Am äusseren Rand - Daniel Krumm - E-Book

Am äusseren Rand E-Book

Daniel Krumm

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Beschreibung

Der Terror der Siebzigerjahre ist zurück. Tabea, die Tierrechtsaktivistin, und Gabriel, der marxistische Journalist, verbinden Liebe und Rebellion. Sie befreit leidende Tiere, er die fehlgeleitete Gesellschaft. Beide kämpfen mit Hingabe für das Wohl von Tier und Mensch, nur jeder auf seine Weise - Tabea mit Herzblut und Gabriel im Blutrausch. Eine Geschichte voll extremer Liebe und radikalem Hass.

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Seitenzahl: 407

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Ähnliche


Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 1

Tabea hatte sich vorgenommen, nicht allzu lange zu bleiben, doch zu diesem Zeitpunkt ahnte sie nicht, dass ihr Vorsatz scheitern und welche Dimensionen die Folgen annehmen würden.

Sie ärgerte sich, der Einladung zugesagt zu haben, wo sie doch mit der damaligen Klasse und diesem sentimentalen Erinnerungsaustausch nichts am Hut hat. Ein Klassentreffen. Aus ihrer Sicht eine völlig veraltete Form der Pflege vergessener Seilschaften, die keine waren. Wünschte man sich Kontakt zu den alten Klassenkameraden, dann hätte man die Beziehung am Leben erhalten. Niemand kam ihr in den Sinn, der ihr speziell in Erinnerung geblieben und wert gewesen wäre, über die Schule hinaus einen vertieften Umgang zu pflegen. Allerdings wusste Tabea bestens, dass sie im pubertären Alter alles andere als eine gesellschaftsfähige Schülerin war. Sie verkörperte das Bild einer mühsamen Querschlägerin, einer permanenten Widersprecherin, einer störrischen Gegnerin von prinzipiell allem. Zudem war sie eine pickelgesichtige, schlaksige Hässlichkeit. Sie galt auf jeden Fall nicht als feuchter Traum der Jungs ihrer Stufe. Sie hasste damals prinzipiell alle.

Sie schmunzelt vor sich hin, während sie am Marktplatz aus der Straßenbahn steigt, dann Richtung Löwenzorn läuft. Diese Erinnerungen amüsieren sie. Dreizehn Jahre ist es her, einiges hat sich verändert, manches ist gleichgeblieben. Schöner ist sie geworden, rebellisch und widerspenstig ist sie weiterhin. Sie schaffte es einfach nicht, aus ihrer Haut zu schlüpfen und vergraulte zeitlebens mit ihrer Art sämtliche Männer, die Interesse an ihr zeigten, und das waren nicht wenige. Aber das war ihr völlig egal. Sie bediente sich bei allen möglichen Gelegenheiten am maskulinen Angebot und stand nichts zur Verfügung, dann verschmähte sie auch nicht die Weiblichkeit. Meist hinterließ sie verbrannte Erde.

Angekommen vor dem Restaurant rümpft sie kurz die Nase über das elitäre Lokal, atmet einmal tief durch und tritt ein.

Am Eingang zum Zunftsaal steht eine Frau in ihrem Alter und begrüßt sie mit einem unsicheren Lächeln: »Du musst Tabea sein. Richtig?«

»Das hast du aber fein erraten. Vermutlich bin ich die Letzte. Und du bist?«

»Ramona. Ramona Schilt mit einem t am Schluss. Erinnerst du dich noch?«

»Nein, aber das will nichts heißen. Ich habe diese Jahre aus meinem Gedächtnis gestrichen. Sie waren scheiße.«

Ramonas linke Augenbraue zieht sich leicht nach oben, die feinen Haare im Nacken stellen sich auf. Das kann ja heiter werden. Demonstrativ umarmt sie Tabea und haucht ihr drei Küsse auf die Wangen.

»Willkommen, ich freue mich, dass du da bist. Wir haben mit dem Apéro bereits begonnen.«

Ramona schiebt sie in den Saal, wo ein lärmender Haufen Gleichaltriger sich zuprostet.

»Und hier meine Lieben!«, ruft sie in die Runde. »Tabea Taler.«

Augenblicklich kehrt Ruhe ein, alle Augen heften sich auf Tabea und es ist ihnen anzusehen, dass sie verblüfft sind.

»Hallo«, grüßt sie, lächelt sparsam und geht zum Buffet, wo sie ein Glas Weißwein ergreift.

Mit einem stummen Nicken erhebt sie das Glas und nippt daran. Erst jetzt erwachen die Leute, murmeln ein verhaltenes Prost und nehmen einen Schluck. Nur zögerlich finden die unterbrochenen Gespräche den alten Schwung, dabei schweifen die Blicke immer wieder zu Tabea, die den Saal inspiziert. Ramona fühlt sich irgendwie verantwortlich für die verspätete Klassenkameradin und gesellt sich zu ihr.

»Hei Tabea, was machst du so im Leben? Beruf, Familie, Freizeit und so weiter.«

»Ich beschäftige mich in erster Linie mit dem und so weiter. Ich arbeite freischaffend für PRA und kämpfe für das Recht der Tiere. Sonst nichts«, erzählt sie und begutachtet gleichzeitig die Schnitzereien an der Kamineinfassung.

Ramona entgleisen leicht die Gesichtszüge, aber sie bekommt sich schnell wieder in den Griff.

»Aha. Dann hast du weder Kinder noch Mann?«

»Nein, dafür fehlt mir die Zeit und so richtig sesshaft bin ich auch nicht. Meist bin ich dort, wo man mich braucht. Und du? Hast du Mann, Kinder, Haus, Auto und Boot?«, fragt Tabea und setzt ein übertrieben süßes Lächeln auf.

Ramona ist eine durchaus modern denkende Frau, die mit ihrem Mann ein gleichberechtigtes, aber wackeliges Lebensmodell aufgebaut hat, zudem ist sie als Immobilienmaklerin und aktive Politikerin intelligent genug, um den giftigen Unterton der Bemerkungen einordnen zu können. Wie es aussieht, hat sich Tabea seit der Schulzeit nicht verändert, mit Ausnahme ihres Aussehens. Sie hätte sie nicht erkannt, wäre sie nicht diejenige gewesen, die auf der Liste übriggeblieben war. Sie sieht umwerfend aus, ja, sähe noch besser aus, läge sie Wert auf eine weniger exzentrische Garderobe. Die psychedelische Mode der Hippies schien es ihr angetan zu haben.

»Ach, nicht der Rede wert«, meint Ramona. »Ich habe mir soeben einen Fußballclub in England gekauft, gehe kommende Woche mit Roger Federer ins Tibet in den Urlaub, veröffentliche danach meine Biografie und gedenke demnächst die Welt zu retten.«

Tabea schaut sie irritiert an, dann beginnen beide sanft zu schmunzeln.

»Selbstverständlich ist das alles Blödsinn«, korrigiert Ramona. »Ich bin ein Beispiel von zeitgenössischer Gutbürgerlichkeit mit all seinen Eigenheiten, noch ohne Kinder, dafür mit einem Mann, Auto und Eigenheim. Das Boot fehlt, steht aber auf der Liste. Ich denke, ich entspreche nicht so deinem Gusto.«

»Es ist ja nicht mein Leben.«

»Wie wahr. Keiner sollte sich für die Form seiner Existenz rechtfertigen müssen. Trotzdem frage ich mich, was dich zum Tierrechtsaktivismus getrieben hat.«

»Die Einsicht, dass mir Tiere mehr am Herzen liegen als Menschen und dass ich keinen Mann gefunden habe, der es mit aushält und der mich mit der Absicht fickt, mit mir ein Kind zu zeugen. Du siehst, es sind einige banale Gründe und ein schrulliger Charakter, die einem zum Sonderling werden lassen. Und Zack ist man außerhalb der normalen Gesellschaft.«

Ramona beginnt Spaß an der Unterhaltung zu finden, aber befürchtet gleichzeitig, dass Tabeas Anwesenheit noch für Unruhe sorgen könnte.

