Zone der Entfremdung - J.C. Smith - E-Book

Zone der Entfremdung E-Book

J.C. Smith

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Beschreibung

Der Geisterjäger Jason Harper lebt gefährlich. Außer mit übellaunigen Geistern muss er sich immer noch mit der geheimnisvollen Organisation herumschlagen, die ihn unter ihre Kontrolle bringen will. Zu seinem Glück hat er in den ukrainischen Zwillingen Daria und Bohdan treue Freunde gefunden, der Geist seiner Jugendliebe Charlie steht ihm auch weiterhin zur Seite, und so hat er es bis jetzt irgendwie geschafft, nicht draufzugehen. Jason genießt die Zeit mit seiner neuen Freundin, als ihn ein merkwürdiger Anruf der Zwillinge erreicht. In ihrer Heimat in der Gegend um Tschernobyl verschwinden auf mysteriöse Weise immer mehr Menschen. Daria und Bohdan wollen aus ihren eigenen Gründen nie wieder dorthin zurück, sodass ihm nur eine Wahl bleibt: sich in die radioaktive Sperrzone zu schleichen. Dort muss er feststellen, dass die Schattenwelt eine fürchterliche Überraschung für ihn bereithält. Von Unbekannten verfolgt, stellen Jason und Charlie sich gemeinsam der Zone der Entfremdung, um deren grausames Geheimnis zu ergründen. Band II J.C. Smith

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Seitenzahl: 484

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Für meine Familie und für die Menschen der Ukraine

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Flashback – Was bisher geschah

First Cut – Gefräßige Dunkelheit

Second Cut – Ruhige Momente

Third Cut – Ruf zur Jagd

Fourth Cut – Wenn der Frieden endet

Fifth Cut – Unit 7

Sixth Cut – Dunkle Wolken

Seventh Cut – Ein unerwünschter Anruf

Eighth Cut – Erst essen, dann reden

Ninth Cut – Eine willkommene Gelegenheit

Tenth Cut – Eine Wahl wird getroffen

Eleventh Cut – Schlechter Start

Twelfth Cut – In die Todeszone

Thirteenth Cut – Marsch in die Finsternis

Fourteenth Cut – Albtraum in Prypjat

Fifteenth Cut – Trügerische Gewässer

Sixteenth Cut – Heimliche Beobachter

Seventeenth Cut – Schlacht in der Schattenwelt

Eighteenth Cut – Verschiebung der Chancen

Nineteenth Cut – Schüsse in der Dunkelheit

Twentieth Cut – Mord

Twenty-first Cut – Straße der Invaliden

Twenty-second Cut – Blutige Warnung

Twenty-third Cut – Ärger ab der ersten Sekunde

Twenty-fourth Cut – Im Netz

Vorwort

2018 besuchte ich zweimal die Ukraine. Bei meinem zweiten Aufenthalt bereiste ich die Sperrzone von Tschernobyl, und dort wurde die Idee zu „Zone der Entfremdung“ geboren. Band I „Am Anfang allein“ war zu der Zeit noch lange nicht fertig, aber der Gedanke, einen Geisterjäger in diese besondere Welt zu schicken, war einfach zu verlockend.

Im Februar 2022 griff Russland die Ukraine an. Mit einem Netz aus Lügen und unter falschem Vorwand begann eine beispiellose Attacke auf eine junge Demokratie. Mit Entsetzen verfolgte ich die Nachrichten und über meine Bekannten konnte ich in den sozialen Medien den Wahnsinn, der über die Ukrainer hereingebrochen war, mitverfolgen. Ich gestehe, ich fühlte mich in höchstem Maße hilflos und war wütend, traurig und schockiert. Der Schrecken des Krieges überrollte die Städte, die ich besucht hatte. Auch die Sperrzone blieb nicht verschont. Zu diesem Zeitpunkt bekam ich die ersten Feedbacks meiner Testleser und steckte mitten in der dritten Überarbeitung dieses Buches.

Ich schreibe dieses Vorwort, weil ich mich dazu verpflichtet fühle. Jasons Abenteuer spielen in einer alternativen Realität. Die Corona-Pandemie wird in meinen Büchern ebenso ignoriert, wie ich den feigen Angriff Russlands nicht thematisieren werde.

Dennoch ändere ich meine Widmung. Dieses Buch ist in Teilen den Menschen der Ukraine gewidmet. Die NATO konnte zu dem Zeitpunkt, an dem ich diese Zeilen schrieb, nicht eingreifen, ohne den Dritten Weltkrieg zu riskieren. Ich schüttele den Kopf und habe einen Kloß im Hals. Das Ausmaß der politischen Entscheidungen ist nur schwer greifbar. Der atomare Albtraum rückt wieder näher, denn auch in der Sperrzone wird gekämpft. Außerdem steht einer der größten Atommeiler Europas in der Ukraine. Ein ungeheures Risiko, dort Panzer und Raketen einzusetzen.

Ich hoffe hier und jetzt, dass der Patriotismus der Ukrainer, ihr Mut und ihr ungebrochener Wille, ihr junges Land zu verteidigen, nicht zu hohe Opfer fordert. Ebenso sind wir über Spenden bemüht, das Leid, so gut es geht, zu mildern. Die Bereitschaft in der deutschen Bevölkerung, der Ukraine Unterstützung zukommen zu lassen, ist hoch. Die Hoffnung ist groß, dass all diese Bemühungen reichen werden, um dem Wahnsinn schnell Einhalt zu gebieten.

Als würde eine Pandemie nicht reichen, um unsere Leben zu erschüttern, ist nun auch noch der Kalte Krieg wieder zurück. In diesen Tagen wird die Weltordnung um dreißig Jahre zurückgeworfen, und wenn ich ehrlich bin, blicke ich in eine ungewisse Zukunft.

Dieses Buch soll unterhalten und vom Alltag ablenken. Trotz der Weltlage soll die Geschichte um Jason und seine Freunde Freude und positive Aufregung bereiten. „Zone der Entfremdung“ ist eine fantastische Geschichte.

J. C. Smith 11/2022

Flashback – Was bisher geschah

In Band I „Am Anfang allein“ verlor Jason Harper seine Jugendliebe Charlie durch einen Geist. Dieses schreckliche Erlebnis weckte in ihm besondere Kräfte, die es ihm nicht nur ermöglichten, Rache an dem Mörder seiner Freundin zu nehmen, sondern ihn dazu brachten, Jagd auf böse Geister zu machen. Er wähnte sich allein mit seiner Gabe und zog quer durch die USA, um Menschen zu retten, egal was es ihn kosten mochte.

In Miami traf Jason auf einen besonders gefährlichen Geist und der Kampf blieb nicht unbeobachtet. Zwei andere Begabte und der Jäger Frank von Roteiche hefteten sich an seine Fersen. Frank sollte den aufbrausenden, dauerfluchenden Kettenraucher im Auftrag einer geheimnisvollen Organisation nach Europa bringen. Schnell musste der Geisterjäger erkennen, dass von Roteiche in seinen Methoden skrupellos war und keine Gnade kannte. Eine Jagd quer durch die USA und Kanada entbrannte, bei der Jasons schlimmste Gegner nicht die Geister waren. Doch zu seinem Glück fand er in den Zwillingen Daria und Bohdan anstrengende, aber treue Freunde. Ebenso wie Jason verfügten sie über einzigartige Fähigkeiten.

Doch der skrupellose von Roteiche ließ nicht locker und setzte den Geist des Serienmörders Limedecker auf Jason an. Um sein Opfer in eine Falle zu locken, nahm Frank die kanadische Studentin Julie als Geisel, die Jason in einer brenzligen Situation unverhofft zur Flucht verholfen hatte. Der Konflikt zwischen Jason und den Zwillingen auf der einen und Frank von Roteiche auf der anderen Seite eskalierte und gipfelte in einem blutigen Finale. Jason konnte gegen von Roteiche nichts ausrichten, bis sich ihm der Geist seiner getöteten Liebe Charlie offenbarte. Gemeinsam mit ihr besiegte Jason von Roteiche.

Julie und Jason näherten sich trotz der furchtbaren Erlebnisse an. Der Geisterjäger hoffte, nie wieder mit der Organisation aneinanderzugeraten und endlich ein wenig Ruhe zu finden.

Aber das will ihm die Welt nicht gönnen …

First Cut – Gefräßige Dunkelheit

Mikhael legte den Zeigefinger auf die Lippen. Dimitrie und seine Freundin machten große Augen und versuchten, so leise wie möglich zu atmen. Sie pressten sich gegen den kalten, rauen Beton in ihrem Rücken. Mikhael sah sich aufmerksam um und lauschte in die Finsternis hinein. Das einzige Licht kam von den Sternen, die über ihnen wie gierige Augen glitzerten. Nur selten hörte man ein leises Knacken in der Stille.

Mikhael war ein Stalker und seine beiden Begleiter waren Touristen, die er gegen einen Obolus hierher in die Geisterstadt Prypjat geführt hatte. Er rückte seine dunkle Wollmütze zurecht und vergewisserte sich, dass die Stirnlampe richtig saß. Dann holte er aus der Seitentasche seiner in Flecktarn gehaltenen Armeehose ein paar fingerlose Handschuhe. Während er sie überzog, lauschte er in die Dunkelheit. Die Touristen waren auf sein Anraten ebenfalls in dunkle Farben gekleidet. Die frische Frühlingsnacht war windstill. In dem wenigen Licht konnte er ihren Atem sehen.

