Netz der Rache - J.C. Smith - E-Book

Netz der Rache E-Book

J.C. Smith

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Beschreibung

Rache ist eine mörderische Triebfeder, besonders wenn übersinnliche Kräfte im Spiel sind. Auf seinem Weg hat sich Jason nicht nur Freunde gemacht. Die Organisation jagt ihn unerbittlicher als je zuvor und hat auch seine Freundin Julie ins Visier genommen. Gemeinsam mit den Zwillingen entscheiden sie sich, den Kampf ins Lager des Feindes zu tragen, damit sie und andere Begabte endlich in Frieden leben können. Mit von der Partie ist Charlie, der Geist von Jason Ex-Freundin. Dabei ahnen die Fünf nicht, dass sie eine Kette von Ereignissen auslösen, die sich auf die ganze Welt auswirken könnten, denn das Leben selbst droht sich in einem grausamen Netz aus Racheschwüren zu verstricken. Jason muss in seine ganz persönliche Hölle hinabsteigen, um gegen alte und neue Feinde für das Schicksal der gesamten Menschheit einzustehen. Kann er sich aus dem Netz der Rache befreien und verhindern, dass das Lied des Lebens seine letzte Note spielt? Oder wird die Welt in Flammen aufgehen? Band III - J.C. Smith

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Seitenzahl: 519

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Für meine Freunde.

Inhaltsverzeichnis

Flashback – Was bisher geschah

First Cut – Trügerisches Feuer

Second Cut – Blutiger Schwur

Third Cut – Böse Spielchen

Fourth Cut – Treibjagd

Fifth Cut – Aristokratische Ruhe

Sixth Cut – Seelentanz

Seventh Cut – Verräterisches Leuchtfeuer

Eighth Cut – Wehrlos

Ninth Cut – Gewalt

Tenth Cut – Abschied

Eleventh Cut – Sie kommen

Twelfth Cut – In den Krieg

Thirteenth Cut – Brennende Tränen

Fourteenth Cut – Offenbarung

Fifteenth Cut – In die Alte Welt

Sixteenth Cut – Schlacht an der Themse

Seventeenth Cut – Wahnsinn ohne Ende

Eighteenth Cut – Paradigmenwechsel

Nineteenth Cut – Ruhelos

Twentieth Cut – Irrsinn unter den Sternen

Twenty-first Cut – Abstieg in die Hölle

Twenty-second Cut – Der Tod kommt euch holen

Twenty-third Cut – Systemkiller

Twenty-fourth Cut – Blut in der Dunkelheit

Twenty-fifth Cut – Neunundneunzig Prozent

Twenty-sixth Cut– Verwundet

Twenty-seventh Cut – Systemcrash

Twenty-eighth Cut – Ich bin das Feuer

Twenty-ninth Cut – Flucht

Thirtieth Cut – Inferno

Thirty-first Cut – Aus der Hölle

Thirty-second Cut – Regen

Final Cut

ENDE

Danksagung

Flashback – Was bisher geschah

Als Jason Harpers Jugendliebe Charlie von einem Geist getötet wird, erwachen in ihm außergewöhnliche Kräfte. Er kann Geister nicht nur sehen, sondern sie auch bekämpfen und sich für seinen Verlust rächen. In dem Glauben, mit seinen Fähigkeiten allein zu sein, reist er fortan als Geisterjäger durch die USA.

In Miami trifft Jason auf einen besonders gefährlichen Gegner. Sein Kampf bleibt nicht unbeobachtet. Zwei andere Begabte und der ruchlose Frank von Roteiche heften sich aus unterschiedlichen Gründen an seine Fersen. Franks Auftrag, den aufbrausenden, dauerfluchenden Kettenraucher für die geheimnisvolle Organisation nach Europa zu bringen, scheitert an Jasons Sturheit, denn er will nichts mit diesen Leuten zu tun haben. Schnell muss er erkennen, dass von Roteiche ein eiskalter Killer ist. Eine Jagd quer durch die USA und Kanada entbrennt, bei der sein schlimmster Gegner nicht die Geister sind.

Zu seinem Glück findet er in den Zwillingen Daria und Bohdan anstrengende, aber treue Freunde und erfährt, dass seine Jugendliebe Charlie ihn seit ihrem Tod als Geist begleitet. In Kanada lernt er zufällig Julie kennen, und sie sind sich auf den ersten Blick sympathisch. Der skrupellose von Roteiche setzt den Geist eines Serienmörders auf Jason an und nimmt Julie als Geisel.

Der Konflikt zwischen Jason und Frank von Roteiche eskaliert und gipfelt in einem blutigen Finale. Jason tötet gemeinsam mit Charlie von Roteiche und hofft, endlich Ruhe zu haben.

Nachdem Jason eine kurze Verschnaufpause gegönnt wurde, bietet ihm die Organisation eine Entschuldigung an, doch der ruppige Geisterjäger traut ihnen nicht über den Weg. Die Zwillinge bitten ihn um einen absurden Gefallen: Er soll in ihrer Heimat, der Ukraine, in die Sperrzone von Tschernobyl reisen und dort einem Freund mit einem Geisterproblem helfen. Daria und Bohdan weigern sich aus persönlichen Gründen, jemals wieder nach Europa zu reisen. Und so bleibt ihm nur, selbst nach Tschernobyl zu gehen. Vor Ort muss Jason feststellen, dass er beileibe noch nicht alles gesehen hat, was die Schattenwelt zu bieten hat.

Doch auch in diesem entlegenen Teil der Welt lässt ihn die Organisation nicht in Frieden. So sieht Jason sich nicht nur einem geisterfressenden Monster, sondern auch schießwütigen Söldnern gegenüber. Überraschende Unterstützung erhält er ausgerechnet aus dem feindlichen Lager. Eva, die vormals von Roteiches Gräueltaten miterleben musste, wendet sich gegen die Organisation und bezahlt dafür mit ihrem Leben.

Charlie, die Jason stets begleitet, entfremdet sich immer mehr von ihm. Jason ahnt, dass mit dem Geist seiner Ex etwas nicht stimmt, doch andere Sorgen beschäftigen ihn mehr. Nach seiner Rückkehr gerät er am Flughafen in eine Auseinandersetzung zwischen den Zwillingen und einer Gruppe der Organisation. Deren Anführerin, Tscherenkowa, ist für Daria und ihren Bruder keine Unbekannte. Die Zwillinge sind von ihr gefoltert und ihrer Eltern beraubt worden.

Jason beschließt, der Organisation den Kampf anzusagen und ihr Oberhaupt, den geheimnisvollen Mr. Percy, zu erledigen. Denn längst ist man nicht mehr nur hinter ihm und den Zwillingen her. Eva hat ihm offenbart, dass auch Julie zur Zielscheibe geworden ist.

Die Freunde sind in Kanada in Julies Elternhaus und bereiten sich auf ihren Schlag gegen die Organisation vor. Doch alles kommt anders, als sie es geplant haben.

First Cut – Trügerisches Feuer

Jason saß im Wohnzimmer von Julies Eltern und war froh, dass er für ein paar Minuten allein sein konnte. Seit er aus der Ukraine zurückgekehrt war, hatte er kaum Zeit zum Luftholen gehabt. Die Scheiße am Flughafen wäre fast schiefgegangen, denn eine Art Spezialeinheit von dieser Scheißorganisation war hinter ihnen her, und diese Penner würden sicherlich nicht aufgeben. Genervt fuhr Jason sich durch die Haare. Was für ein Chaos! Ein paar Monate Ruhe, und nun ging es drunter und drüber. Was würde als Nächstes passieren?

Als Julies Ma von der Arbeit kam, war sie zuerst ein wenig überfordert von der Anwesenheit der Zwillinge. Die neuen Freunde ihrer Tochter passten so gar nicht in das Weltbild der stillen, gepflegten Endvierzigerin. Daria schien wieder ganz die Alte zu sein, was bedeutete, dass sie die meiste Zeit in einem Singsang redetet und eher tanzte, als sich normal zu bewegen. Daneben der riesenhafte, breitschultrige Bohdan mit seinem kindlichen Gesichtsausdruck, der so gut wie gar kein Wort von sich gab. Und natürlich war da noch Jason, den sie bereits kannte, mit all seinen grauenhaften Tattoos und den oft fragwürdigen Manieren. Dennoch erlaubte sie nach einem längeren Gespräch mit Julie, dass sie bleiben durften. Und so machten sich alle frisch, duschten und gingen zu Bett.

„War das dein Ernst? Nach England gehen und jemanden … umbringen?“

Julie lag in Jasons Arm und beide starrten zur Decke.

„Ich hoffe, in den Arsch treten reicht.“

Sie wandte sich ihm zu. „Meinst du, das klappt? Dass man diese Leute davon überzeugen kann, uns in Ruhe zu lassen?“

Die Bettdecke knisterte leise, als er sich zu ihr umdrehte. Als ihr Blick in seine blauen Augen fiel, zuckte sie leicht zusammen.

„Es geht nicht nur um uns, Julie. Die bringen Menschen um. Einfach so. Sie manipulieren, beeinflussen … Scheiße, ich hab keine Ahnung, wo die überall ihre Finger im Spiel haben.“

Er rollte sich wieder auf den Rücken und stierte an die Decke. Sie streichelte ihm sanft durch die schwarzen Haare.

Leise fuhr Jason fort: „Ich weiß es nicht. Ganz ehrlich, ich habe keinen Plan. Ich bin völlig überfordert und trotzdem weiß ich, dass ich was unternehmen muss.“ Er drehte sich ihr zu. „Aber diesmal musst du mitkommen.“

„Weil sie hinter mir her sind“, murmelte sie und strich sich eine braune Strähne aus dem Gesicht.