»Das wird ja heute richtig spannend, zu sehen, was aus unserer Klasse geworden ist. Ein repräsentatives Bild der Gesellschaft und dem, was sich außerhalb abspielt«, zündelt Ramona. »Sieh dir nur Patrick an, der mit dem dicken Ranzen. Er ist hässlich, aber steinreich, Unternehmer in der IT-Branche. Oder Susanne, sie, in den viel zu engen Jeans und dem viel zu tiefen Dekolleté. Sie sieht aus wie eine Nutte, aber leitet das Amt für Sozialwesen und ist mit einem Professor der Philosophie verheiratet. Da drüben, Claude, unser Klassenbester, ist seit einem Jahr arbeitslos. Nicht zu vergessen Sandra. Sie ist erst wieder vom Heroin heruntergekommen. Und ich! Eine Schlampe, die alles hat, aber ihren langweiligen Mann mit dem Fraktionschef betrügt, sinnlos Geld für teuren Firlefanz verpulvert und zu viel säuft. Du siehst, hier findest du die ganze Gesellschaft vereint und du behauptest, außenvorzustehen.«

Tabea hört ihr mit steigendem Interesse zu und gleichzeitig wird sie ihr immer sympathischer. Ganz nach ihrem Geschmack.

»Könnte tatsächlich lustig werden.«

In diesem Moment gesellt sich eine dralle Brünette dazu, deren rote Wangen und glänzende Augen von einem ausgedehnten Aperitif zeugen.

Sie stellt sich als Mirjam vor und lispelt zu Ramona: »Wäre nicht Zeit für deine Begrüßungsansprache, jetzt, wo endlich alle da sind.«

Ramona nickt, lässt ihr Glas mit Tabeas ihrem erklingen und räuspert sich.

»Liebe Klassenkameradinnen und Klassenkameraden«, ruft sie laut in die Runde. »Seid willkommen zum ersten Klassentreffen, nachdem sich unsere Wege vor dreizehn Jahren getrennt haben. Verrückt, ich habe längst nicht alle wiedererkannt. Die Jahre haben uns geprägt, wir haben uns verändert, jeder auf seine Art, unter verschiedenartigen Voraussetzungen, mit unterschiedlichen Zielen, aber mit einem gemeinsamen Ausgangspunkt. Unvergessliche Zeiten verbinden uns, an die wir uns heute mehr oder weniger gerne erinnern werden. Leider kann unser Klassenlehrer Herr Tschudin nicht anwesend sein, er genießt seinen wohlverdienten Ruhestand auf Mallorca, aber er lässt uns herzlich grüßen. Er hätte sicherlich mit einigen pikanten Anekdoten zur Unterhaltung beigetragen. Zum Programm: Wir genießen zuerst dieses wunderbare Büffet, brechen dann um zwanzig Uhr auf, wohin, verrate ich nicht, denn der Rest des Abends soll eine Überraschung sein. So, nun habe ich genug geredet und eröffne hiermit das Büffet. Guten Appetit und einen unvergesslichen Abend wünsche ich euch.«

Nachdem alle ihre Gläser abgestellt haben, wird begeistert applaudiert. Einzig Tabea nippt derweil an ihrem Weißwein und mustert gelangweilt die Wappenscheiben in der Fensterverglasung. Während der Geräuschpegel des allgemeinen Geplauders wieder anschwillt, formiert sich vor dem Büffet eine Traube aus hungrigen Dränglern. Mit Abscheu beobachtet Tabea das Treiben aus den Augenwinkeln, obwohl ihr der Magen knurrt. Nie würde sie sich derart gierig einer Meute anschließen, für sie ein Zeichen von Schwäche und fehlendem Selbstwertgefühl. Menschen, die mit der Masse gehen, haben keine eigene Haltung.

Versunken in ihren Gedanken, bemerkt sie ihn erst, als er neben ihr steht und sie anspricht: »Zum Glück hat dich Ramona vorgestellt, sonst hätte ich dich nicht wiedererkannt.«

»Und mit wem habe ich das Vergnügen?«

»Gabriel Kotlovsky. Kannst du dich erinnern?«

Es sind Tabeas Gesichtszüge, die außer Kontrolle geraten. Sie wird bleich, ihre Augen erstarren.

»Gabriel«, haucht sie.

»Du erinnerst dich?«

»Ich habe es verdrängt, aber nicht vergessen«, antwortet sie und schaut zu Boden.

»Du hast dich verändert.«

»Dreizehn Jahre sind eine lange Zeit. Wir waren Halbwüchsige. Pickel, Pubertät und störrisches Gehabe.«

Sie mustern sich. Tabea gefällt, was sie sieht. Ein schlanker, großer Kerl, graue Augen, schwarze, widerspenstige Haare, unrasiert. Ein Hauch von Verwegenheit umgibt ihn, gleichzeitig ist sein Blick voller Melancholie. Ein wilder Träumer. Und Gabriel ist einfach nur fasziniert von ihrer Erscheinung, die so gar nicht seinen Erinnerungen entspricht. Eine Amazone mit der Anmut einer Venus. Früher war sie die reizlose Bohnenstange, hochgeschossen, schlaksig, flachbrüstig, zu alledem eine Zicke. Heute eine Schönheit.

»War eine wilde Zeit.«

»Geschmacksache. Für mich war es eine schmerzhafte Phase. Nichts empfand ich als angenehm, die Schule nicht, die Eltern nicht, das erste Ficken nicht, das Dasein nicht. Zudem war ich hässlich. Du musstest mich schön saufen, um mich entjungfern zu können.«

»Quatsch. Ich war voller Hemmungen. Ich soff mir nur den nötigen Mut an.«

»Eigentlich ist es scheißegal. Der Vergangenheit sollte man nicht zu viel Beachtung schenken. Ich geh jetzt eine Zigarette rauchen.«

Sie läuft davon und lässt ihn stehen. Einen Moment überlegt er, ob er sich aufregen soll, schüttelt kurz den Kopf, dann folgt er ihr. Draußen auf der Gasse gesellt er sich zu ihr.

»Hast du mir auch eine Zigarette?«, fragt er.

Sie gibt ihm eine und steckt sie ihm an.

»Danke. Es ist trotzdem schön, dich wiederzusehen.«

Mit einem raschen Seitenblick ergründet sie die Ernsthaftigkeit seiner Worte.

»Ehrlich gesagt, hast du mir nicht gefehlt, aber jetzt, wo uns diese bescheuerte Veranstaltung zusammengeführt hat, muss ich zugeben, dass mir dein Anblick recht gut gefällt. Du hast dich entwickelt, zumindest äußerlich.«

Er muss über ihre freche Bemerkung grinsen. Ihm gefällt ihre kratzbürstige und direkte Art, man weiß sogleich, woran man ist.

»Ich danke dir für die Blumen. Das Kompliment gebe ich im gleichen Sinne zurück. Mittlerweile bist du die heißeste Braut da drin. Hast du die Blicke nicht wahrgenommen? Von den Männern wurdest du ausgezogen, von den Frauen getötet.«

»Das geht mir am Arsch vorbei, etwa so, wie sie sich damals für mich interessiert haben. Du hast mich wenigsten gefickt, das war doch schon mal was.«

»Sei nachsichtig mit den Jugendsünden. Wir waren unreif.«

»Bist dir sicher, dass wir jetzt reif sind? Wenn ich mir Ramona anhöre, dann hat sich nicht viel verändert.«

Er nickt verständnisvoll und fragt sich, was sie damit meint. Themawechsel. Da gab es andere Fragen, die ihn interessieren.

»Was erfüllt dich so in deinem Leben?«

»Tiere und ihre Rechte. Dafür stehe ich ein, sonst gibt es momentan nichts.«

»Keine Beziehung?«

»Ich arbeite für PRA, da gibt es keinen Raum daneben.«

Gabriel horcht auf.