Der Stalker deutete mit einer langsamen Bewegung in das Unterholz vor ihnen. Mikhael bemerkte, wie die Frau Luft holte, vielleicht um eine Frage zu stellen. Er schüttelte schnell den Kopf, legte den Zeigefinger nachdrücklicher auf die Lippen und signalisierte den beiden, sich hinzuknien. Mit angehaltenem Atem rutschten die Touristen vorsichtig an der Wand herunter. Mikhael horchte weiter in die Finsternis. In Gedanken überschlug er die Zeit, die sie von ihrem Versteck in dem verlassenen Wohnhaus bis zum Krankenhaus gebraucht hatten. Der Mond verbarg sich hinter Wolken, also blieb ihm nur zu schätzen, dass es weit nach Mitternacht sein musste. Er war sich sicher, dass die Zisterne drüben bei der alten Maschinenhalle überwacht wurde. Die Soldaten waren sehr viel aufmerksamer als sonst. Seit diese furchtbaren Sachen passiert waren, gab es sogar nachts Patrouillen in der Stadt. Hoffentlich würden sie später nicht mehr da sein, damit er und seine Begleiter dort Wasser holen konnten.

Mikhael wusste nur zu gut, dass die zwei, die zum ersten Mal einen Ausflug in die Zone machten, die beiden Wachen nicht bemerkt hatten. Er hatte schon vor einiger Zeit mitbekommen, dass jemand in der Nähe war. Bis zum Schluss war er unsicher gewesen, ob es sich um andere Stalker handelte oder um eine Streife. Doch die Art, wie sie gingen, hatte die Wachleute verraten. Angestrengt lauschte er auf die Schritte. Sie entfernten sich langsam. Mikhael verharrte regungslos, bis er nichts mehr hören konnte. Er ließ noch einen Moment verstreichen, ehe er seinen Begleitern bedeutete aufzustehen.

Er flüsterte: „Es sind viele Wachen unterwegs. Aber keine Sorge: Noch zehn Meter die Wand entlang, dann sind wir am Eingang. In das Krankenhaus gehen sie nicht. Allerdings können da andere sein. Also seid leise, geht direkt hinter mir und seid aufmerksam. Tippt eurem Vordermann auf die Schulter, wenn ihr etwas bemerkt. Wenn euer Vordermann stehen bleibt, dann bleibt ihr auch stehen. Wir haben es gleich geschafft.“

„Warum gehen sie nicht in das Krankenhaus?“, wisperte die blonde Ivanka so leise, dass Mikhael sie kaum verstand.

„Einsturzgefahr. Und natürlich die Strahlung im Keller.“

Dimitrie nickte eifrig. „Jaja, da liegen die Kleider der Feuerwehrleute. Schwer verstrahlt, der Kram.“

„Ja, das auch“, flüsterte Mikhael. „Kommt jetzt.“

Er ging an ihnen vorbei. Vorsichtig schlichen die Touristen dem Stalker nach, der sich dicht an der Wand hielt. Geschickt wich er den Ästen aus, die als fahle, graue Schemen vor ihnen auftauchten. Mit leisem Rascheln folgten ihm seine Begleiter.

Nach kurzer Zeit erreichten sie eine alte, verrostete Doppeltür, zu der drei Stufen hinaufführten. Als Dimitrie den Griff anfassen wollte, tippte Mikhael ihm auf die Schulter und wies auf das eingeschlagene Fenster daneben. Mit geübten Bewegungen packte der Stalker den Sims, wuchtete sich lautlos durch die Öffnung und verschwand in die Dunkelheit jenseits des alten Holzrahmens. Geduldig wartete er in dem kleinen Raum, der früher die Rezeption gewesen war. Von draußen erklang leises Schaben, und ein blonder Schopf tauchte im Fenster auf. Sie schnaufte leise und quälte sich durch das Fenster. Mikhael war schon zu oft mit Anfängern unterwegs gewesen, um sich über die seltsamen Verrenkungen zu wundern. Er reichte ihr eine Hand und half ihr. Sekunden später schuftete sich Dimitrie durch die Öffnung. Er landete knirschend in den Scherben der vor langer Zeit zerbrochenen Scheiben.

„Wo sind wir jetzt?“, wisperte der Tourist.

Mikhael beugte sich vor. „Wir gehen jetzt in die Pathologie, und von da wandern wir zum anderen Ende.“ Er deutete zu dem Türrahmen. Das Türblatt lag quer im Durchgang am Boden. „Aufpassen. Es wackelt“, warnte er.

Der Führer balancierte über die Tür und glich sein Gewicht aus, um Lärm zu vermeiden. Die Touristen folgten ihm, und tatsächlich gelang es beiden, lautlos in den Flur zu kommen. Mikhael nickte, wurde sich dann aber bewusst, dass Dimitrie und seine Freundin das in der Finsternis nicht sehen konnten.

Leise sagte er: „Ihr könnt jetzt die Taschenlampen benutzen.“

Er selbst griff an die Stirnlampe. Mit einer Hand verdeckte er die Leuchte und drückte dreimal schnell hintereinander den Knopf, bis das Rotlicht zwischen seinen Fingern schimmerte. Dimitrie und die Blondine schalteten ihre Lampen ein und richteten sie auf den Boden, so wie er es ihnen gezeigt hatte.

Die drei Eindringlinge befanden sich in einem langen Flur, von dem alle paar Schritte eine Tür abging. Alte Lampenfassungen hingen von der Decke, vergilbte Akten lagen hier und da auf dem Boden. Ein kaputter Stuhl, von dem nur noch das Metallgestell übrig war, stand einsam und verloren in der gefräßigen Dunkelheit. Die Lichtkreise ihrer Lampen wurden so scharf abgeschnitten, als würde die Mitternachtsstunde keine Helligkeit dulden. Die junge Frau erschauderte und auch Dimitrie sah sich mit verkniffenem Gesicht um. Mikhael beobachtete ihre Reaktion und lächelte. Er war schon so oft hier gewesen, aber das Krankenhaus von Prypjat in der Nacht zu besuchen, war immer noch von seltsamen Gefühlen begleitet. Die langen, seit mehr als dreißig Jahren verlassenen Korridore, die halb offen stehenden Türen, die Reste der Krankenbetten und medizinischen Gerätschaften schufen eine morbide Stimmung, besonders nachts. Spritzen lagen auf alten Tischen. Patientenakten steckten vergessen in den Halterungen. Zurückgelassene Geräte, Gläser, Bettpfannen, Diagramme und Schaubilder schufen eine Atmosphäre wie in einem billigen amerikanischen Horrorfilm.

Die Stille und die Finsternis trugen ihr Übriges dazu bei.

„Lasst uns losgehen. Hier drinnen können wir vorsichtig Licht machen und reden. Aber seid trotzdem leise und haltet die Ohren offen“, ermahnte Mikhael seine Schützlinge.

Er winkte ihnen zu folgen und drang in die nur widerwillig zurückweichende Dunkelheit vor. Sie passierten den einsamen Stuhl und schoben sich durch den Gang, vorbei an verlassenen Krankenzimmern. In einigen stand nichts mehr, in anderen gab es noch die Reste von Betten oder zurückgelassene Gegenstände. Frühere,

heimliche Besucher hatten ihre Spuren hinterlassen. Liegen gebliebene PET-Flaschen und Verpackungsmüll tauchten im Licht ihrer Taschenlampen auf, um danach wieder von der gierigen Schwärze verschlungen zu werden.

„Ich habe Angst“, wimmerte Ivanka leise.

„Das ist doch total spannend“, hielt Dimitrie dagegen.

Er grinste aufgeregt und ließ seinen Blick in alle Richtungen wandern. Mikhael kommentierte das nicht. Irgendetwas war anders als sonst. Dem Stalker gefiel das nicht. Die Luft schien ihm den Atem rauben zu wollen, und jedes Geräusch wurde sofort erstickt. Er ließ das rote Licht seiner Stirnlampe langsam umher schweifen, lauschte und ignorierte die leise Unterhaltung hinter sich, in der Dimitrie Ivanka zu beruhigen versuchte. Das merkwürdige Gefühl blieb. Mikhael schaute sich aufmerksam um. Der rote Schein fiel auf die Touristen und erschuf blutige Schatten auf ihren Gesichtern. Dann stockte Mikhael.

„Wo ist der Stuhl hin?“, murmelte er leise zu sich selbst. Bemüht, seine Stimme ruhig klingen zu lassen, sagte er etwas lauter: „Lasst uns weitergehen. Der Gang ist hinten blockiert, wir müssen also durch das Obergeschoss. Da vorne führt eine Treppe nach oben. Auf der anderen Seite können wir raus und rüber zur Maschinenhalle, Wasser holen.“

„Alles in Ordnung?“, fragte Ivanka mit zittriger Stimme.

Mikhael nickte. „Na klar.“

„Hab doch nicht so eine Angst, Mädchen“, frotzelte Dimitrie.