„Die Zwillinge und ich sind die Einzigen, die dich beschützen können“, gab er bestimmt zurück.

Julie rollte auf den Rücken, und Jason gab ihr einen Kuss auf die sommersprossige Wange.

„Ich habe Angst, Jason“, flüsterte sie in die Dunkelheit ihres Zimmers.

Er hob den Blick erneut zur Decke. „Ich auch, Julie.“

Nach einiger Zeit verriet Julies gleichmäßiger Atem, dass sie eingeschlafen war. Jason schlich sich aus dem Zimmer, nahm Hose, Shirt und vor allem seine Zigaretten mit. Julies Mom duldete nicht, dass er im Haus rauchte, aber er hatte die Erlaubnis erhalten, es in der Sitzecke hinten im Garten zu tun. Dorthin ging er jetzt, den Kopf voller Fragen und Gedanken an das, was bisher passiert war und was noch kommen würde. Die Ungewissheit nagte an ihm, und es war nicht nur die kühle Nachtluft, die ihn frösteln ließ.

Seufzend ließ er sich auf der Bank nieder und zündete sich eine Zigarette an. Er streckte die Beine aus, was beide Knie mit einem Knacken quittierten. Auch so eine Sache. Julie schrieb das seinen Fähigkeiten zu, die seinen Körper ihrer Meinung nach langsam ruinierten.

Sein Blick ging ins Leere und seine Gedanken schweiften ab. Was für eine Welt. Er hatte Geister gejagt, war dabei mehrmals fast umgekommen und hatte sich mit seinen Kräften allein gewähnt. Und plötzlich stand seine Welt Kopf. Es gab andere wie ihn, Geistermonster, die Idioten von der Organisation, und alle waren scheinbar hinter ihm her. Schnaufend stieß er den Rauch aus.

Jason lauschte in sich hinein. Was war in der Zone passiert? Er hatte seitdem das Gefühl, mehr Energie zu haben. Wieder einmal blieb ihm nur, den Kopf zu schütteln. Was für eine scheißverrückte Welt! Das leise Geräusch von Schritten ließ ihn aufhorchen. Daria kam barfuß auf ihn zu.

„Darf ich mich zu dir setzen?“, fragte sie.

Ihre Stimme war wieder schmerzhaft monoton. Ihre Schultern hingen herunter und ihre Hüfte stand still. Langsam strich sie sich die glatten, blau und violett gefärbten Haare aus dem Gesicht und sah ihn mit ihren grünen Augen schüchtern an. Das passte so gar nicht zu ihr, und ihm wurde klar, dass ihr Gehabe in der Gegenwart von Julies Mom nur Show gewesen war.

„Klar“, brummte er und rückte ein Stück.

Die Kunststoffbank wäre unter ihrem Bruder Bohdan, einem glatzköpfigen Muskelpaket sondergleichen, wahrscheinlich zusammengebrochen. Sie beide jedoch stellten für das weiße Plastik keine Herausforderung dar. Ihre Fähigkeiten forderten ihren Tribut, und so waren beide eher dürr.

„Danke“, murmelte sie.

Die beiden blickten geradeaus. Der Rauch von Jasons Zigarette stieg in den windstillen Nachthimmel hinauf. Trotz des Schimmers der Stadt sahen sie einige Sterne glänzen, die gegen das von Menschenhand geschaffene Licht aufbegehrten. Sie hörten das Rauschen der Zivilisation, immer wieder durchsetzt von einem aufheulenden Motor oder einer Sirene. Daria zog die Beine an und setzte sich zitternd in den Schneidersitz.

„Warum hast du keine Schuhe angezogen? War doch klar, dass das Gras nass ist“, murmelte Jason.

Als Antwort bekam er einen leichten Hieb auf die Schulter. Mit einem schiefen Grinsen drehte er sich halb zu ihr um. Seine Lippen wurden zu einem schmalen Strich, als er im Licht der Sterne Tränen auf ihren Wangen glänzen sah.

„Hey, Freak. Ich kann keine Gedanken lesen. Rede mit mir“, sagte er so sanft, wie es ihm möglich war.

Daria warf ihm einen schnellen Blick zu, wischte sich unbeholfen mit der Hand über das Gesicht und schniefte theatralisch. Für einen kurzen Moment war da wieder der Schalk in ihren Augen. Leider verschwand er sofort wieder, hinabgezogen in die Dunkelheit aus Angst und Trauer. Sie schlang die Arme um den Oberkörper und starrte zu Boden.

Jason sah sie noch einen Moment an, wartete, ob sie etwas erwidern würde. Als sich sein ohnehin kleiner Vorrat an Geduld dem Ende neigte, wollte er sich wieder abwenden, doch sie legte ihm eine Hand auf den von Tattoos bedeckten Arm.

Daria holte tief Luft. „Ich habe mich nie bedankt.“

Überrascht hob Jason den Kopf.

„Du nennst uns Freaks und bist oft gemein und grob zu uns.“

Er nahm Anlauf, um zu widersprechen, kam jedoch nicht dazu.

„Aber du bist immer für uns da. Du bist nur gemein, weil du Angst hast und nicht weißt, was du tun sollst. Weil deine Seele sich fürchtet. Seit du aus der Ukraine, seit du aus der Zone der Entfremdung zurück bist, bist du anders.“ Ihre grünen Augen fixierten seine blauen. Sie fuhr leise fort und hielt ihn mit ihrem Blick gefangen.

„Du bist stärker. Die wissen das noch nicht, aber ich sehe es. Ich wusste, dass es wichtig für dich sein würde, dorthin zu gehen.“ Jason wollte etwas sagen, aber Daria kam ihm erneut zuvor. „Diese Reise war gut für dich. Ich hatte … ich war nicht ehrlich. Ich habe Mikhael angerufen, nicht er mich.“

Jason grunzte. „Das hat er mir auch erzählt. Hab ich in dem ganzen Mist vergessen. Wieso …“

Daria unterbrach ihn. „Das Lied, Jason. Du hörst es auch. Ich wusste, du musst dorthin.“

Er atmete schwer aus. Das erklärte nichts. Sein Leben schien nur noch aus Fragen ohne Antworten zu bestehen, denn aus Antworten wurden nur noch mehr Fragen. Müde zog er an der Zigarette.

„Du und Julie“, sagte Daria leise, „ihr seid unsere einzigen echten Freunde. Du weißt nicht, wie viel Bohdan und mir das bedeutet. Du hast mal gesagt, du hattest eine Kindheit. Anders als wir. Damals habe ich das abgestritten, aber du hattest recht. Seit der Geschichte in der Schule, seit wir an diesem anderen Ort waren ... Wir hatten keine echte Jugend, keine Zeit, erwachsen zu werden und Erfahrungen zu machen. Wir kennen nur Flucht, Gewalt und Furcht.“ Ihre Fingernägel pressten sich in seine Haut, doch Jason brachte es nicht über sich, Daria zu unterbrechen. Lautlos liefen ihr glitzernde Tränen über die blassen Wangen. Sie konzentrierte sich und sprach ganz langsam und bewusst, um ihren Akzent unter Kontrolle zu halten. „Sie wollten uns brechen. Sie haben Bohdan und mir wehgetan. Sie haben uns beiden die Fähigkeit genommen, uns … weder mein Bruder noch ich können … ich und er, wir sind ...“

Jason ergriff ihre Hand und hielt sie sanft umklammert. „Wir können niemals Kinder bekommen“, schluchzte sie. „Wir können niemals eine Familie haben.“

Jason richtete sein Gesicht gen Himmel, die Kiefer fest aufeinandergepresst. Er ließ die Zigarette fallen und legte beide Arme um Daria.

Zaghaft sagte er: „Das tut mir sehr leid.“

Er hielt Daria eine Zeit lang fest, während sie weinte. Langsam beruhigte sie sich und warf ihm einen scheuen Blick zu, ehe sie sich ein Stück zurückzog.

„Das hat dieser beschissene Engländer befohlen, nicht wahr?“ Er holte eine weitere Zigarette hervor. Während der Rauch seinen Mund verließ, redete er weiter. „Ich kann verstehen, dass ihr euch rächen wollt. Das, was mit euch passiert ist, ist furchtbar. Das sind alles echte Arschlöcher.“ Erinnerungen kamen in ihm hoch: Blut, Trümmer, schreiende Kinder, Verletzte und gottverdammt zu viele Leichen. „Wir dürfen nicht mehr zulassen, dass andere zwischen uns und die geraten. Nicht so wie in Seattle oder heute am Flughafen.“

„Aber wenn sie uns keine Wahl lassen …“

Rüde unterbrach er sie. „Daria, wir haben immer eine Wahl, und wenn das heißt, dass wir besser abhauen sollten, dann hauen wir ab.“ Sie sah ihn skeptisch an. „Ja, auch für mich bedeutet das, dass ich mich zurückhalten muss.“ Er verdrehte die Augen. „Oder wir retten die Leute. So wie heute, verstehst du?“

Daria blickte zu den Sternen hinauf und schien nachzudenken. Jason war dankbar für die Unterbrechung und rauchte seine Kippe. Ihm war unwohl, denn er kannte seine eigene Unbeherrschtheit nur zu gut. Hätte er damals gewusst, was er heute wusste, dann hätte er von Roteiche vielleicht anders aufhalten können.

So saßen die beiden in Gedanken versunken nebeneinander, bis Jason plötzlich aufhorchte. Im Lied der Welt erklangen auffällig schräge Noten. Daria runzelte die Stirn und sah Jason tief in die Augen, forschend und aufmerksam. Sie schien etwas sagen zu wollen, als er sich plötzlich kerzengerade aufrichtete.

„Scheiße, sie sind hier“, murmelte er, verzog das Gesicht und sah sich um. „Lauf nach drinnen! Weck die anderen! Julie soll ihre Mutter aus dem Bett holen.“

Binnen Sekunden wechselten sich Angst, Sorge und schließlich Wut in ihrem Antlitz ab.

