Schuld und andere Sünden - Daniel Krumm - E-Book

Schuld und andere Sünden E-Book

Daniel Krumm

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Beschreibung

Fünfzehn Jahre Einsamkeit. Vincents Busse für die Sünden seines gescheiterten Lebens. Aber er kehrt in seine Heimat zurück und findet seine Vergangenheit in Trümmern vor. Man heißt ihn nicht willkommen. Die Menschen seiner einst erfolgsverwöhnten Welt sind daran, sich gegenseitig zu zerfleischen. Seine alten Freundschaften bestehen nur noch aus Hass, Vergeltung und Tod. Er muss einsehen, dass er mit seiner damaligen Flucht in die wilden Berge der Cevennen den Zerfall ihres alten Lebens ausgelöst hat. Da trifft er Lucie und Betty, zwei starke Frauen, die sich lieben. Mit ihnen geht er eine ungewöhnliche Ménage-à-trois ein, während die früheren Zeiten auf unschöne Weise zu Grunde gehen.

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Seitenzahl: 393

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 1

Vor fünfzehn Jahren stieg ich hier aus dem Bus, jetzt bin ich zurück, um wieder einzusteigen.

Es ist ein glutheißer und trockener Sommer, trotz den frühen Morgenstunden stockt die Luft im Tal, sie flirrt über dem rissigen Asphalt der Straße, nur die Zikaden sind zu hören. Ich hätte bis zum Herbst warten sollen, eine angenehmere Zeit zum Reisen, aber es drängte mich, hier wegzukommen. Plötzlich war der Zeitpunkt reif, länger wollte ich die Abreise nicht mehr hinausschieben, fünfzehn Jahre sind genug. Es gibt Momente, die nicht aufgeschoben werden können. Wenn sie da sind, sind sie da. Keinen Tag länger will ich an diesem Ort bleiben, nur fort von hier, obwohl der Weg vom ersten Gedanken bis hin zur Entscheidung Monate, wenn nicht Jahre gedauert hat. Aber jetzt ist es soweit.

So sitze ich hier auf dieser verwitterten Bank, starre ein Loch in die Straße und warte auf den Bus, der gemäß Fahrplan in etwa einer halben Stunde kommen sollte. Weit und breit kein Mensch zu sehen, was in diesem Tal nicht überrascht. In der Gegend gibt es sie, die Einsamkeit, nur Schafe, Ziegen und Kühe leben hier in Herden und pflegen eine der wenigen hier ansässigen Formen von Gesellschaft. Die Region ist dünn besiedelt, nur eine Handvoll Bauern, Schäfer und seltsame Einsiedler verlieren sich in den wilden Landschaften der Cevennen. Keine richtigen Ortschaften und wenn, dann sind es Weiler oder kleine Dörfer ohne Restaurants, ohne Bars, ohne eine vernünftige Stätte der Geselligkeit. Aber es war seit jeher so. Zu garstig und bergig ist die Region, um für eine Besiedlung verlockend zu sein. Nur wer hier geboren wurde, schafft es, sich in diesen Bergen zurechtzufinden. Keine fruchtbaren Ebenen, keine gewinnbringenden Rohstoffe, keine touristischen Ziele, nur schmale und mit Serpentinen durchsetzte Straßen, nichts, was dem Wohlstand ein Fundament zu bieten hat.

In den fünfzehn Jahren hat sich nicht das Geringste verändert. Egal, worum es sich handelt, vielleicht wurde es repariert, aber sicher nicht erneuert. Niemand muss sich hier vor einem zügellosen Fortschritt fürchten, alle, denen Veränderungen suspekt sind, fühlen sich hier zu Hause. Eine vergessene Welt, was genau ihren Reiz ausmacht und der Grund ist, wieso ich hierher kam. Aber jetzt ist genug. Ich habe keine Lust mehr auf Abgeschiedenheit, Selbstgespräche und Verzicht. Hier ist das Leben eine permanente Meditation, und die Einheimischen reden nur leise miteinander, um niemanden beim Denken zu stören.

Auch jetzt ist das Tal still. Kein Motorenlärm, kein Geschrei, keine Musik, kein Geschwätz, nur ein sanftes Rauschen in den Blättern, die dauerpräsenten Zikaden und ein Vogel. Das Tal verabschiedet sich, wie es mich damals begrüßt hat. Lieblich, malerisch und verschlossen. Aber nach so langer Zeit ist man imprägniert, alte Sehnsüchte perlen ab, neue Begehren keimen auf. Ich bin hier nicht geboren, darum halte ich die Stille nicht mehr aus. Nur weg aus dieser bezaubernden Gegend.

Da rinnt doch wahrhaftig eine Träne über meine Wange. Verfluchtes Weichei! Wieso wirst du jetzt sentimental? Wie sieht das aus, wenn ich mit verheulten Augen in den Bus steige und den Fahrschein löse? Ach, leck mich, sollen sie doch denken, was sie wollen. Eine Pollenallergie löst Ähnliches aus. Ein kurzer Blick auf meine alte Taschenuhr sagt mir, dass in etwa zehn Minuten der Bus kommen wird, genug Zeit, um sich auszuweinen. Aber ich reibe die Augen trocken, schnäuze ins Taschentuch.

Ich hasse Abschiede, vor allem, wenn sie sich hinziehen wie jetzt. Wer einer der beiden einzigen Autobusse am Tag erwischen will, hat rechtzeitig an der Haltestelle zu sein, Pünktlichkeit ist hier Zufall. Zudem richte ich meine Uhr nach dem Läuten der Kirchenglocke, deren Genauigkeit einer göttlichen Fügung gleichkäme. Hier erscheint die Zeit relativ und ohne große Bedeutung. Mit diesem Zeitvakuum haben speziell jene, die durch eine leistungsorientierte Gesellschaft geprägt wurden, ihre liebe Mühe. Woran orientiert man sich, wenn es keine Minuten und kaum Stunden gibt? An ungefähren Angaben.

»Nach dem Melken komme ich vorbei.«

»Wir sehen uns am Sonntag zum Mittagessen.«

»Vor dem Gottesdienst treffen wir uns bei Georges auf ein Glas.«

Zeiteinheiten fehlen, man richtet sich nach den wenigen festverankerten Ereignissen, die den Tagen Struktur verleihen. Ein faszinierender Umstand, sofern man fähig ist, nach diesem Prinzip zu leben. Für mich war es einer der Gründe, hierherzukommen. Die Irrelevanz der Zeit, der Gegenentwurf zur durchgetakteten Effizienz einer hochprofitablen Wirtschaft.

Na ja, sag ich mir, lächle weise und erinnere mich an die Schattenseiten der zeitlichen Unschärfe. Ich möchte gar nicht wissen, wie viele Stunden ich mit Warten zugebracht habe. Wobei das im Grunde genommen keine Rolle spielt, Zeit hat man ja hier zur Genüge.

Der Bus ist zu hören, bevor ich ihn sehe. Es ist ein altes Vehikel, das sich mühselig durch die engen Kurven kämpft und eine schwarze Dieselwolke nach sich zieht. Er hält vor mir, mit einem lauten Zischen wird die Bremse arretiert, die vordere Türe öffnet sich. Mit dem Einsteigen lasse ich fünfzehn Jahre hinter mir. Dann bezahle ich beim Fahrer und setze mich in die hinterste Reihe, wo ich alleine bin. Die Tasche hat auf dem benachbarten Sitz Platz, ich reise mit leichtem Gepäck. Derselbe Seesack, der mich hierhin begleitet hat. Mehr nicht.

