hatte das Mädchen in den Rettungsgriff genommen, an den Jason sich nicht hatte erinnern können, und entfernte sich mit dem leblosen Mädchen in Richtung Ufer. Keuchend musste er musste dem Arschloch zumindest zugestehen, dass der wusste, wie der dämliche Griff ging. Dann atmete er tief durch und schwamm ebenfalls los. Hätte er genug Luft gehabt, hätte er jetzt wohl geflucht. So aber brauchte er alles, was in seinen Lungen war, um selbst wieder an Land zu kommen. Dabei wählte er nicht den direkten Weg, denn er konnte es sich jetzt nicht leisten, den Cops in die Arme zu fallen. Er war hier noch nicht fertig, und so kämpfte er sich parallel zur Küste gute hundert Meter weit, ehe er auf das Ufer einschwenkte. Eines war klar: Der Geist würde jetzt angepisst sein. Richtig übel angepisst.

Als Jason endlich wieder Boden unter den Füßen hatte, trottete er aus dem Wasser und stand in der prallen Sonne. Keuchend stützte er die Hände auf den Oberschenkeln ab und blickte zurück, um zu sehen, ob das Mädchen in Sicherheit war. Das Salz ließ seine Augen tränen und vernebelte seine Sicht. Er wischte sich über das Gesicht und sah noch einmal genauer hin. Jemand führte Wiederbelebungsmaßnahmen durch, um das Mädchen zu retten. Die Kleine schrak hoch, drehte sich zur Seite und erbrach Meerwasser.

„Glück gehabt“, murmelte Jason.

Drei oder vielleicht vier Leute marschierten entschlossen in seine Richtung los und deuteten auf ihn. Die Leute am Strand starrten ihn an, wie er mit klitschnassen Klamotten und Stiefeln dastand. Mit einem leisen „Fuck“ trottete er los. Der weiche Sand machte ihm das Laufen nicht unbedingt leichter. Die Erschöpfung und der schmerzhafte Krampf taten ihr Übriges.

„Was für ein Scheiß“, fluchte er, während er humpelnd durch die Strandbesucher Richtung Straße davoneilte.

Einige der Sonnenbadenden machten Anstalten, ihn aufzuhalten, doch irgendetwas hinderte sie daran. Ein braungebrannter Sixpack-Fitnessstudio-Typ wollte sich von seiner Luxuscampingliege erheben und sich Jason in den Weg stellen, doch kaum schaute er in die blauen Augen, glitt sein Blick hin und her und er ließ sich kraftlos wieder zurücksinken. Ehe er es sich versah, war Jason an ihm vorbei und entließ den Mann mit einem Grinsen aus seinem Mantra. Der Gedanke an Cops und sinnlose Gespräche nervten Jason so sehr, dass er zügig auf dem breiten Betonstreifen ankam, zwischen ein paar Palmen und Möchtegern-models durchhuschte und gar nicht erst die nächste Treppe suchte, sondern direkt auf den Fußweg unterhalb des Strandes sprang. Zum Glück begann der Kramp nachzulassen.

Er hörte hinter sich Rufe und Gemotze. „Halt doch mal einer den Typen da auf! Den in Schwarz. Dich kriegen wir!“

Jason dachte nicht daran, sich erwischen zu lassen. Statt nach einem offiziellen Übergang über die vierspurige, viel befahrene Straße Ausschau zu halten, rannte Jason geradeaus los, mitten hinein in den Rushhour-Verkehr.

„Oh mein Gott, der wird doch überfahren!“, kreischte jemand hinter ihm.

Doch es gab keine Vollbremsungen, kein Gehupe. Die Autos wichen ihm aus oder bremsten gerade genug ab, damit er unbeschadet vorbei huschen konnte.

Während Jason rannte, lief in seinem Inneren ein anderes Mantra:

Unbeschadete Passage, kein Schaden wird mich ereilen. Es war nicht unbedingt eines seiner besten Mantras, aber er hatte die Schnauze voll und war am Ende. Er wollte nur noch heil aus der Scheißnummer rauskommen. Seine scheinbar selbstmörderische Überquerung der Straße zwang seine Verfolger stehen zu bleiben. Ihre Rufe und Drohungen nahm er nicht ernst und trotz seiner Erschöpfung konnte er sich ein Grinsen nicht verkneifen.

Zwischen den aufgeregten Verfolgern und Neugierigen stand ein Mann in dunklem Anzug und schob sich bedächtig die Brille auf seiner Nase in eine angenehmere Position. Anerkennend lächelte er und verließ die Szene in Richtung eines schwarzen SUV.

Kaum auf der anderen Seite angekommen, verschwand Jason in einer Seitenstraße und blieb von da an in den kleinen Gassen mit ihren Mülltonnen und Haufen aus Unrat. Die Kehrseite von Miami bot ihm mehr Schutz und Verstecke als das mit dicker Schminke versehene Antlitz der Metropole. Immer wieder sah er sich um, aber niemand schien mehr hinter ihm her zu sein. Als er sich sicher fühlte, ließ er seine Erschöpfung zu und nahm das Tempo zurück. Bald würde er sich das Salz runterspülen können, wenn er endlich die billige Absteige erreichte, in der man keine Fragen stellte und nur Bargeld akzeptierte. Er trottete weiter, während das Wasser verdunstete und das Salz eine scheuernde Kruste zwischen seiner Kleidung und seiner Haut bildete. Von den nassen Socken in den feuchten Stiefeln mal ganz abgesehen. Alles begann zu schmerzen und zu jucken.

„So ein Scheiß“, murmelte Jason.

Er versuchte, seine Hose so zurechtzuziehen, dass er sich nicht den Schritt wund lief, denn es scheuerte bereits an einer sehr sensiblen Stelle.

Nach einer halben Stunde erreichte Jason das heruntergekommene Sunshine Hotel, das alles andere als ein lichter Anblick war. Müde stieg er die kurze Treppe zu der Doppeltür hoch, an der die alte Farbe in langen Streifen herunterhing. Das Hotel war ebenso heruntergekommen wie die ganze Gegend. Überall lag Müll herum. Neben der Treppe saß ein abgerissener Typ und schlief mit einer leeren Flasche im Arm seinen Rausch in der prallen Sonne aus. Jason blickte verzog das Gesicht. Er zögerte, drehte um und schob den Mann so zur Seite, dass er nun im Schatten lag. Anschließend stieß er die Tür auf, ging über den gammeligen Teppich, der nie wirklich bessere Zeiten gekannt hatte, mied den maroden Fahrstuhl und passierte den grimmigen Portier in seinem Gitterkäfig. Der grummelte etwas, das ebenso eine Beleidigung wie eine Begrüßung hätte sein können. Jason stieg mit hängenden Schultern die Treppen hinauf. Dem Geländer traute er trotz seiner Erschöpfung nicht. Außerdem musste er über ein paar Stufen mühsam hinwegsteigen, da sie so morsch waren, dass sie wahrscheinlich selbst unter einem schmalen Hemd wie ihm eingebrochen wären. Die Deckenbeleuchtung flackerte, und so war das ganze Elend in ein unstetes Licht getaucht.