„Keine Freakshow jetzt“, wies er sie vorsorglich an. „Lauf rein und weck deinen Bruder, dann Julie. Sie soll sich um ihre Mutter kümmern. Sieh zu, dass alle das Nötigste packen. Sie sollen sich beeilen.“

Daria sah ihn für einen kurzen Moment mit zusammengezogenen Augenbrauen an, nickte und rannte dann los. Jason hingegen holte eine weitere Zigarette hervor und starrte sie an, ohne sie anzuzünden. Kalte, berechnende Wut stieg in ihm auf.

„Ihr wagt es“, zischte er leise. „Ihr wagt es tatsächlich, ihr Arschlöcher. Ihr traut euch hierher, obwohl wir drei hier sind.“

„Vier!“, protestierte Charlie.

Grün schimmernd stand sie mit verschränkten Armen vor ihm, für immer gezwungen, dasselbe Outfit aus Kapuzenpullover, Jeans und abgewetzten Turnschuhen zu tragen, wie an ihrem Todestag. Ihre ehemals roten Haare hingen offen über ihre Schultern. Jason lächelte. „Ja, wir vier. Danke, dass du da bist.“

Er erhob sich. Im Haus waren derweil die Lichter angegangen und man sah Schatten vor den Fenstern hin- und herhuschen.

Jason musterte seine tote Ex-Freundin und verzog das Gesicht.

„Was für eine Scheiße! Eigentlich wollten wir ein anderes Leben.“ Der Geist zuckte mit den durchscheinenden Achseln. „Wir sind für immer zusammen, Coolboy. Und du machst, was du am besten kannst.“

„Und was soll das bitte schön sein?“

Charlie sah ihm tief in die Augen und lächelte. „Wie in der Schule: Du löst Streitigkeiten. Auch wenn jetzt ab und zu Gebäude dabei in die Luft fliegen.“

Jason verzog angesäuert das Gesicht. „Das will ich eigentlich vermeiden.“

Sie grinste ihn herausfordernd an. „Machen wir sie fertig.“

Nickend marschierte Jason zum Haus. Charlie ging neben ihm her und verschwand langsam wie Nebel, der vom Wind auseinandergetrieben wurde.

Drinnen angekommen erwartete ihn Julie mit großen Augen. Sie spielte mit einer Haarsträhne.

„Daria sagt, diese Leute, die hinter euch her sind, sind hier.“

Jason nickte. „Habt ihr eure Sachen zusammengepackt? Deine Ma auch?“

Sie warf einen hektischen Blick über die Schulter. „Daria hat etwas nachgeholfen. Meine Mutter hat fast die Krise wegen der Aufregung bekommen, aber dann hat Daria leise gesungen. Mom hat sich umgedreht und angefangen, eine Tasche zu packen.“

„So was kann Daria“, murmelte Jason abwesend. „Hör mir genau zu: Ihr werdet zum Auto gehen, und dann haut ihr ab, und zwar so schnell es geht.“

„Wohin?“

Er fuhr sich mit den Händen durch die Haare. „Lindell. Wir folgen euch, sobald wir können.“

Julie packte seine Schultern, küsste ihn und lief ohne ein weiteres Wort los.

Daria und Bohdan standen an der Haustür. Jason musterte sie nacheinander. „Seid ihr bereit?“, fragte er leise. Die Zwillinge nickten. „Habt ihr euch im Griff? Kein Schlachtfeld, kapiert!“

„Wir töten nur sie“, gab Daria zurück.

Jason presste die Kiefer aufeinander. Er wusste, er würde sie um nichts in der Welt davon abbringen können. Bohdan hatte seinen alten, ungeladenen Revolver in der Hand und sah Jason fest an.

„Keine Angst“, brummte er mit seiner tiefen Stimme.

„Ich hab Angst, Großer“, erwiderte der Geisterjäger leise und legte den Kopf schnell von links nach rechts. Das erwartete Knacken blieb aus. „Lasst die Show beginnen“, knurrte er, schob sich zwischen den Zwillingen hindurch und öffnete die Haustür.

In West Vancouver standen die Einfamilienhäuser nicht so eng beieinander wie auf der anderen Seite der Bucht. Julies Zuhause lag am Rand eines hübsch bewaldeten Geländes, das einem großen Golfklub gehörte. Im Norden erhoben sich die ersten Bergketten. Es war definitiv eine der besseren Gegenden. Aber all das spielte jetzt keine Rolle, denn egal ob gehoben oder nicht: Jason ahnte, dass es bald ein Schlachtfeld sein würde.

Auf der Straße vor dem Haus hatte eine schwarze Limousine gehalten, auf deren Dach sich kalt das Licht der Straßenlaterne spiegelte. Die vier Mitglieder der Unit 7 hatten neben dem Fahrzeug Aufstellung bezogen. Jason sah Daria und Bohdan eindringlich an und ging die drei Stufen zur Auffahrt hinunter.

„Verschwindet!“, sagte er laut.

Wie schon am Flughafen standen die Männer des Teams jeweils außen, die Frauen in der Mitte. Tscherenkowa mit ihren weißen Haaren und den beinahe schwarzen Augen hob eine bleiche Hand. „Mr. Harper“, begann sie und ignorierte die Zwillinge. „Wir sind hier, um uns für den Vorfall am Flughafen zu entschuldigen.“

Jason schüttelte theatralisch seufzend den Kopf. „Wie oft muss man es euch Pennern eigentlich noch sagen? Eure Scheißentschuldigungen könnt ihr euch in den Arsch schieben.“

„Mr. Harper …“

Jason fuhr dazwischen. „Sparen Sie sich den Mist. Wie oft habt ihr Wichser schon die Welt manipuliert? Wie viele Terrorangriffe mussten schon als Tarnung für Scheiße herhalten, die ihr veranstaltet habt? Bei wie vielen Menschen habt ihr die Gedanken durch ‘nen Mixer gedreht, damit sie für euch lügen? Wie … ach, fickt euch einfach!“, zischte er. „Verpisst euch! Ich habe nicht einmal erlebt, dass einer von euch etwas Gutes getan hätte. Oder zumindest mal nicht voll in die Scheiße gegriffen hätte.“ Er redete sich in Rage. „Heute am Flughafen zum Beispiel, da hättet ihr Arschlöcher die Chance gehabt, mir das Gegenteil zu beweisen. Aber ihr Penner habt euch lieber von Daria und Bohdan provozieren lassen. Was war es diesmal? Eine geplatzte Gasleitung? Redet ihr euch damit raus? Ihr hättet die Leute in Sicherheit bringen können, aber nein! Ihr scheißt einfach auf jeden.“

Tscherenkowa ließ ihre Hand sinken, holte ein Mobiltelefon hervor, wählte eine Nummer und wartete. Der Rest ihres Teams stand da und beobachtete die Gegenseite aufmerksam. Der Anblick des Telefons ließ Jason verstummen und er warf einen schnellen Blick zu den Zwillingen. Sie standen mit steinerner Miene vor der Tür. Bohdan hielt den Revolver in der Hand und Darias Gesicht sprühte vor Zorn.

„Hallo, Mr. Percy. Ja, wir sind vor Ort. Nein, Mr. Harper ist aktuell nicht durch Argumente zu überzeugen.“ Tscherenkowa musterte Jason, während sie ihrem Gesprächspartner lauschte. Dann fuhr sie fort. „Ich habe verstanden, Mr. Percy. Wie geplant, sicherstellen und zu Ihnen bringen. Ja, Sir.“

Das Mobiltelefon verschwand wieder in der Jackentasche. In diesem Moment begann sich das elektrische Tor der Garage zu heben. Die Scheinwerfer des SUV leuchteten die Einfahrt hinab und blendeten für einen Moment die ungebetenen Gäste. Jason winkte Julie und ihrer Mutter zu, sie sollten fahren.

„Tut mir leid, Mr. Harper, aber das können wir leider nicht zulassen“, sagte Tscherenkowa mit lauter Stimme. „Wir werden weder Sie noch jemand anderen gehen lassen. Wir werden Sie und Julie nach England begleiten. Und wenn Sie, Mr. Harper, jetzt mit gutem Beispiel vorangehen, wird niemand zu Schaden kommen.“

Jason ballte die Fäuste und knirschte mit den Zähnen. Alles in ihm wollte losschlagen, die überhebliche Ruhe aus diesem kalten Gesicht prügeln. Aber nicht jetzt. Ruhe bewahren. Er atmete tief ein, als die Blonde das Wort ergriff. Sie trug ein mitternachtsblaues Kostüm, das ihre sportliche Figur betonte. Ihre langen, goldenen Haare hingen ihr elegant über die Schultern und ihre blauen Augen fixierten ihn.

„Mr. Harper, Jason, schauen Sie bitte in beide Richtungen die Straße entlang. Sie werden feststellen, dass dort weitere Fahrzeuge bereitstehen. Die örtliche Polizei war so freundlich, uns mit Straßensperren zu unterstützen.“ Sie lächelte, konnte aber den überheblichen Ausdruck in ihrem Gesicht nicht unterdrücken.

Jason warf einen Blick in beide Richtungen, und tatsächlich waren an den Enden der Straße durch je zwei Fahrzeuge der Polizei Barrikaden errichtet worden. Mit steifen Schritten ging er zum SUV und signalisierte Julie, den Motor auszuschalten. Sie wollte die Tür öffnen, doch er winkte ab.