Der Bus fährt los, was die Frage aufwirft, ob meine Entscheidung die richtige war. Will ich allen Ernstes zurück in das alte Leben? Was erwartet mich dort? Fragen, die ich mir hundert Mal gestellt habe, die sich nur beantworten lassen, wenn man es tut. Der Blick schweift nach draußen, um die letzten Eindrücke aufzusaugen, dann entschwinden mit jeder Kurve das Tal und die Berge immer mehr aus meinem Sichtfeld. Scheiße!

Wir erreichen das erste größere Dorf, wo der wöchentliche Markt ein farbenfrohes und lebendiges Treiben veranstaltet. Viele steigen aus, wenige ein. Weiter folgt der Bus der schmalen Straße Richtung Le Vigan durch enge Täler, karge Höhen, zwängt sich durch unzählige Spitzkehren und an entgegenkommenden Autos vorbei. Eine Reise in Zeitlupe, während der man öfter zweifelt, jemals in der Zivilisation anzukommen. Endlich in Le Vigan, einem verschlafenen Kleinstädtchen, das auf mich bereits wie eine Großstadt wirkt. Lächerlich! Klar, mir ist durchaus bewusst, wie dieses Städtchen einzuordnen ist, kenne ich doch Paris, London, New York und Hongkong. Aber nach meinem langjährigen Rückzug in die Abgeschiedenheit der Cevennen wirkt der Kontakt mit einer größeren Ortschaft wie der erste Schluck Schnaps für einen trockenen Alkoholiker.

Bistros, Läden, Verkehr, Menschen, Lärm, Gerüche wirken direkt auf die Nervenenden. Es ist weniger Euphorie, mehr ein Genuss. Das hat mir gefehlt, nicht immer, aber in letzter Zeit immer öfter. Ich habe eine Dreiviertelstunde Zeit, bis der Bus nach Nîmes losfährt, also flaniere ich durch die Gassen und trinke in einem Straßencafé ein Glas Rosé. Dazusitzen und das Leben zu betrachten, ist wie Kino.

Beinahe komme ich zu spät zur Abfahrt. Im letzten Moment steige ich ein, dann geht es weiter. Schluss mit den engen Straßen, ab jetzt führt ein breites Asphaltband durch das mit sanften Hügeln durchzogene Languedoc hinunter zum Meer. Immer dichter wird die Zivilisation und der Wald weicht den kultivierten Flächen. Reben, Olivenbäume, Fruchtplantagen und Weiden bestimmen den Charakter der Landschaft. Nach zwei Stunden verdichtet sich die Besiedlung, Nîmes ist erreicht. Der Verkehr brummt wie ein Bienenstock, erstmals Lichtsignale, eine Ambulanz mit Blaulicht und Sirene, Menschen, Touristen, wohin man schaut. Nervöses Gewusel, obwohl ich mir bewusst bin, dass dies nur ein Vorgeschmack ist.

Am Bahnhof werde ich vom Bus ausgespuckt, wo ich mich zuerst über eine Verbindung mit Ziel Basel schlaumache. Ich habe kein Glück, erst morgen nach neun fährt ein TGV via Lyon in die Schweiz. Ich setze mich in die Bahnhofshalle und beobachte das Treiben, ich habe ja Zeit. Nach fünfzehn Jahren Eremitendasein ist das hier ein Ameisenhaufen in Aufruhr. Als säße ich mitten im Film, verfolge ich voller Faszination die Menschen und versuche ihre Geschichten zu erraten. Dabei meine ich, mich manchmal selbst zu erkennen, wie ich damals mit demselben hektischen Gang und diesem verbissenen Gesichtsausdruck versuchte, die Welt zu erobern. Ich lächle milde, fühle ich mich doch mittlerweile geläutert und bin der Überzeugung, während dieser Zeit in der Einöde neu geeicht worden zu sein. Hektik und Getriebensein existieren nicht mehr in meinem Wortschatz und Wesen. Ich habe bei mir die Reset-Taste gedrückt.

Vom Anblick der vielen Pendler schwindlig geworden, schlendere ich auf der Suche nach einem Hotel durch die Stadt. Urlaubsstimmung herrscht. Die Straßencafés sind voll mit bleichbeinigen Männern in kurzen Cargo-Hosen und Frauen mit sonnenbrandgeröteten Schultern und Dekolletés, die Touristen-Menüs mampfen und Bier in sich hineinschütten. Ich mag diese Horden nicht besonders, zumindest nicht, wenn sie überhandnehmen. Früher war ich ein Teil davon.

Kapitel 2

Kaum spürbar setzt sich der TGV in Fahrt, gleitet sanft aus dem Bahnhof. Weichen lassen den Zug leicht erschüttern, dann beschleunigt er. Häuser, Straßen, Industrie, danach lichtet sich Nîmes und verliert sich in grünen Flächen. Nur noch wenige Ortschaften, nachher verschärft der Zug das Tempo. Wie in einer gläsernen Röhre rasen wir durch die Landschaft, losgelöst von alten Vorstellungen einer Bahnfahrt. Die Geschwindigkeit ist lediglich ein sonores Vibrieren und eine verwischte Wahrnehmung der näheren Umgebung, ansonsten herrscht im Wagen eine entspannte Stimmung.

Gegenüber sitzt eine Frau, die versunken in ihren Laptop nichts um sich wahrzunehmen scheint. Es passt mir durchaus, keine Konversation machen zu müssen, ich lasse mich lieber von der vorbeifliegenden Welt hypnotisieren und einschläfern, denn die vergangene Nacht war kurz. Zu viel Wein und kein freies Hotelzimmer, also blieb mir nichts anderes übrig, als auf einer Parkbank zu schlafen. Ich bin ja einiges gewohnt, aber die Bretter waren hart und eine Nachtruhe wollte nie recht aufkommen. Selbst das beschauliche Nîmes schläft nie.

Nur möchte ich hier im Zug gar nicht einschlafen, zu reizvoll ist die Heimreise. Nach fünfzehn Jahren Schritttempo erscheint eine Reisegeschwindigkeit von 300 Stundenkilometern wie ein Flug zum Mond. Der Blick in die Landschaft ist wie ein flimmernder Fernseher, nur abwechslungsreicher. Wie die Landstriche, so saust die Zeit vorbei, eine Stunde und achtzehn Minuten später fahren wir in Lyon ein. Eine Großstadt, nicht zu vergleichen mit Paris, trotzdem fährt man kilometerweit durch Agglomerationen und Vororte, bis der Zug an einem der vielen Gleise hält. Ich steige aus und werde sogleich von den Massen absorbiert.

In der Bahnhofshalle erliege ich beinahe der Versuchung, die Stadt zu erkunden und hier einige Tage zu verbringen. Lyon, die Hauptstadt des Genießens, wäre doch ein angemessener Ort für den Wiedereintritt in die Gesellschaft. Ein wenig Urlaub, bevor mich mein altes Leben in Beschlag nehmen wird. Aber ich bevorzuge den Heimweg, was bedeutet, dass in zwanzig Minuten der Anschlusszug abfahren wird. Ich wühle mich durch ein Dickicht aus Reisenden, Pendlern und Pennern zum Zug, der soeben einfährt. Großes Gedränge, nachdem die Türen sich geöffnet haben. Alle wollen alles gleichzeitig. Ich stelle mich neben einen Getränkeautomaten und warte, bis ich in Ruhe einsteigen und meinen Platz suchen kann.

Der Zufall hat es eingefädelt, ich sitze wieder gegenüber derselben Frau wie im Zug von Nîmes nach Lyon. Diesmal gönnt sie mir ein blasses Lächeln, dann verschanzt sie sich wieder hinter ihrem Laptop. Soll mir recht sein, ich habe gelernt zu schweigen. Der TGV ruckelt aus dem Bahnhof, durchquert gemächlich die Vororte und steigert bald das Tempo bis zum Exzess. Ich fliege der Heimat entgegen.