»Aktivistin zum Beruf oder als Berufung?«

»Na ja, Geld lässt sich nur wenig damit verdienen, also dürfte es mehr Berufung sein. Ich habe so meine Sponsoren, was mich über Wasser hält.«

»Mit Idealismus wird man nicht reich. Ich weiß, von was du sprichst.«

Sie blickt überrascht auf.

»Sag nur, du fährst auch auf dieser Schiene?«

»Ich schreibe für ein linkes Wochenblatt und engagiere mich in einer marxistischen Splittergruppe. Wie du siehst, lebe ich auch für meinen Idealismus.«

Erstmals mustert sie ihn aufmerksam. Was sie soeben vernommen hat, schenkt diesem Abend eine neue Dimension. Plötzlich steht er da, in einem glanzvollen Licht, wie ein Heiliger, den man auf einen Sockel stellte. Gibt es solche Männer überhaupt noch? Waren sie nicht alle während den vielen vergangenen Revolutionen dahingerafft worden? Sie ist sich bewusst, eine verblendete Sicht auf den Idealismus zu hegen, trotzdem will sie den Glauben an die Passion für eine edle Sache nicht verlieren. Wer weiß, vielleicht steht neben ihr ein neuer Messias. Aber genauso gut könnte er ein Schwätzer sein.

»Ja, das hört sich tatsächlich nach brotlosem Lebensinhalt an. Komm, lass uns etwas essen gehen, der erste Sturm auf das Buffet sollte vorbei sein.«

Sie werfen ihre Stummel in den Gully zu ihren Füssen und kehren zurück in den Zunftsaal. Tabea stellt sich eine Salatschüssel zusammen, Gabriel häuft sich das gesamte Sortiment auf seinen viel zu kleinen Teller. Sie setzen sich auf die beiden freien Plätze neben eine ganz in Weiss gekleideten Wasserstoffblondine und einen bärtigen Hipster mit Flanellhemd, Jeans und derben Hosenträgern.

»Hallo zusammen«, begrüßt sie die Farblose mit einer piepsenden Stimme und einem zuckersüßen Lächeln. »Ich bin Wendy und das ist Klaus. Könnt ihr euch an uns erinnern?«

»Nein«, antwortet Tabea frostig, Gabriel schüttelt verneinend den Kopf. Beide widmen sich ihrem Essen und das Lächeln von Wendy friert ein, Klaus schaut ratlos in die Runde. Tabea steht unvermittelt auf und holt zwei Glas Weißwein und stellt sie vor sie beide hin.

»Ich trinke nicht gerne alleine«, bemerkt sie mit einem Seitenblick zu Wendy und Klaus, wo mit Cola gefüllte Gläser stehen.

»Bist du Vegetarierin?«, fragt Klaus Tabea vorsichtig, während er ihre Schüssel betrachtet.

Sie sieht auf und antwortet: »Ja, ich esse keine toten Tiere. Das einzige Fleisch, welches ich mag, ist ein steifer Schwanz in meiner Möse.«

Ein Moment des betretenen Schweigens, dann beginnt Gabriel glucksend zu lachen, erst leise, dann immer lauter. Zögerlich setzen Wendy und Klaus ein, Tabea verzieht keine Miene.

Kapitel 2

Sie starrt an die Decke und lässt die Erinnerungen an das Klassentreffen samt dem anschließenden Abend nochmals Revue passieren. Sie schmunzelt bei dem Gedanken an ihr Benehmen. Sie hatte es wieder einmal geschafft, die meisten Leute vor den Kopf zu stoßen, und sie ist sich sicher, dass mit ihrem Abgang für reichlich Gesprächsstoff gesorgt war. Der Einzige, der sich auf keine Weise über ihr Verhalten irritiert fühlte, ja, offensichtlich seinen Gefallen daran fand, war Gabriel. Sie schaut zur Seite, wo er verfangen in den Laken, noch tief schläft.

Der Fick war keine Offenbarung, dafür waren sie zu besoffen, trotzdem durchflutet sie ein Verlangen nach mehr. Kein Überdruss, wie sie bei den meisten Kerlen am Morgen danach empfand. Gewöhnlich stahl sie sich still und heimlich davon, heute nicht. Er hat eine Saite in ihr angeschlagen, die nach dem Erwachen noch vibriert. Sein Wesen hat sie vereinnahmt, seine unangepasste Sicht auf das Leben und die Welt ähnelt ihrer Haltung in vielen Belangen. Nachdem sie, ohne sich zu verabschieden, durch den Hinterausgang verschwunden waren, leerten sie auf seinem Balkon zwei Flaschen Burgunder und erzählten sich ihre Geschichten.

Ächzend und widerwillig kommt Bewegung in den Mann an ihrer Seite. Er dreht sich langsam und öffnet die Augen. Das Haar steht ihm wild vom Kopf ab.

»Wer bist denn du?«, fragt er mit spröder Stimme.

»Dein Schicksal.«

»Verdammt, wieso siehst du so bezaubernd aus. Ich fühle mich wie von der Straßenbahn überfahren und muss wohl auch so auf dich wirken.«

Stöhnend schließt er wieder die Augen und versucht, ihren Anblick zu verdauen. Wenn nur diese Kopfschmerzen nicht wären, er nähme sie jetzt mit unverhohlener Lust. Da liegt sie, nur spärlich bedeckt, ihre kleinen, aber strammen Brüste mit den harten Nippeln in die Höhe gestreckt, und schaut ihn herausfordernd an. Sie wäre geil, nur bräuchte er noch etwas Zeit, um diesen Zustand vollständig zu erreichen. Diese Frau ist nicht so einfach zufriedenzustellen.

»Lass mich zuerst eine Dusche nehmen«, krächzt er und windet sich aus dem Bett.

Das kalte Wasser raubt ihm schier den Atem, aber haucht ihm neues Leben ein. Nachdem er sich abgetrocknet hat, kehrt er ins Schlafzimmer zurück, nur liegt sie nicht mehr im Bett. Er hört sie in der Küche hantieren. Er schlingt das Badetuch um die Hüfte und lehnt sich an den Rahmen der Küchentür.

»Keine Lust mehr?«, fragt er.

»Nein, der Zauber ist verflogen«, sagt sie, obwohl sie praktisch nackt, nur mit einem lächerlichen Slip bekleidet, in der Küche steht und Kaffee macht.

»Also Frühstück und kein Sex. Ist auch in Ordnung«, stellt er fest und verschwindet wieder im Schlafzimmer.

Sie durchwühlt den Kühlschrank und die Küche, ohne viel Brauchbares zu finden. Eier, altes Brot, eine halbe Zwiebel und Kartoffeln, die schon buschig sprießen.

»Magst du was Kräftiges zum Frühstück?«, ruft sie Richtung Schlafzimmer.

Vollständig angezogen kommt er zurück und meint: »Ich könnte schon was vertragen. Gerne.«

Er schaut ihr von hinten über die nackte Schulter, küsst ihren Nacken und legt seine Hände auf die Hüften. Nur schwer kann er sich beherrschen, sie nicht hier und jetzt zu nehmen. Ist sie sich nicht bewusst, was für Signale sie aussendet? Aber sie bereitet in stoischer Ruhe das Frühstück zu. Rüstet Kartoffeln und Zwiebeln, brät alles an, gibt die Eier dazu, röstet in der Pfanne das Brot, häuft auf zweien Tellern das einfache, aber schmackhafte Mahl. Längst hat Gabriel ihre Hüften losgelassen und den Tisch gedeckt. Zu seiner Erleichterung zieht sie sich an, während alles vor sich hin brutzelt, was die Lage entspannt, obwohl das Bild ihrer Nacktheit ihn weiterhin unter Spannung hält. Er hatte zu lange keinen Sex mehr.

»Wieso lebst du als Marxist nicht in einer Wohngemeinschaft, wie es sich gehört? Das ist doch Verschwendung von Wohnraum.«

»Weil niemand mit mir zusammenleben will. Für viele Genossen bin ich zu kompromisslos, manche behaupten, ich sei sogar extrem. Aber da gibt es einige Gleichgesinnte, gemeinsam planen wir, einen alten Bauernhof zu kaufen, mit dem Ziel, eine Lebensgemeinschaft zu bilden. Arbeiten und Leben unter einem Dach.«

Sie schiebt sich eine gehäufte Gabel in den Mund, kaut andächtig und überlegt.