Jason seufzte leise, als er die Tür aus dunklem Holz hinter sich zumachte. Er zögerte kurz, nahm das abgegriffene Bitte-nicht-stören-Schild, zog die Tür einen Spalt breit auf und hängte es auf die Klinke. Dann verriegelte Jason die Tür und schlurfte in Richtung Badezimmer. Ohne irgendetwas auszuziehen, stellte er sich direkt in die alte Badewanne. Dunkle Flecken waren über die ehemals weiße Emaille verteilt. Der Wasserhahn wollte sich ihm erst widersetzen, doch ein wütender Tritt mit seinem schweren Stiefel überzeugte ihn davon, Jason nicht weiter zu reizen.

„Nerv mich nicht, Mistding!“

Der rostige Duschkopf wackelte bedenklich, und in den Rohren in den Wänden rumorte es, ehe zuerst kaltes Wasser herauskam.

Jason verzog das Gesicht und knurrte: „Natürlich is es kalt. Was auch sonst. Nun werd warm, verdammt!“

Nach einer nervenden Ewigkeit wurde das Prasseln wärmer. Mit gesenktem Kopf stand er da und ließ sich das Salz abspülen. Dann quälte er sich aus seinem Shirt, wrang es aus, ließ seine Stiefel volllaufen und schüttete Sand und Dreck heraus. Als er die Hose auszog, fiel klappernd ein Handy in die Wanne. Er hob es auf und warf es achtlos über die Schulter. Dann kümmerte er sich um seine Hose, seine Unterwäsche und stand eine gefühlte Ewigkeit nackt unter dem Strahl aus heißem Wasser. Nur sein Amulett behielt er um. Das Wasser rann über seinen schlanken, beinahe abgemagerten Körper. Tropfen liefen über Narben und verirrten sich in dem Geflecht aus Spuren alter Verletzungen und den Tätowierungen, die sich von den Armen auf die Schultern zogen. Jason stützte sich mit beiden Händen an der Wand ab und ließ sich durchkochen. Immer wieder fielen ihm die Augen zu. Er würde Kraft brauchen. Der Kampf war noch nicht vorbei. Das Schlimmste stand ihm noch bevor. Der rotglühende Blick erschien vor seinem inneren Auge, und er begann zu analysieren, was er da gesehen hatte.

„Ich weiß noch zu wenig über dich. Wer warst du? Wie bist du gestorben? Armer Junge. Kaum älter als das Mädchen, das du umbringen wolltest“, murmelte er und gähnte herzhaft.

Mit einem Seufzen stellte er das Wasser ab und trat mit wackeligen Beinen aus der Wanne. Er hob das kaputte Handy auf, fummelte die SIM-Karte heraus, warf sie ins Klo und spülte. Die Reste des Telefons ließ er liegen. Dann sammelte er seine Sachen ein und schleppte sich tropfend ins Zimmer. Stuhl und Tisch wirkten so klapprig, dass Jason nicht gewillt war, einem von ihnen seinen Arsch anzuvertrauen. Er hängte die tropfenden Klamotten über die Lehne und die Tischkante und stellte seine Stiefel verkehrt herum an die Wand. Ob der alte, vielleicht früher einmal rote Teppich dabei nass wurde, war ihm herzlich egal.

Der kleine Kühlschrank fiel fast um, als Jason die Tür öffnen wollte, um sich etwas zu trinken zu nehmen. Er legte eine Hand auf die Oberkante und zog erst dann an dem Griff. Im Kühlschrank lagen zwei Flaschen Wasser, sonst nichts. Unverpackte Lebensmittel würde niemand diesem Bakterienherd anvertrauen. Er öffnete den Verschluss der Flasche und trank sie in langen Zügen aus. Zufrieden seufzte er, warf die leere Plastikflasche in eine Ecke, schlurfte zum Fenster und zog die fleckigen, braunen Vorhänge zu. Jason setzte sich aufs Bett, das ihn mit einem dumpfen Knarzen begrüßte. Die Ellenbogen auf die Knie gestützt, legte er seinen Kopf in die Hände und versuchte, sich gegen den Schlaf zu wehren. Erneut gähnte er herzhaft. Er brauchte dringend eine Pause. So würde er es mit nichts und niemandem aufnehmen können. Er ließ sich nach hinten sinken, mitten hinein in einen Haufen Zeitungsausschnitte und Ausdrucke von Internetseiten. Grummelnd schob er das Papier beiseite und ließ es auf den Boden fallen. Dann starrte er an die Decke. Risse verliefen im Zickzack durch den Putz, der teilweise so große Löcher hatte, dass der nackte Beton zu sehen war. Ein Käfer huschte durch sein Sichtfeld.

Müde packte er das Amulett an seinem Hals und murmelte: „Dieser Raum, so scheiße er auch aussieht, sei gesegnet.“

Jason spürte, dass seine unangemessene Ergänzung des Mantras nicht unbedingt zur Wirkung des Bannes beigetragen hatte. Er gähnte wieder. Seine Augen wurden noch schwerer.

„Schlaf. Brauche Schlaf. ‘ne Menge davon.“

Er atmete tief ein, schloss die Augen und wiederholte das Mantra:

„Dieser Raum sei gesegnet. Dieser Raum sei gesegnet und frei von allem Bösen. Dieser Raum sei gesegnet, frei von allem Bösen und eine sichere Wiege für einen Wanderer.“

Ehe ihm die Augen zufielen, zwang er sich, sich noch einmal umzusehen. Am Rande seines Blickfeldes erkannte er weißen Nebel.

„Gut“, seufzte er. „Das Scheißzimmer ist gesegnet.“

Mühsam zog er seine Beine auf das Bett, rollte sich auf die Seite, schloss die Augen und überließ sich dankbar dem Schlaf. Das Amulett ließ er nicht los. Unsichtbar für den Großteil der Welt waberte der Nebel durch den Raum, legte sich vor die Tür und das Fenster und schützte den Schlafenden.