Beim Bordservice bestelle ich ein Clubsandwich und eine kleine Flasche Rotwein, genieße alles, während ich die Gegend betrachte und die Gedanken schweifen lasse. Langsam übermannt mich die Müdigkeit, ich schließe die Augen und döse ein. Als ich sie nach einer Weile öffne, ruht der Blick der Frau auf mir. Wir beide lächeln verlegen.

»Fahren Sie nach Hause?«, fragt sie.

»Ja«, antworte ich. »Mal schauen, ob die Welt noch so ist, wie ich sie verlassen habe.«

»Waren Sie lange weg?«

»Fünfzehn Jahre.«

Ihr Blick zeigt Erstaunen.

»Oh, eine sehr lange Zeit.«

»Das wird sich zeigen. Und Sie? Auf Geschäftsreise?«

Sie zögert einen Moment.

»Nein, das sieht nur so aus. Ich reise wie Sie nach Hause und schreibe dabei an einem Manuskript für ein Buch. Wenn man von der Muse geküsst wird, dann gilt es, die Gelegenheit zu nutzen.«

»Darf ich fragen, was Sie schreiben?«

»Ach, nichts Besonderes. Ein Roman. Die Geschichte eines gescheiterten Helden.«

»Oh, ein spannender Gegensatz.«

»Ja, das denke ich auch. Unsere Welt bietet genügend Möglichkeiten, zu brillieren und gleichzeitig zu versagen.«

Ich schmunzle und nicke anerkennend.

»Wem sagen Sie das. Ihnen gegenüber sitzt der perfekte Beweis Ihrer These.«

»Jetzt wecken Sie aber meine Neugierde. Sie, ein Held?«

»Sie vergessen das Scheitern. Die Niederlage überwiegt das Heldentum und bleibt gnadenlos im Gedächtnis haften. Niemand spricht mehr vom Erfolg, wenn das Versagen folgt.«

Beschämt blickt sie zu Boden und zupft abwesend an ihrem Rock.

»Sollte ich in einer Wunde gestochert haben, dann bitte ich um Verzeihung.«

»Nein, das geht in Ordnung. Die Vergangenheit hat sich erledigt und ist nur mehr ein Teil meiner Erfahrungen.«

Nun schaut sie mich interessiert an, aber getraut sich nicht zu fragen, was wohl in meinem Leben alles schiefgelaufen ist.

Ich überlasse sie ihrer unbefriedigten Neugier und erkundige mich: »Was ist das Ziel Ihrer Reise?«

»Basel, da bleibe ich einige Tage, danach fahre ich weiter nach Frankfurt, wo ich lebe.«

»Sie sprechen ein schönes Französisch, kaum zu glauben, dass Sie aus Deutschland kommen. Wir könnten uns ja auf Deutsch unterhalten«, bemerke ich, während ich die Sprache wechsle.

Sie zeigt ein erfrischendes Lächeln und feine Fältchen bilden sich um die Augen.

»Sie stammen aus der deutschsprachigen Schweiz, nicht wahr?«

»Ja, mein Ziel ist auch Basel, die Stadt, die ich vor fünfzehn Jahren verließ.«

Sie legt den Kopf leicht schief und betrachtet mich noch eindringlicher. Es ist mir unangenehm, obwohl sie eine reizvolle Frau ist und die entgegengebrachte Gunst mir schmeicheln sollte. Aber genau dieser verführerischen Weiblichkeit gilt es, mit großer Vorsicht zu begegnen, möchte ich nicht schnell in gefährliche und lähmende Abhängigkeiten geraten und die Ziele aus den Augen verlieren. Unverbindlichkeit ist das Credo.

»Sie machen mich sehr neugierig«, sagt sie dann. »Ich sammle außergewöhnliche Geschichten, weshalb ich mir die Frage stelle, was sich ereignet hat, dass Sie eine derart lange Zeit von zu Hause weg waren. Flüchten nicht Verbrecher in die Fremdenlegion, bis Gras über ihre Sünden gewachsen ist?«

Ich lache laut auf, erfreut ob ihrer Fantasie, und sie grinst schelmisch.

»Knapp daneben. Aber etwas Wahres hat Ihr Verdacht. Es war Flucht und Busse zugleich, jedoch ohne ein Verbrechen begangen zu haben.«

»Sie reden geschickt um den heißen Brei herum. Ich kenne Sie leider nicht gut genug, um unverblümt nach Ihrer Geschichte fragen zu können. Aber vielleicht haben Sie Verständnis für mein professionelles Interesse. Schenken Sie mir doch ein Interview.«

»Sie überraschen mich. Ich kann mir nur schwer vorstellen, Ihrer Neugier gerecht zu werden. So unterhaltsam ist meine Geschichte auch nicht. Diese Jahre fern von der Heimat waren geprägt von Arbeit, Abgeschiedenheit und Stille. Ich wüsste nicht, was daran so aufregend sein soll.«

»Ich denke, das können Sie selbst nicht beurteilen. Sie sind voreingenommen. Ich behaupte, über die nötige Intuition zu verfügen.«

»Möglich. Trotzdem tue ich mich schwer, die Vergangenheit auszugraben, wo sie endlich begraben ist. Zudem kenne ich Sie gar nicht.«

Sie schaut zum Fenster hinaus, überlegt, schweigt. Habe ich etwas Falsches gesagt? Kaum wieder in der Gesellschaft und schon offenbart sich das Dilemma des korrekten Verhaltens. Wie simpel waren da die Erwartungen in dieser Hinsicht in der Abgeschiedenheit der Cevennen. Ich fühle mich leicht überfordert.

»Wieso sollten wir uns nicht besser kennenlernen?«, fragt sie und schwenkt ihren Blick zu mir.

»Eine rhetorische Frage.«

»Richtig. Also lade ich Sie zum Nachtessen ein, damit wir uns näherkommen und Sie Ihre Bedenken verlieren.«

»Sind Sie immer so forsch?«

»Überhaupt nicht. Nur scheint es mir in Ihrem Fall ein angemessenes Mittel zu sein.«

Kapitel 3

Der Zug schleicht von Frankreich her durch die Stadt zum Bahnhof, als benutze er verschämt den Hintereingang. Mit Herzklopfen stiere ich nach draußen, um zu ergründen, wie sich meine Heimatstadt verändert hat. Auf den ersten Blick scheint alles beim Alten, auf den zweiten fällt auf, dass die Silhouette mit Hochhäusern ergänzt wurde. Wie Kerzen auf einer Geburtstagstorte stehen da einzelne Monolithen herum. Eine Stadt versucht, den Anschluss an die Moderne nicht zu verpassen, vielleicht braucht man nur dringend Platz für zu viele Menschen. Kurze Eindrücke, dann fahren wir in den Bahnhof ein.

Ich warte, bis ich der Letzte bin, packe meinen Seesack und trete hinaus auf den Bahnsteig. Da steht sie mit zwei Koffern. Ab Dijon waren unsere reservierten Plätze in verschiedenen Waggons, sodass wir uns bei Ankunft auf dem Perron verabredeten. Mit gemischten Gefühlen habe ich ihrem Vorschlag zugestimmt. Aber es erwartet mich ja niemand, Zeit spielt also keine Rolle. Trotzdem hätte ich eine besinnliche und intime Rückkehr in die Heimat bevorzugt. Ich habe mir vorgenommen, langsam, Schritt für Schritt wieder in meine alte Welt einzutauchen. Und wenn davon nichts mehr vorhanden ist, dann ist es halt so. Niemand weiß, dass ich zurückkomme.