»Ist diese Idee ein fantastisches Luftschloss, ein feuchter Furz oder ein konkretes Projekt, das in absehbarer Zukunft Wirklichkeit werden sollte?«

Er schielt zu ihr und fragt sich, wie ihr Zynismus einzustufen ist.

»Wir haben noch zwei Objekte zur Auswahl, die Entscheidung wird bald fallen. Die Frage ist, ob es uns in den Jura oder ins Elsass verschlägt.«

»Was bedeutet, dass du in naher Zukunft aus Basel verschwinden wirst.«

»Beides sind renovierungsbedürftige Höfe, die zuerst etwas Arbeit benötigen. Zwei bis drei Monate wird es dauern, bis wir einziehen können.«

Sie nickt stumm.

»Du wohnst hier in der Stadt?«, fragt er.

»Vorläufig bei einer Freundin in einer Sozialwohnung. Aber ich bin oft auf Achse, meist in Deutschland oder im Osten, um Missstände aufzudecken und Aktionen zu organisieren. Ich bin eine Nomadin, jedoch wird es langsam Zeit, sich fest niederzulassen.«

»Da gäbe es sicher noch Platz für dich auf unserem Hof«, bemerkt er nebenbei.

»Ist das Angebot nicht etwas übereilt? Was denken deine Genossen über eine Frau in eurem Dunstkreis?«

»Du wärst nicht die Einzige.«

Sie schluckt den Bissen hinunter, kommentiert dann: »Oh, das eröffnet ja ungeahnte Möglichkeiten.«

»Deine Fantasie läuft völlig ins Leere. Die Frauen, die sich uns anschließen, entsprechen in keiner Weise meinem Geschmack. Aber sie sind engagierte Linke vom äußeren Rand und bereit bis zum Äußersten zu gehen.«

Jetzt verengen sich ihre Augen zu Schlitzen und plötzlich fehlt ihr das Bedürfnis, Weiteres über die Pläne dieser marxistischen Splittergruppe zu erfahren. Weniger wegen den Frauen, mehr wegen dem Äußersten. Es hört sich so radikal an, was zwar durchaus ihrem eigenen Antrieb entspricht, aber im politischen Zusammenhang etwas Gefährliches anhaftet. Hier hört in der Regel der Spaß auf.

»Ich müsste diesen Haufen erst kennenlernen, bevor ich das Wohnen auf einen Bauernhof überhaupt in Erwägung ziehe. Ich bin ein Stadtkind, obwohl mir diese Stadt langsam zum Hals heraushängt.«

»Da sind wir schon zu zweit. Soziales Disneyland, gesponsert von den Pharmakonzernen.«

Sie nickt wieder, schaufelt weiter in sich hinein, dass er sich fragt, wo ihre schmächtige Figur diese Mengen einlagert.

»Womöglich ist unser Techtelmechtel nur ein Strohfeuer, dann erübrigen sich abstruse Zukunftspläne.«

»Ja, vielleicht war mein Mundwerk etwas voreilig. Der Gedanke, dich um mich zu haben, gefiel mir irgendwie. Apropos, was machst du anschließend?«

»Ich geh nach Hause ausschlafen.«

»Das kannst du auch hier.«

»Nein, Danke. Keine Lust. Ich brauche jetzt meine Ruhe, um nachzudenken. Dabei werde ich garantiert weg dösen, wozu ich kaum Gesellschaft benötige. Einen Vorschlag: Ich könnte ja heute Abend auf einen Fick vorbeikommen.«

Gabriel liebt Frauen, die schamlos denken und versaut reden, die signalisieren, dass sie hart im Nehmen und Geben sind. Sie könnte eine Offenbarung sein. Die Rolle des großen Liebhabers, des Romantikers war ihm nie auf den Leib geschrieben, er sieht sich eher als einer, der sich nimmt, was er will und dabei bevorzugt er den harten Sex. Der erste Eindruck verspricht, an der richtigen Adresse zu sein.

Tabeas versaute Ausdrucksweise erinnert ihn an eine besoffene Männerrunde im Striplokal. Wobei er ihr zugutehalten muss, dass sie generell, also nicht nur beim Thema Sex, eine unverschämt direkte Verständigung pflegt. Sie hatte gestern ab und zu beim Klassentreffen für Schamesröte gesorgt. Er kann sich bestens vorstellen, wie sie als Aktivistin auftritt, einschüchtert, kämpft und keine Konsequenzen scheut. Eigenschaften, die sie in der Gruppe gebrauchen könnten. Zu viele Denker, zu wenige Soldaten.

»Das hört sich verführerisch an. Ich koche uns was Feines.«

»Nicht nötig. Ein voller Magen macht nur träge. Ein paar Cocktails oder eine Flasche Weißwein reichen vollumfänglich.«

*

Leicht verstört lässt sie ihn in seiner Wohnung zurück. Was soll er von Tabea halten? Sie gab ihm einen flüchtigen Abschiedskuss auf die Wange und weg war sie. Er ist sich nicht so sicher, sie heute Abend wirklich wiederzusehen. Hin und her gerissen zwischen Faszination und Irritation setzt er sich an den Küchentisch, betrachtet das schmutzige Geschirr und klaut eine Zigarette aus dem Päckchen, welches sie liegengelassen hat. Er raucht, stellt sich ans offene Fenster, stiert mit leeren Augen hinaus, wo er doch dringend den Artikel zu Ende bringen sollte. Ihm fehlt aber der Drang, über die Entwicklung des Marxismus in Sachsen-Anhalt seit der Wende zu schreiben. Jeder weiß, dass das kein erbauendes Thema ist, trotzdem ist es wichtig, aufzuzeigen, was in den neuen deutschen Bundesländern in die falsche Richtung läuft. Er hält nicht so viel von der Vergangenheit, da denkt er ähnlich wie Tabea, vielmehr sieht er sein Heil in der Zukunft. Da lässt sich was bewirken.

Er schnippt den Stummel in die Dachrinne des Nachbarn, um sich mit viel Selbstaufmunterung seiner Arbeit zuzuwenden. Dass heute Sonntag ist, dient nicht als Motivation. Kaum sitzt er vor dem Laptop, surrt das Handy in der Hosentasche. Es ist Jens.

»Hei. Was gibt’s?«

Am anderen Ende war Bahnhofslärm zu vernehmen.

»Er ist angekommen.«

»Alleine?«

»Ich denke schon.«

»Danke, wir sehen uns morgen. Ciao.«

»Tschüss.«

Er drückt den Anruf weg, dann haut er mit einer gewissen Zufriedenheit in die Tasten.

*

»Du bist doch nur zurückgekommen, weil du deine Zigaretten hier vergessen hast«, begrüßt er sie an der Wohnungstür.

Sie lächelt sogar und sieht verändert aus. Man könnte meinen, es sei eine andere Tabea. Sie hat sich hübsch gemacht, das Haar hochgesteckt und ein luftiges Sommerkleidchen angezogen.

»Zigaretten habe ich, aber nichts zu saufen.«

Sie rauscht an ihm vorbei in die Wohnung, dies eine Stunde zu spät. Er sah sich bereits in seiner Vermutung bestätigt, dass er sie nie mehr zu Gesicht bekommen wird, und wollte von den Schnittchen essen, die er mühsam zubereitet hat, obwohl sie ihm zu verstehen gab, dass Essen nicht notwendig wäre. So ganz ohne wollte er doch nicht dastehen.

»Ich hab schon nicht mehr mit dir gerechnet«, ruft er ihr hinterher und schließt die Wohnungstür.

In der Küche räumt sie ihre Tasche aus und schüttet aus einen Papiersack Biskuits auf einen Teller.