Third Cut – In den Sturm

Während Jason im Sunshine schlief und sein Mantra sich als unsichtbarer Nebel in dem heruntergekommenen Zimmer manifestierte, begann weit draußen auf dem Meer der Tanz eines Tiefdruckgebietes über den Wellen. Genau dieser sich anbahnende Sturm sollte im National Hurricane Center Miami bei zwei grundverschiedenen Männern für Unruhe sorgen. James saß zusammen mit seinem Kollegen Thomas vor ihren Bildschirmen. Sie beobachteten die Anzeigen, sammelten Daten und glichen sie miteinander ab. Thomas, dem man seine Essgewohnheiten ansah, biss herzhaft von einem kalten Stück Pizza ab. Ein wenig Tomatensoße tropfte dabei auf einen Ausdruck, den er gerade durchsah.

James seufzte und verdrehte die Augen. „Mann, Thomas, ehrlich. Du solltest endlich mal mein Angebot annehmen und mit ins Studio kommen, anstatt dieses Zeug in dich reinzustopfen. Dir kann man zusehen, wie du runder wirst.“ James, durchtrainiert, klug, blaue Augen, Sonnenstudiobräune, lächelte seinen Kollegen gewinnend an.

„Nee, ist echt nicht mein Stil. Ich suche noch die richtige Sportart für mich. Auf Platz eins liegt derzeit Couching mit erhöhtem Schwierigkeitsgrad“, erwiderte Thomas grinsend, während er weiterkaute.

James holte gerade Luft für eine längere Ansage zum Thema gesunde Ernährung plus Sport plus Körperpflege ist gleich heiße Frau im Bett, als Thomas große Augen machte und auf einen der Bildschirme hinter seinem Kollegen deutete.

„Spar dir deinen Atem. Ruf die Küstenwache an. Wir bekommen unangekündigten Besuch, und ich glaube, niemand wird sich darüber freuen.“

„Was?“ James drehte sich mit gerunzelter Stirn um und pfiff dann leise. „Na, wo kommst du denn verdammt noch mal so plötzlich her?“

Auf dem Bildschirm zeichnete sich etwas in dunklem Rot ab. Etwas, das schnell wuchs.

Thomas rollte mit seinem Stuhl heran. „So schnell? Hast du schon mal so …“

„Zum Glück schon lange nicht mehr“, unterbrach ihn James, während er ein Headset vom Schreibtisch nahm und es aufsetzte. Er drückte einen Knopf auf der Telefonanlage. „Küstenwache, hier spricht James Culligan vom National Hurricane Center. Das ist eine offizielle Warnung. Holen Sie sofort alle Schiffe rein!“

Thomas war an seinen Platz gerollt und rief dazwischen: „Norwegen bestätigt.“

James nickte und fuhr fort. „Warnung an alle. Wir bekommen einen Sturm Stufe drei. Fragen Sie mich nicht, der kam praktisch aus dem Nichts, aber jetzt ist er da und wird schnell größer. Das ist keine Übung und kein Probealarm. Geben Sie umgehend eine Warnung an alle auf See befindlichen Schiffe raus.“

Auch Thomas trug jetzt ein Headset. „Boss, kein Scherz. Hier ist gerade eine Kategorie drei dabei, im Golf von Mexiko mobil zu machen. Und das zügig. Kommen Sie unbedingt her.“

Auf dem Bildschirm drehte sich die rote Masse und begann, an den Rändern heller zu werden. James und Thomas starrten auf die Messwerte und blickten einander an.

„Joggen am Strand fällt heute aus. Wir werden hier auch unseren Teil abkriegen.“

Jason wachte auf und blinzelte müde. Er lag immer noch so da, wie er eingeschlafen war. Mehrmals öffnete und schloss er die Hände und ließ dann die Gelenke an seinen Armen knacken. Eine Angewohnheit, die seine Mutter immer zum Schaudern gebracht hatte. Gähnend streckte er sich und fragte sich, wieso er ausgerechnet jetzt an seine Mom denken musste. Er verzog das Gesicht, konzentrierte sich wieder auf das Hier und Jetzt und plante die nächsten Schritte. Ein neues Telefon besorgen und vor allem etwas zu essen finden.

„Wie spät ist es?“, fragte er sich.

Ein kurzer Blick zu der schief hängenden Wanduhr erwies sich als nutzlos. Die Zeiger standen seit gestern bei drei Uhr fünfzehn. Jason schwang die Beine aus dem Bett und stand auf. Er vergewisserte sich, dass der Nebel noch da war. Dann zog er den Vorhang ein Stück beiseite und warf einen Blick nach draußen. Am Horizont hing ein bleigrauer Schleier, der schlechtes Wetter ankündigte. Jason verspürte wenig Lust, sich dem Geist bei Regen zu stellen. Er ging zu einem großen, in schwarz-grauem Camouflagemuster gehaltenen Rucksack neben dem Bett und kramte sich Sachen zum Anziehen zusammen. Nacheinander warf er dunkelrote Cargopants, ein schlichtes, schwarzes Shirt und ein graues Basecap auf das Bett.

„Garantiert noch nicht trocken“, grummelte er mit einem Blick auf seine Stiefel. Unbewusst spielte er mit dem Amulett. „War eh eine abgefuckte Idee, Stiefel am Strand anzuziehen.“

Er löste den Knoten, mit dem ein Paar abgetragene, dunkle Turnschuhe am Rucksack befestigt waren.

Während er sich anzog, murmelte er vor sich hin. „Wird Zeit, eine neue Bleibe zu suchen. Bin schon fast zwei Tage hier. Zu lange an einem Ort. Neues Handy besorgen, was über den Jungen herausfinden und was futtern. Dann zurück ans Meer und versuchen, ihn hinüber zu geleiten.“

Jason ging zur Tür, trat auf den Flur hinaus und drehte sich um. Er prüfte den schummrigen Gang in beide Richtungen, ehe er leise ein weiteres Mantra anstimmte: „Segen dieses Raumes, Schutz eines Wanderers Ruh, Segen dieses Raumes, Schutz für mein Eigen, Segen dieses Raumes, gegen jeden Eindringling.“

Er blickte durch den Raum und der Nebel, der stets nur am Rande seines Sichtfeldes erkennbar war, färbte sich allmählich rot. Jason nickte und zögerte kurz, zuckte dann mit den Schultern und schloss die Tür.