„Macht erst das Garagentor wieder zu. Dann geht ihr ins Haus. Bohdan wird es schützen.“ Er lächelte beruhigend, aber es fühlte sich gequält an. Als er wieder bei den Zwillingen war, murmelte er an Bohdan gewandt: „Schütz das Haus. Sie können nicht weg und wir auch nicht.“

Wortlos drehte der Riese sich um und ging hinein. Das Tor der Garage senkte sich, Jason hörte die Türen schlagen. Gemeinsam mit Daria stand er da und verschränkte die Arme. „Und? Wie soll der Scheiß jetzt weitergehen?“, fragte er genervt.

Tscherenkowa erwiderte emotionslos: „Sie werden uns ebenso begleiten wie ihre Freundin. Am besten, ehe wir uns der Zwillinge annehmen.“

Jason zog die Augenbrauen hoch und senkte augenscheinlich beeindruckt die Mundwinkel. Mit einer Hand hielt er Daria am Unterarm fest, die bereits Anstalten machte, loszumarschieren.

„Harte Worte. Ihr Arschlöcher wollt hier also den großen Showdown abziehen. Endlich die bösen Zwillinge kaltmachen.“ Er nickte mehrmals. „Krasser Scheiß!“ Er neigte den Kopf. „Aber mal ehrlich: Den Mist glaubst du doch selbst nicht?“

Stein atmete theatralisch tief ein und der Muskelmann neben ihr gähnte übertrieben. Der Schwarzhaarige lehnte entspannt am Wagen, während Tscherenkowa die Arme vor der Brust verschränkte. „Mr. Harper, aktuell geben wir Ihnen eine Chance, weitere Verluste zu vermeiden. Mir sind Menschen schlicht egal, wenn sie keinen Nutzen haben.“

Santos stieß sich ab und stellte sich neben seine Teamleaderin. Seine schwarzen, krausen Haare waren nach hinten gegelt. „Den Dummkopf einen Schutz über das Haus legen zu lassen, war überflüssig.“ Er hob einen Arm und ballte langsam eine Faust. „Der ist kein Hindernis für uns.“

Jason wiederholte das Nicken, den Mund immer noch zu einem anerkennenden Ausdruck verzogen. „Ich sag’s ja, echt krasser Scheiß, nur glaub ich das nicht.“

Santos wollte etwas erwidern, doch Tscherenkowa hob eine Hand. „Mr. Harper, wie lange wollen Sie das Unvermeidliche noch hinauszögern?“

In diesem Moment kam Bohdan aus der Tür. An seinem rechten Unterarm entdeckte Jason einen hastig angelegten Verband.

„Was …?“

„Bohdan hat dafür gesorgt, dass der Schutz auch bestehen bleibt, wenn wir diesen Ort verlassen“, raunte Daria.

„Etwa mit seinem beschissenen Blut?“, zischte Jason.

Daria nickte.

„Ein geschickter Schachzug“, kommentierte die Blonde. „Aber wie Mr. Santos bereits andeutete, völlig sinnlos.“

Jason presste die Kiefer aufeinander. An die Zwillinge gewandt knurrte er: „Das wird sich zeigen. Bleibt ja ruhig. Bin gleich wieder da. Mal sehen, was die Penner gegen die doppelte Ladung ausrichten wollen.“

Als er sich umdrehte, hörte er hinter sich Tscherenkowas Stimme. „Keine Sorge, Jason. Wir werden hier in aller Ruhe auf Sie warten. Egal was Sie tun, andere mag das stoppen. Mich nicht.“

„Mir doch egal, was du sagst, Miststück“, brummte er und betrat das Haus.

Sofort spürte er die Kraft, die Bohdan hinterlassen hatte. Er fand Julie und ihre Mutter in der Küche. Julie war gerade dabei, eine kleine Plastikschüssel mit einem Deckel zu schließen. Darin schwappte eine dunkle, schwerfällige Flüssigkeit. Ihre Mutter stand blass an den Esstisch gelehnt da und atmete schwer.

„Was geht hier vor sich? Was passiert hier?“, stammelte sie.

„Schock?“, fragte Jason.

Julie nickte. „Ich glaube, als Bohdan sich ein Messer in den Arm gerammt hat, hat ihr das den Rest gegeben.“

„Kein Wunder“, murmelte Jason. „Ist das sein Blut?“

„Er hat gesagt, ich soll es einfrieren.“

„Dann mach das besser.“

Er kniete sich hin, hörte die Tür des Kühlschrankes klappern und legte die Hände auf den Boden. Mit geschlossenen Augen ließ er sich in das Lied fallen und hörte die Note, die der große Zwilling hinterlassen hatte, spürte sie bis in das Fundament des Hauses hinein. Jason ermahnte sich, nur daran zu denken. Keinen komplizierten Kram, keine Mantras mehr. Nur denken. Lass es einfach passieren.

„So geht das, Coolboy“, kommentierte Charlie.

Julie schnappte nach Luft, und ein dumpfes Geräusch ließ Jason erahnen, dass ihre Mutter sich in eine Ohnmacht gerettet hatte.

„Dein Ernst? Dir fällt kein besserer Zeitpunkt ein, um zu erscheinen?“, murrte Jason.

„Du bist Charlie?“, fragte Julie mit vibrierender Stimme.

„Ist sie“, brummte Jason genervt.

„Bin ich“, bestätigte der Geist kichernd. „Denk dran, dass sie hier weiterhin wohnen wollen. Spreng es nicht in die Luft.“

Etwas an ihrem Lachen störte Jason, aber er konzentrierte sich weiter auf sein Vorhaben.

„So“, murmelte er. „Bohdans Segen bleibt dank seines Blutes erhalten. Warum, keine Ahnung, aber so scheint der Mist zu funktionieren. Ich habe das Haus versiegelt. Niemand, der euch schaden will, kann hier rein.“

„Blut und andere Körperflüssigkeiten spielten schon bei antiken Völkern eine wichtige Rolle in bestimmten Ritualen“, erklärte Julie zitternd.

Charlie lachte schmutzig. Jason betrachtete die grün schimmernde Erscheinung seiner toten Ex-Freundin, während er sich erhob.

„Was soll das jetzt, Charlie? Für manche Leute ist der Anblick eines Geistes nicht alltäglich, weißt du?“, stieß er hervor.

„Ich dachte, es wird Zeit, dass wir uns kennenlernen“, gab Charlie spöttisch zurück.

Jason funkelte sie gereizt an. „Sehe ich nicht so. Los, wir müssen wieder raus zu den Freaks, ehe da was schiefgeht. Julie, du bleibst hier.“

„Vergiss es“, kam prompt die Antwort.

„Deine Ma braucht dich“, erwiderte Jason leise.

Julies Blick schaute zwischen allen Anwesenden hin und her. Ihre Mutter lag friedlich in sich zusammengesunken auf dem Küchenboden. An Julies Blick erkannte Jason, dass ihre fürsorgliche Seite die Oberhand gewann.

„Passt auf euch auf“, sagte Julie, hauchte Jason einen Kuss auf die Lippen und kümmerte sich dann um ihre Mutter.

Der Geisterjäger sah skeptisch seine Gespensterfreundin an und öffnete die Haustür. Charlie glitt neben ihm durch die Wand. Daria und Bohdan standen mit ernsten Gesichtern auf den Stufen und schienen sich nicht bewegt zu haben, seit Jason hineingegangen war. Leider hatte die Unit 7 sich ebenfalls nicht von der Stelle gerührt. Jason stellte sich neben die Zwillinge. Charlie, die keinen Platz mehr auf der Treppe hatte, schwebte daneben.

Wie in einem schlechten Film standen sie sich gegenüber. Vier auf jeder Seite. Es fehlte nur noch das Ticken einer Uhr.

„Okay, jetzt stehen wir alle wie die letzten Idioten hier rum. Und? Seht ihr Arschlöcher jetzt ein, dass es besser wäre, sich zu verpissen?“

Charlies Erscheinen schien niemanden sonderlich zu beeindrucken. „Charlet O’Bannen! Was für eine Überraschung“, kommentierte Stein mit einer hochgezogenen Augenbraue. „Ein interessantes Phänomen. Hatten wir schon einmal die Seele einer Begabten zu Untersuchungszwecken?“

Santos schüttelte den Kopf. „Nein. Ich kümmere mich darum“, sagte der Schwarzhaarige selbstbewusst.

„Ich würde sagen, wir erledigen das jetzt und gehen dann zusammen was trinken. Stein, ich lad dich ein!“, grunzte Doe überheblich, streckte die Arme und machte ein paar lockere Schläge in die Luft. Die Blondine ging nicht darauf ein, sondern fixierte Daria. Tscherenkowa hingegen ließ Jason nicht aus den Augen. Der ballte die Hände zu Fäusten, die Adern an seinen Armen und seinem Hals pochten. Was sollte die Scheiße? Das ganze Gerede, das Anstarren. Das war doch keine beschissene Schulhofschlägerei!

Schließlich hielt er es nicht mehr aus. „Entweder ihr Wichser verpisst euch jetzt, oder es knallt! Wir ergeben uns nicht. Wir werden euch alles an Scheiße in eure arroganten Visagen klatschen, was wir aufbringen können. Steigt in eure verfickte Karre und verpisst euch!“

Das Geschrei zeigte eine unwillkommene Wirkung. In den Fenstern der Häuser ging Licht an und Schatten bewegten sich hinter den Scheiben.

Tscherenkowa lächelte nicht. Ihre Stimme war bar jeder Emotion, als sie antwortete: „Jason, Sie und Julie werden uns jetzt begleiten. Um O’Bannen kümmern sich meine Leute. Die Zwillinge sind nicht mehr Ihr Belang. Darum wird sich ebenfalls mein Team kümmern.“ Sie wies auf die umliegenden Häuser. „Die Menschen hier werden ihr normales Leben weiterführen, weiterhin ein Dach über dem Kopf haben und es wird keine Kollateralschäden geben.“ Sie deutete auf die Haustür. „Also holen Sie die junge Kanadierin, und dann können wir in aller Ruhe fahren.“

Jason hob den Kopf an und verengte seine Augen zu schmalen Schlitzen. „Fick dich!“

Er spürte den Schlag im Song des Lebens. Der Schwarzhaarige hatte sich auf Charlie konzentriert, aber ihren Konter konnte Jason ebenfalls spüren.