»Das ist gut so. Man sollte sich nie einer Eroberung zu sicher sein, sonst wird man übermütig und zu selbstgefällig. Und übrigens, die habe ich heute selber gebacken.«

Gabriel ist freudig überrascht, mit etwas Selbstgebackenem hätte er nie gerechnet. Es erscheint ihm wie eine Geste der Zuneigung, was bei Tabea mit Sicherheit mühsam erarbeitet sein will.

»Da bin ich aber platt, war ich doch überzeugt, dass du den Tag verschlafen hast. Das ehrt mich außerordentlich.«

Sie grinst schief und bemerkt trocken: »Irgendwie konnte ich doch nicht schlafen und später war mir langweilig.«

Innerlich schmunzelt er über ihren Sinn für Humor, der garantiert nicht von allen verstanden wird. Und er fragt sich, wie sich wohl ihr Zorn offenbart. Böse, gnadenlos, brachial.

»Dann bin ich mal froh, dass du dich gelangweilt hast«, meint er und beißt in einen Keks.

Sie stellt sich ans offene Fenster, steckt sich eine Zigarette an, zieht den ersten Zug tief in die Lunge und lässt ihn nur zögerlich wieder an die frische Luft. Er nähert sich ihr, sie schauen sich an, aber er findet nicht den Mut, sie zu küssen.

»Ich habe belegte Brötchen gemacht und eine Flasche Weißwein kaltgestellt.«

»Danke, du bist ein aufmerksamer Gastgeber, während ich ein schrecklicher Gast war. Du sollst mich jetzt von der besseren Seite zu sehen bekommen.«

»Dann bin ich mal gespannt, wie deine Schokoladenseite aussehen wird. Ich habe mich doch bereits an dieses kratzbürstige Wesen gewöhnt und fürchte insgeheim, dass ich durchschnittliche Langeweile geboten bekomme, wenn du nett sein wirst.«

Sie zeigt wieder ihr schiefes Grinsen, ihre Augen strahlen sanft wie zwei brennende Kerzen im Sonnenlicht.

»Mach dir keine Sorgen. Ich bin nicht pflegeleicht, ich bin unausgeglichen, unberechenbar und skrupellos. Frag meine Feinde und du wirst nichts Positives über mich hören. Ich kann aber auch die Krallen einziehen und ein schnurrendes Kätzchen sein.«

»Ich freue mich, all deine Facetten kennenzulernen.«

»Freu dich nicht zu früh. Im Bett bin ich eine Bestie, meine Krallen werden dich zerfleischen. Morgen wirst du filetiert erwachen.«

Kapitel 3

Jens erwartet ihn im Café an der Ecke, einen Steinwurf von dem Hotel entfernt, wo Karl ein Zimmer fand.

»Irgendwelche Neuigkeiten, die ich wissen sollte?«, fragt Gabriel.

»Nein. Wir sind völlig hysterisch. Weder Begleitung und noch ein Schatten. Er hat eingecheckt, nahm ein Abendessen zu sich und ging anschließend auf sein Zimmer. Du kannst dich völlig entspannt mit ihm treffen.«

Gabriel nickt und bestellt sich einen Espresso bei der Bedienung.

»Eine Binsenweisheit, aber Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste. Sei dir bewusst, wir kennen ihn nicht und bewegen uns auf dünnem Eis.«

»Ja, ich weiß, aber man kann auch jemanden mit derart viel Misstrauen begegnen, dass es abweisend wirkt. Wir wünschen einen Erfahrungsaustausch und eine Zusammenarbeit über die Grenzen hinweg. Wo siehst du hier ein Risiko?«

»Weil wir am linken Rand politisieren. Da ist man aus Prinzip suspekt und mit einem Bein im Gefängnis. Der deutsche Staatsschutz hat ein Auge auf alle konsequent denkenden Politaktivisten, wozu ich Karl zähle. Du hast manchmal so eine erfrischend naive Art.«

Jens’ Blick verfinstert sich. Er fühlt sich von Gabriel oft missverstanden und pflegt eine etwas andere Sicht auf ihre politische Mission. Er stößt sich an seiner drastischen Haltung, seiner kompromisslosen und sturen Einstellung gegenüber Andersdenkenden. Für ihn gibt es nur Schwarz oder Weiss, schon gar keine Kompromisse. Gabriel ist ein engagiertes und angesehenes Mitglied ihrer Gruppe, der geborene Anführer, dem ihr Anliegen über allem steht, während Jens sich als eher Mitläufer und Sympathisant wähnt.

»Mag sein, dass ich nicht so weit denke, wie du es tust. Ich sehe hinter unserem Engagement kein verwerfliches Handeln, weshalb für mich die Frage der Illegalität kaum eine Rolle spielt.«

»Welche befreiende Seligkeit entzückte uns, wenn es in Wirklichkeit so wäre«, skandiert Gabriel übertrieben schwülstig.

Der Espresso wird serviert, solange herrscht Schweigen, ihre Blicke irrlichtern umher. Jens fehlt die Lust, auf seine Bemerkung zu reagieren. Gabriel rührt Zucker in das schaumige Gebräu, kippt ihn mit einem Schluck hinunter, schaut dann auf seine Uhr.

»Es ist Zeit, ich geh mal«, bemerkt er und verabschiedet sich mit einem flüchtigen Händedruck.

Jens blickt ihm nachdenklich hinterher.

Gabriel schlendert mit bewusster Lässigkeit durch die Altstadt Richtung Rhein, obwohl er bis in die letzte Nervenfase angespannt ist. Das Treffen wird von enormer Tragweite sein, fänden sie dabei einen gemeinsamen Nenner. So einfach war es nicht, den Kontakt herzustellen und Karl von einem Kennenlernen und einem ersten Meinungsaustausch zu überzeugen. So verlangte er einen sicheren Treffpunkt, wo sie unbeobachtet miteinander reden können. Kein Restaurant, kein öffentlicher Raum. Eine Herausforderung, aber nicht unlösbar. Im Kleinbasel steht die Kaserne, ein Gebäudekomplex mitten in der Stadt aus dem neunzehnten Jahrhundert, welchem längst seine militärische Bedeutung abhandenkam und zu einem Zentrum für zeitgenössische Kultur wurde. Ein Hort von alternativer Kunst und linkem Denken, ideal für einen unverdächtigen Besuch von Karl. Dank den vielen Räumen, Sälen und Eingängen erweist sich die Kaserne für ausreichend unübersichtlich, um sich dort unauffällig in einem Hinterzimmer zu treffen.

Karl sitzt tief in einem Sofa, auf dem Beistelltisch steht ein Bier. Er erhebt sich mit einem schmalen Lächeln auf den Lippen, als Gabriel den Raum betritt. Sie schütteln sich kraftvoll die Hände.

»Willkommen in Basel. Du kannst dir nicht vorstellen, wie ich mich freue, dich kennenzulernen«, begrüßt er den Gast.

»Ganz meinerseits. Es ist mir eine Ehre, hier zu sein.«

Sie mustern sich gegenseitig. Karl entspricht nicht den gängigen Klischees eines Linken, schon gar nicht den eines Marxisten. Er ist deutlich kleiner als Gabriel und von schmächtiger Statur, Kurzhaarschnitt, blütenweißes und kurzärmliges Hemd, eine beige Chinohose und weiße Sneaker. Seine braunen Augen strahlen eine warme Offenheit aus und können einen gewissen Schalk nicht verbergen, einzig der schmallippige Mund wirkt etwas hart. Nicht unsympathisch.

Sie setzen sich in die Sofas, jemand bringt Gabriel ein Bier.

»Entspannen wir uns, wir sind hier absolut sicher und unter uns«, bemerkt Gabriel, nachdem sie wieder alleine sind.

»Ich schätze den Aufwand, den du betreibst, um mich kennenzulernen. Du wirst sicherlich verstehen, dass ich wissen will, warum dem so ist.«

Gabriel überlegt einen kurzen Moment und legt sich seine Worte sorgfältig zurecht, denn sie könnten wegweisend sein.