„Hab das Schild rausgehängt. Wenn die Putze oder der alte Sack vom Empfang trotzdem reingeht, dann tut es mir … nicht leid.“

Jason trug das Basecap beim Verlassen des Hotels tief in die Stirn gezogen und hatte trotz der schwülen, drückenden Luft die Ärmel seines Shirts nicht hochgekrempelt. Er blickte zum Himmel hinauf. Auf dem Meer waren die dunklen Wolken bereits über den ganzen Horizont verteilt. Über der Stadt war der Himmel leicht bewölkt, als würde ein Schleier über der Metropole liegen. Jason ging mit zügigen Schritten los. Da er nicht das erste Mal in Miami war, wusste er genau, wo er hinmusste. Sein erstes Ziel war ein kleiner Imbiss, in dem er sich ein Sandwich und eine Dose Zuckerwasser kaufte. Seine nächste Anlaufstelle kannte er schon von seinem letzten Besuch. Jason betrat den kleinen Laden, der sich beinahe zwischen zwei Klamottengeschäften zu verstecken schien. In dem schummrigen Raum hingen unzählige Smartphones und Tablets an den Wänden, lagen in Vitrinen oder auf Ausstellern. Alles war ebenso aufgeräumt und gut sortiert, wie beim letzten Mal. Jason hielt auf die hintere Ecke mit dem kleinen Tresen zu, hinter dem es sich der Verkäufer auf einem Stuhl bequem gemacht hatte. Beim Näherkommen entpuppte der sich als echter Riese, von dem Jason sich keine scheuern lassen wollte. Als er näherkam, stand der Mann in seinem schlichten, beigen Anzug auf und lächelte ein weißes Lächeln. Die Zähne strahlten vor der dunklen Leinwand seines Gesichts.

„Guten Tag, Sir. Womit kann ich Ihnen helfen?“

„Hi. Ich brauche ein Telefon, nichts Besonderes. Was haben Sie im Angebot?“

Er wusste sehr genau, dass in allen Ecken des Geschäfts Kameras hingen und spürte den aufmerksamen Blick des Verkäufers auf sich ruhen. Der bullige Mann bereitete Jason deutlich weniger Sorgen, als die Aufnahmen der Sicherheitskameras. So achtete er weiterhin sorgfältig darauf, sein Gesicht unter dem Schirm der Mütze zu verbergen.

„Nun, Sir, ich habe hier einige der besseren Handys, abgelöst von der neuesten Modellreihe. Alle reduziert, aber noch ganz up to date. Die sind günstig, aber großartig“, sagte der Riese mit seiner tiefen Stimme.

Er winkte Jason zum Tresen und wollte schon eine der herausnehmbaren Auslagen aus einer Vitrine ziehen, doch Jason schüttelte den Kopf. „Sorry, Mann, noch zu teuer für mich. Ich brauch nur was zum Telefonieren. Und ‘ne Prepaid-SIM.“

„Nun, Sir, natürlich habe ich günstigere Geräte. Aber mit diesen hier haben Sie alles in einer Hand: Navigation, Telefon, E-Mail, Messengerdienste und natürlich eine großartige Kamera, mit der Sie die Eindrücke unserer schönen Stadt direkt festhalten und sofort posten können.“ Der Mann lächelte breit.

Jason stöhnte schicksalsergeben. „Sorry Mann, bin kein Touri. Ich bin beruflich hier.“

„Ah, gerade dann brauchen Sie doch sicherlich das Beste vom Besten. Man muss sich doch jederzeit über alles informieren können!“, setzte der Verkäufer gut gelaunt nach.

Jason versuchte, ruhig zu bleiben. „Okay, Klartext. Ich brauche nicht die aktuellen Börsenkurse. Ich will nicht die Farbe meiner Unterhose posten. Ich will nur telefonieren können. Ganz einfach, billig, und das wäre es dann.“

„Ich verstehe, ich verstehe. Was ganz Einfaches.“ Der Mann nickte und legte eine Palette Billigsmartphones vor Jason ab.

Der sah die Preise, ballte die Hände zu Fäusten und schloss kurz die Augen, ehe er wieder ansetzte. „Mann, hör mal. Ich will nur telefonieren. Mehr nicht! T e l e f o nie r e n.“

Jason erntete ein scheinbar unverwüstliches Lächeln, während die Auslage wieder verstaut wurde. „Ich habe hier einige echte Klassiker. Die sind kurz davor, wieder im Wert zu steigen, aber Sie sind gerade rechtzeitig gekommen, bevor die Sammler Geschmack daran finden.“

Jason schnaufte. Der Mann hatte drei Geräte hervorgeholt und vor ihm ausgebreitet. Es waren alte Mobiltelefone ohne Touchdisplay und mit Tastatur.

Jason nahm wahllos eines und fragte: „Der Akku ist aufgeladen?“

Der Verkäufer nickte. „Wegen der SIM, haben Sie ein bevorzugtes Netz?“

Jason antwortete schnell. „Is total egal. Was Billiges halt. Wo schon ein bisschen Startguthaben dabei ist. Muss ein paar Telefonate erledigen.“

„Festnetzanrufe?“

Nicken.

„Okay, dann habe ich hier was Passendes für Sie.“

„Danke“, seufzte Jason.

Der Verkäufer bückte sich und kramte aus einer der unteren Schubladen eine eingeschweißte SIM-Karte hervor. Dann packte er die Sachen in eine kleine Plastiktüte.

Jason nahm alles entgegen und stellte die entscheidende Frage:

„Wieviel bekommen Sie?“ Dabei hob er zum ersten Mal seinen Kopf so weit an, dass er dem Riesen in die Augen sehen konnte.

Der Verkäufer begann, einige Zahlen in seine Kasse einzutippen. „Das Handy liegt bei sechzig Dollar, weil Sie mir sympathisch sind. Ich mag es selbst eher Oldschool. Die SIM-Karte mit fünfzig Dollar Startguthaben kostet nur dreißig, da kann ich am Preis aber nichts machen.“

Jason nickte. Während er den Blick des großen Mannes festhielt, nahm er einen Zwanziger heraus und legte ihn auf den Tresen. Die Augen des Verkäufers wurden glasig.

„Stimmt so“, sagte Jason.

Die Augenbrauen des Mannes zogen sich zusammen, und es schien, als wollte er etwas dazu sagen. Jason presste die Lippen aufeinander und eine kleine Schweißperle lief über seine Schläfe. Das Gesicht seines Gegenübers entspannte sich langsam wieder.

„Danke, Sir. Kommen Sie wieder vorbei, wir haben immer ein paar Klassiker auf Lager“, murmelte der Mann, aber seine Stimme klang, als wäre er gedanklich weit weg.

Jason drehte sich um und verschwand schnell nach draußen. Vor dem Laden blieb er stehen und atmete einmal tief durch. Er blickte zurück und sah, wie der Riese sich mit leicht glasigem Blick wieder auf seinen Stuhl setzte. Der Kerl musste cleverer sein, als er aussah. Bei den Klugen war es anstrengender.