Neben ihm riss Bohdan den Revolver in die Höhe und brüllte los. „Peng! Peng! Peng!“

Der Muskelberg auf der anderen Seite warf sich, wie ein Boxer die Deckung haltend, nach vorne, erzitterte unter den Einschlägen und wurde dabei schrittweise zurückgetrieben. Darias Hände fuhren zu ihrem Kopf, sie stöhnte schmerzerfüllt auf und krümmte sich zusammen. Dann schrie sie los. Santos und Stein wankten zurück gegen den Wagen und hielten sich die Ohren zu. Inmitten des Chaos starrten Tscherenkowa und Jason sich an.

„Alles, was jetzt passiert, geht auf Ihre Rechnung, Jason“, sagte sie, nicht einmal besonders laut.

Neben ihr taumelte Doe zurück, getrieben von den Gewalten, die Bohdan von der Leine ließ. Unter seinen Füßen riss der Beton auf. Stein und Santos wankten unter Darias schrillem Geschrei. Doch all das berührte Tscherenkowa nicht. In Jason tobten Bär und Feuer. Beide wollten endlich von der Kette gelassen werden.

„Ein Scheiß geht hier auf mein Konto, Arschloch“, knurrte er.

Die dürre, weißhaarige Frau zuckte nicht einmal, als er ihr mental eine verpassen wollte.

„Jason, Sie können mir nichts anhaben. Keiner von Ihnen kann das.“ Um sich herum konnte Jason die Kräfte spüren. Seit er in der Sperrzone Tschernobyls gewesen war, hatten sich seine Sinne in jeder Hinsicht geschärft. Er spürte es nicht nur, sondern sah, wie sich die Angriffe auf der anderen Seite entluden, wie sie aggressiv als Noten durch das Lied heulten und ihre Energie in der Realität freisetzten. Die Luft flimmerte unwirklich, als würde sie kochen.

Bohdan und Doe kämpften mit roher Gewalt gegeneinander, blockten die Angriffe des anderen oder lenkten sie ab. Der Wagen wurde am Heck eingedellt und mit protestierend quietschenden Reifen zur Seite geschoben. Eines der Fenster hinter Jason platzte mit einem lauten Knall, und ein erschrockener Schrei von Julie folgte aus dem Inneren. Daria kreischte etwas auf Ukrainisch, während sie auf die Knie sank und sich immer noch den Kopf hielt. Ihr gegenüber torkelte Stein nach hinten, Blut lief ihr aus der Nase. Auf der anderen Straßenseite erwischte es einen Hydranten. Mit einem dumpfen Krachen zischte das Wasser empor. Jason konnte die wilden, wütenden Noten im Lied hören, spürte die brutalen Kräfte. Fast schien es ihm, als könnte er bunte, ölig schimmernde Schlieren in der Luft sehen. Charlie und Santos starrten sich stumm an. Jason wusste, dass der Penner versuchte, Charlie unter seine Kontrolle zu bringen, aber seine Ex-Freundin hielt dem Stand. Er konzentrierte sich wieder ganz auf die Anführerin der Unit 7. Von ihr kam nichts, aber es erreichte sie auch nichts. Sie war ein blinder Fleck in dem Lied, als existiere sie nicht.

Neben ihm wankte Bohdan zurück. Daria stemmte sich in die Höhe und kreischte eine Folge von Worten in ihrer Muttersprache. Charlies Erscheinung flackerte. Sie machte eine wegwerfende Handbewegung und Santos wich knapp einem Gullydeckel aus, der an ihm vorbeiraste, um zitternd in einer Hauswand stecken zu bleiben. Stein taumelte zurück, bis sie gegen den demolierten Wagen fiel. Daria sackte erneut in die Knie, hustete und würgte. Tränen liefen ihr über das schmerzverzerrte Gesicht.

„Was für ein Wahnsinn“, flüsterte Jason.

Nach wie vor beeinflusste nichts von alledem die weißhaarige Tscherenkowa, die ihn unbeeindruckt fixierte. „Sie können das beenden“, sagte sie völlig ruhig.

Eine Straßenlaterne krachte auf den Boden, wo eben noch Santos gestanden hatte. Glassplitter flogen durch die Nacht und Funken knisterten aus der zerstörten Lampe. Daria schrie schmerzerfüllt auf. Jasons Geduldsfaden war zum Zerreißen gespannt.

Plötzlich zerfetzte ein Feuerball die Limousine und schleuderte Stein, Santos und Doe beiseite. Tscherenkowa fiel auf die Knie, während eine Flammenwand über sie hinwegraste. Lodernd schoss das Feuer in die Höhe und Trümmer flogen in alle Richtungen. Santos wälzte sich auf dem Boden hin und her, um die Flammen auf seiner Kleidung zu ersticken. Doe richtete sich schwankend wieder auf, während die Blondine leblos inmitten der Flammen lag. Tscherenkowas Kopf schnellte hoch und mit wütendem Blick starrte sie Jason an. Beinahe beiläufig erstickte sie mit einer Hand einige Flammen auf ihrer Schulter. Schockiert stand Jason da, die Hände fest zu Fäusten geballt.

Das Feuer brüllte. Gegenüber rauschte immer noch das Wasser aus dem zerstörten Hydranten. In der Ferne waren Sirenen zu hören und der Bereich vor Julies Elternhaus war ein Schlachtfeld.

Am ganzen Körper vibrierend zwang Jason sich in das Hier und Jetzt zurück. „Lasst uns in Ruhe, oder ihr bereut es!“, brüllte er.

Dann packte er Daria und zerrte sie zur Tür. Bohdan wankte hinter ihnen her. Charlie war bereits verschwunden.

Das Garagentor bekam keine Chance, sich zu öffnen. Der SUV brach durch das dünne Blech, und Tscherenkowa konnte gerade noch zur Seite springen, als Daria den Wagen in ihre Richtung lenkte. Jason betrachtete das Trümmerfeld durch den Rückspiegel. Feuerwehrwagen kamen ihnen entgegen. Menschen standen in ihren Haustüren und gafften. Die Barrikaden der Polizei waren aufgelöst worden, um die Einsatzkräfte durchzulassen. Mit aufheulendem Motor jagte Daria durch die Lücke. Julie und Bohdan saßen hinten, Jason auf dem Beifahrersitz.

„Ich weiß nicht, wohin“, sagte Daria mit zitternder Stimme.

Niemand antwortete. Jason starrte auf das Spiegelbild der Flammen. Sein Mund war trocken und er brachte keinen Ton heraus. Also fuhr sie einfach weiter, irgendwohin, auf die Berge zu, die sich dunkel gegen den Nachthimmel abzeichneten.

Nach einer Weile endeten die Lichter der Stadt und die Finsternis streckte ihre Klauen nach ihnen aus. Sie fuhren viel zu schnell und erreichten schließlich eine kurvenreiche Straße, die durch dichten Wald immer weiter nach oben führte. Niemand sagte etwas. Julie versorgte mit den dürftigen Mitteln der Erste-Hilfe-Tasche Bohdans Arm. Daria sah mit ihrem blutverschmierten Gesicht fürchterlich aus. Jason wandte sich ab und starrte hinaus in die Dunkelheit. Er wusste nicht, wie lange sie schon gefahren waren, als ein Schild einen Parkplatz ankündigte.

„Halt hier an“, wies er Daria müde an.

Sie nickte und lenkte den Wagen auf die Schotterfläche. Einige Holzschilder zeigten die Richtung für verschiedene Wanderrouten an. Die vier stiegen aus dem Auto aus und versammelten sich vor der Motorhaube. In der Dunkelheit hörten sie das Rascheln der Blätter im Wind, und der Wald zeichnete sich als Schatten in der Schwärze ab.

„Was wird mit meiner Ma?“, fragte Julie leise. Ihre Hände hatte sie ineinander verschränkt und bewegte sie unaufhörlich hin und her. Bohdan grunzte. Jason sah zu dem großen Mann hoch, nickte und wandte sich an Julie. „Sie ist im Haus mehr als sicher. Niemand, der Fähigkeiten wie wir hat oder ihr etwas Böses will, kann das Haus betreten“, erklärte er. „Bohdans Blut wird seinen Bann binden. Ich hab meinen Scheiß direkt ins Fundament gepumpt. Weniger dramatisch, aber genauso effektiv.“

Die Zwillinge reagierten nicht. Daria schien völlig weggetreten zu sein. Ihr Bruder starrte mit dem ihm eigenen debilen Lächeln von einem zum anderen.

„Erde an Freak eins. Ey, Daria, aufwachen! Wir müssen was besprechen“, forderte Jason sie auf, sich wieder zu fangen.

Julie sah Daria eindringlich an und drehte sich wieder zu Jason um. „Wüsste ich es nicht besser, würde ich sagen, sie hat einen Schock. Aber sie hat doch schon so viel erlebt.“

„Vielleicht zu viel“, erwiderte Jason.

Er kramte seine Zigaretten hervor und zündete sich eine an. Durch den Qualm beobachtete er die anderen und fragte sich zum gefühlt eintausendsten Mal, wie es so weit hatte kommen können. Wie er, ein Junge aus Kentucky, in so eine Scheiße hatte geraten können. Geister, Irre mit abgefahrenen Kräften, seine tote Ex, die ihn immer begleitete, und so beschissen viele Leiche. Es war alles Wahnsinn. Er nahm einen tiefen Zug und entließ den Rauch langsam wieder. Dabei beobachtete er, wie Daria nach und nach wieder ins Hier und Jetzt zurückkehrte.