»Wir brauchen deine Erfahrung und deinen Geist. Wir sind bereit für den nächsten Schritt, hinaus aus der Bedeutungslosigkeit, hinein in den Fokus der europäischen Wahrnehmung. Wir wollen ein Zeichen setzen und ernst genommen werden. Wir sind überzeugt, dass der Zeitpunkt gekommen ist, dem ausufernden Kapitalismus die Stirn zu bieten. Die Schere zwischen Arm und Reich öffnet sich immer weiter und selbst die selbstzufriedene Mittelschicht beginnt zu murren.«

»Schöne Worte, die genauso gut im Wahlprogramm der netten SP stehen könnten. Was unterscheidet euch von deren Geschwafel?«

»Die Taten«, wirft er ein und schaut ihm herausfordernd in die Augen. »Wir werden Taten folgen lassen.«

Die linke Augenbraue von Karl hebt sich merklich. Er scheint Gabriels Worte einzuordnen.

»Du wirst mir erklären, was du damit meinst.«

»Wir gedenken, ein radikales Zeichen zu setzen, welches die Aufmerksamkeit auf die Sache lenken und die Öffentlichkeit aufrütteln soll. Den kapitalistischen Parasiten muss Paroli geboten werden, wenn nötig, dann auch mit drastischen Mitteln. Ins Auge fassen wir die Techkonzerne, und zwar jene, die nichts herstellen, sondern nur auf Kosten der Produzenten, Mitarbeiter und Kunden unendlichen Profit erwirtschaften. Überhaupt muss unser Ziel der Raubtierkapitalismus sein. Ich weiß, ich erwähne nichts Neues, aber selten ist der Augenblick so reif für ein Zeichen wie jetzt.«

»Verstehe ich dich richtig, dass ihr mit Protestaktionen gegen solch mächtige Internetriesen und Spekulanten vorgehen wollt?«

Gabriel schwitzt und sein Hals kratzt, trotz des großen Schlucks Bier.

»Protest reicht nicht, es muss mehr sein.«

Sie schauen sich an, jeder versucht, im Gesicht des Anderen zu lesen. Das Unausgesprochene liegt in der Luft, aber keiner hat den Mut, das Drastische in Worte zu fassen.

»Ihr wollt, dass es weh tut.«

»Ja, so könnte man es ausdrücken.«

Karl lehnt sich zurück, sein Blick heftet sich an einen fiktiven Punkt an der Decke, er überlegt. Er hat mit viel gerechnet, aber nicht mit Gleichgesinnten, die bereit wären, sich zu radikalisieren. Und das in der Schweiz. Ihm ist nicht wohl dabei, dafür kennt er diese Leute kaum, allerdings eröffnet sich hier eine Gelegenheit, was ein kleines Risiko wert wäre. Deutschland verfügt über ein üppiges Arsenal an Extremisten jeglicher Prägung, trotzdem fehlen Mutige, die wagen, große Zeichen zu setzen.

»Aber ihr seid euch im Klaren, was das bedeutet?«

Gabriel zögert, meint dann: »Nicht allen. Da gibt es eine Hand voll blauäugige Politromantiker, welche sich den Folgen nicht bewusst sind, aber der harte Kern ist gewillt, bis an die Grenzen zu gehen. Das sind zuverlässige Leute, für die ich die Hand ins Feuer lege.«

Karl nickt wissend, nimmt in aller Ruhe einen Schluck Bier und bemerkt dann: »Der Wille, an die Grenzen zu gehen, ist zu wenig. Da braucht es mehr, denn ihr werdet sie überschreiten müssen. Plötzlich seid ihr Verbrecher, euer jetziges Leben löst sich auf und die Konsequenzen werden verheerend sein, sollte man euch erwischen. Ist das allen klar?«

»Für den inneren Zirkel ist das keine Überraschung. Wir sind uns dessen völlig bewusst und scheuen nicht die Folgen. Alle sind unabhängig und brennen für die Sache.«

Karls Puls hat sich während den letzten Minuten deutlich gesteigert. Es sind Gabriels Augen, die ihn gefangen nehmen und ihn von der Ernsthaftigkeit seiner pathetischen Erklärung überzeugen. Er weiß, was Traumtänzer und Fantasten sind. Typen, die den Kampf gegen das Establishment für ein ideologisches Spiel halten und der Meinung sind, dass man einfach aussteigen kann, wenn man keine Lust mehr hat.

Aber Gabriel umgibt eine Aura aus Wahnsinn, Fanatismus, Intelligenz und Skrupellosigkeit, eine Mischung, die für den Weg, den er gedenkt zu gehen, unumgänglich sein wird. Kein vernünftiger Mensch opfert sich für eine Philosophie, mag sie noch so edel sein. Dafür kommen nur Verblendete mit einem Drang nach Selbstaufopferung in Frage. Einem Märtyrer fehlen fundamentale Ängste und Empfindungen oder sie wurden ihm ausgetrieben, abgetötet oder mit Fanatismus überschüttet. Was ihn dazu getrieben hat, nähme Karl wunder. Es wird sich zeigen.

»Habt ihr einen Plan?«

»Ein Konzept, aber noch keinen Plan. Du wirst verstehen, dass ich dir nichts davon erzählen kann. Nur sei verraten, dass wir zurückhaltend beginnen und uns steigern werden. So wird man zuerst unsere Bekennerschreiben mit den Forderungen nicht ernst nehmen. Nur ist das gewollt. Mit rigorosen, aber durchaus kreativen Anschlägen gewinnen wir Sympathien, dass später die echten Attentate wie der Gräuel einer anderen Gruppe erscheinen. Zwei Zellen, die gleichzeitig agieren, stiften Verwirrung.«

Karl schweigt. Er ist von der Dimension der Neuigkeit angetan. Angenommen, Gabriels Andeutungen skizzieren nur in groben Umrissen das Potenzial, das hier brachliegt, dann dürfte diese Lunte nicht nur hier in der beschaulichen Schweiz brennen, dann wäre es der passende Zeitpunkt für einen europäischen Flächenbrand. Koordinierte Aktionen in verschiedenen Ländern. Ein Traum würde wahr, allerdings ist sich Karl bewusst, wie schwierig solch eine Koalition zu bilden ist.

»Wie viele seid ihr?«

»Acht.«

»Was erwartest du von mir?«

»Support, Netzwerk und die kritische Betrachtungsweise eines Außenstehenden. Bis zu einem gewissen Punkt sind wir vollkommen autonom, darüber hinaus brauchen wir situativ Unterschlupf und Nachschub.«

»Finanzen?«

»Wir werden vorerst finanziert, müssen aber mittelfristig Erfolge vorweisen.«

»Was für Erfolge denn?«

»Irritationen am Markt.«

Karl nickt langsam, starrt in sein Glas und überlegt sorgfältig. Es herrscht eine eigenartige Stille im Raum, die Sonne wirft ihre Strahlen auf den Boden, Staub schwebt im Licht.

»Du hast großes Vertrauen in mich«, sagt er leise. »Das sind äußerst heikle Informationen, die du mir anvertraust. Was gibt dir die Sicherheit, dass ich nichts von dem, was du mir erzählt hast, missbrauche?«

»Zwei Gründe. Erstens wäre es nicht in deinem Interesse und zweitens hättest du mit uns ein lebensgefährliches Problem am Hals. Verstehe mich nicht falsch, ich drohe nicht, ich deute nur an.«

Karl schmunzelt verhalten, leert sein Glas in einem Zug, steht auf und fragt: »Okay, ich werde mich mit meinen Leuten beraten. Bist du morgen zu sprechen?«

»Ja, die Frage ist nur wo. Hier können wir uns nicht schon wiedersehen lassen. Bei dir im Hotel ist es auch schwierig. Aber im Hafengebiet, da gibt es ein Areal, wo sich die alternative Szene eingenistet hat. Unübersichtlich, chaotisch, sieht aus wie eine Favela. Du läufst ab hier auf der rechten Seite alles dem Rhein entlang flussabwärts, du wirst es nicht übersehen. Wir treffen uns beim roten Feuerschiff um vierzehn Uhr.«

»Einverstanden. Abends um neunzehn Uhr fährt mein Zug. Das passt.«

Gabriel erhebt sich, sie geben einander die Hand und verabschieden sich mit zurückhaltender Herzlichkeit. Gabriel trinkt noch ein Bier und wartet eine halbe Stunde, bevor er das Haus durch einen Seiteneingang verlässt.