Jason marschierte einen Block weiter in ein Mittelklasse-Bekleidungsgeschäft. Wahllos nahm er eine Jacke und verdrückte sich in eine der Kabinen. Dort zog er den Vorhang zu, hängte die Jacke beiseite und setzte sich. Er fummelte die SIM-Karte aus der Packung, schob sie in das Mobiltelefon und schaltete es ein. Er prägte sich Pin und Telefonnummer ein und zerkratzte dann alles auf der Verpackung, so dass es unleserlich wurde. Er ließ die Jacke in der Kabine und verließ den Laden. Beim ersten Mülleimer an der Straße blieb er stehen, zerriss die Verpackung der SIM-Karte in kleine Teile und warf einige Schnipsel weg. Den Rest schob er in die Hosentasche. Auf einer Wanduhr sah er, dass es kurz vor sechs war.

Ein Knurren aus der Magengegend erinnerte ihn an einen der wichtigsten Etappen in seinem Plan. In einem vegetarischen Imbiss holte er sich nochmal etwas zu essen und warf dort den Rest der Verpackung weg. Beim Verlassen des Ladens sah er sich aufmerksam um, ehe er weiterging. Immer wieder drehte er sich unauffällig um und wechselte ab und zu die Straßenseite. Als er an ein paar Palmen vorbeikam, schaute er zu den großen Blättern hinauf, die im stärker werdenden Wind ihr ängstliches Lied sangen. Der Wetterumschwung passte ihm gar nicht.

Die Stadtbibliothek kam in Sicht. Das Gebäude mit dem großzügig angelegten Platz davor erinnerte mit seinen Rundbögen und der schlichten Fassade an ein altes mexikanisches Fort oder Herrenhaus. Ehe Jason das Gelände betrat, umrundete er es, wanderte dabei durch den Schatten des Miami-Dade-Gerichtsgebäudes, passierte die Bank of America und behielt die Leute um sich herum im Auge. Alle schienen wegen des Wetters in Unruhe. Menschen liefen mit vollen Einkaufstüten nach Hause, andere waren bereits dabei, ihre Geschäfte abzuschließen. Rollläden wurden heruntergelassen und vor vielen Fenstern klebte Pappe oder Holzplatten. Cops versuchten, den Verkehr unter Kontrolle zu halten, denn einige schienen die Stadt verlassen zu wollen.

„Das ist doch nur Wind“, brummte Jason und starrte zu den Bäumen hoch, die man dekorativ neben den öffentlichen Gebäuden gepflanzt hatte. Er runzelte die Stirn. „Oder nicht?“

Er zuckte mit den Achseln und entschied, dass es Zeit war, sich Informationen zu holen. Er lief die Treppe hinauf in den Innenhof, betrat die Bibliothek und ging zielstrebig am Empfang vorbei in Richtung des Zeitungsarchivs. Die Hände hatte er tief in die Taschen geschoben und hielt den Blick gesenkt, sodass sein Gesicht stets unter dem Schirm seines Basecaps verborgen blieb. Es herrschte wenig Betrieb und die meisten Besucher waren dabei aufzubrechen. Als Jason an einem Nachrichtenbildschirm vorbeikam, verstand er auch, wieso.

„Oh Mist“, kommentierte er leise, als er den Text unter dem Bild las. Zu sehen war eine tiefrote Masse, die spiralförmig den Golf von Mexiko bedeckte.

Darunter lief in einem sich wiederholenden Spruchband: Sturmtief auf dem Weg nach Florida! Im Golf von Mexiko baute sich binnen der letzten zwei Stunden ein Tiefdruckgebiet auf, das bereits jetzt die Stufe drei erreicht hat. Die umliegenden Länder bereiten sich auf das Schlimmste vor. Die Regierung empfiehlt eine Evakuierung. Auch die Ostküste ist in Alarmbereitschaft.

„Das gibt es doch nicht“, sagte Jason zu sich selbst. „Aber ich muss hier fertig werden, scheiß auf den Sturm. Kann nicht noch länger an einem Ort bleiben.“

Ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken, als er einen anderen Ton im Lied vernahm. Es war ein Singsang, der nicht zu dem Rhythmus der Stadt passte. Spontan drehte er sich um und sah in alle Richtungen. Doch niemand war zu sehen oder schien ihn zu beobachten. Jason schüttelte den Kopf, ging zügig los und folgte den Schildern in Richtung Archiv. Dort angekommen, setzte er sich vor einen der Computer, überflog die Anleitung und begann, in dem Programm zu suchen. Er dankte der fortschreitenden Digitalisierung, die ihm das Blättern durch alte Zeitungen ersparte. Dennoch erhielt er auf seine erste Suchanfrage nach ertrunkenen Kindern zu viele Ergebnisse. Er schränkte die Suche weiter ein. Die Anzahl blieb weiterhin sehr hoch, sodass Jason sich fragte, was mit den Eltern dieser Welt nicht stimmte, dass so viele Kinder hier ertrinken konnten. Er schloss die Augen und legte die Hände auf die Tastatur. Wie verdammt noch mal sollte er diesen einen Jungen finden, der jetzt als kindermordendes Ungeheuer an den Stränden lauerte? Dann tippte Jason das eine Wort ein, das ihn schon zu oft zum Kern der Sache gebracht hatte: Mord.

„Oh Mann. Das ist doch ‘n Scherz! Mehr als sechzig ermordete Jungen seit 1980? Verarsch mich nicht!“

Ältere Einträge gab es nicht, zumindest nicht hier. Die musste man auf die harte Tour suchen, indem man die konservierten Zeitungen durchforstete. Doch an die kam man so ohne Weiteres nicht heran. „Ich glaube nicht, dass du schon so alt bist, Arschloch. Dann hätte ich die Kleine nicht vor dir retten können“, murmelte Jason und grübelte, was an dem Tod des Jungen so besonders gewesen war, dass er nicht loslassen konnte.

Er massierte sich die Augen und machte sich die Szene vom Mittag noch einmal bewusst. Der Strudel, die rotglühenden Augen, ein Junge. Den Gesichtszügen nach weiß, aber sonst? Sonst hatte es nichts an dem Geist gegeben, das ihn weiterbrachte. Dann fing er von der anderen Seite an und dachte an das Opfer. Ein kleines Mädchen, noch verdammt jung. Sie hat im scheißblauen Wasser gespielt. Plötzlich war sie weg und keiner reagierte. Was übersah er? Was ist an dem Tod des Jungen so schlimm gewesen, dass er keine Ruhe fand? Was hat den Geist langsam, aber sicher in den Wahnsinn getrieben? Wieso ausgerechnet Kinder? Er spann den Gedanken weiter, ließ sich treiben und versuchte, sein Bewusstsein abzuschalten.

