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Die junge Emma flüchtet in ihrem betagten Renault R5 vor ihrer vermurksten Vergangenheit in den Süden. Kaum losgefahren, gabelt sie den vierzig Jahre älteren Benedict auf, der mit ähnlichem Ziel seine letzte Ruhestätte sucht. Eine Schicksalsgemeinschaft zweier Persönlichkeiten, die nicht gegensätzlicher sein könnten. Er entpuppt sich als ein arrogantes Wrack und sie als eine Rebellin auf Abwegen. Ein bizarrer Roadtrip durch menschliche Abgründe, eine Fahrt, auf der sie sich viel näher kommen, als möglich scheint.
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Seitenzahl: 476
Veröffentlichungsjahr: 2023
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Kapitel 1: Mein Name ist Emma
Kapitel 2: Mein Name ist Benedict
Kapitel 3: Das Schicksal
Kapitel 4: Die Annäherung
Kapitel 5: Die Vereinbarung
Kapitel 6: Die Bewährung
Kapitel 7: Hotel Dieu
Kapitel 8: Bistrot de Lyon
Kapitel 9: Der letzte Abend
Kapitel 10: Der Tag danach
Kapitel 11: Dunkle Gedanken
Kapitel 12: Le Puy
Kapitel 13: Die unerfüllte Nacht
Kapitel 14: Neuer Tag, neues Glück
Kapitel 16: Neuland
Kapitel 17: Katerstimmung
Kapitel 18: Bettgeschichten
Kapitel 19: Am Pool
Kapitel 20: Überflüssig
Kapitel 21: Die Ernüchterung
Kapitel 22: Richtung Südwesten
Kapitel 23: Der Weg nach Albi
Kapitel 24: Albi
Kapitel 25: Der Schmerz
Kapitel 26: Unheiliger Sonntag
Kapitel 27: Das Anwesen
Kapitel 28: Dunkle Kunst
Kapitel 29: Der nagende Zweifel
Kapitel 30: In der Hitze der Nacht
Kapitel 31: Meer
Kapitel 32: Urlaub vom Leben
Kapitel 33: Fortsetzung folgt
Kapitel 34: Die Wahrheit
Kapitel 35: Narbonne
Kapitel 36: Weidegründe
Kapitel 37: Katerstimmung
Kapitel 38: Tal der Tränen
Kapitel 39: Liebe
Kapitel 40: Unwetter
Kapitel 41: Nach dem Sturm
Kapitel 42: Katerstimmung
Kapitel 43: Morgengrauen
Kapitel 44: Marie
Kapitel 45: Der Rausch
Kapitel 46: Erwachen
Kapitel 47: Plan B
Kapitel 48: Die Tat
Kapitel 49: Zurück
Kapitel 50: Abschied
Ich warte im düsteren Licht auf meine Geburt. Die Hände schweißnass, gleich wird mich die letzte Kontraktion ins Leben hinaus drücken. Das Tor der Tiefgarage öffnet sich träge, gibt zögerlich den Blick nach außen frei, die Morgensonne blendet hinein, mit zusammengekniffenen Augen fahre ich hinaus in das neue Dasein, ein Beginn bei null, unschuldig und rein. Die Geburt als Sinnbild für einen Neustart, die diesem Moment gerecht werden soll, zumindest erhoffe ich mir das, obwohl ich mich frage, wie weit es Sinn macht, dazu das alte Wesen zu verwenden.
Ich bleibe in der Einfahrt stehen, beobachte im Rückspiegel das Tor, wie es sich langsam schließt und den Rückweg versperrt. Es gibt kein Zurück. Den Schlüssel der Wohnung habe ich vor wenigen Minuten der Verwalterin übergeben, das Abnahmeprotokoll unterschrieben und mich mit einem feuchten Händedruck verabschiedet. Sie wünschte mir alles Gute und zeigte dabei ein geschäftsmäßiges Lächeln. Wie hieß die Frau schon wieder? Ich habe den Namen bereits vergessen, er spielt keine Rolle mehr. Die Vergangenheit ist soeben gestorben. Sollen mir doch alle am Arsch lecken.
Ich nehme die Sonnenbrille aus dem Haar, verstecke meine überreizten Augen hinter den dunklen Gläsern, dann überlege ich, in welche Richtung ich abbiegen soll. Rechts in die pulsierende Stadt oder links in den ruhigen Jura mit seiner gefalteten Landschaft. Egal, der Weg ist belanglos, Hauptsache Süden. An einen warmen Ort, wo der Gefrierpunkt bei Klima und Mensch möglichst nicht unterschritten wird. Italien? Eher Frankreich, der Sprache wegen.
Ich verscheuche die Gedanken, setze den Blinker und reihe mich in den Verkehr Richtung Jura ein. Dies ist der Weg, der mich schmerzloser von hier wegführt. Kein letzter Blick auf die Stadt, aus der ich stamme und bis zum heutigen Tag gelebt habe. Ich beschleunige sanft, ich habe es ja nicht eilig, fahre durch die Vororte, die allmählich ländlicher werden. Die Stadt franst aus. Der morgendliche Berufsverkehr drängt sich mir entgegen, während in meine Richtung kaum jemand unterwegs ist. Gegen den Strom. Das gefällt mir und irgendwie beschleicht mich die Hoffnung, dass die Vergangenheit mir nicht folgt, zumindest ist sie im Rückspiegel nicht zu sehen. Ich befürchte aber, dass sie sich nur außer Sichtweite hält. Am Rückspiegel baumelt ein Lederriemen mit einer Hasenpfote dran.