Kapitel 4

Wenn man anhand des Inhalts einer Wohnung den Charakter des Menschen ableiten kann, der darin wohnt, dann dürfte hier kaum Gabriel, der marxistische Revolutionär zu Hause sein. Seit er aufgebrochen war, treibt sie ihre Neugier durch die Räume, schnüffelnd, suchend, musternd, wühlend und sich immer wieder fragend. Das soll ein ultralinker Aktivist sein? Wo sind die kämpferischen Pamphlete, die Biografien von Marx und Lenin, das Parteibüchlein, das rote Halstuch, das Poster von Che Guevara? Nichts, im Gegenteil. Da gibt es ein Fernseher, Bücher von T.C. Boyle und Juli Zeh, eine alte Stereoanlage mit Plattenspieler und Musik von Elton John, die Neue Zürcher Zeitung, Kunstdrucke von Jason Pollock und ein Regal voll französischen Rotwein. Selbst seine Kleider liefern keinen Aufschluss über seine Gesinnung. Knackige Unterhosen statt ausgeleierte Baumwoll-Unterwäsche, Chinos statt zerschlissene Jeans, feine Hemden statt verbleichte T-Shirts. Im Badezimmer ein anständiges Arsenal an maskulinen Pflegeprodukten und überall eine erstaunliche Ordnung. Wie kann die Saat der Wut gegen das Establishment keimen, wenn er selbst wie ein Spießbürger lebt? Ein seltsamer Widerspruch, der ihr erst jetzt so richtig bewusst wird. Seine Gesinnung erwähnte er nur wenige Male, ohne dabei einen sektiererischen Eifer an den Tag zu legen, so, wie man erzählt, von Beruf Buchhalter zu sein und in welcher Firma man arbeitet. Da gab es einzig kurze Bemerkungen über »engagierte Linke vom äußeren Rand« und »bereit bis zum Äußersten zu gehen«, ansonsten verströmte er mehr Nettigkeit denn Radikalismus. Vielleicht ist das seine Taktik. Nur nicht auffallen.

Aber ihr gefallen Menschen, die nicht so einfach in ein Schema zu pressen sind, denen ein Mysterium anhaften und die die Stärke haben, das durchzuziehen. Gabriel könnte so eine Persönlichkeit sein, aber dies wird sich erst noch zeigen. Für ein Urteil ist es zu früh, außer im Bett, da besitzt er durchaus passable Qualitäten. Sie schmunzelt und fühlt ein wohliges Ziehen in ihren Lenden, während sie sein Bücherregal nach ihr bekannten Autoren durchsucht. Sie kennt nur wenige, aber zumindest hat er den Intellekt, welchen es braucht, um einen Haufen Bücher zu lesen, die sich in einer ansehnlichen Anzahl der Philosophie verschreiben. Kaum Kriminalromane, gehobene Belletristik, einige Biografien.

Sie spielt mit der Vorstellung, wie er ihr mit seinem journalistischen Schaffen und Netzwerk behilflich sein könnte. Sie bräuchte wieder einmal einen Erfolg, einen aufsehenerregenden Auftritt, ein mediales Echo, sonst verlieren ihre Auftraggeber das Interesse an der Zusammenarbeit. Selbst im Aktivistengeschäft zählen marktwirtschaftliche Prinzipien. Nur wer mit gelungenen und spektakulären Aktionen in den Schlagzeilen erscheint, bewegt was. Dabei muss man sich immer wieder neu erfinden, um seine Gegner zu überraschen, denn zweimal fallen die nicht auf dieselbe Finte herein. In einer Nacht- und Nebelaktion Tiere befreien, ist längst nicht mehr so einfach. Da wird man von scharfen Dobermännern und Elektrozäunen mit 230 Volt erwartet. Es wurde auch schon auf sie geschossen, allerdings meilenweit daneben, aber ihr Arsch ging trotzdem auf Grundeis. Ein Riesentamtam, ohne Folgen. Schlimm ist es im Osten von Europa, wo die wirklich üblen Tierfabriken stehen, welche von den Behörden gedeckt werden. Man hat keine Handhabe, da die Polizei diese Verbrecher schützt, weil sie gutes Geld und Arbeit in diese bedürftigen Regionen bringen. Da kann man nur verlieren.

Tabea seufzt, fühlt sich mit einem Mal unglaublich müde, ausgelaugt, wieder einmal meldet sich der nagende Zweifel an ihrer Arbeit und dies in letzter Zeit immer des Öfteren. Es scheint, als interessiere sich die Welt einen Scheiß um einen gerechten Umgang mit Tieren. Hauptsache das tägliche Stück Fleisch auf dem Teller ist billig. Diesem kräfteraubenden Anrennen gegen eine Wand aus Egoismus und Ignoranz ist sie langsam überdrüssig.

Sie überlegt, die Flasche Weißwein im Kühlschrank zu öffnen, um sich gepflegt zu betrinken, da hört sie das leise Quietschen der Wohnungstür.

»Schön, bist du noch da«, begrüßt er sie und küsst ihren Mund.

»Ich habe mich durch deine Wohnung geschnüffelt, wollte dich kennenlernen.«

»Und? War es aufschlussreich?«

»Dein Zuhause erzählt viel von dir, wirft aber auch Fragen auf. Ich wollte soeben den Weißwein entkorken. Wärst du damit einverstanden?«

Er schaut auf seine Uhr und meint: »Viertel nach zwei und bereits einen Aperitif? Ach, was soll’s. Gute Idee.«

Sie öffnet den Kühlschrank, holt die Flasche heraus, entkorkt sie, während er zwei Gläser bereitstellt. Sein Blick sucht ihre Augen, ihr Gesicht, um zu ergründen, wie sie gelaunt ist. Sie ist keine gesprächige Person, weshalb es ihm schwerfällt, sie einzuschätzen und abgesehen davon, kennt er sie noch nicht wirklich.

»War dein Termin erfolgreich?«, fragt sie.

»Es ist zu früh, um darüber zu urteilen. Wir treffen uns morgen Nachmittag nochmals, dann sehen wir weiter. Und du? Hast du dich ausgeruht und gelangweilt?«

Sie stoßen an, er schlürft genüsslich, sie schluckt das halbe Glas weg.

»Na ja, irgendwie habe ich zu viel nachgedacht und mich in eine Unzufriedenheit hineingesteigert. Mein Job schenkt mir zu Zeit kaum Befriedigung. Lauter verfluchte Misserfolge.«

»Kein Wunder, schließlich entspricht dein Anliegen nicht dem allgemeinen Volkswillen. Eine Tatsache, die ich bestens kenne. Es ist schwierig, Akzente zu setzen, wenn niemand sie wünscht.«

»Das hilft mir nicht weiter. Ich brauche neue Ideen und die fehlen mir.«

»Denke radikal und scheue nicht das Undenkbare.«

»Du sprichst in Rätseln.«

»Schockiere das Volk, wenn du es nicht mit Worten überzeugen kannst. Taten hinterlassen einen tieferen Eindruck. Ein Beispiel. Hast du ein Anliegen, dass du hier in dieser Stadt anprangern möchtest?«

Tabea überlegt angestrengt mit gerunzelter Stirn.