»Ein Kaffee, wie abgemacht?«

Ich nicke und bemerke: »Da gab es ein Café gleich über die Straße. Mal schauen, ob es noch existiert.«

Nein, diese Konditorei gibt es nicht mehr, eine Hamburgerbraterei hat dieses Lokal übernommen. Etwas ratlos stehen wir herum, entscheiden uns dann für den Weg Richtung Innenstadt, wo sich mit größerer Wahrscheinlichkeit ein ruhiges Café finden lässt. Im Park jenseits des Bahnhofplatzes werden wir fündig. Unter einem Sonnenschirm stehen zwei bequeme Stühle, in die wir uns setzen und Kaffee bestellen. Wir lassen unserer neugierigen Blicke schweifen.

»Und, wie ist Ihr erster Eindruck?«

Durch das Blattwerk der Bäume ist ein Hochhaus im Bau zu erkennen. Da stand doch mal ein hässlicher Klotz von einem Hotel.

»Nicht alles neu, aber vieles anders, dabei bin ich nur einige hundert Meter gelaufen.«

Sie betrachtet mich konzentriert, um in meinem Gesicht ja keine Regung zu verpassen. Für sie bin ich offensichtlich ein aufschlussreiches Studienobjekt. Das irritiert.

»Wenn ich Sie vorhin im Zug richtig verstanden habe, dann waren die letzten fünfzehn Jahre geprägt von Stagnation. Nichts veränderte sich, alles hatte eine konstante Verlässlichkeit.«

»Nein, nicht unbedingt. Jeder Tag brachte neue Herausforderungen, Genüsse und Erlebnisse. Aber mir ist klar, was Sie meinen. Das Leben da in den Bergen hat keine dynamische Entwicklung. Es ist einfach nur Leben.«

»Ein Dasein ohne Stress?«

»Ich bitte Sie, nehmen Sie diesen Begriff nicht in den Mund, auf jeden Fall nicht in meiner Anwesenheit.«

»Entschuldigen Sie, das war keine Absicht.«

Ich lächle sie bedauernd an.

»Bitte, entschuldigen Sie sich nicht. Wie sollten Sie wissen, dass ich auf gewisse Ausdrücke allergisch reagiere. Eine Marotte von mir, bestimmte negativ befrachtete Begriffe aus meinem Wortschatz zu tilgen.«

Jetzt lächelt sie und schmeichelt: »Sie sind ein Mensch mit erstaunlichen Facetten und voller Geheimnisse.«

»Das trügt.«

Der Kaffee wird serviert, weshalb eine Pause entsteht, die mir gelegen kommt. Ich frage mich, wieso ich diesem Geplauder zugestimmt habe. Weil ich nicht Nein sagen kann? Weil sie hübsch ist? Keine Ahnung. Irgendwie passt sie nicht in das Bild meiner Rückkehr. Vielleicht in zwei oder drei Tagen wäre ich bereit für eine Unterhaltung mit ihr. Jetzt wünsche ich mir nur ein beschauliches Wahrnehmen aller Eindrücke.

»Erwartet Sie jemand?«, fragt sie.

Diese Frage habe ich befürchtet.

»Nein.«

Sie scheint überrascht zu sein.

»Und wissen Sie was?«, fahre ich fort. »Das ist gut so.«

Da sehe ich, wie es bei ihr dämmert. Sie kaschiert ihre Enttäuschung mit einem verständnisvollen Blick und einem blassen Lächeln.

»Ich verstehe, Sie wünschen keine Gesellschaft, Sie wollen sich ganz behutsam wieder in ihr altes Leben hineintasten. Dazu brauchen Sie keine wissbegierige Begleiterin.«

Vorsicht, denke ich, jetzt ja keine Fehler machen und tunlichst galant bleiben.

»Ich hatte eine sehr lange Zeit kaum Gesellschaft, weshalb ich mich auf Menschen freue. Das ist einer der Gründe meiner Rückkehr. Und Sie sind der erste Höhepunkt auf dem Weg zurück. Aber ich benötige zwei Tage ganz alleine für mich, um anzukommen und den Anker zu werfen. Mehr nicht.«

Sie starrt mich an, nickt sachte und sagt: »Das verstehe ich.«

Sie rührt Zucker in ihren Kaffee, ähnlich den Gedanken, die wild durch ihren Kopf wirbeln, dann nimmt sie einen Schluck.

»Einen Vorschlag! Ich gebe Ihnen meine Visitenkarte und Sie rufen an, wenn Sie der Überzeugung sind, dass Sie mich sehen und mit mir reden möchten. Ich bleibe fünf Tage in der Stadt und es würde mich außerordentlich freuen, einige gemeinsame Stunden mit Ihnen verbringen zu dürfen.«

»Ganz meinerseits.«

Sie kramt eine Karte aus ihrer Tasche, legt sie auf den Tisch und schiebt sie mit dem Zeigefinger in meine Richtung. Ich kratze sie von der Tischplatte und lese den Aufdruck auf der Vorderseite.

Lucie Wagner

Autorin & Ghostwriting

Auf der Rückseite sind die Kontaktdaten aufgelistet. Alles Weiß auf Schwarz, ohne Firlefanz.

»Ich habe weder eine Visitenkarte noch ein Telefon. Trotzdem werde ich anrufen, vertrauen Sie mir.«

»Das würde mich freuen.«

Diese Förmlichkeit mag ich nicht.

»Darf ich dir das Du anbieten und dich Lucie nennen? Mein Name ist Vincent Roth.«

Ihr Gesicht, grüblerisch mit einer leichten Ernsthaftigkeit, hellt sich auf.

»Oh, noch so gerne. Lass uns darauf anstoßen, wenn wir uns treffen werden. Ich rechne fest mit dir.«

Ich betrachte Lucie, wie sie ihren Kaffee hinunterstürzt, dann sage ich: »Zähle auf mich. Und vielen Dank, ich weiß das zu schätzen.«

Sie ergreift ihr Gepäck und schaut zu mir.

»Bis bald Vincent. Ich wünsche dir unterdessen eine glückliche Heimkehr. Salut.«

Ich meine, aus ihren Worten einen skeptischen Unterton herauszuhören, als befürchte sie, mich zum letzten Mal gesehen zu haben.

»Merci Lucie. Ich freue mich auf unser Wiedersehen. Salut.«

Da geht sie hin und schaut nicht mehr zurück, während mein Blick ihr folgt, wie sie mit zügigen Schritten Richtung Innenstadt läuft, bis sie vom Pulk der Passanten verschluckt wird. Mein Gewissen fühlt sich nicht besonders gut, ich befürchte, sie brüskiert zu haben. Aber ich nehme mir vor, sie nicht zu enttäuschen.

Genüsslich schlürfe ich den Kaffee, bestelle später ein Glas Wein und lasse eine Stunde lang das Treiben auf mich wirken. Unweigerlich vergleiche ich das hiesige Leben mit der Einsamkeit der Cevennen, was unsinnig ist. Zwei Welten, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Und ich frage mich, was sich in all den Jahren verändert hat. Ich verdränge die Frage und nachdem ich bezahlt habe, mache ich mich auf, ein Hotel zu suchen.

Ich habe keine Ahnung, wohin ich mich wenden soll, schließlich übernachtete ich noch nie in einem Hotel der eigenen Stadt. So schlendere ich durch die Innenstadt und staune über die vielen neuen Geschäfte, die sich niedergelassen haben. Kaum mehr ein Laden, den ich kenne. Es ist augenfällig, wie die Internationalität die Lokalität abgelöst hat. Der Schreibwarenladen ist weg, das Haushaltswarengeschäft fehlt, die Hauptpost ist nur noch eine Filiale, Spielwaren gibt es keine mehr, der Buchladen ist nur mehr ein Schatten seiner selbst. Na ja, war absehbar. Als ich das Weite suchte, war die Globalisierung auf dem Weg, zur Hochform aufzulaufen.