Mikhael blickte den Korridor hinab in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Plötzlich ertönte ein dumpfes Krächzen. Die heimlichen Besucher fuhren zusammen. Der Stalker starrte den Gang entlang. Eine Tür nach der anderen öffnete sich völlig lautlos. Die Türblätter schwangen langsam auf und Finsternis strömte aus dunklen Schlünden hervor. Seine Augen weiteten sich und er fühlte seinen Mund trocken werden. Kaltes Entsetzen kroch sein Rückgrat hinauf, je mehr der Gang von der Schwärze verschlungen wurde. Mikhael blinzelte, und der Eindruck von sich ausdehnender Schwärze war verschwunden. Die Türen schienen unverändert, so wie zuvor, teilweise offen oder geschlossen. Oder doch nicht?

„Los kommt!“, keuchte er, drehte sich um marschierte auf die Doppeltür zu ihrer Rechten zu.

„Was ist los?“, jammerte Ivanka leise. „Bitte lass das. Das macht mir Angst.“

„Komm, nimm meine Hand“, bot Dimitrie ihr nicht mehr ganz so selbstsicher an.

Mikhaels Blick ging hin und her. Er atmete tief ein und aus, um sich zu beruhigen. Das war nur Einbildung, ermahnte er sich. Alle Stalker kannten das. Die Stille, die Dunkelheit und die Anspannung wegen der vielen Patrouillen setzte ihm zu. Das Gehirn erschuf Geräusche und Bilder, die nicht echt waren. Er riss sich zusammen, während er sich daran erinnerte, dass er die Verantwortung für das junge Paar hatte. Die Doppeltür war offen und gleich links führten die Stufen nach oben. Dimitrie und Ivanka, die nun Hand in Hand gingen, folgten den schnellen Schritten ihres Führers nach oben.

„Mikhael, ist alles in Ordnung?“, fragte der junge Mann. Nun schwang auch in seiner Stimme Unruhe mit.

„Jaja, alles gut. Ich glaube nur, dass da jemand ist, dem wir nicht begegnen wollen. Oder vielleicht spielt uns jemand einen Streich. Aber Ivanka hat Angst, also lasst uns schnell verschwinden.“

Er drehte sich kurz um und schenkte den beiden ein Lächeln. Dann hatten sie die beiden Treppenabsätze überwunden, passierten wieder eine Doppeltür und erreichten einen Korridor, der mit dem unter ihnen nahezu identisch war. Mikhael sah sich aufmerksam um. „Alles wie immer“, stellte er fest. „Wir gehen rechts weiter.“

Von der linken Seite ertönte aus der Finsternis ein dumpfes, unangenehmes Sirren oder helles Brummen. Mikhael kniff die Augen zu und überließ seinen Ohren die Arbeit. Er hörte weder Atemgeräusche noch Rascheln oder das Knirschen von Schuhen. Manchmal verirrten sich Tiere in die Gebäude, aber auch danach hatte es nicht geklungen. Dimitrie und Ivanka leuchteten derweil nach links. Die Augen der beiden waren weit aufgerissen und dem jungen Mann waren alle mutigen Sprüche ausgegangen. Mikhael mahlte mit den Kiefern und fasste einen Entschluss.

„Dimitrie, du leuchtest nach rechts. Ivanka, du behältst die Treppe im Blick. Denkt dran: Wenn jemand kommt, presst die Taschenlampen auf eure Kleidung, damit man euch nicht entdeckt. Das geht schneller, als auszuschalten.“

„Und was machst du?“, flüsterte Ivanka und schaute ihn mit schreckgeweiteten Augen an.

„Ich schnappe mir unseren kleinen Scherzbold“, gab er mit einem aufgesetzten Grinsen zurück und lauschte auf das an- und abschwellende Sirren.

„Guter Plan“, sagte Dimitrie, drehte sich nach rechts und machte zwei selbstsichere Schritte in den Korridor.

Mikhael wandte sich zur linken Seite. Er stierte in die Finsternis und hatte das unangenehme Gefühl, dass sie seinen Blick erwiderte. Schlagartig verstummten alle Geräusche. Nichts war mehr zu hören außer ihrem eigenen Atem, Mikhaels leisen Schritten und dem Wind, der unheilvoll durch die eingeschlagenen Fenster flüsterte. Der Stalker setzte seine Schritte bedächtig, obwohl er sich im Klaren darüber war, dass ihr Verfolger sie schon anhand der Lichter entdeckt haben musste und daher wusste, wo sie waren. Aber Mikhael konnte nicht anders. Er war schon so oft hier gewesen, dass Stille und Heimlichkeit zu seiner zweiten Natur geworden waren. Wie alle Stalker drang er illegal in diesen Mikrokosmos ein und wie jeder von ihnen hatte er dafür ganz eigene Gründe. Aber er hatte sich hier noch nie unsicher gefühlt. Heute hatte er Angst. Echte Angst, die sein Herz schneller schlagen, ihn zittern ließ und ihm kalten Schweiß bescherte. Mikhael hörte vor sich etwas, das beinahe wie ein Murmeln klang, und starrte angestrengt in die Finsternis jenseits des roten Lichtkegels. Hinter ihm ertönte ein seltsames, feuchtes Knacken, gefolgt von einem Ächzen. Etwas fiel dumpf auf den Boden. Licht flackerte hektisch über die Wände und zuckte wild hin und her. Der Stalker wirbelte herum und hielt abrupt inne.

Dimitries Lampe war für das unruhige Lichtspiel verantwortlich. Sie rollte unkontrolliert auf dem Boden hin und her. In ihrem Schein wurde der leblos daliegende Körper des jungen Mannes abwechselnd aus der Dunkelheit geholt und wieder der gnadenlosen Schwärze überlassen. Zwei rostige, krumme Metallstangen steckten dort, wo seine Augen sein sollten. Mikhaels Magen krampfte sich zusammen.

Ivanka stand noch wie abgesprochen in der offenen Tür auf ihrem Beobachtungsposten. Ihr Mund öffnete sich zu einem Schrei, während sie ihre Lampe losließ. Der Strahl warf für eine Sekunde ihren übergroßen Schatten gegen die Decke, der sich drohend über die furchtbare Szene beugte. Dann prallte die Taschenlampe auf dem Boden auf und zerbrach. Wie das Maul einer monströsen Bestie schnappte die Tür zu. Blut spritzte, als mit einem feuchten Klatschen der Körper der jungen Frau brutal eingequetscht wurde. Statt eines Schreis schoss eine rote Fontäne aus ihrem Mund heraus. Dann sackte sie leblos zusammen, auf halber Höhe von der gnadenlosen Falle festgehalten.

Mikhael bekam keine Luft mehr. Stocksteif stand er da, unfähig, sich zu bewegen. Plötzlich ging ein Ruck durch Dimitries Körper, und unfassbar schnell wurde der Leichnam in eine der offenen Türen gezerrt. Schlagartig fiel sie ins Schloss, kaum dass der Körper hindurch war, und zurück blieb nur eine glänzende Blutspur.

Stille trat ein. Immer noch rollte Dimitries Taschenlampe hin und her. Blutspritzer auf dem Glas sorgten dafür, dass ihr Schein widerlich rote Schatten an die Wand warf. Der Stalker machte einen unsicheren Schritt nach vorn, und auf einen Schlag schlossen sich krachend alle Türen in dem Korridor. Mikhael blieb der Atem stehen. Die Adern an seinem Hals pulsierten schmerzhaft im Einklang mit seinem von Panik erfüllten Herzen. Krampfhaft holte er Luft.

„Was passiert hier? Was geht hier vor?“, ächzte er.

Ein merkwürdig blechernes Geräusch ertönte. Es klang wie bei einem Autounfall, als würde Metall zerreißen. Mikhael starrte den Gang entlang. Plötzlich schoss etwas aus der Dunkelheit auf ihn zu. Reflexartig ließ sich der Stalker fallen. Das Ding raste über ihn hinweg und verschwand in der Schwärze. Er schnellte herum, doch ihm blieb keine Zeit für Überlegungen. Zischend jagte es wieder in seine Richtung, zerschnitt die Luft, wie es sein Fleisch zerschneiden wollte: eine rotierende Scheibe aus zerfetztem Metall.

Mikhael sprang auf und rannte los. Er hetzte von Todesangst getrieben den Gang entlang, sprang über herumstehende Betten, wich Schränken und anderen vergessenen Gegenständen aus. Dann kam das Gangende in Sicht. Hinter sich hörte er das Sirren immer näher kommen. Dumpfes Knallen verriet, wenn die Scheibe von etwas abprallte. Aber sie näherte sich und zwar schnell. Purer Überlebenswille ließ den Stalker beschleunigen. Vor ihm tauchte im roten Schein der Stirnlampe ein großes Fenster auf. Mikhael verschwendete keine Zeit. Die Arme vor dem Kopf verschränkt stieß er sich mit aller Kraft ab. Ein dumpfer Knall, Schmerzen, und in einem Regen aus Glasscherben segelte er in die Nacht hinaus. Über ihm raste das Metallding hinweg und blieb zitternd tief in dem Baumstamm stecken, gegen den Mikhael knallte. Er fiel und rutschte durch die Äste bis auf den Boden. Trotz der Schmerzen sprang er sofort auf und rannte um sein Leben.