„Hey, kleiner Freak, alles okay mit dir?“

„Eine sehr dumme Frage“, kam leise zurück.

Der Geisterjäger grinste ein wenig.

„Ihr braucht Nahrung“, murmelte Julie. „Ihr seht alle völlig fertig aus. Wobei es bei dir nicht so schlimm wie früher ist, Jason.“

Er zuckte mit den Achseln. „Wir brauchen mehr als das. ‘nen Platz zum Schlafen und vor allem ‘nen Scheißplan. Die werden jetzt richtig sauer sein.“

„Wieso hast du das Auto gesprengt?“, wollte Daria wissen.

Jason lachte schnaufend. „Ich? Ich hab das Auto nicht gesprengt. Ich dachte, das war Bohdan.“

Der große Mann schüttelte den Glatzkopf. Jason fixierte jeden Einzelnen. „Ohne Witz, verdammt! Wer hat die Karre in die Luft gejagt?“

Alle verneinten. Er schloss die Augen.

Charlie, hast du was damit zu tun?

Ich? Das ist doch dein Spezialgebiet.

Sie klang zickig und beleidigt.

Ich muss es wissen. Ja oder nein?

Nein! Ich kann so etwas nicht, giftete sie zurück.

„Charlie war es auch nicht. Was geht hier ab?“, knurrte er, kickte wütend einen Stein in die Dunkelheit, zündete sich eine weitere Zigarette an und verschränkte die Arme. Die glühende Kippe schräg im Mundwinkel fasste er ihre Lage zusammen. „Shit! Die werden jetzt richtig wütend sein. Ich glaube nicht, dass einer von den Wichsern draufgegangen ist. Das hätte ich gespürt. Aber ihre Laune wird sich dadurch nicht verbessert haben. Ab hier wird es also nur noch gefährlicher.“

Daria wippte auf und ab. „Und was machen wir jetzt?“

Jason sah von einem zum anderen. „Ich sage: kein Versteckspiel mehr. Kein Zurückhalten, keine Schonung. Wir nutzen, was wir haben, um an Kleidung, Essen, Unterschlupf, medizinische Versorgung und an Flugtickets zu kommen. Schluss mit dem Wegrennen.“ Die Glut der Zigarette spiegelte sich in seinen Augen. „Wir gehen nach England und beenden es.“

Second Cut – Blutiger Schwur

In der Privatklinik, in die die Mitglieder der Unit 7 gebracht worden waren, machte Tscherenkowa eine gedankliche Bestandsaufnahme. Sie alle hatten einen Knallschaden. Bei ihr selbst, Doe und Santos würde sich das legen. Die beiden Männer hatten leichte Brandwunden, Schnittverletzungen und Prellungen erlitten. Nichts, was die Ärzte nicht schnell versorgen konnten. Tscherenkowa selbst hatte sich beim Sturz einen Arm gebrochen. Aktuell nähte eine Ärztin zwei kleinere Wunden an ihrem Rücken.

Stein war eine andere Sache. Sie hatte direkt am Auto gestanden, als es explodiert war. Dass sie überlebt hatte, war ein Wunder. Aber sie würde nie wieder so aussehen wie früher. Ihre Schönheit und ihr Körper waren zerstört und beide Beine mussten amputiert werden. Ein Auge würde ein Team von Spezialisten retten können. Das waren zumindest die aktuellen Erkenntnisse der Ärzte, denn all das setzte voraus, dass Stein die nächsten paar Stunden am Leben blieb. Tscherenkowa folgte ihrer eiskalten Logik und ließ sich und ihre Teammitglieder für vierundzwanzig Stunden ruhigstellen. Das sollte ihren Wunden Zeit geben zu heilen, ehe sie ihre Jagd fortsetzten. Irina war sich sicher, dass alle darauf brannten, Harper zu erwischen.

Als sie aus dem künstlich herbeigeführten Schlaf erwachte, stand bereits ein Mitarbeiter mit einem kleinen Laptop bereit. Wortlos reichte er ihr das Gerät und zog sich dann vor die Tür zurück. Tscherenkowa setzte sich bequemer hin und klappte den Computer auf. Sofort erschien der Desktop. Es gab nur einen Ordner. Sie öffnete ihn und las den Bericht.

Harper und seine Freunde hatten sich nach Norden abgesetzt und waren in den Bergen Kanadas untergetaucht. Der Junge wusste, wie man von der Bildfläche verschwand. Nur Bargeld, Kameras meiden und so weiter. Seine Paranoia aus früheren Tagen würde ihm jetzt gute Dienste leisten. Außerdem hatte er eine Einheimische dabei. Aber sie waren Hals über Kopf geflohen. Das bedeutete, ihre Mittel waren begrenzt. Früher oder später würde Harper oder einer seiner Begleiter von seinen Fähigkeiten Gebrauch machen. Dann konnten sie die Fährte wieder aufnehmen.

Einige Bilder zeigten das Fahrzeug der Flüchtigen. An den Bericht angehängt war ein Dossier zu den Beteiligten und auf Tscherenkowas ausdrücklichen Wunsch hin auch zu O’Bannen. Ihre Seele schien an Harper gebunden zu sein oder an einen Gegenstand, den er bei sich trug. In seiner Akte fand sie keinen Hinweis auf ein infrage kommendes Objekt. Per E-Mail ordnete sie an, eine entsprechende Suche durchzuführen. Trug er immer dieselben Schuhe? Etwas, das er bei sich gehabt hatte, als O’Bannen gestorben war? Vielleicht konnten sie so einen weiteren Schwachpunkt ermitteln oder den Geist sicherstellen. Wie Stein schon richtig bemerkt hatte, wäre das ein interessantes Untersuchungsobjekt. Mit einer weiteren E-Mail orderte sie die notwendige Ausrüstung. Anschließend ließ sie sich ihr Mobiltelefon bringen und forderte befehlsgewohnt alle auf, den Raum zu verlassen.

„Mr. Percy, hier spricht Tscherenkowa. Alle haben die Ereignisse in Vancouver überlebt. Stein befindet sich in kritischem Zustand. Sie wird die Operation so oder so nicht weiter begleiten können.“

Das Oberhaupt der Organisation hielt sich nicht mit einer Begrüßung auf. „Irina, ist die Einsatzfähigkeit Ihres Teams gefährdet? Benötigen Sie einen Austausch?“

„Nein, Sir, einen Ersatz benötigen wir nicht.“

„Nun gut. Ich verlasse mich auf Ihre Einschätzung. Ich denke, dass unsere Zielperson nun genug weiß, um uns weitere Lauferei zu ersparen.“

„Ja, Sir. Ich teile Ihre Ansicht. Vermutlich wird Mr. Harper sich auf den Weg nach England machen. Er hat genug Informationen, um Sie als Ziel identifiziert zu haben. Die Zwillinge werden nach meinem Auftreten, wie wir vermutet haben, ihre Vergangenheit mit ihm geteilt haben. Zudem hat die Verräterin in Kiew ihm Informationen zukommen lassen, die zumindest seine Anspannung erhöht haben dürften.“

„Diese Sache in Kiew, da hat Dharma unverhofft Schlimmeres verhindert. Dennoch wird sie langsam zu einem Risiko. Etwas an ihr hat sich verändert, aber das zu untersuchen, kann warten, bis wir Mr. Harper unter Kontrolle haben. Die kleine Überraschung in Kanada dürfte für Unmut in Ihrem Team und zu einer gewissen Begeisterung für die Jagd auf die Zielperson geführt haben.“

„Ich stimme zu, die Unit 7 wird nach dem Vorfall in Vancouver hoch motiviert sein, Harper zur Strecke zu bringen.“

„Irina, Sie und Ihr Team werden mir Mr. Harper nach bester Manier ins Visier bringen. Meine Geduld neigt sich langsam dem Ende.“

„In alter, englischer Tradition werden wir den Fuchs in die Richtung des Jägers treiben. Nicht mehr lange, Sir, und unsere Beute wird sich bei Ihnen einfinden. Guten Tag, Mr. Percy.“

Nach dem Telefonat ordnete Tscherenkowa an, sie noch ein wenig ruhen zu lassen. Später, als es bereits Abend wurde, ließ sie sich frische Kleidung bringen und machte sich auf den Weg, um ihr Team zu treffen. Doe und Santos warteten bereits in einem Besprechungsraum, der normalerweise den Ärzten als Treffpunkt für Vorlesungen und Ähnliches diente. Tscherenkowa blieb aufrecht stehen und sah sich die beiden Männer an. Verbände verdeckten die schlimmeren Verletzungen. Beide hatten, wie sie selbst, kleinere Schrammen, wo keine Kleidung sie geschützt hatte. In Does Blick konnte sie die Wut lodern sehen. Er wollte Rache und er wollte sie jetzt. Das konnte zu einem Problem werden. Auch Santos war zornig, doch ihr alter Partner hatte sich weitaus besser im Griff und verstand sich darauf, die Wut in eine Waffe zu verwandeln. Was bei seinen Fähigkeiten wörtlich zu verstehen war.

„Harper ist aktuell Richtung Norden unterwegs. Wir gehen davon aus, dass er und seine Begleiter sich nach England begeben werden, um den Bestrebungen unserer Organisation ein Ende zu setzen. Sie wissen nicht genau, worum es uns geht, doch genug, damit an Harpers gute Seite appelliert wird. Zudem werden ihn die Zwillinge in diesem Bestreben unterstützen. Ihr Motiv ist Rache an Mr. Percy und mir. Aktuell können wir nur warten, bis einer von ihnen Gebrauch von seiner oder ihrer Begabung macht. Dann werden wir sie vor uns hertreiben und zu Mr. Percy bringen. Die Zwillinge können wir auf dem Weg eliminieren, solange das eigentliche Ziel nicht gefährdet wird.“

Santos lehnte sich zurück und hörte ihr aufmerksam zu. Doe wurde zunehmend unruhiger. Als sie endete, schlug er mit der flachen Hand auf den Tisch.