Bei der Mittleren Brücke erreiche ich den Rhein. Er ist der Alte geblieben. Weiterhin schiebt er sich mit seiner trägen Urgewalt durch die Stadt und orientiert sich in einem langgezogenen Bogen nach Norden. Auf der Brücke stelle ich meinen Seesack auf den Boden und lehne mich an die steinerne Balustrade. Ein voll beladenes Tankschiff kämpft gegen die Strömung und zwängt sich unter dem engen Bogen der mittelalterlichen Brücke durch. Ein beruhigender Anblick, der genauso in der Erinnerung gespeichert ist. Soweit meine Erinnerung reicht, bewundere ich das Können dieser Kapitäne und Lotsen beim Passieren dieses Nadelöhrs.

Mein Blick wird von einem weißen Wolkenkratzer angezogen. Ein Pharmakonzern wächst in den Himmel. Eine Veränderung, die ins Auge fällt, und an die man sich gewöhnen muss. Ansonsten bietet mir das Rheinufer der Altstadt den Anblick, den ich seit meiner Kindheit kenne. Man hat Sorge getragen zur Vergangenheit der Stadt, was mich mit einer großen Zufriedenheit erfüllt. Da sticht mir auf Kleinbaslerseite das Hotel Krafft ins Auge, auch dies ein Relikt aus alten Zeiten. Ich entscheide mich, dort nachzufragen, ob es ein freies Zimmer hat.

Mit wohltuender Liebenswürdigkeit heißt man mich willkommen und gibt mir ein Zimmer mit Aussicht auf den Rhein, dies sogar zu einem vergünstigten Preis, da ich gleich für zwei Wochen buche. Das Zimmer ist luxuriös, zumindest für den Maßstab der letzten fünfzehn Jahre. Ein unfairer Vergleich. Meine Behausung hatte auch keine Luxusansprüche zu erfüllen. Ich betrachte mich im großen Spiegel der Garderobe und wundere mich, dass man an der Rezeption so freundlich zu mir war. Ich gleiche mehr einem Schäfer aus den Cevennen als einem gängigen Gast in diesem Haus. Nein, ich stinke nicht, trage keine schmutzigen Kleider, mein Haar ist lang, aber gepflegt, und trotzdem verströme ich die Aura eines Hinterwäldlers. Erst jetzt, im Zusammenhang mit diesem vornehmen Umfeld, realisiere ich, wie rustikal meine Erscheinung wirkt. Verwaschene Jeans, T-Shirt, feste Schuhe und ein ramponierter Seesack. Alles, was ich dabeihabe. Leichtes Gepäck.

Schnell sind meine Sachen in den Kasten geräumt, die einzig wertvolle Habe schließe ich in den Tresor. Gutes, solides Bargeld, keine Kreditkarten. Ich war fernab sämtlicher Banken gezwungen, einen Teil des Vermögens unter einer Bodendiele zu horten. Ich sah darin kein Sicherheitsrisiko, vermutete kaum jemand Geld in dieser bescheidenen Hütte. Einen kleinen Bund Scheine stecke ich in die Hosentasche, den werde ich später in Schweizer Franken wechseln.

Ich trete hinaus auf den Balkon, betrachte das Panorama aus einem neuen Blickwinkel, erfreue mich daran und fühle mich wie ein Tourist in der eigenen Stadt. Unten brummt das Leben auf der Promenade, wie Ameisen tummeln sich die Menschen am Rheinufer. Ich bekomme Lust, im Strassenbistro einen Aperitif zu trinken, um mich dem Treiben hinzugeben. Wie ein trockener Schwamm werde ich die Bilder aufsaugen.

Unten nehme ich Platz an einem kleinen Tisch und bestelle ein Glas Pinot gris aus dem Elsass. Dann stecke ich mir die erste Zigarette seit meiner Abreise an. Ein Ritual für besondere Momente, positive wie negative. Wie dieser einzuordnen ist, wird sich bald einmal zeigen. In seine Heimat zurückzukehren, fühlt sich gut an, wieder die Stätte seines Scheiterns zu betreten, hat jedoch einen schalen Nachgeschmack. Ein zarter Schatten liegt weiterhin über den Erinnerungen. Tief ziehe ich den Rauch in die Lunge und staune über meine sentimentale Anwandlung, wo ich doch überzeugt war, nach so langer Zeit den nötigen Abstand gewonnen zu haben. Ich kämpfe sogar gegen einen Kloß im Hals und versuche, eine Träne zum Versiegen zu bringen. Scheiße, was soll das? Hoffentlich bemerkt niemand mein Dilemma, es wäre mir peinlich. Gierig ziehe ich an der Zigarette, sodass sie nach wenigen Zügen weggeraucht ist.

Ich bin überwältigt. Was sonst? Unendlich viele Male habe ich mir vorgestellt, wie es sich anfühlen wird, in die Heimat zurückzukehren. Da war die große Sehnsucht, die alles überstrahlte, in deren Schatten es einige Zweifel gab, die es aber nie schafften, zu überwiegen. Jetzt bin ich hier und es übersteigt meine kühnsten Erwartungen. Zumindest im Moment, denn ich bin ja nicht so naiv, der Überzeugung zu sein, dass jetzt die Welt perfekt ist.

Ich bestelle ein weiteres Glas Wein und stecke mir die nächste Zigarette an. Irgendwie ist heute alles egal. Ausnahmezustand, keine Lust auf Selbstdisziplin. Durchaus möglich, dass ich mir heute Abend die Kante gebe. Die Vernunft kann noch ein paar Tage warten, letztlich handelt es sich hier um eine Wiedersehensfeier mit der Heimatstadt und nicht um eine weitere Entgleisung eines Hedonisten und Quartalsäufers. Fünfzehn Jahre Zurückhaltung in vielen Belangen schreien nach Kompensation, wobei es eine irrsinnige Herausforderung wäre, dem gerecht zu werden. Ja, zugegeben, während der letzten zwei Jahre hatte ich öfters ins Glas geschaut als die vorhergehende Zeit. Die Unzufriedenheit nagte schwer, immer mehr drängte es mich weg, zurück in meine Heimat. Da kam es schon mal vor, dass ich berauscht ins Bett ging und am Morgen danach verschlief und Erinnerungslücken aufzuweisen hatte. Meine Schafe und Ziegen hatten dafür wenig Verständnis. Diese Viecher standen vor der Hütte und blökten wie blöd, bis ich mich endlich blicken ließ und jene melkte, die volle Euter hatten.

Was für ein erlösendes Gefühl, hier am Rhein zu sitzen, zu trinken, zu rauchen und sich zu nichts verpflichtet zu fühlen. Ich lasse den Blick schweifen, nehme gierig alle Eindrücke auf, die immer intensiver werden, je mehr Leute an meinem Tisch vorbeiflanieren. Ich vermute, es ist Feierabendzeit. Zeit für einen Aperitif, also bestelle ich nochmals ein Glas. Der Wein schmeckt mir. Ich trinke und rauche, bis irgendwann einmal der Hunger sich meldet. Möglicherweise ist es auch die Vernunft, die meint, Junge, iss was, sonst bist du bald voll. Ich ordere den Kalbsrücken mit Pasta, dazu einen Rotwein aus dem Languedoc, alles zu einem horrenden Preis. Dafür hätte ich ein ganzes Schaf kaufen können. Scheißegal! Heute ist ein Feiertag.