Second Cut – Ruhige Momente

Sie waren noch im Bett, und Julie hatte den Kopf auf Jasons Oberschenkel abgelegt. Er hatte sich die Kopfkissen so aufgetürmt, dass er aufrecht saß, streichelte ihre dunklen Haare, und sie lächelten einander an. Vorsichtig fuhr sie mit der rechten Hand über die Narbe auf seiner Wange. Er ließ sie gewähren und genoss die Nähe. Noch immer konnte er sein Glück nicht wirklich fassen. Sie war hier bei ihm, trotz allem, was passiert war. Entgegen jeder Vernunft waren sie ein Paar geworden. Entspannt lehnte er den Kopf gegen die Wand. Und ja, verdammt, es fühlte sich gut an. Jason blickte aus dem offenen Fenster, vor dem sich die Vorhänge leicht im Frühlingswind bauschten. Durch eine Lücke in ihnen konnte man den Cultus Lake sehen. Sie hatten sich eine kleine Hütte im Süden Kanadas gemietet, um ein paar Tage auszuspannen. Natürlich hatte Jason alles unter falschem Namen arrangiert und bar bezahlt. Julie hatte kichernd hinter ihm gestanden, als er der älteren Dame hinter der Rezeption seinen Namen genannt hatte.

„Keller? Ist das dein Ernst? Warum benutzt du immer noch falsche Namen?“, hatte sie Jason anschließend gefragt. Er hatte nur schief gegrinst und mit den Achseln gezuckt. Alte Gewohnheiten legte man nicht so leicht ab. Vier Tage hatten sie die rustikale Hütte ganz für sich. Außer für kurze Einkäufe und ausgedehnte Spaziergänge würden sie sie nicht verlassen.

„Ende April schon“, bemerkte Julie.

Jason nickte, während er ihr gedankenverloren den Kopf streichelte.

„Wie lange ist das alles jetzt her?“

Er presste die Lippen aufeinander. Julie wartete geduldig ab, bis er sich so weit sortiert hatte, dass er über das Geschehene sprechen konnte.

„Ist Anfang Oktober gewesen“, murmelte er. „Also ‘n bisschen mehr als ein halbes Jahr.“

Es war das erste Mal, dass sie Anlauf nahmen, um über das zu sprechen, was damals geschehen war. Jason rieb sich mit der Hand über das Gesicht.

„Hey“, sagte sie und sah ihm tief in die Augen. „Entspanne dich. Es ist okay. Ich habe davon angefangen. Ich weiß auch nicht, ich glaube, für mich ist genug Zeit vergangen, um darüber zu reden. Wenn du ...“

Er unterbrach sie mit einem Kopfschütteln. Unbewusst legte er die Hand auf den grünen Stein, den er wie immer um den Hals trug. „Ist okay. Ich denk, wenn du, ich weiß nicht, Fragen hast, dann frag.“ Ganz konnte er die Anspannung nicht aus seiner Stimme heraushalten.

„Wie geht es dir damit?“, fragte sie leise.

Er schloss die Augen. „Blöde Frage bei dem Thema“, brummte er.

Sie legte ihre Hand in seinen Nacken und zog ihn nach unten. Er spürte ihre warmen, weichen Lippen auf seinen. Dann ließ sie ihn wieder los und schenkte ihm ihr wundervolles Lächeln. Jason atmete einmal tief durch.

„Erzähl mir, was passiert ist, nachdem du damals das Krankenhaus verlassen hast.“

Er seufzte. Sein Blick wanderte über ihre nackten Beine. Auf dem rechten waren noch deutlich die Narben der Operation zu sehen. Auch auf ihrem Oberkörper konnte man überall die Spuren der furchtbaren Erlebnisse erkennen. Kleine und große Narben markierten die Treffer von Steinsplittern, die Folgen des Sturzes, Schnittwunden und Brüche. Er nahm ihre Hand und küsste sanft jeden Finger. Auf diese Hand war von Roteiche getreten, nur um Jason seine Ohnmacht zu verdeutlichen.

„Bist du dir sicher?“, murmelte er.

„Bisher weiß ich nur, dass du diesen Mann, diesen von Roteiche getötet hast. Dass …“ Nun musste sie doch schlucken. „Dass du ihn in einer alten Fabrikhalle verbrannt hast. Und du hast erwähnt, dass dir ein Geist geholfen hat. Aber ich würde gerne alles wissen, Jason. Bitte hab keine Geheimnisse vor mir.“

Er holte tief Luft und ließ sie langsam wieder entweichen. War das alles wirklich schon ein paar Monate her? Es fühlte sich gleichzeitig an wie gestern, und als wäre es in einem anderen Leben passiert. Er sah in Julies braune Augen, studierte die von Sommersprossen gepunkteten Linien ihres Gesichts und nickte dann.

„Okay. Ich erzähl’s dir auf die Gefahr hin, dass dir ein oder zwei Sachen nicht gefallen werden.“

„Lass die blutigen Details weg.“ Sie grinste unsicher.

„Julie, es gibt ein paar Dinge, bei denen es mir beschissen schwerfallen wird, darüber zu reden.“

Sie streichelte sein Gesicht. „Es ist okay. Red einfach. Ich weiß, dass dich einiges davon noch nicht losgelassen hat und du wegen alldem ein schlechtes Gewissen hast. Hör bitte auf, dir die Schuld zu geben. Vielleicht hilft es dir, wenn du es mir erzählst.“

Der Geisterjäger schloss die Augen. Er erinnerte sich an blutverschmierte Trümmer in Einkaufszentren, hörte das dumpfe Krachen eines Gewehrs und panische Schreie, fühlte die Hilflosigkeit wieder in sich aufsteigen. Er legte den Kopf in den Nacken und tat etwas, das er sich bisher nicht erlaubt hatte. Der junge Mann mit den furchteinflößenden Tätowierungen, den schwarzen Haaren, den vielen Narben und den blauen Augen öffnete die Türen in die Vergangenheit und begann zu berichten.

Third Cut – Ruf zur Jagd

„Nun, Ladys, Gentlemen, Sie alle haben die Akte zu den Ereignissen in Seattle aufmerksam studiert. Ich gehe davon aus, dass Sie eine Strategie entwickelt haben, die erfolgversprechender ist, als ein Massaker zu veranstalten. Ich denke, wir sind uns einig, dass Frank bekommen hat, was er verdient hat.“

Mr. Percy stand aufrecht da, eine Hand hinter den Rücken gelegt, in der anderen schwenkte er sanft ein Glas Whisky. Der alte Mann mit dem kantigen Gesicht trug einen maßgeschneiderten, dunkelgrünen Anzug mit passender Weste. Das Treffen fand in der Bibliothek seines Anwesens statt. Der hohe Raum war mit Bücherregalen in dunklem Holz und passenden Möbeln ausstaffiert. Zentral stand ein beeindruckender Schreibtisch, Statuen aus verschiedenen Epochen waren im Raum verteilt. Vor ihm saßen im Halbkreis in eleganten, roten Ledersesseln mit hohen Lehnen zwei Männer und zwei Frauen. Die Herren trugen schlichte, schwarze Anzüge und die Damen elegante Kostüme. Mr. Percy konnte ihnen ansehen, dass zwei von ihnen sich hier nicht wohlfühlten. Dennoch verhielten sich alle professionell, blieben ruhig sitzen und hörten konzentriert zu.

Das Oberhaupt der Organisation fuhr fort. „Wir haben Mr. Harper seit den Ereignissen im Oktober aus der Distanz beobachtet. Er ist mittlerweile mit der jungen Dame aus Kanada liiert. Sie treffen sich regelmäßig. Nach eingehenden Recherchen sind wir uns sicher, dass diese Liaison uns zum Vorteil gereicht. Da Harper seine Paranoia besser im Griff hat als früher, geht er nun geschickter vor, und es ist schwerer geworden, ihm zu folgen. Jedoch sehen wir darin kein großes Problem. Sobald er in gewissen Dingen aktiv wird, finden wir ihn.“

Mr. Percy begann, auf und ab zu gehen.

„Von Roteiche ist überheblich an die Sache herangegangen. Dadurch ist ihm die Jagd über den Kopf gewachsen, und schlussendlich hat er Mr. Harper völlig unterschätzt. Ich erwarte von Ihnen, dass Sie gewissenhaft an diese Sache herangehen. Ihnen stehen ab sofort uneingeschränkt alle Ressourcen unserer Organisation zur Verfügung. Ihre Aufgabe ist klar definiert. Erfüllen Sie sie zu meiner Zufriedenheit.“

Er blieb stehen, fixierte nacheinander jedes Mitglied der Unit 7 und rief sich ihre Akten ins Gedächtnis. Als Erstes nahm er den Mann ganz rechts in Augenschein. Muskulös in seiner Erscheinung war dieser über einen Meter neunzig groß, hatte eine Glatze und kalte, graue Augen. John Doe, der seine Fäuste als Fokus für seine telekinetische Begabung nutzte.

Dann wanderte der kühle Blick weiter zu dem zweiten Mann des Teams. Der schmächtige, unscheinbar wirkende Santos mit seinen schwarzen Haaren war das absolute Gegenteil von Doe. Ruhig, beherrscht und in seiner Begabung Jason Harper nicht unähnlich.

Mr. Percy nickte der ersten Dame in der Reihe zu. Sabrina Stein, blond, durchdringende blaue Augen, diszipliniert und eine ausgezeichnete Telepathin. Sie war so klug, dass sie spielend ihren Abschluss an der Universität gemacht hatte. Daraufhin waren ihr die Herausforderungen ausgegangen, und so hatte sie anderweitig Verwendung für ihre Fähigkeiten gesucht und fast von allein den Weg in den Schoß der Organisation gefunden.