„Ich mach diesen kleinen Scheißer fertig!“, donnerte er. „Dem verpasse ich eine und …“

„Nichts davon werden Sie tun, Doe“, sagte Tscherenkowa leise, während sie sich mit beiden Händen auf dem Tisch abstützte und sich ihm entgegenbeugte. „Sie werden tun, was ich Ihnen sage und wenn ich es sage.“

Der breitschultrige Mann presste den Rücken gegen die Stuhllehne. „Ist ja okay, Irina. Bleiben Sie cool“, brummte er kleinlaut.

„Wir werden jetzt nach Stein sehen. Sie soll wissen, dass wir sie nicht im Stich lassen“, erklärte Tscherenkowa.

Santos zog die Augenbrauen zusammen. „Hat sie es überstanden? Ein Wunder, dass sie nicht sofort tot war.“

Irina nickte. „Ich habe auf dem Weg hierher die Mitteilung erhalten, dass sie sowohl stabil als auch ansprechbar ist. Zumindest für den Moment.“

Sie drehte sich um und verließ den Raum kommentarlos. Santos erhob sich schweigend, um ihr zu folgen. Doe hingegen konnte sich einen Spruch nicht verkneifen.

„Die Alte ist echt aus Eis, oder?“, fragte er leise.

Tscherenkowa stockte kurz und warf Santos einen Blick zu. Der nickte unmerklich. Doe lief gegen den Türrahmen und holte sich eine weitere Beule.

„Fuck!“, schimpfte der Riese.

Tscherenkowa ging weiter und drehte sich nicht um. „Halten Sie an sich oder ich lasse das nächste Mal Ihren dummen Kopf platzen.“

Gemeinsam betraten sie das Zimmer, in dem Stein untergebracht war. Die Deutsche war kaum noch zu erkennen. Unter der durchsichtigen Maske des Beatmungsgerätes war ihr beinahe vollständig verbranntes Gesicht kaum zu sehen.

„Freddy Krüger lässt grüßen“, murmelte Doe leise.

Santos schnaufte, verzog aber sonst keine Miene.

Ein blaues Auge, blutunterlaufen und furchtbar anzusehen, wandte sich ihnen zu. Die andere Augenhöhle war ein Schlund aus verbranntem Gewebe. Der Herzmonitor piepte schneller. Ihre Stimme war ein heiseres, hasserfülltes Flüstern. „Ich will, dass ihr es zu Ende bringt. Ich will, dass Harper hierfür büßt. Er soll Schmerzen erleiden.“

Tscherenkowa hielt dem Blick des roten Auges einen Moment stand, bevor sie genauer musterte, was von Sabrina Stein übrig geblieben war. Sie fragte sich, was vom Selbst der Deutschen in dem Feuer gestorben war.

„Lasst ihn am Leben, bringt ihn zu mir. Ich will und ich werde Jason Harper brechen. Ich schwöre es!“

Third Cut – Böse Spielchen

Dharma beobachtete das Oberhaupt der Organisation. Eine andere Wahl blieb ihr auch nicht. Geistige Fesseln hielten sie an Ort und Stelle, erlaubten ihr gerade einmal, flach zu atmen und die Augen zu bewegen. Ihr Herz schlug schmerzhaft schwach und ihre Lunge brannte. Aber es gab nichts, was sie tun konnte.

Mr. Percy beendete soeben sein Telefonat, entließ sie aus seinem mentalen Griff und kam dann wieder zu ihr an den Tisch. Der Anruf hatte ihn erreicht, während sie gemeinsam einen Tee trinken wollten. Oder, in ihrem Fall, musste.

„Neuigkeiten zu Mr. Harper?“, fragte sie schnippisch, während sie versuchte, sich die Qual nicht anmerken zu lassen.

„Dharma, Sie sollten sich diese Angelegenheit aus dem Kopf schlagen. Ich habe bald eine neue Aufgabe für Sie. In Tokio scheint einer unserer Vertragspartner den Sinn unserer Vereinbarung vergessen zu haben.“

Behutsam nahm der alte Mann seine Tasse und trank einen Schluck. Dharma hatte ihren Tee nicht angerührt.

„Aber bis ich mich dieser Sache annehmen darf, stehe ich weiterhin unter Hausarrest“, murrte sie.

Mr. Percy nickte. „Ganz recht, meine Liebe. Aktuell versuchen wir noch, diese Sache in Japan gütlich und diplomatisch zu klären. Aber ehrlicherweise gehe ich nicht von einem Erfolg aus. Ihr Einsatz würde seine Nachfolger daran erinnern, dass Verträge mit uns besser einzuhalten sind. Wie Sie wissen, Dharma, mag ich keine Enttäuschungen.“

Sie verzog die Lippen zu einem Lächeln, das ihre dunklen Augen nicht erreichte. „Dann werde ich mich jetzt zurückziehen und meine Ausrüstung vorbereiten. Ich gehe davon aus, dass sich bereits eine Akte in meiner Zelle, oh, ich meine natürlich: auf meinem Zimmer befindet.“

Mr. Percy betrachtete sie mit väterlicher Enttäuschung. „Dharma, ich wünsche keinerlei kindisches Verhalten mehr zu erleben. Sie dürfen sich zurückziehen und auf den etwaigen Einsatz in Tokio vorbereiten.“

Dharma hatte noch etwas erwidern wollen, doch sie konnte nicht. Er ließ es nicht zu, zwang ihr ohne erkennbare Kraftanstrengung seinen Willen auf, und mit einem Winken der Hand entließ er sie. Ein Zittern unterdrückend erhob sie sich und begab sich nach oben. Dort wartete ein Bediensteter in der dunklen Uniform der Angestellten des Anwesens. Er hatte ihren speziellen Koffer neben sich stehen. „Sir Percy hat angewiesen, Ihnen den Rest Ihres Gepäcks zu bringen.“

Sie schenkte ihm ein Lächeln und genoss den Blick in seinen Kopf. Dass Mr. Percy sie in der Hand hatte, machte sie wütend. Ein wenig Spaß würde ihre Laune aufhellen. Die Wachleute waren gegen Einflussnahme geschützt, nicht aber die Mitarbeiter. Der Mann musste sich aufs Höchste beherrschen, um seine Angst vor ihr zu unterdrücken. Sie trat dicht an den jungen Kerl mit seinen streng zurückgekämmten Haaren heran und brachte ihr Gesicht direkt neben seines, sodass sie sich fast berührten.

„Was wünschst du dir als Trinkgeld?“, hauchte sie in sein Ohr und wusste, was er dachte, ehe er es verhindern konnte. „Du Flegel“, kicherte sie.

Sie packte in seinen Schritt und drückte fest zu, ohne ihm wehzutun. Mit der anderen Hand öffnete sie die oberen Knöpfe ihrer Bluse. Dabei verfolgte sie das Chaos aus Gedanken, ein wirres Durcheinander aus Erregung, Angst und Pflichtgefühl. Dass er offensichtlich verheiratet war, machte es nur umso spannender.

„Oh, ich soll ihn also in den Mund nehmen? Zwischen diese vollen, roten Lippen, damit du dann …“ Blanke Panik zuckte durch das Innerste ihres unfreiwilligen Spielzeuges. „Keine Sorge, ich würde deiner geliebten Sarah nichts verraten.“

Sie massierte ihn weiter und verfolgte den Kampf in seinem Kopf. Mit geweiteten Augen starrte er sie an. Dharma senkte den Blick, als sie eine feuchte Wärme in der Hand spürte.

„Oh, dann doch nicht in meinen Mund?“, säuselte sie und trat einen Schritt zurück.

Ihr Opfer hielt sich die Hände vor den Schritt und taumelte mit hochrotem Kopf von ihr fort, stieß gegen das Treppengeländer und floh stolpernd die Treppe hinunter.

Mit einem höhnischen Lächeln öffnete sie die Tür zu ihrem Zimmer und brachte ihren Koffer zu dem großen Esstisch in der Ecke. Alles entsprach dem Stil eines englischen Landhauses, rustikal, aber edel. Dunkles Holz dominierte und Bilder von Jagdszenen rundeten das Ambiente ab. Sie hasste es. Ebenso wie ihren Herrn, wie die Fesseln, die verhinderten, dass sie frei war. Sie öffnete das Zahlenschloss und klappte den Deckel auf. Das Innere des Koffers war mit Schaumstoff ausgekleidet und enthielt Messer, Pistolen und Zubehör wie etwa Schalldämpfer. Nach und nach holte sie alles heraus, und begann, die Ausrüstung zu prüfen. Es klopfte.

„Herein“, rief sie.

Ein Mann in Gefechtsuniform mit einem Karton auf dem Arm öffnete die Tür, trat ein und nahm Anlauf, etwas zu sagen.

„Sparen Sie sich den Atem“, sagte sie. „Ich weiß, dass der alte Mann es nicht schätzt, wenn ich mit seinen Bediensteten spiele. Ich langweile mich nun mal.“

Er versuchte verzweifelt, einen neutralen Gesichtsausdruck zu wahren. Doch auch wenn seine Gedanken gegen ihre Kräfte abgeschirmt waren, kannte Dharma Männer gut genug, um aus seinen Augen alles abzulesen, was sie wissen musste. Insbesondere, da sie die Knöpfe der Bluse nicht wieder geschlossen hatte.