Kapitel 4

Oh, wieso habe ich nur vergessen, die Gardinen zu schließen? Gleißende Sonnenstrahlen blenden mich trotz geschlossenen Augen, zudem habe ich einen schmerzenden Inhalt im Schädel und einen seltsamen Belag auf der Zunge. Wenigstens blöken keine Viecher vor der Tür. Stöhnend wälze ich mich im Bett in eine Position, bei der mich die Sonne nicht mehr belästigt. Aber an Schlaf ist nicht zu denken. So döse ich noch etwas und quäle mich dann aus den Laken, um mir mit einer kalten Dusche neues Leben einzuhauchen. Mit Erfolg. Vermutlich half die jahrelange Askese dabei.

Trotz flauem Magen treibt es mich an das Frühstücksbuffet. Eine Frage der Gewohnheit, der ich wenig entgegenzusetzen habe. Ich bin offenbar der erste Gast, unberührt liegen die Delikatessen zum Genuss bereit, die Bedienung lächelt müde. Ich hau rein, als hätte ich tagelang nichts gegessen. Man serviert mir sogar warme Speisen und Kaffee ohne Ende. Ein Schlaraffenland.

Mit frischer Energie ausgestattet, danke ich dem Personal und stelle mich draußen an das Rheinufer, um eine Zigarette zu rauchen. Ein erhabener Anblick, wie der Tag in Schwung kommt. Ein gewöhnlicher Wochentag erwacht, wirft die Maschinen an und ich schaue dabei zu. Ich kann mich nicht erinnern, dies je einmal getan zu haben. Ich war damals ein Teil dieser Maschinerie. Zu beschäftigt für die Muße. Leider war ich ein fehlerhaftes Verschleißteil im Räderwerk, welches irgendwann mal ausgebaut wurde, weil man meine Zuverlässigkeit infrage stellte. Nur kurz flackert ein alter Schmerz auf, dann überwiegt wieder die Schönheit des Morgens am Rhein.

Nach einer Weile breche ich auf. Es drängt mich, durch die Straßen und Gassen zu streunen, um Neues zu entdecken und Altes zu begrüßen. Ich bin neugierig auf den Wandel. Droben in den Bergen hat sich im Gegensatz zur Stadt nahezu nichts verändert, auch in fünfzehn Jahren nicht. Verständlich. Was keinen wirtschaftlichen Interessen dient, erfährt kaum eine Entwicklung. Diese Hochhäuser würden nicht gebaut, gäbe es nicht einen Bedarf, den es zu decken gilt, der wiederum auf eine florierende Wirtschaft zurückzuführen ist. Was prosperiert schon auf den Höhen eines verwilderten Massivs? Außer Fauna und Flora kämpft nur eine bescheidene Bergwirtschaft mit ihren urigen Produkten ums Überleben. Von Wachstum kann da keine Rede sein, im Gegenteil, die Gegenden entvölkern sich.

Diese Gedanken verblassen schnell angesichts meiner Heimatstadt. Wie in einem Traum wandle ich durch die Vergangenheit. Erstaunlich, was alles noch so ist, wie ich es verlassen habe. Die Altstadt mit ihrer verschachtelten Kleinräumigkeit ist mir so vertraut wie damals, nur nehme ich sie jetzt viel intensiver wahr. Meine Stadtwanderung führt mich von innen nach außen und je mehr ich den Kern verlasse, desto offensichtlicher zeigt sich die Modernisierung. Wie eine Schlange häutet sich hier die Stadt. Kubische Klötze mit gläsernen Hüllen nehmen überhand, verdrängen Bauten, die mir nicht fehlen werden, da sie meist hässlich und vrbraucht in Erinnerung sind.

Bis in den späten Nachmittag hinein schreite ich durch Straßen und Gassen, überquere Plätze, besuche Pärke, bestaune Hochhäuser und die neuen Tramzüge, staune über die unendlich vielen Baustellen. Erschöpft erreiche ich das Hotel, wo ich mir zuerst ein Bier genehmige. Die Eindrücke wirbeln durch meinen Kopf, unsortiert und ungefiltert, stark und überwältigend. Eine akute Überreizung entzündeter Synapsen. Ich sitze draußen im Straßenbistro, habe kein Bedürfnis mehr, alles zu sehen und aufzunehmen, denn ich bin randvoll mit Bildern. Ich starre vor mich hin, entrückt und mit der Frage beschäftigt, ob meine Erwartungen erfüllt wurden. Ja und nein. Mit Entwicklung und Fortschritt war zu rechnen, aber irgendwie hat sich das Lebensgefühl verändert. Schwer zu beschreiben, was nicht mehr so ist, wie es war, zudem bin ich mir nicht sicher, wie weit sich in den Jahren der persönliche Maßstab gewandelt hat. Möglicherweise wurde mein Blick durch das jahrelange Leben in der Abgeschiedenheit getrübt.

Die Lebensart hier wirkt nicht mehr vertraut. Der Rhythmus scheint intensiver, hektischer, und die Menschenmassen wie auch der Verkehr haben sich verdichtet. Von Beschaulichkeit keine Spur, die Gesellschaft wirkt komprimiert und läuft hochtourig wie ein Rennmotor, dem das Letzte an Leistung herausgekitzelt wurde.

Ich seufze und stufe meine Überlegungen als fragwürdig und voreilig ein. Einen Tag in der Stadt und ich meine zu spüren, wie sie sich entwickelt hat. Ich fühle kurz am Puls und sofort weiß ich, wie es um das Lebensgefühl in den Straßen steht. Was hatte ich mir erhofft? Dass man tanzt, singt und sich öffentlich liebt?

Verdammt, die Existenz ist kaum einfacher geworden, war es schon nicht, als ich mich aus dem Staub machte. Für diese Einsicht gönne ich mir ein zweites Bier und eine weitere Zigarette. Aber ich nehme mir sogar vor, nicht wieder zu übertreiben wie gestern Abend.

So ziehe ich bald los, überquere den Rhein mit einem Außenquartier zum Ziel. Ich laufe eine Dreiviertelstunde, dann erreiche ich das Bruderholz, auf einer Anhöhe mit prächtiger Aussicht auf die dicht besiedelte Rheinebene gelegen. Ein exklusiver Stadtteil mit noblen Villen, aber auch mit biederen Einfamilienhäusern. Friedlich und grün, das Brummen der Stadt ist kaum wahrzunehmen. Je näher ich komme, desto langsamer werden meine Schritte, vor der Mauerecke bleibe ich stehen und schiele darum herum. Das Haus steht da, wie ich es verlassen habe. Wie geleckt und perfekt unterhalten. Der Garten gepflegt, die Hecke akkurat gestutzt, die Fensterläden frisch gestrichen, der Vorplatz ohne Unkraut und sauber gekehrt, zwei neue Mercedes vor der Doppelgarage. Aus dem Garten ist lautes Gelächter und Planschen zu vernehmen. Hoppla, ein Swimmingpool, der ist neu. Eine Party? Frauengekreische, Männergegröle, beste Stimmung. Ein eifersüchtiges Ziehen macht sich in der Herzgegend bemerkbar.

Was habe ich denn erwartet? Dass seit meiner Abreise Trauer herrscht? Die kommen bestens ohne mich zurecht, wenn nicht sogar besser. Zum Schluss war ich ja nur noch ein Arschloch.

Ich will mich bereits abwenden und zurück in die Stadt laufen, da öffnet sich die Haustür und heraus tritt sie mit einem jüngeren Mann, den ich nicht kenne. Sie lachen und turteln wie Jungverliebte, er tätschelt sogar ihren Hintern, dann küssen sie sich innig zum Abschied. Er steigt in einen der Mercedes und sie winkt ihm zu, während er davonfährt. Sie schaut ihm nach, was mir die Zeit schenkt, sie eingehend zu betrachten. Sie hat sich kaum verändert. Sie ist immer noch schön, hat immer noch dieselbe schlanke Figur mit ihrem grazilen Gang, das lange, wallende Haar und ihre stets aufreizende Art sich zu kleiden. Wie tief sich die Jahre in ihr Gesicht gegraben haben, ist aus der Entfernung nicht einzuschätzen, aber sie schafft es zumindest, sich einen jüngeren Freund oder Lover zu halten.