Seine Bestandsaufnahme der Unit 7 endete bei der zweiten Frau des Teams. Er schenkte Irina Tscherenkowa ein knappes Lächeln. Die Frau, deren Alter bei den weiß-blonden Haaren und den fast schwarzen Augen kaum zu schätzen war, nickte ihm zu. Sie verfügte über keine aktive Begabung, aber über ein besonderes Talent, Menschen zu überzeugen. Und sie war ähnlich wie Percy selbst beinahe gegen alle anderen Begabten immun. Sie hatte schon vieles für die Organisation erreicht und ihre Loyalität stand außer Frage.

„Ladys and Gentlemen, ich erhebe mein Glas auf Sie. Ihre Mission ist klar, und ich darf sagen, Ihre bisherigen Ergebnisse als Team liegen über dem Durchschnitt. Ich erwarte, dass diese Jagd eine erfolgreiche wird. Cheers.“ Er prostete den vieren zu und nahm einen Schluck von dem Whisky.

Nachdem alle ihre Drinks geleert hatten, erhoben sich die Mitglieder der Unit 7 wortlos, und die Reihenfolge, in der sie den Raum verließen, entsprach genau der Hierarchie in der Gruppe. Tscherenkowa ging selbstbewusst vorneweg, gefolgt von Stein, dahinter Santos und das Schlusslicht bildete Doe. Der große Mann zog die Türflügel der Bibliothek hinter sich zu.

Mr. Percy blieb allein zurück, starrte einen Moment die geschlossene Tür an und trank einen weiteren Schluck Whisky. Harper und er würden sich kennenlernen. Nachdem Frank von Roteiche so elend versagt hatte, würde der Junge es nun mit vier Jägern aufnehmen müssen. Der Verlust von von Roteiche war wenig tragisch, die Ziele der Organisation waren wichtiger als alles andere. Und dass diese junge Frau sich in Harper verliebt hatte, war ein unerwarteter Glücksfall, den Mr. Percy zu nutzen gedachte.

Fourth Cut – Wenn der Frieden endet

„Dann bin ich wieder zu dir ins Krankenhaus gekommen. Ab da weißt du ja, was passiert ist“, schloss Jason seine Erzählung.

Julie starrte an die Decke. Ihr Gesicht war ernst, und Jason kannte sie inzwischen gut genug, um den Ausdruck darauf zu deuten. Sie begegnete dem Schrecken der Erinnerung mit Logik und Tapferkeit. Aber das änderte nichts daran, dass sie nie vergessen würde, was in Seattle passiert war. Er musterte sie, prägte sich jedes Detail ein und lächelte zärtlich. Sie drehte den Kopf und sah ihn an. Wortlos nahm sie seine Hand und verschränkte ihre Finger mit seinen. Sie seufzte leise und presste die Lippen aufeinander, ehe sie etwas sagte.

„Das ist eine unglaubliche Geschichte. Deine Ex ist also immer bei uns und hat dir geholfen, von Roteiche aufzuhalten. Du kannst Feuer legen, einfach so. Daria und Bohdan sind wie du, und sie hat dich geküsst, damit ihr euch wiederfinden könnt.“

Jason holte Luft, um zu protestieren, doch Julie ließ ihn nicht zu Wort kommen.

„Du nennst sie Freunde, aber eigentlich machen sie dich wahnsinnig. Nicht zu vergessen: dieser Geist, der das Einkaufszentrum zerlegt hat und entkommen ist. Und diese Dinger treiben sich in der Schattenwelt herum, richtig? Woher kommt dieser Begriff?“

„Keine Ahnung. Schätze, ich hab das mal irgendwo gelesen.“

„Ich vermute, bis ich das alles verstehe, bin ich hundert Jahre alt.“

Die junge Frau schüttelte den Kopf. „Du bist ein Geisterjäger. Auf was habe ich mich mit dir bloß eingelassen?“, sagte sie mit übertrieben ernster Stimme und suchte herausfordernd Jasons Blick. Dabei war ihr Gesicht so streng wie das einer alten Internatslehrerin.

Der Geisterjäger konnte ein Grinsen nicht unterdrücken. Vielleicht unterschätzte er sie immer noch, und sie hatte das alles besser verkraftet, als er dachte. Vielleicht sogar besser als er selbst.

„Ich hab dich gewarnt. Meine Welt is ‘n bisschen was anderes als dein Leben an der Uni. Nicht ganz so perfekt.“

„Mein Liebster, jetzt gerade ist es perfekt.“ Sie lächelte ihn an.

„Danke, dass du ehrlich zu mir bist.“

„Is nicht meine Stärke“, murmelte er und hob den Blick zum Fenster. „Einfach so irgendwas zu erzählen.“

Julie schob sich näher an ihn heran und legte beide Arme um ihn.

„Ich weiß. Sei einfach ehrlich zu mir, dann bin ich schon glücklich.“

„Das verspreche ich dir“, sagte er leise und sah auf den Cultus Lake hinaus. „Ich glaub, ich will eine rauchen.“

Julie biss sich auf die Lippe und legte den Kopf schräg. „Das ist okay.

Ich weiß, wie schwer das für dich war, dich so zu öffnen.“

Er strich ihr über die Haare. „Es ist nur … die Erinnerung an all die Toten … es ist ...“ Er musste sich zusammenreißen, um keine Schimpfwörter zu benutzen. „Es ist nicht einfach.“

Sie drückte ihn und nickte. „Na geh schon. Aber vorher küsst du mich noch.“

Nachdem ihren Worten Taten gefolgt waren, zwinkerte sie ihm zu und entließ ihn aus ihrer Umarmung. Jason erhob sich, nahm seine Jeans, die ordentlich über einer Stuhllehne hing, und schlüpfte hinein. Ein graues Shirt folgte. Dann wühlte er in seinem Rucksack. Es war immer noch derselbe in einem grau-schwarz-gefleckten Tarnmuster gehaltene, der ihn schon seit Jahren begleitete. Jason fischte seine Zigarettenschachtel heraus, kramte nach dem Feuerzeug und trat schweigend auf die Terrasse, während Julie ins Badezimmer ging. Der Geisterjäger legte die Hand auf das Amulett. Der Stein wurde kurz angenehm warm auf seiner Haut. Lächelnd setzte er sich auf der Veranda auf einen der Holzstühle, schob sich eine Zigarette zwischen die Lippen und hielt die sacht flackernde Flamme daran. Er paffte ein paarmal, inhalierte tief und entließ den Rauch aus Mund und Nase. Vor ihm lag der See, eingerahmt von Wäldern. In der Ferne erhoben sich die Berge Kanadas. Jason presste die Kiefer fest zusammen und massierte sich die Augen.

„Das war alles schon verdammt krasser Scheiß. Alles, was nach Miami passiert ist, war beschissen harter Stoff“, flüsterte er den Holzdielen unter seinen nackten Füssen zu. Als er bemerkte, dass er wieder mit sich selbst sprach, verdrehte er die Augen und fuhr gedanklich mit seiner Bestandsaufnahme fort.

Ich hab Julie alles erzählt. Von Charlie, den Zwillingen und sogar, dass Daria mich wegen der Spur geküsst hat. Ich hab ihr von meinen Ängsten in diesen Momenten erzählt, als sie fiel, als dieser verkackte Mistkerl sie hat fallen lassen, sie gezwungen hat, sich selbst von der Empore zu stürzen. Jason ballte die Fäuste und zog aggressiv an seiner Zigarette. Dieser verdammte Dreckskerl. Ich hoffe, diese Scheißer der Organisation haben’s begriffen. Lasst mich einfach in Ruhe.

Die Adern an seinen Armen traten hervor und verliehen seinen Tätowierungen ein unheimliches Eigenleben. Die Totenschädel, Dämonenfratzen und mythischen Symbole zuckten und wanden sich. Für einen Moment schien es dem Geisterjäger, als würde er das dumpfe Brüllen eines Bären hören. Die Urgewalt in diesem Geräusch dröhnte durch sein Innerstes, und Jason begriff, dass es die Seele der Tätowierung auf seinem Rücken war.

„Was auch immer die mir da unter die Haut genäht haben“, murmelte er gedankenverloren und schüttelte den Kopf.

„Jason!“, rief Julie von drinnen.

„Ja?“

„Dein Telefon klingelt.“

Er drückte sich ein Stück vom Stuhl hoch und drehte sich halb um, denn Julie kam schon mit dem randalierenden Mobilgerät auf die Veranda.

„Wer soll das sein?“, fragte er mit hochgezogenen Augenbrauen.

„Nur drei Leute haben diese Nummer: du, Daria und meine Ma.“

Julie zuckte mit den Schultern und hielt ihm das Telefon hin. „Das findest du nur heraus, wenn du rangehst.“

Zögernd nahm er mit säuerlich verzogenem Gesicht das Handy entgegen und drückte auf den entsprechenden Knopf. Julie lehnte sich mit verschränkten Armen gegen den Türrahmen. Jason hörte einen Singsang in einer fremden Sprache. Daria. Ihre Stimme wechselte perfekt durch die Tonlagen. Er verstand kein Wort, und nach einigen Momenten wandelte sich seine Laune von überrascht über genervt zu verdammt sehr genervt. Fragend zog Julie eine Augenbraue hoch.