„Wahrscheinlich würdest du nicht einfach nach ein bisschen Spielerei kommen, sondern mich so richtig …“

„Ich bringe die bestellte Munition und gehe wieder“, warf er ihr entgegen, stellte den Karton ab und zog sich hastig zurück.

„Ich beiße nicht“, rief Dharma ihm hinterher.

Die Tür fiel ins Schloss, und das lüsterne Lächeln auf ihrem Gesicht verschwand schlagartig. Mit unbewegter Miene öffnete sie den Karton, prüfte Kaliber und Anzahl der Patronen und fuhr dann fort, ihre Waffen zu reinigen und einsatzbereit zu machen. Ein bestimmtes Messer hatte sie weit von sich auf den Tisch gelegt und ignorierte es, bis sie mit allem anderen fertig war. Als alles inklusive der Munition wieder verstaut war, streckte sie die Hand nach der schwarzen Klinge aus. Langsam zog sie die Scheide ab und hielt die schlichte Waffe auf Augenhöhe. Auf dem dunklen Material fielen die Flecken kaum auf. Dharma trat vor einen großen Spiegel und ließ die metallene Spitze sanft an ihrem Hals entlanggleiten.

„Oh Frank“, seufzte sie. „Wie du mir fehlst. Ich vermisse deine Fantasie, deinen Esprit, deine Genialität, wenn es um Schmerz und Lust ging.“

Im Spiegelbild sah sie eine Gestalt hinter sich stehen, die ihre Hand mit der Klinge führte. Der Mann hatte eine elegante Brille auf, die er mit der freien Hand ein wenig auf dem Nasenrücken hochschob. Seine blonden Haare waren in einem strengen Pferdeschwanz zusammengebunden. Dharma stöhnte leise, als eine zweite Hand sich um ihre Taille legte.

„Niemand hat uns wirklich verstanden. Wir wollten nur frei sein, du und ich“, fuhr Dharma leise fort. „Frei von den Zwängen, denen diese alten Narren uns unterwerfen. Wir selbst waren wir nur in den wenigen Stunden, in denen wir uns liebten.“

Sie fixierte die blauen Augen, während die Schneide des Messers ihre Haut streichelte.

„Du fehlst mir. Ohne dich ist mir diese Welt zu langweilig. Aber ich schwöre dir, mein Geliebter, Harper wird leiden. Sehr leiden.“ Der Mann im Spiegel lächelte. Die Spitze des Messers stach in ihre Haut und ein dünner Faden Blut lief in ihr Dekolleté.

Später in der Nacht warf Dharma sich in ihrem Bett hin und her. Ihre Hände krallten sich in die Decke, immer wieder verkrampfte ihr ganzer Körper. Dann wachte sie auf und setzte sich hin. In dem großen Spiegel, der dem Bett gegenüber stand, betrachtete sie sich im Licht des Mondes, zerzaust, verschwitzt und mit weit aufgerissenen Augen, in deren Tiefe ein rotes Feuer brannte.

„Wir werden uns wiedersehen, Straßenköter. Alle werden sehen, was sie davon haben, uns verraten zu haben. Die ganze Welt wird Zeuge unserer Rache sein.“

Fourth Cut – Treibjagd

Die Organisation musste nicht lange warten, bis sie die Spur von Jason und seinen Freunden wieder aufnehmen konnten. Am nächsten Tag deckte sich die Gruppe an einer abgelegenen Tankstelle mit Kraftstoff, Lebensmitteln, Medikamenten und Verbandsmaterial ein. Sie nahmen an Outdoorausrüstung mit, was sie finden konnten. Den SUV ließen sie zurück und stahlen stattdessen den Truck des Besitzers. Bezahlen war keine Option.

Jason stand neben dem großen Pick-up und schielte zwischen den Bäumen in den Himmel. Der Polizeihubschrauber drehte gerade wieder ab und entfernte sich. Endlich konnte er sich eine Zigarette anstecken. Julie stellte sich hinter ihn, legte ihre Arme um seine Taille und drückte sich gegen seinen Rücken.

„Kein Wunder, dass du so viel rauchst. Ich weiß nicht, wie du das jahrelang ausgehalten hast, so zu leben.“

„Willkommen in meiner Welt“, gab er leise zurück. Mit einem Nicken deutete er zu den Zwillingen. „Die zwei ertragen das schon länger. Die haben viel mehr Scheiße durchgemacht als ich. Die wurden gefoltert und was weiß ich was noch für ‘ne Scheiße.“ Lauschend sah er noch einmal nach oben und drehte sich um. „Lasst uns weiterfahren.“

Julie hielt ihn an den Schultern fest und sah ihm in die Augen. „Du weißt nicht, was sie von mir wollen? Wirklich nicht?“

Jason schüttelte den Kopf. „Nein, Julie. Keine Ahnung. Es hat etwas mit uns zu tun. Ich hab da eine Idee, aber ...“ Sein Blick wanderte zu den Zwillingen. Er schüttelte den Kopf. „Keine Ahnung, ehrlich nicht.“

Julie streichelte ihm über die Wange und sie küssten sich zaghaft. Jasons Anspannung wuchs. Ständig sah er sich um, seine Hände bewegten sich fast unablässig und bei jeder Gelegenheit steckte er sich eine Zigarette an. Daria und Bohdan waren auf den ersten Blick ruhiger, aber bei genauerem Hinsehen erinnerten sie eher an einen Tsunami. Eine unbändige Wut schlummerte unter der Oberfläche. Julie hingegen hatte mit ihnen allen nur eines gemeinsam: Angst. Sie stiegen wieder ein und der bullige Motor erwachte mit einem dumpfen Röhren. Sie fuhren Richtung Osten zwischen dem Mount Oleg und dem Mount Matier hindurch. Nachdem sie die Karten studiert hatten, war ihr Plan, nach Calgary zu fahren und von dort per Flugzeug weiterzureisen. Bis dahin wollten sie so unauffällig wie möglich bleiben. Sie wussten, dass die Organisation ihnen dicht auf den Fersen war. Darum hatten sie in der Tankstelle alles an Bargeld mitgehen lassen, was sie in die Finger bekommen konnten. Julie hatte zwar protestiert, doch Jason hatte ihr klargemacht, dass es nicht anders ging. Sie hatte dunkle Ringen unter den Augen, und nie zuvor hatte Jason sie an den Fingernägeln kauen sehen. Ständig blickte sie sich unruhig um. Sie und Daria fuhren abwechselnd, denn Jasons unsicherer Fahrstil war für alle eine Zumutung. War Julie hingegen früher schon vorsichtig gefahren, schien sie nun beinahe zu schleichen. Damit sie weiterkamen, mussten die Frauen sich am Steuer abwechseln. Sie nutzten die Geländegängigkeit des Allradwagens und schliefen im Wald, abseits der Wege und Straßen. Daria und Julie blieben in der Crewkabine des Dodge Ram, während Bohdan und Jason eine Plane über die Ladefläche spannten und dort schliefen. Das war Jason recht, denn so konnte er seiner Sucht frönen und in Ruhe rauchen. Sie vermieden die Hauptstraßen und suchten Waldwege sowie wenig befahrene Strecken, um voranzukommen. Das kostete zwar mehr Zeit, verhinderte aber, dass sie entdeckt wurden. Sie hatten noch gut siebenhundert Meilen vor sich.

Jason war nicht wirklich unglücklich über den langen Weg. In seinem Kopf rumorte es, und er grübelte endlos darüber nach, was er wusste. Wie ließen sich die Puzzlestücke zusammensetzen und was für ein Bild sollte dabei herauskommen? Was wollten diese Arschlöcher? Die Welt beherrschen? Was war deren Antrieb? Mit diesen Fähigkeiten konnte man einfach ins Weiße Haus marschieren, und niemand konnte einen aufhalten. Innerlich drehte er langsam durch. Das alles ergab keinen Sinn. Was wollten die von ihm und Julie? Sollte er eine weitere Waffe für sie werden und Julie das Druckmittel? Wie in einem beschissenen Agententhriller? Nichts von alledem ergab Sinn. Seine Gedanken kamen nicht zur Ruhe. Der Pick-up rollte brummend einen nicht ausgebauten Waldweg entlang. Jason saß vorne neben Julie, die beide Hände fest am Lenkrad hatte. Daria lag hinten in den Armen ihres Bruders und beide schliefen. Der schwere Wagen schaukelte hin und her. Gerne hätten sie einen weniger beschwerlichen Weg eingeschlagen. Doch als sie vor ein paar Stunden in die Nähe einer Hauptstraße gekommen waren, hatten sie mehrere Polizeiwagen gesehen, die alle durchkommenden Autos kontrolliert hatten.

„Sind wir noch in der richtigen Richtung unterwegs?“, fragte Julie unsicher.

Jason sah sich um und grinste schief. „Gab kaum Abzweigungen. Denke, wir sind hier richtig.“

Julie starrte weiterhin mit verkniffenem Gesicht geradeaus und bemühte sich, den schlimmsten Schlaglöchern auszuweichen.

„Ist ‘n bisschen was anderes als der Wagen deiner Ma, oder?“, fragte Jason in dem Versuch, das Gespräch am Laufen zu halten.

„Denkst du, ihr geht es gut?“ Sorge schwang in ihrer Stimme mit, und Jason konnte sehen, wie sich ihre Augen mit Tränen füllten.

„Pass auf, im nächsten Kaff suchen wir uns ‘ne Telefonzelle und du rufst sie an“, schlug er vor.

„Okay“, gab sie einsilbig zurück.

Schweigend fuhren sie weiter. Jason erhaschte im Rückspiegel Bohdans Blick. Er schien ihrer Unterhaltung aufmerksam gefolgt zu sein. Jason drehte sich halb um und zog die Stirn kraus, denn nun hatte es den Anschein, als würden die Geschwister immer noch tief und fest schlafen.