Dann kehrt sie zurück ins Haus, schaut sich dabei kurz um und entdeckt mich. Mein Rückzug kommt eine halbe Sekunde zu spät, ich hoffe aber, nicht erkannt worden zu sein. Das Herz schlägt mir bis zum Hals. Nach kurzem Zögern mache ich mich auf und davon. Eiligen Schrittes hetze ich die Straße entlang, um möglichst schnell aus der Gegend zu verschwinden. Für ein Wiedersehen ist es zu früh, zudem entspricht diese Weise der Annäherung nicht meiner Vorstellung.

Für den Rückweg nehme ich die Straßenbahn, denn sie steht da an der Haltestelle rum und ich fühle mich plötzlich müde. Die ganze Fahrt über geht mir Alice nicht aus dem Kopf. Eigentlich wollte ich nur schauen, ob sie immer noch in unserem Haus wohnt und wie es jetzt da oben aussieht. Quasi rumschnüffeln und die Fährte aufnehmen. Dass ich sie so schnell zu Gesicht bekomme, damit hatte ich nicht gerechnet und es hat mich, ehrlich gesagt, etwas aus dem Lot gebracht.

Seit mindestens vierzehn Jahren haben wir voneinander nichts mehr gehört oder gelesen. Zu Beginn gab es manchmal Briefe, ganz selten Telefonanrufe, nach einer Weile begann dann die Funkstille. Wir waren uns beide bewusst, wie hoffnungslos unsere Beziehung war, darum ließen wir los.

Aber jetzt bin ich wieder zurück. Ohne Anspruch, dafür mit einem sentimentalen Bedürfnis. Sie wird mich nur kurz einmal sehen, wir werden einige Sätze austauschen, danach lasse ich sie in Frieden. Mehr nicht. Es gibt keine Verpflichtungen, keine Kinder, keine Gemeinsamkeiten, wenige bemerkenswerte Erinnerungen, und wenn, dann überwiegen jene an ein hartes Ende, die die schönen verdrängen.

Beinahe vergesse ich auszusteigen. Im letzten Moment springe ich an der Heuwaage aus dem Tram. Einen exquisiten Italiener gibt es da, aber ich stelle fest, dass das Restaurant nicht mehr existiert. Also schlendere ich spontan durch die Steinenvorstadt bis zum Pub. Die Vergangenheit wird wach. Was haben wir hier drin gebechert und Fußball geschaut. Ich schmunzle. Aber ich bin hungrig und anständig essen kann man hier nicht, darum bummle ich weiter. Je länger ich laufe, desto mehr fällt mir auf, wie die Gastronomie sich verändert hat. Nur wenige Restaurants und Bars sind noch dieselben, die sie mal waren. Selbst die altehrwürdige Hasenburg wurde aufgehübscht und vermag der Vergangenheit kaum gerecht zu werden, als sich an den rohen Holztischen sämtliche Gesellschaftsschichten und Gesinnungen trafen. Jetzt ist die Stimmung etwa so steif wie die weißen Tischtücher.

Egal, ich setze mich draußen an einen Tisch und bestelle mir eine Rösti mit Rindsleber und ein Glas Riesling dazu. In dieser Gasse pulsiert das Leben längst nicht so wie drüben am Rheinbord vor dem Hotel. Passt besser zu meiner rührseligen Stimmung. Nahm ich mir doch vor, ja keine alten Gefühle hochkommen zu lassen, und nun das. Ich ärgere mich, der Ungeduld und dem inneren Verlangen nachgegeben zu haben. Wie oft stellte ich mir vor, wie es sich anfühle, zurückzukehren, ganz behutsam in das neue Leben einzutauchen, um das alte vergessen zu machen.

Gras ist über mein Scheitern gewachsen, mein Name löst keine Reaktionen mehr aus, mein Gesicht wird nicht mehr erkannt. Nur Einzelne werden bei meinem Anblick einen roten Kopf bekommen und möglicherweise sind für jene, die mir nahestanden, fünfzehn Jahre zu wenig. Das Trümmerfeld, das ich hinterließ, war nicht so einfach aufzuräumen.

Ich seufze, wische die dämpfenden Erinnerungen zur Seite und ergebe mich dem Genuss des Essens und Trinkens. Es schmeckt vorzüglich und mein innerer Frieden kehrt wieder ein.

Kapitel 5

Es war eine erholsame Nacht mit gezogenen Gardinen und ohne schmerzhaftes Erwachen am Morgen. Ich fühle mich erholt, nicht nur körperlich, auch die schwermütigen Gedanken von gestern haben an Gewicht verloren und lasten nicht mehr auf meiner Stimmung. Ich federe aus dem Bett.

Nach dem Frühstück breche ich auf mit dem Ziel, der Vergangenheit eine Zukunft zu geben. Der Weg führt mich dem Rhein entlang bis in die Nähe des Hafens, wo sich in einem alten Gewerbegebäude Marcs Büro befindet. Hier hat sich auf den ersten Blick nichts verändert, bei genauem Hinsehen stellt man jedoch fest, dass alteingesessene Firmen von neuen abgelöst wurden. Die Gentrifizierung hat auch vor diesem schäbigen Teil der Stadt nicht Halt gemacht. Auf der Tafel am Eingang sind Architekturbüros, Programmentwickler und Grafiker aufgelistet, glücklicherweise existiert Marc mit seinem Treuhandbüro noch. Ich steige die Treppe hoch in das zweite Stockwerk, wo hinter der milchigen Glastür mit der Firmenaufschrift eine schemenhafte Person zu gestikulieren scheint. Missgelaunte Töne sind zu vernehmen und ich meine, Marcs Stimme zu erkennen. Ungeeigneter Augenblick für ein Wiedersehen. Ich zögere, bleibe stehen, versuche, Worte zu verstehen, nicht um zu lauschen, nur um abzuschätzen, wie ungünstig mein Besuch sein könnte. Ich höre etwas von »verdammte Scheiße« und »leck mich am Arsch!«, es herrscht definitiv keine gute Laune. Ich wanke mit meiner Entscheidung, letztlich überwiegt der Wunsch nach einem freudigen Wiedersehen, also wende ich mich ab, um den Rückweg anzutreten. In diesem Moment wird die Tür aufgerissen, ich erschrecke, fahre herum und wir starren uns an. Beide sind wir überrascht, er von meiner Anwesenheit, ich über sein Aussehen.

Er ist alt geworden. Sein Gesicht ist aschgrau wie sein schütteres Haar, Falten runzeln seine Haut, die Tränensäcke hängen tief, er sieht hundsmiserabel aus. Seinen Augen, die mich entgeistert anstieren, fehlt jeglicher Glanz, sein Mund verzieht sich zögerlich zu einem schmalen Lächeln.

»Ach, Vincent!«, entfährt es ihm. »Das darf doch nicht wahr sein. Was machst denn du hier?«

»Ich bin wieder zurück.«

Er ist sprachlos und mir fehlen die passenden Worte. Alle Erklärungen, die ich mir zurechtgelegt habe, sind aus meinem Gedächtnis verschwunden. Einfach weg. Eine Pause entsteht, während der wir uns mustern.

»Verdammt, mit dir habe ich zuletzt gerechnet«, meint er dann. »Du warst wie vom Erdboden verschluckt, selbst Alice hatte nur eine vage Ahnung, wo du dich aufhältst und was du tust.«

»Das war der Sinn der Sache. Nach all dem Mist, den ich veranstaltet habe, brauchte es einen Neuanfang, einen Reset.«

Er nickt nur leicht, als wolle er sich meinen Worten anschließen.