Jason knurrte ins Mikrofon: „Hör auf zu singen! Ich versteh deine Sprache nicht, du Freak.“ Er schüttelte den Kopf, sah seine Freundin an und rollte mit den Augen. „Hör zu, wenn du mich schon anrufst, solltest du wenigstens in einer Sprache mit mir reden, die ich verstehen kann. Dein Bruder hat mit Sicherheit schon wieder einen seiner Lachanfälle, weil du mich verarschst.“

Während er sich eine weitere Zigarette anzündete, bemerkte er, wie Julie die Arme enger um sich zog. Wahrscheinlich befürchtete sie, dass ihr Wochenende in den Bergen zu Ende war. Als sie seinen Blick sah, streichelte sie ihm sanft über die Wange, ehe sie nach drinnen verschwand. Daria hatte endlich aufgehört, ihn zu ärgern, und statt zu singen, sprach sie nun Englisch mit ihm.

„Hallo, Jason“, sagte sie.

„Nett, dass du Freak wieder normal mit mir redest“, grunzte Jason.

„Also, was ist los bei euch? Seid ihr zwei Irren okay?“

Im Hintergrund hörte er tatsächlich Bohdan lachen.

„Wie geht es dir? Uns geht es gut“, säuselte sie über die Maßen liebreizend.

„Okay, kapiert. Kein Smalltalk. Also, was wollt ihr?“, knurrte er, als er die Gereiztheit in ihrer Stimme bemerkte.

„Wir brauchen deine Hilfe. Eigentlich braucht ein Freund sie.

Mikhael. Ein Geist hat vor seinen Augen zwei Menschen umgebracht. Es war schlimm. Sehr. Du bist weit weg. Warum?“

„Bin in den Bergen“, gab er zurück. Es folgte Schweigen. Jason wartete einen Moment der Stille ab, ehe er genervt sagte: „Daria, das ist ein Mobiltelefon. Irgendwann ist der Akku alle. Also, was ist mit diesem Mikhael?“

„Jason, ich will nicht am Telefon darüber reden.“

„Ich bin nicht in den Staaten.“

„Wissen wir. Und die wahrscheinlich auch.“

Jason schnaufte und fummelte sich eine weitere Zigarette zwischen die Zähne. Er inhalierte scharf. Von drinnen hörte er die Dusche rauschen. „Geht es um diese Penner der Organisation? Was ist mit diesen Wichsern? Sind sie wieder aufgetaucht? Die letzten Monate war Ruhe. Oder um was geht es hier?“

„Du musst zu uns kommen. Schnell.“

„Hast du schlechte Laune?“

Jason lauschte einer hastig geführten Unterhaltung in der Muttersprache der Zwillinge.

„Ja, habe ich. Wir können Mikhael nicht helfen. Aber du. Komm her! Es ist wichtig“, forderte Daria mit erhobener Stimme, um ihren Bruder zu übertönen.

„Wieso …“

„Komm einfach her!“, fauchte sie und richtete dann einige, wütende Worte an Bohdan.

„Oh Mann, ihr seid immer noch nervig. Wo …“

Wieder wurde er unterbrochen. „New York. Du findest uns, wenn du hier bist. Komm einfach her. Wir finden dich, du findest uns. Wie immer. Beeil dich.“

Die Verbindung wurde unterbrochen. Jason senkte das Telefon, zog an seiner Kippe und blickte auf den See hinaus. Seine Augen waren zusammengekniffen und die Lippen geschürzt.

„Fickt euch“, motzte er leise vor sich hin. „Julie muss erst morgen Abend wieder los. Also leckt mich. Ihr Freaks habt doch echt den Arsch offen.“

Er stand auf und schaltete das Handy aus. Dann drückte er die Zigarette aus und stierte auf die kleine Sammlung an Stummeln hinab. Seufzend bückte er sich, sammelte sie ein und entsorgte sie im Mülleimer in der Küche.

„Das stinkt doch“, murmelte Julie hinter ihm. „Soll ich packen?“

Er spülte seine Hände im Waschbecken und schaute über die Schulter zu ihr.

„Scheiße, nein! Das ist unser Wochenende.“

Der Anflug eines Lächelns umspielte Julies Lippen. Jason sah die geröteten Augen und verfluchte Daria innerlich für ihren Anruf. Hatte Julie die Dusche angemacht, um ihr Weinen zu übertönen? Er trocknete seine Hände ab und ging zu der jungen Frau, die im Türrahmen lehnte. Er legte seine Arme um sie und gab ihr einen Kuss auf die Wange.

„Das ist unser Wochenende, und, verdammt, das ziehen wir genauso durch wie geplant.“

Julies Lächeln wurde entspannter. „Hör auf zu fluchen“, sagte sie leise, aber in ihrer Stimme klang ihre Zuneigung durch.

Er erwiderte ihr Lächeln und küsste sie. „Diese Tage gehören nur uns.“

Sie nickte und kuschelte sich an ihn. „Das war Daria, stimmt’s?“

Jason seufzte. „Ja, diese Irre.“

„Ich dachte, ihr seid Freunde.“

„Naja, ja schon irgendwie. Meistens sind wir das. Aber Daria und ihr Bruder, die gefürchteten Zwillinge, sind Freaks. Und eigentlich gehen sie mir vor allem auf die Nerven.“

„Jason“, Julie schüttelte den Kopf, „dir gehen nahezu alle Menschen auf die Nerven, denen du begegnest.“

Er schnaufte, starrte sie an, schnaufte noch einmal und lachte dann kurz und abgehackt. „Ja, okay, du hast ‘nen Punkt. Is wohl so. Sie sind okay und haben was drauf. Aber sie sind anstrengend.“

Jason merkte nicht, dass er wieder dabei war, in seinen Straßenslang zu verfallen.

„Was auch immer sie wollte, es macht dich nervös und regt dich auf“, wisperte sie.

Er legte den Kopf in den Nacken, atmete tief durch und griff nach dem Amulett um seinen Hals. Dann sah er seiner Freundin wieder in die von Sommersprossen umrandeten Augen und nickte.

„Ja, stimmt, die Sache macht mich nervös. Ich habe Daria selten so erlebt. Irgendwas mit einem Freund von ihnen, einem Typen namens Michael. Sie hat den Namen komisch ausgesprochen, eher wie Mikhael. Scheint was Schlimmes gesehen zu haben und nur knapp davongekommen zu sein. Sie war komisch, sagte, sie könnten ihm nicht helfen, aber ich.“ Er zögerte. „Und diese Penner der Organisation. Daria hat da was angedeutet.“

„Erzähl es mir. Ich mach uns was zu essen“, schlug Julie vor.

„Okay. Aber soll ich dir nicht helfen?“

Sie lachte. Jason lauschte dem klaren, hellen Klang und fühlte, wie er sich etwas entspannte.

„Damit du den Salat wieder misshandeln kannst? Vergiss es!“

An der Hand zog sie ihn zur Küche, bugsierte ihn auf einen Stuhl und begann, Salat und anderes Gemüse aus dem Kühlschrank zu holen. Jasons Blick folgte ihr. Ihr dunkles Haar wippte im Takt ihrer Schritte, und die Strähnen flogen hin und her, während sie vom Kühlschrank zur Arbeitsplatte und zurück lief.

„Nun erzähl schon. Sonst lasse ich das Geflügel weg“, drohte sie spielerisch.

Er lachte und atmete einmal durch. „Ich weiß auch nicht. Mit viel rausrücken wollte sie nicht. Irgendwo hat sich dieser Michael oder Mikhael mit einem Geist angelegt. Zumindest hörte es sich so an. Sind wohl Leute vor seinen Augen umgekommen. So wie sie klang, war das ‘ne beschissene Sauerei.“

„Jason!“, fuhr Julie ihn spielerisch an und warf ein Salatblatt nach ihm. Die aerodynamischen Eigenschaften verhinderten, dass es ihn traf.

„Okay, okay“, lachte er. „Tut mir leid.“ Er hob das grüne Blatt auf und drehte es hin und her. „Die Geschichte an sich macht mich nicht nervös. Mich stört Darias Verhalten. Sie provoziert gerne und so. Aber auf diese Art, das ist neu. Da war was in ihrer Stimme …“

„Das hat dich gestört? Oder ist es wegen … dieser Leute?“

„Schätze mal beides. Sie und ihr Bruder sind mit diesem ganzen Schei… in dieser Welt aufgewachsen. Sie kennen sich damit beschi… deutlich besser aus als ich. Also versteh ich nicht, wieso ‘n Geist die beiden so aufregt. Mit der Organisation haben sie es früher schon aufgenommen.“ Jasons Blick ging in die Ferne, und nur am Rande bemerkte er die Stille in der Küche. „Ich soll, so schnell es geht, nach New York kommen. Was soll der Mist? Am Telefon will sie nicht darüber reden. Keine Ahnung warum nicht. Freak! Aber in ihrer Stimme, da war … ich weiß auch nicht. Und diese Andeutung, was diese Penner von der Organisation angeht. Mann, ich weiß nicht. Sie war echt aufgebracht.“

Julie legte das Messer hin und kam zu ihm. Er schüttelte leicht den Kopf, als er es bemerkte, und versuchte, wieder in das Hier und Jetzt zurückzukehren. Ihr sanfter Kuss schaffte das spielend. Danach ging sie vor Jason in die Hocke, nahm seine Hände und sah ihn ernst von unten an.