Jason sah den Strand wieder vor sich, hörte das Rauschen der Wellen, den erstickten Hilfeschrei, den keiner hörte. Selbst die Mutter bemerkte nicht, dass ihre Kleine unter Wasser verschwunden war. „Mommy ist beschäftigt“, wiederholte Jason für sich. „Deine Tochter verschwindet und du findest dein bescheuertes Handy wichtiger. Supermom!“

Und plötzlich machte es klick. Jason riss die Augen auf und tippte:

Miami, Junge, ertrunken, Eltern schuld. Er überlegte und drückte die Löschtaste. Eltern unaufmerksam, schrieb er.

„Treffer“, murmelte Jason, ließ sich zurücksinken und begann zu lesen.

Unaufmerksame Eltern – Sohn ertrinkt vor ihren Augen

Am 05. Juni 1989 ertrank am Hollywood Beach der junge Jeremiah Dexter Dalton. Ein wahres Unglück, denn die Eltern Maria und Donald Dalton standen praktisch direkt daneben.

Der Neunjährige spielte im Wasser, als eine Welle ihn erfasste und hinauszog. Seine Eltern, weniger als fünf Meter entfernt, bemerkten es nicht. Mr. Dalton, erfolgreicher Anwalt, vertieft in seine Arbeit, überhörte den kurzen Hilferuf seines Sohnes ebenso wie die Mutter Maria, die sich angeregt unterhalten hatte. Jeremiah wurde durch eine Unterströmung erfasst und konnte sich aus eigener Kraft nicht retten. Er ertrank in Ufernähe.

Dramatischerweise bemerkten die Eltern das Fehlen ihres Sohnes erst, als sie gegen 17.00 Uhr nach Hause wollten. Zu diesem Zeitpunkt war der leblose Körper bereits von der Strömung zweihundert Meter weiter an den Strand gespült worden. Auch den dadurch verursachten Tumult hatten die Eltern nicht bemerkt.

Jason überflog den Text bis zum Ende, doch was er gelesen hatte, reichte ihm aus. Er tippte den Namen des Jungen in das Suchfenster ein. Sofort wurden ihm mehrere Artikel angezeigt. Der Fall sorgte damals in den gesamten Staaten für Aufsehen und war zu einem Aufhänger für Empörung, Vorwürfe, Forderungen nach mehr Achtsamkeit und einigem mehr geworden.

„Ja, ja. Hinterher ist man immer schlauer. Ihr Sohn ist ertrunken, und diese Idioten haben es nicht mal bemerkt. Kein Wunder, dass er sauer ist. Aber deshalb gleich alle umbringen? Dann wollen wir mal sehen, wann deine Seele den Verstand verloren hat. Zeig mir, wann du böse wurdest, Jeremiah Dexter Dalton. Was für ein bescheuerter Name. Also, Hollywood Beach, ertrunkene Kinder, seltsame Umstände.“

Jason bemerkte wie so oft nicht mehr, dass er mit sich selbst redete. Er schluckte, als er sah, dass es nicht einmal ein Jahr gedauert haben konnte.

„1990, ein Mädchen. 1991, zwei Jungen und ein Mädchen. 1992, zwei Jungen, zwei Mädchen. Und alles am Hollywood Beach. Dann sitzt du wohl da fest. Scheiße, wieso wurde da nichts unternommen?“ Schnaufend schüttelte er den Kopf. „Was frag ich. An der Brücke hat auch keiner was getan. Niemanden hat es interessiert, wie viele Leute da gestorben sind. Nicht mal, als Charlie von dem verdammten Geist getötet wurde.“ Jasons Gesicht verfinsterte sich. „Als wenn die Geister irgendwie verhindern würden, dass es jemanden interessiert.“

Für einen Moment konnte er nicht verhindern, dass sich die fest versperrte Tür in seine Vergangenheit einen Spalt öffnete. Unaufgefordert spülten einige Bilder an die Oberfläche und trafen ihn unvorbereitet. Jasons Blick glitt ins Leere.

„Charlie“, murmelte er leise.

Die Erinnerung an sie verbannte er die meiste Zeit nach ganz unten, in den tiefsten Keller seines Selbst. Doch jetzt nahm er ihr Gesicht vor sich wahr. Das Kupferrot ihrer langen Haare, das dunkle Grün ihrer wunderschönen Augen, der Hauch von Sommersprossen auf ihren Wangen. Ihr Lächeln, das ihn immer so begeistert hat. Sein Blick glitt mehr und mehr ins Leere. Jasons Hände krampften sich um die Lehnen des Stuhls, denn der Gedanke an ihren letzten gemeinsamen Augenblick zerriss die schöne Erinnerung, um den Schrecken dahinter zu präsentieren. Nebeneinander hatten sie auf dem Brückengeländer gesessen, ehe sie plötzlich nach hinten stürzte. Er sah Charlie vor sich, die vor Todesangst schreiend fiel, bis sie auf den Steinen in dem flachen Wasser aufschlug. Der seichte Strom trug langsam ihr Blut davon. Neben ihr hockte kichernd der Geist.

Danach ging für ihn alles bergab. Nicht nur dass seine junge Welt zerbrach, niemand glaubte Jason. Die erste Erklärung war ein Unfall, dann hieß es Selbstmord und eine Zeitlang wurde er selbst verdächtigt. Er beharrte darauf, was er gesehen hatte, bis ihm klar wurde, dass er seine Rache nur kriegen würde, wenn er die Spiele der Ärzte mitspielte. Die Anstalt, in die sie ihn steckten, hatte seine Wut nicht mindern können. Kaum wieder auf freiem Fuß, ging Jason auf Reisen. Er suchte Leute, die ihm etwas über Geister erzählen konnten. Überzeugt von dem, was er gesehen hatte, las er alte, merkwürdige Bücher. Es folgten die Tätowierungen und eine Zeitlang bewegte er sich in seltsamen Kreisen, angetrieben von dem Wunsch, den Geist auszulöschen, der Charlie das angetan hatte. Er lernte so viel, wie er konnte. Wirre Rituale, merkwürdige Formeln und pseudoreligiöse Ansichten gehörten ebenso dazu wie das Wissen, was es mit Seelen auf sich hat, wie Geister entstehen und vor allem, was man gegen sie tun kann. Auf dieser Reise entdeckte Jason, dass er etwas konnte, wozu keine der merkwürdigen Gestalten in der Lage war, denen er begegnete. In einem Buch las er etwas über Mantras, das Kanalisieren der inneren Energie. Was andere als Geschichten abtaten, funktionierte bei ihm. Und Jason erkannte, dass er allein war. Dass niemand konnte, was er konnte. „Mist“, knurrte Jason und verscheuchte die Erinnerungen, knallte die Tür in sich zu und schüttelte im Hier und Jetzt den Kopf. „Keine Zeit für diesen Mist.“

Mit einer brüsken Bewegung wischte er eine Träne fort. Er verschränkte die Finger ineinander und ließ die Gelenke knacken.