»Hier gibt es kaum Missstände, dafür ist die Schweiz zu sensibel. Man delegiert die Schweinerei ins Ausland«, antwortet sie, doch gleichzeitig hat sie eine Idee. »Aber da fällt mir was ein. Der Zoo, das hiesige Tiermuseum. Er gibt sich so tierfreundlich und fortschrittlich, trotzdem fristen viele Tiere kein artgerechtes Dasein. Man rechtfertigt dies mit dem übergeordneten Ziel der Artenerhaltung. Da gibt es die Gepardenzucht. In einem zu kleinen Gehege hält man außerhalb des Zoos das Männchen, ein unhaltbarer Zustand für ein Tier, das es gewohnt ist, die Weite der Savanne zu durchstreifen.«

Gabriel denk kurz nach, meint dann: »Sicherlich kein einfaches Thema, genießt der Zoo bei der Bevölkerung doch ein enormes Ansehen und Sympathien. Aber nehmen wir mal an, der Gepard bräche mit deiner Hilfe aus. Was würde sich ereignen? Panik! Ein Raubtier läuft frei herum. Er fällt Leute an und frisst kleine Hunde und Katzen. Man wird ihn erlegen, bevor er größeren Schaden anrichtet. Die Medien stürzen sich auf das Drama, Schuldige werden gesucht und das Risiko der Raubtierhaltung in Frage gestellt. Und Zack hast du einen Erfolg.«

Tabeas Augen, welche während seiner Schilderung immer größer wurden, verengen sich wieder zu gefährlich schmalen Schlitzen.

»Du ausgebufftes Schlitzohr. Du opferst das Tier für das Wohl der Tiere«, murmelt sie und es ist ihr anzusehen, wie seine Worte in ihrem Kopf einen Flächenbrand auslösen.

»Bevor du erntest, musst du säen. Kennst du die Legende des Winkelried? Ein mutiger Eidgenosse im Mittelalter, der eine Bresche in die Reihen der habsburgischen Angreifer gerissen hatte, indem er sich in die gegnerischen Spieße warf. Dank ihm wurde die Schlacht gewonnen und dank diesem Gepard wird eine Kontroverse losbrechen. Eine Steilvorlage für dich, da kannst du mit gezieltem Protest und Aktionen auf das Thema aufmerksam machen.«

Tabea wird es schwindlig, derart explosionsartig verlieren ihre Gedanken die Ordnung. Welch perfide Strategie! Aber wie setzt man solch einen Plan um? Es wird naheliegend sein, dass jemand das Tier freigelassen hat, was den Verdacht auf eine der radikalen Tierorganisationen und in erster Linie auf sie persönlich lenken wird. Sie ist kein unbeschriebenes Blatt.

»Eine Strategie mit Risiken. Was ist, wenn der Gepard ein Kind anfällt? Wie lässt man das Tier frei, ohne in Verdacht zu geraten. Die Bullen buchten mich auf der Stelle ein, ob ich schuldig bin oder nicht. Wegen solchen Aktionen bin ich aktenkundig.«

»Es gibt keinen Kampf ohne Risiko. Ich bin kein Experte für Raubtiere, aber ich stelle mir vor, dass das Tier mit der Freiheit überfordert ist und sich verstecken wird. Man wird die Flucht am Morgen feststellen und kurz darauf werden die Straßen frei von Menschen sein. Nur die Polizei und die Jäger werden auf der Pirsch sein. Und du besorgst dir ein perfektes Alibi, während ich den Gepard freilasse.«

Ihr verschlägt es die Sprache. Hat er das wirklich gesagt? Verdammt, was geht hier vor? Sie blickt ihm in die Augen und findet keine Spur von Zynismus. Er meint es ernst.

»Du verstehst, dass mich dein Vorschlag verunsichert. Warum solltest du so etwas für mich tun? Weil wir gefickt haben? Du hast doch nichts davon, außer dem Risiko erwischt zu werden.«

»Niemand rechnet mit sowas. Allerdings wäre ein vorgängiger Augenschein zwingend, allzu kopflos stürze ich mich nicht in das Abenteuer.«

Ihr Blick flackert, plötzlich scheint diese Unterhaltung eine neue Dimension angenommen zu haben. Sie kippt den Rest des Glases in sich hinein und versucht, den Überblick zu wahren. Wieso nicht? Das Risiko ist überschaubar.

»Dann lass uns aufbrechen.«

*

Hand in Hand schlendern sie dem Birsig entlang, jenem Flüsschen, welches im sundgauischen Grenzgebiet zum Elsass entspringt und mitten in der Stadt in den Rhein mündet. Der Zoologische Garten schmiegt sich an den Lauf des Birsigs und speist mit dessen Wasser seine Teiche und Bächlein in der idyllischen Anlage. Sie erreichen das südliche Ende des Zoos, wo sie den Dorenbachviadukt unterqueren, und vor dem Tor des Dienstareals stehen. Beim ersten Augenschein vermutet man hier ein Lager, ein Abstellplatz oder Depot für Erde, Steine und andere Materialien, mit dem zweiten Blick sieht man ein Gehege, beim genauen Hinsehen erkennt man im Schatten den Geparden auf einem Podest liegen.

Sie bleiben stehen und studieren die Sicherheitsvorkehrungen. Viel ist es nicht. Am Tor kleben die Schildchen eines Wachdienstes und der Hinweis auf eine Videoüberwachung. Nirgends eine Kamera, keine speziellen Schlösser, keine Blitzleuchten, kein Stacheldrahtverhau. Unaufgeregt folgen sie flanierend dem Zaun, schauen auf das Gelände, aber entdecken weder ein unüberwindbares Hindernis noch einen Menschen. Das Gehege des Geparden besteht aus einem etwa zweieinhalb Meter hohen Zaun aus Diagonalgeflecht, die Tore sind mit normalen Schlössern ausgestattet. Die Umzäunung des gesamten Areals ist weniger hoch als jener des Geheges.

»Ich sehe nichts, was ein Problem darstellen könnte. Er wird hier gehalten wie ein Hund in einem großen Zwinger. Ein paar Werkzeuge, mehr brauche ich nicht.«

»Komplizen?«

»Je weniger Leute darüber Bescheid wissen, je weniger Risiko gehen wir ein.«

Tabeas Puls beschleunigt sich, denn ihr wird mit einem Mal bewusst, dass eine abgefahrene Idee Realität werden könnte, eine Idee, von der sie heute Morgen noch keine Ahnung hatte. Es gilt ernst und sie traut diesem wahnsinnigen Gabriel durchaus sein Vorhaben zu. Es steht in seinen Augen geschrieben.

»Dann muss ich mich um mein Alibi kümmern«, sagt sie mehr zu sich selbst als zu ihm.

»Reise zu einer Freundin in eine andere Stadt oder lasse dich für eine Nacht ins Gefängnis stecken.«

Sie schmunzelt.

*

Wie mitten in einer improvisierten Hüttensiedlung gestrandet, steht das rote Feuerschiff. Als läge es vor Anker, wurde das alte Leuchtturmschiff im Kies eingebettet und rostet gemütlich vor sich hin. Vor Jahren standen hier riesige Treibstofftanks, die mittlerweile aus dem Stadtgebiet verbannt wurden. Bis auf diesem Areal ein neues Quartier entstehen wird, wurde den Autonomen erlaubt, hier ihre Hütten zu bauen und ihren alternativen Lebensformen zu frönen. Gabriel gefällt es hier nicht. Obwohl er viele Ansichten mit diesen Leuten teilt, empfindet er das Hausen in Holzhütten und alten Zirkuswagen als zu bescheiden und für die Allgemeinheit für nicht realistisch. Das ist eine Kolonie von Exoten und Traumtänzer, witzig anzusehen, mehr nicht, aber für ein konspiratives Treffen bestens geeignet.

Er ist viel zu früh, so kann er sich in Ruhe umsehen, um vor Überraschungen gefeit zu sein. Es liegt eine schwüle Hitze über dem Areal, welches wie ausgestorben scheint. Die Ratten sind in ihren Löchern, mit großer Sicherheit werden sie erst am Abend erscheinen. Er schlendert rauchend durch das Hüttendorf, ohne jemandem zu begegnen, einzig ein Geplauder dringt aus so etwas wie einer Bar, welche aber noch geschlossen ist.

»Ich denke, die Luft ist rein«, ertönt es in seinem Rücken.

Gabriel dreht sich gemächlich um und bemerkt: »Das habe ich mir auch gedacht und trotzdem hast du mich überrascht.«