»Dann hast du Pläne?«

»Zu behaupten, klare Pläne zu haben, wäre vermessen. Mich treiben mehr Ideen, Bedürfnisse und Wünsche. Dich wieder einmal zu sehen, war ein großes Bedürfnis.«

»Oh, welche Ehre, dass du nach so vielen Jahren noch an mich denkst und mich zu sehen wünschst.«

Es klingt leicht zynisch.

»Alte Zeiten, die man nicht vergessen kann.«

»Sentimentales Arschloch. Haut einfach ab und kommt zurück, als wäre nichts gewesen.«

Ich grinse. Wie habe ich doch seine ungeschminkte Ausdrucksweise vermisst. Mit Marc saß ich während der gesamten Grundschule in der letzten Reihe des Klassenzimmers am gleichen Pult und mit ihm verbrachte ich die meiste Zeit meiner Jugend. Selbst Mädchen schafften es nicht, unsere Bande zu sprengen. Später trennten sich unsere Wege, trotzdem bildeten wir mit zwei anderen Jungs, Leo und Franco, eine verschworene Gemeinschaft.

»Einverstanden, das war nicht die feine Art, aber aus meiner Sicht der einzige Weg, wieder Fuß zu fassen.«

»Und? Hast du es geschafft?«

»Ich denke schon. Die Frage ist nur, wie dies von meiner Vergangenheit aufgefasst wird.«

»Zuerst gilt es diese Überraschung zu verarbeiten.«

»Ich möchte dich zu einem Nachtessen einladen, damit wir uns in Ruhe austauschen können.«

Er verzieht sein Gesicht zu einer missmutigen Fratze.

»Das ist im Moment ungünstig. Ich habe gehörig Ärger am Hals, geschäftlich wie auch privat, und werde während der kommenden Tage davon absorbiert sein. Vielleicht nächste Woche.«

Verlegen schaut er auf seine Schuhspitzen.

»Das tut mir leid. Selbstverständlich hat das Vorrang. So schnell gehe ich nicht weg.«

»Wie bist du zu erreichen?«

»Ich habe kein Handy. Aber ich wohne im Hotel Krafft, da kannst du an der Rezeption eine Nachricht hinterlassen und ich melde mich umgehend bei dir.«

Er nickt. Sein Antlitz hat einen harten Ausdruck erhalten. Offenbar verbirgt sich hinter dem Ärger weit mehr als nur eine Banalität. Aber ich frage nicht nach den Gründen, der Augenblick lässt es nicht zu.

Wir umarmen und verabschieden uns wortlos, dann mache ich mich davon. Draußen halte ich inne, leicht ratlos, was ich mit dem angebrochenen Tag unternehmen soll. Insgeheim habe ich mir vorgestellt, wie wir unser Wiedersehen feiern. Ungelegen zu sein, entspricht nicht dem Plan. Ich ärgere mich über falsche Erwartungen und der Meinung, dass man bei meiner Ankunft alles fallen lässt und mich mit offenen Armen empfängt. Marcs Probleme wiegen schwerer als mein unvermitteltes Auftauchen aus dem Nichts. Überraschungen im falschen Moment sind nervend, das weiß sogar ich.

Ich schlendere grübelnd dem Rhein entlang zurück Richtung Innenstadt. Mein Weg führt mich nicht ganz zufällig an dem Schulhaus vorbei, wo Leo unterrichtete, als ich von der Bildfläche verschwand. Nach einem kurzen Zögern trete ich ein. Das altehrwürdige Gebäude strahlt Ruhe aus. Die Türen zu den Unterrichtsräumen sind geschlossen, man spürt förmlich das Lernen dahinter, nur ab und zu sind leise Stimmen zu vernehmen. Das Sekretariat befindet sich am Ende des Korridors, ich klopfe an und gehe hinein, so, wie von früher gewohnt, wenn ich Leo besuchte und nicht wusste, wo er zu finden war.

Ich bin freudig überrascht, sitzt doch immer noch dieselbe Sekretärin hinter der Theke wie damals. Die Jahre sind beinahe spurlos an ihr vorbeigegangen, einzig ein paar Fältchen um die Augen können das Altern nicht ganz verbergen. Es dauert einen Moment, bis sie mich erkennt, dann lächelt sie matt, steht auf und tritt mir entgegen.

»Guten Tag Frau Klein. Schon lange nicht mehr gesehen.«

»Herr Roth, dass ich Sie jemals wieder zu Gesicht bekomme, hätte ich mir nie träumen lassen.«

Sie hatte einen Narren an mir gefressen. Wenn ich vorbeikam, plauderten wir meist bei einer Tasse Kaffee, bis Leo endlich Zeit für mich hatte. Es kam nicht oft vor, aber bei den wenigen Gelegenheiten fanden wir Gefallen aneinander. Deshalb irritiert mich ihre unverhohlene Zurückhaltung. Keine überschäumende Begrüßungsfreude wie früher, nur ein verhaltenes Lächeln, welches ihre Augen nicht erreicht.

»Ja, ich habe mich eine Zeit lang rar gemacht. Aber es trieb mich zurück und nun suche ich den Anschluss an die Vergangenheit. Wie geht es Ihnen?«

»Wieder besser.«

Keine Antwort, die man hören will, zudem eine, die nach Mitgefühl schreit.

»Das tut mir leid. Ich hoffe, es kommt alles wieder in Ordnung.«

Sie versteift sich, ein glasiger Schimmer überzieht ihre Augen, mit einem Mal scheint sie gegen Tränen kämpfen zu müssen.

Sie krallt sich an die Theke wie eine Betrunkene und sagt mit heiser Stimme: »Sie sollten es am besten wissen, dass es nie mehr so kommt, wie es einmal war.«

Ich bin verwirrt, kann ihrer Bemerkung keinen Sinn abgewinnen, aber begreife schnell, dass sich etwas ereignet haben muss, was auch mich betrifft.

»Entschuldigen Sie meine Irritation, leider habe ich keine Ahnung, was ich wissen sollte.«

Jetzt beginnen ihre Tränen zu fließen, was mich bestürzt und panisch überlegen lässt. Ich kenne sie zu wenig, um einschätzen zu können, was es braucht, um sie derart aus der Fassung zu bekommen. Ich spüre aber auch, wie sie von meiner Ratlosigkeit irritiert wird. Wir stehen uns gegenüber und verstehen uns nicht, wir reden aneinander vorbei. Dafür verfangen sich unsere Blicke, jeder hofft, in den Augen des anderen einen Hinweis oder eine Antwort zu finden.

»Was ist geschehen?«, frage ich.

»Leo!«, wispert sie. Mehr nicht.

»Was ist mit Leo?«, hake ich in einem resoluten Ton nach.

»Ich dachte, Sie wissen, dass er tot ist.«

»Tot?«

Ihre Stimme versagt, also nickt sie heftig, während es mir übel wird. Ich setze mich auf den Besucherstuhl und verliere die Kontrolle über meine Gedanken. Wie die Stahlkugeln im Flipperkasten schießen sie hin und her, ohne ein brauchbares Resultat. Was für eine Tragödie, Leo ist tot. Ich fühle mich mit einem Mal unsagbar leer, als hätte man den Stöpsel gezogen und alles ist aus mir ausgelaufen. Was bleibt, ist Zweifel und Verweigerung. Ich kann und will es nicht glauben. Er war zu jung und zu lebensfroh, um zu sterben. Wenn einer von uns die Freude am Leben verkörperte und mit beschwingter Leichtigkeit sein