„Ist eh alles beschissene Vergangenheit. Heute ist nur eines wichtig: Kein verdammter Geist tötete mehr irgendjemanden.“

Die Adern an seinen Armen traten deutlich hervor, blassblaue Linien unter der Haut, Wölbungen unter den Tätowierungen, die ihnen ein unheimliches Eigenleben verliehen. Er lehnte sich zurück und starrte das Bild von Jeremiah an. Es war eine Schwarz-Weiß-Abbildung. Ein fröhlicher Junge. Das Foto schien in der Schule bei einem öffentlichen Anlass geschossen worden zu sein. Er war mit einem fetten Kreis umrandet. Darüber die Headline:

Mitschüler und Lehrer in Trauer

Jason atmete tief durch. Nun kannte er die Geschichte des Geistes, wusste, woher er kam und dass er an den Strandabschnitt gebunden zu sein schien. Der Geisterjäger war sich im Klaren darüber, dass dieser Fall schwer werden würde. Das Gespenst war mehr als fünfundzwanzig Jahre alt. Er erhob sich, zog das Cap zurecht, und seine Kiefer mahlten. Er drehte sich um und verließ die Bibliothek. Vom Bildschirm folgte ihm Jeremiahs Blick.

Als Jason aus dem Gebäude trat, empfing ihn ein salziger, feuchter und mittlerweile ziemlich starker Wind. Die Palmen bogen sich zur Seite, wenn eine besonders kräftige Böe durch die Häuserschluchten fegte. Jason lief die Treppe hinunter zur Straße. Es waren kaum noch Autos unterwegs. Er reihte sich bei den wenigen Passanten ein und grübelte kurz, wie er am schnellsten wieder zum Hollywood Beach kam. In diesem Moment riss ihm ein Windstoß beinahe die Mütze vom Kopf.

„Der Sturm soll sich verpissen“, brummte er.

Beim Gerichtsgebäude gab es einen Parkplatz für Taxis. Einige standen dort noch in der Hoffnung auf Fahrgäste. Jason trabte hinüber und klopfte auf das Dach des ersten Wagens. Ein Typ mit zurückgegelten Haaren und Dreitagebart blickte zu ihm hoch, den Arm lässig aus dem Fenster hängend. Zwei große Ringe steckten an den dicken Fingern.

„Na, wo soll es hingehen, Chef?“

„Zum Hollywood Beach“, gab Jason zurück.

Der Taxifahrer lachte bellend. „Chef, guck dir mal die Palmen an. Die küssen schon fast den Asphalt. Was willste da? Surfen?“

Jason blickte dem Mann in die Augen. „Ja, genau. Ich gehe surfen.

Auf den richtig fetten Wellen.“ Er stützte beide Hände auf dem Dach ab und lehnte sich vor. „Und dann beiße ich einem Hai die Eier ab und esse sie zu Abend. Noch Fragen?“

Der Taxifahrer lehnte sich zurück, griff nach einer Schachtel Zigaretten und nahm sich eine. Er steckte sie lässig in den Mundwinkel und zündete sie an. Alles, ohne Jason einen Moment aus den Augen zu lassen.

„Heiße Geschichte, Kleiner. Jetzt pass mal auf: Wir haben eine Sturmwarnung erster Klasse. Und du Spinner machst hier einen auf starken Mann und willst am Strand spazieren gehen. Verpiss dich!“ Er zog an der Kippe und blies Jason den Rauch ins Gesicht. Von den anderen Fahrern wurde die Szene mit leisem Kichern und hämischem Grinsen quittiert. Jason schürzte die Lippen, die Zähne fest aufeinandergepresst. Der Klugscheißer hatte es nicht anders gewollt. Seine Augen waren zu schmalen Schlitzen geworden.

Der Latino grinste ihn an. „Was ist los, starker Mann. Musste mal, oder was?“

Der Taxifahrer zuckte zurück. Die brennende Zigarette fiel ihm aus dem Mundwinkel und landete in seinem Schoß. Jasons Lippen, eben noch fest geschlossen, verzogen sich zu einem Grinsen, das direkt der Hölle entsprungen zu sein schien. Seine Augen funkelten. Das Blau in ihnen wirkte wie Schwertstahl, hart und scharf. Zum wiederholten Mal fragte Jason sich, woher diese Wut in ihm kam. Gleichzeitig genoss er das Gefühl. Ganz auf den Mann vor sich konzentriert, verbannte er alles außer dem Zorn auf diese … Missgeburt vor sich aus seinen Gedanken.

In seinem Unterbewusstsein rief eine leise Stimme: Nein.

Jason überhörte sie.

Das Opfer seiner Wut versuchte nicht mal, die Glut der Zigarette zu löschen, die direkt in seinem Schritt lag und sich langsam, aber sicher durch seine Hose brannte. Seine Augen weiteten sich, während er seinen Blick nicht von Jason lösen konnte.

Ganz leise, als wollte er nicht wirklich sprechen, sagte er: „Steig ein, Chef. Geht los, Hollywood Beach, gar kein Problem.“

Seine Stimme zitterte, Schweißperlen liefen ihm von der Stirn über das Gesicht und tropften von seiner mit Aknenarben übersäten Nase. Jason legte den Kopf schief und schloss die Augen, zwang sich zu atmen und brauchte alle Beherrschung, um den Mann freizugeben. Die Wut brannte heiß in ihm, und er brauchte dringend ein Mantra, das ihm half, den Geist des Latinos loszulassen. Ihm fielen Worte ein, die ihm schon früher geholfen hatten, die Wut zu zügeln: Das Leben ist wertvoll.

Er wiederholte es einige Male in seinem Verstand, atmete und lächelte dann schief. „Na also, gar kein Problem. Kann ich doch noch surfen gehen.“ Kaum hatte Jason gesprochen, klärte sich der Blick des Mannes.

„Shit, heiß! Heiß!“, fluchte der Taxifahrer und schlug nach der Zigarette in seinem Schritt.

Während Jason um die Front des gelben Wagens herumging, konnte er sich ein Grinsen nicht verkneifen. Dann nahm er auf dem Beifahrersitz Platz und fragte: „Tut’s weh?“

„Sehr witzig, Chef, echt“, brummte der Mann, startete den Wagen und fuhr los.