„Jason Harper, du hast ein furchtbares Benehmen. Deine Ausdrucksweise ist schlimm und dein Stil meistens fragwürdig.“

Er machte große Augen, doch sie ließ ihn nicht zu Wort kommen. „Aber du bist mehr als das. Du würdest alles geben, um anderen zu helfen. Du verfluchst die ganze Welt, und doch würdest du durchs Feuer gehen, um andere zu retten, egal was es dich kostet. Du bist ein guter Mensch, Jason. Und das ist nur ein Grund, warum ich mich in dich verliebt habe.“

Jason wurde noch blasser, als er ohnehin schon war. „Was?“, stotterte er.

„Zwing mich nicht, den ganzen Vortrag zu wiederholen.“ Sie lächelte. „Außerdem hast du mich verstanden.“

„Julie, du hast gerade gesagt …“

„Dass deine Ausdrucksweise mal wieder schlimm ist?“, neckte sie ihn.

Jason schüttelte den Kopf, packte Julies Schultern und presste seine Lippen auf ihre. Atemlos schob sie ihn zurück und lachte. „Sachte! Luft ist lebenswichtig.“

Er betrachtete ihr Lächeln, den Glanz in ihren Augen und rang um eine Antwort. Kleinlaut sagte er: „Ich mich auch in dich.“

Sie strahlte. „Dann haben wir das ja geklärt. New York also. Jetzt essen wir erst einmal in Ruhe, dann schaffen wir Ordnung und machen uns einen schönen Abend. Und morgen Früh fahren wir nach Vancouver zurück und verfrachten dich in ein Flugzeug.“

Sie küsste ihn auf die Nase, stand auf und fuhr fort, ihr gemeinsames Essen vorzubereiten. Zurück ließ sie einen völlig überrollten Jason. Ein Gedanke raste in seinem Kopf hin und her: Sie hat gesagt, dass sie sich in ihn, ausgerechnet in ihn verliebt hat. Unglaublich! Nach allem, was sie seinetwegen durchgemacht hatte. Körperliche und seelische Folter, Entführung, Verletzungen und einen verfickten Krieg zwischen Freaks, der ein ganzes Kaufhaus verwüstet hatte! Jason hatte sie so gerade eben retten können, und außerdem war sie nur seinetwegen in den Ärger hineingeraten. Und trotzdem hatte sie sich in ihn verliebt.

Schweigend starrte er Julie an, die in aller Ruhe weiter den Salat zupfte. Sie wirkte nicht, als hätte sie gerade Jasons Welt komplett auf den Kopf gestellt. Dann drang ein weiterer Gedanke in sein Bewusstsein, der Jason kurz nach Luft schnappen ließ: Er hatte zugegeben, dass es ihm genauso ging. Er legte beide Hände auf das Amulett, atmete tief ein und konzentrierte sich ganz auf den Abendsmaragd, der auf seiner Haut lag.

Charlie … ich fühle mich, als würde ich dich verraten! Scheiße nochmal, ich …

Er konnte die Empfindungen kaum in Worte fassen, doch das musste er auch gar nicht. Es war, als würde ein Feuerwerk aus positiven Gefühlen in seinem Inneren explodieren: Zustimmung, Freude, Zuneigung, Hochgefühl und wieder Zustimmung.

Zwischen all den Emotionen erklang tief in ihm Charlies Stimme: Liebe nicht die Toten, Coolboy. Liebe die Lebenden.

Jason lächelte und für einen Moment fiel alles von ihm ab. Charlie war stets bei ihm, seine erste große Liebe, die er auf so tragische Weise verloren hatte. Sie freute sich für ihn, das konnte er mehr als deutlich fühlen. Er stand auf, ging zu seiner Freundin und legte sanft seine Arme von hinten um sie.

„Ich habe mich auch in dich verliebt, Julie“, flüsterte er ihr ins Ohr.

„Das ist schön“, sagte sie, drehte den Kopf, küsste ihn und schnitt weiter Gemüse, während sie sich gegen ihn presste.

In diesem Moment kam Jason etwas in den Sinn, das sein Lächeln dämpfte: Was, wenn das ihr letztes Mal war? Was, wenn er bei der Scheiße draufging?

Leise fragte sie: „Was geht dir durch den Kopf?“

Jason atmete tief ein, aber Julie kam ihm zuvor. „Sag jetzt nicht, dass es nichts ist.“

Er ließ die Luft entweichen und pustete ihr ungewollt in Julies Haare.

„Hey! Das kitzelt!“, kicherte sie.

Ihr wundervolles Lachen flog zwischen seinem Herzen und seinem Verstand hin und her. Sie drehte sich um und legte ihre Arme um seinen schlanken Oberkörper. Viel größer als sie war er nicht, aber es reichte, um ihr einen Kuss auf die Stirn zu geben. Sie lehnte ihren Kopf gegen seine Schulter.

„Ich genieße diese Tage mit dir. Du bist ein guter Mensch, Jason. Denk bitte immer daran. Egal was du in dir siehst, ich sehe Mut und Hilfsbereitschaft. Ich sehe einen guten Menschen in dir.“

Er presste die Kiefer aufeinander. „Ich weiß nicht“, murmelte er.

„Musst du nicht. Ich weiß es“, gab sie leise zurück. „Und jetzt lass mich endlich das Essen machen.“ Lachend schob sie ihn weg. „Ich habe Hunger! Mach dich nützlich und deck den Tisch.“

Schweigend aßen sie und blickten einander dabei immer wieder tief in die Augen. Er fühlte sich so wohl mit ihr, dass er vor Erstaunen darüber wortlos den Kopf schütteln musste. Julie sah ihn fragend an, aber er winkte grinsend ab.

„Nichts Wichtiges. Hab mich nur auf den nächsten Burger gefreut“, sagte er mit einem frechen Zwinkern.

Julie lachte. „Du Blödmann.“

Nach dem Essen saßen sie auf der kleinen Veranda, kuschelten sich gemeinsam in eine Decke und sahen zu, wie die Sonne hinter den Bergen verschwand. Der rötliche Schimmer spiegelte sich auf dem Wasser des Cultus Lake. Julie ließ ihren Kopf gegen Jasons Schulter sinken. Als die Sonne sich endgültig verabschiedet hatte und aus dem dunklen Blau des Abends das Schwarz der Nacht wurde, begrüßten einige Sterne die beiden. Ihr Atem kondensierte vor ihnen als kleine Wölkchen. Jason nickte in Richtung der Tür und sie zogen sich in das warme Bett zurück.

Am nächsten Morgen waren sie sehr still. Es war kein unangenehmes Schweigen, auch wenn viele Worte unausgesprochen blieben. Jason packte seinen altbewährten Rucksack, während Julie sorgsam ihre Sachen zusammenlegte und in ihrer Reisetasche verstaute. Dann räumten sie das Haus auf, küssten sich zwischendurch, und schließlich kam der Moment, in dem alles im dunkelblauen Geländewagen verladen war.

Jason sah aus wie eh und je: schwarze, abgetragene Cargohose, dunkler Kapuzenpulli und abgewetzte Stiefel. Julie musterte ihn lächelnd und nickte ihm zu. „Um fünf vor halb zehn geht dein Flieger. Wenn wir jetzt losfahren, haben wir keinen Zeitdruck.“

Er nickte. Abgesehen von einem leisen „Guten Morgen“ waren das die ersten Worte, die sie wechselten. Julie hatte alles viel schneller mit ihrem Mobiltelefon vorbereitet, als Jason es hatte realisieren können. Sie hatte sich den ersten, natürlich falschen Pass genommen, den sie in seinem Rucksack hatte finden können, damit den

Flug gebucht und bereits bezahlt.

„Danke“, murmelte er.

Er sah auf den Pass und seufzte. „Richter. Was für ein blöder Schei… was für ein blöder Name. Erinnert mich an …“

Julie machte einen schnellen Schritt auf ihn zu und legte ihm die Hand auf den Mund. „Ist doch egal. Hauptsache, du kommst ohne Probleme nach New York.“

„Ja, stimmt schon. Mal sehen, was diese Freaks für Schei… Schwierigkeiten haben.“

Sie lachte. „Ist schon okay, Jason.“ Sie wurde ernst. „Ich weiß, dass du dein Gefluche brauchst, um klarzukommen.“

Er verzog das Gesicht, ehe er sich zu einem Lächeln zwang. „Lass uns die Kurve kratzen“, sagte er.

Fifth Cut – Unit 7

Mehrere Tausend Fuß über dem blau glänzenden Nordatlantik flog eine der Privatmaschinen der Organisation dahin. Die vier Mitglieder von Unit 7 saßen oder lagen verteilt auf den bequemen Sesseln und Liegen im Passagierbereich.

Irina Tscherenkowa hatte einen Laptop vor sich. Ihre weißen Haare waren zu einem strengen Zopf geflochten, der über ihre schmale Schulter hing. Die dünnen Lippen zeigten keinerlei Regung, während sie den Bericht las. Ihre schwarzen Augen huschten über die Akte. Bilder zeigten eine abgebrannte Fabrikhalle. Mit gerunzelter Stirn sah sie auf und ließ ihren Blick durch die Kabine schweifen.

John Doe lag ausgestreckt auf einer Liege, atmete gleichmäßig und schlief. Seit sie gestartet waren, hatte er seine Position nicht verändert. In diesem Zustand merkte man ihm seine Impulsivität nicht an, aber Tscherenkowa wusste es besser. Der Mann musste unter Kontrolle gehalten werden. Nützlich, aber dumm.

Santos saß in einem der Sessel gegenüber von Irina und beobachtete ihre Anführerin aufmerksam. Seine Hände spielten mit einem leeren Glas. Sie nickte ihm zu. Gemeinsam hatten sie bereits einige Aufträge erledigt und seine Loyalität war unbestritten.

Sabrina Stein wiederum saß auf der anderen Gangseite und schaute aus dem Fenster, doch Irina war sich absolut im Klaren darüber, dass die Deutsche bestens über alles informiert war. Die offenen blonden Haare fielen wie ein Wasserfall über ihre Schultern, Tscherenkowa indes ließ sich von der äußerlichen Schönheit der Frau nicht beirren. Sie wusste nur zu gut, dass die Telepathin über eine mehr als herausragende Kondition verfügte, sowohl mental wie physisch. Ein freudloses Lächeln huschte über das spitze Gesicht. Früher oder später würde Stein ihr eigenes Team führen, falls sie ihre Eitelkeit überwinden konnte. Irina wandte ihre Aufmerksamkeit wieder dem Bildschirm zu.

An niemand Bestimmten gerichtet sagte sie: „Harper hat erstaunliches Potenzial. Darum will Mr. Percy ihn in den Händen unserer Organisation wissen. Ansonsten ist er eine Gefahr. Frank von Roteiche hat eine persönliche Sache daraus gemacht und ist überragend gescheitert. Viel Geld und der Einsatz einiger spezieller Ressourcen waren nötig, um die Spuren seiner Jagd zu beseitigen. Er war ein arroganter Mann und hielt sich für unantastbar. Wir werden seine Fehler nicht wiederholen.“

Den Kopf hin und her wiegend meldete sich Santos zu Wort. „Frank von Roteiche hatte eine ebenso seltene wie gefährliche Gabe. Ich kenne niemanden außer ihm, der das Blut kontrollieren kann.“ Er zögerte einen Atemzug lang. „Konnte. Stimmt es, dass dieser Harper ihn abgefackelt hat?“

Stein kam Tscherenkowa mit einer Antwort zuvor. „Franks Fehler waren neben Arroganz und Überheblichkeit schlechte Planung und strategisch falsch eingesetzte Mittel. Er wollte Harper demütigen und ihm zeigen, wie großartig er selbst war. Außerdem hat er Harper komplett unterschätzt und äußere Faktoren wie die ukrainischen Zwillinge nicht bedacht.“

Ein Moment der nachdenklichen Stille schloss sich an. Santos wollte gerade etwas sagen, als die dunkle, schläfrige Stimme John Does erklang. „Dieser Harper. Was ist das für ein Typ? Ist der wirklich so eine harte Nummer?“

Tscherenkowa runzelte die Stirn. „Mr. Harper ist eine Aufgabe, die sich nicht mit Fäusten lösen lässt. Mir schwebt eher vor, ihn von einer Zusammenarbeit zu überzeugen.“

Stein rekelte sich auf dem beigen Sessel und warf jedem Teammitglied mit ihren strahlend blauen Augen einen langen Blick zu. „Ich stimme zu. Von Roteiche hat Brutalität eingesetzt, ebenso eine Geisel als Mittel der Erpressung. Je härter man diesem Jason Harper zusetzt, umso mehr setzt er sich zur Wehr.“ An Santos gerichtet fuhr sie fort: „Ja, er hat von Roteiche ohne Zuhilfenahme äußerer Mittel in Brand gesetzt sowie eine Fabrikhalle, die eigentlich nur ein Gerippe aus schlecht brennbaren Materialien war. Ich denke, Harper wusste selbst nicht, was er da freisetzte. Also ja, er ist eine … harte Nummer.“

„Der kennt meine Fäuste noch nicht.“ John grinste sie, wie er wohl hoffte, charismatisch an. Er scheiterte kläglich.

Santos ignorierte die anderen und konzentrierte sich auf Tscherenkowa. „Was meinst du, Irina, wie kommt man ihm bei? Der Kleine hat von Roteiche besiegt. Wie hat er das gemacht?“

Die Anführerin von Unit 7 verschränkte die Arme. „Ich denke, Mr. Percy hat erkannt, welches Potenzial der junge Mann hat. Etwas ist ungewöhnlich an Harper: Er kann Geister kontrollieren und vernichten, aber angeblich kann er sie auch erlösen. Vor seiner Konfrontation mit von Roteiche hat er sich mit kleineren, sagen wir, Gaunereien begnügt, bei denen er Menschen kontrolliert hat. Aber wie es aussieht, hat er wesentlich weitreichendere Fähigkeiten. Er verschafft sich selten Vorteile durch seine Begabung, treibt sich auf der Straße herum, schläft bei Obdachlosen und so weiter. Ich habe, offen gestanden, seine Motivation noch nicht ganz verstanden.“

Stein streckte ihre langen Beine, ehe sie sie elegant übereinanderlegte, und sah an die Decke der Kabine.

„Ich denke, ein Punkt ist klar. Harpers Treiben begann mit dem Tod seiner Jugendliebe Charlet O’Bannen. Danach scheint er auf eine Art Selbstfindungsreise gegangen zu sein, die jedoch mehr dem Zweck diente, seine Fähigkeiten zu erkennen und zu trainieren.“

Tscherenkowa nickte zustimmend. „Ein Geist hat sie vor seinen Augen getötet. Das war vermutlich der Auslöser oder Trigger, der seine Gabe freigesetzt hat.“

„Ihr meint, der Junge hatte vorher keine Ahnung, was er kann?“, hakte Santos nach.

„Er hat eine vorbildliche Schulzeit gehabt. Sportlich erfolgreich, gute Noten, beliebt, viele Freunde. Keinerlei Auffälligkeiten, guter Umgang und nie mit dem Gesetz in Konflikt gekommen“, betete Stein die Daten aus der Akte herunter.

„Nach dem Tod von O’Bannen verschwand er eine Zeit lang“, ergänzte Tscherenkowa. „Als er wieder auftauchte, war er voller Tätowierungen, die wohl Teil seines Fokus sind. Außerdem nehmen wir an, dass er in dieser Zeit Kontakt zu Personen hatte, die ihm die Richtung gewiesen haben. Sein einziges Ziel war vermutlich, den Geist zu vernichten, der seine Jugendliebe ermordet hat. Rache als Motiv. Wieso er danach weitergemacht hat, erschließt sich mir nicht.“

Stein lachte leise. „Weil er glaubt, etwas Gutes tun zu müssen. Das machen Menschen mit einem Herzen, Irina.“

Der Blick, den die Weißhaarige Stein zuwarf, hätte andere vermutlich in Panik versetzt. Die Blondine hielt ihm stand und legte herausfordernd den Kopf auf die Seite.

„Wie du schon sagtest“, fuhr sie fort, „guter Umgang, immer hilfsbereit. Er gehörte zu den Coolen, alle mochten ihn. Doch anstatt der große Star der Schule zu werden, blieb er immer auf dem Boden, half den Dicken, wenn andere sie fertigmachten. Das, Irina, ist Mr. Harper. Auch wenn sein Benehmen, sein Auftreten und sein Aussehen auf etwas anderes hindeuten, haben wir es hier mit einem guten Menschen zu tun.“

Santos schüttelte den Kopf. „Wohl kaum. Hätte er sich ergeben, wären nicht so viele Menschen gestorben. Stattdessen hat er Frank von Roteiche bis aufs Blut provoziert. Kein Wunder, dass der arrogante Idiot durchgedreht ist.“

Tscherenkowa schaute Santos auf eine Art an, die man mit viel gutem Willen als freundlich bezeichnen konnte.

Mit eisigem Blick hingegen wandte sie sich wieder Stein zu. „Wie Sie zuvor schon festgestellt haben: Je mehr man Harper in die Ecke drängt, desto mehr wird er sich zur Wehr setzen. Er wollte sicherlich nicht, dass so viele Menschen in dieser Angelegenheit sterben. Dass es so weit gekommen ist, erklärt seine radikale Vorgehensweise gegen von Roteiche.“

Stein nickte. „Nach außen hin ist Harper grob und aufbrausend. Aber er hat von Roteiche nicht absichtlich provoziert. Wie wir wissen, wurde Harper mehrmals verhaftet und steht in zwei US-Bundesstaaten auf der Fahndungsliste. Ich vermute, dass Franks Vorgehen ihn abgeschreckt hat. Danach ist alles außer Kontrolle geraten. Dennoch glaube ich nicht, dass er von Roteiche mit Absicht so gereizt hat. Außerdem denke ich, dass diese junge Kanadierin einen beruhigenden Einfluss auf ihn hat.“

„Ist er wirklich mit dem Mädchen zusammen, das Frank seinetwegen fast umgebracht hat? Wie kann sie Harper dann noch vertrauen? Ich würde den Typen nie wieder sehen wollen“, brummte Santos.

„Das Wieso ist ohne Belang. Sie ist ebenfalls ein Ziel, das wir sicherstellen sollen. Genau wie Harpers Eltern wird sie nicht angetastet. Vorerst. Ich will mit ihm reden. Damit fangen wir an. Mit einer Entschuldigung, genau genommen.“