„Find ich auch“, gab Jason zuckersüß zurück.

Während der Fahrt nahm Jason das Handy aus der Tasche und wählte eine Nummer. Er lauschte auf das Freizeichen, dann nahm jemand das Gespräch an.

„Tamy Harper hier“, meldete sich eine Frau.

„Hey, Mom“, sagte Jason.

„Jason, schön, deine Stimme zu hören. Na, mein Kleiner, wo treibst du dich wieder rum?“ Ihre Stimme war betont lässig, aber Jason konnte sich ihren sorgenvollen Blick nur zu gut vorstellen.

„Ich bin in Florida. Habe hier einen gefunden und werde mich um ihn kümmern. Wie geht’s euch so? Was treibt Dad? Und wie sieht es mit deiner Ausstellung aus? Gut gelaufen?“

„Du bist nervös. Meine Bilder und die Ausstellungen haben dich nie wirklich interessiert“, gab Tamy zurück.

Jason seufzte. Obwohl sie sich lange nicht gesehen hatten, kannte seine Mutter ihn gut genug. „Ein Sturm zieht auf. Das macht es nicht gerade leicht. Muss an den Strand.“

„Ist das dieses Ding, von dem dir der Typ in New York am Flughafen erzählt hat?“ Jetzt schwang eine gewisse Aufregung in ihrer Stimme mit.

„Jap.“

Er hörte, wie seine Mutter im Hintergrund mit irgendwas hantierte. Dann vernahm er die Stimme eines Nachrichtensprechers.

„Oh Jason, wenn du an den Strand musst, pass um Himmels willen auf dich auf. Kannst du das nicht verschieben und ...“

Jason unterbrach sie. „Mom, du weißt, dass ich nicht so lange hierbleiben kann. Ich bin schon zwei Tage hier.“

„Jason, niemand folgt dir. Unsere Anwälte halten dir die Polizei vom Leib, und sonst ist niemand hinter dir her. Du musst endlich lernen, dich zu entspannen.“

Er lachte kurz und bitter. „Mein Gefühl sagt mir was anderes.“

Seine Mutter seufzte. Dann hörte Jason die Stimme seines Vaters.

David war älter als seine Mutter, doch trotz aller Gegensätze waren sie schon lange glücklich verheiratet. Wenn es allerdings um ihren Sohn ging, waren sie sich selten einig.

„Dein Dad will dich sprechen.“

„Äh, ich bin gleich da und habe …“

„Hey, Sohn.“

Jason verdrehte die Augen. „Hey, Dad.“

„Da deine Mom hier Nachrichten über Florida laufen hat, gehe ich davon aus, dass du dich dort aufhältst. Arbeitest du oder gehst du wieder deinen seltsamen Fantasien nach?“

„Dad, es sind keine Fantasien …“

„Jason, du weißt, ich und deine Mutter stehen immer hinter dir, aber solltest du dich wieder in Schwierigkeiten bringen, lasse ich dich von der Polizei heimbringen.“

„David!“, fuhr Tamy dazwischen.

Jason vermutete, dass sein Vater die Hand über die Sprechmuschel gelegt hatte, denn er hörte die beiden nur noch gedämpft.

„Du weißt, dass das keine Fantastereien sind. Jason ist etwas Besonderes.“

„Tamy, bitte. Er ist klug und trotzdem ist doch wohl offensichtlich, dass etwas mit ihm nicht stimmt.“

„David! Seine Freundin wurde vor seinen Augen von einem …“

„Sprich es nicht aus!“

„… Geist getötet.“

„Geister gibt es nicht, verdammt. Tamy, hör bitte endlich auf, ihn auch noch zu bestärken.“

Jason ließ den Kopf hängen. Dann sprach sein Vater wieder zu ihm.

Er hörte das tiefe Ausatmen, mit dem David sich zu entspannen versuchte.

„Junge, komm bitte nach Hause. Hier warten deine Eltern und eine Zukunft auf dich.“

„Danke, Dad, aber außer mir gibt es niemanden, der kann, was ich kann. Ich kann helfen.“

Resigniertes Seufzen. „Pass auf dich auf, Jason.“

Dann hörte er wieder seine Mutter. „Keine Sorge, Kleiner. Sollte was passieren, dann rede ich mit ihm. Wie immer. Wir lieben dich. Ich glaube an dich. Hast du noch genug Geld?“

„Alles okay, Mom. Sparsam, wie Dad es mich gelehrt hat. Ich komm klar.“

„Sei vorsichtig, mein Kleiner.“

„Ja, Mom“, murmelte er schicksalsergeben. „Bye.“

„Bye. Ich bin stolz auf dich.“

Jason legte auf und schob das Handy zurück in die Tasche. Der Taxifahrer blickte aus den Augenwinkeln zum ihm herüber, aber ehe er etwas sagen konnte, knurrte Jason: „Halt die Klappe und fahr mich einfach zu dem Scheißstrand.“

Folgsam blickte der Mann nach vorne und lenkte den Wagen durch den Verkehr Richtung Norden zum Hollywood Beach. Jason blickte aus dem Fenster und betrachtete die mal schnell, mal langsam vorbeiziehende Welt der restlichen Menschheit. Gerade jetzt brachte ein Sturm ihr geregeltes Leben durcheinander. Jason war sich sicher: Wüssten die Leute was ungesehen um sie herum passierte, wären ihre Nächte sehr viel unruhiger. Er sah aus dem Fenster und wünschte sich diese Unwissenheit für sich selbst. Aber der Zug war abgefahren. Ein kalter Schauer packte ihn an der Wirbelsäule und er drehte sich nach hinten um. Aufmerksam studierte er den schwarzen SUV, der hinter ihnen fuhr.

„Bleib locker, Chef. Der ist gerade erst an der letzten Kreuzung an unser Heck angedockt“, versuchte der Taxifahrer seine frühere Coolness zurückzugewinnen.

Langsam drehte sich Jason wieder um. Das seltsame Gefühl war wieder fort. Dennoch rumorte es in ihm, wie schon seit seiner Ankunft in Miami.

Laut sagte er: „Aha.“

„Ja, ohne Scheiß, da kenne ich mich aus. Habe mal für einen Detektiv gearbeitet. Naja, also der hat mich immer gebucht, also als Fahrer, Chef, nix anderes.“

Der Mann schwitzte. Kurz, aber nur ganz kurz überlegte der Geisterjäger, ob er es vielleicht übertrieben hatte.

„Hab ich nicht anders verstanden“, sagte Jason.