Bald erreiche ich die Sprachgrenze. Ab hier wird französisch gesprochen, eine Sprache, der ich recht gut mächtig bin und deren Melodie ich so liebe. Sogar die Ortsnamen sind eine Verführung, selbst wenn sie ihr Versprechen nicht halten. Das Italienisch gefällt mir auch, nur beherrsche ich es nicht. Allerdings sind Sprachen nur Hülsen. Auf den Inhalt kommt es an, denn er ist es, der das Leben bestimmt, der uns zu dem macht, was wir sind. Sogleich kochen Erinnerungen hoch, aber ich weise mich zurecht, die Vergangenheit soll ruhen, verdammt nochmal. Ich schaue in den Rückspiegel, nur kann ich sie weiterhin nirgends entdecken.
Ich kurble das Fenster runter und stecke mir eine Zigarette an, die erste am heutigen Tag. Ich inhaliere den Rauch tief, immer wieder, bis das Nikotin meine Sinne zu beleben beginnt. Das muss helfen, bis es einen Kaffee gibt, aber solange es mit dem Verkehr so flüssig läuft, lasse ich mich gerne darin treiben. Die Spannung versucht, verzweifelt von mir abzufallen, wogegen mein Unterbewusstsein sich sträubt. Da klemmt es hartnäckig und das liegt nicht am fehlenden Koffein, nein, da sind noch einige trübselige Gedanken, die nicht loslassen wollen. Tränen beginnen die Sicht zu verschleiern. Ich wische sie weg. Wie es aussieht, lässt sich diese scheiß Vergangenheit nicht so leicht abzuschütteln, ich befürchte, sie sitzt sogar auf der Rückbank und fährt mit. Dieses alte Leben klebt an mir wie ein ausgekauter Kaugummi am Schuh. Es zieht zähe Fäden. Geduld, Mädchen, Geduld.
Ich fahre zur Seite, halte an, schmeiß den Zigarettenstummel wütend aus dem Fenster und atme erstmals tief durch. Keine achtzig Kilometer bis zum ersten Nothalt. Geht das so weiter, komme ich nirgendwo hin. Andererseits habe ich ja keinen Plan, also spielt es kaum eine Rolle, wann ich das Ziel erreiche.
Ich lasse meinen Blick schweifen und stelle fest, dass ich vor einem leicht heruntergekommenen Restaurant angehalten habe. Das Schicksal hat mich zu einem Kaffee eingeladen. Ich steige aus, schließe die Karre und schlendere auf den Eingang zu, da bemerke ich seitlich des Hauses einen Gartenbereich. Einige billige Tische und Plastikstühle stehen da rum, nur an einem sitzt ein älterer Mann, der sich sein erstes Bier gönnt. Ich setze mich an die Sonne und versuche, eine möglichst lässige Erscheinung zur Schau zu tragen. Meine Neugeburt soll ja nicht gleich als Rohrkrepierer zu erkennen sein, wozu sich diese Flucht entwickeln könnte, wenn ich mich nicht zusammenreiße. Was soll das? Ich bin doch sonst kein so zartes Pflänzchen.
Ich blinzle in die Sonne, bestelle bei der nicht mehr ganz jungen, aber überraschend adretten Dame des Hauses einen doppelten Espresso mit einem Croissant, dann inspiziere ich durch die getönten Brillengläser den alten Knacker am übernächsten Tisch, der mich unverblümt angafft. Kein Bauer aus dem Dorf, eher ein Rentner aus der Stadt, der sich hier den Lebensabend schönsauft. Ein Typ Mann, den ich nicht ausstehen kann, er erinnert mich an meinen Vater. Einer, der der Meinung ist, er hätte die Weisheit mit dem Suppenlöffel gefressen, obschon er nur einer Vergangenheit nachtrauert, die nichts mehr mit der Gegenwart zu tun hat. Mit dem Wort Früher beginnen deren Sätze, wenn sie mit dem Jetzt nicht zurechtkommen. Am liebsten hätte er die Uhr zurückgedreht bis in seine Jugend, wo er irgendwo die falsche Abzweigung genommen hat. Ein Exemplar aus verstaubten Restbeständen!
Ich verdränge die dunklen Erinnerungen an meinen vor sechs Jahren verstorbenen Vater, als der Kaffee und das Croissant serviert wird. Beides schmeckt mir unerwartet gut, hielten doch das Äußere des Hauses meine Erwartungen eher tief. Wie heißt eigentlich diese Ortschaft? Keine Ahnung, aber sie liegt auf einem Weg, den ich auch schon mal gefahren bin, als ich meine Tante in Biel besuchte. Das ist eine Weile her, denn sie ist vor drei Jahren an Krebs gestorben. Schade, sie war einer der wenigen Menschen, die ich mochte, und die mich nicht dauernd eines Besseren belehren wollte. Ich seufze, tunke das Croissant im Kaffee und bemerke im Augenwinkel, wie mich der Alte weiterhin anstarrt. Es gibt hier nicht viel zu sehen, ab und zu ein vorbeifahrendes Auto, ansonsten herrscht hier Ödnis, seitdem die Autobahn den Durchgangsverkehr geraubt hat. Da kann ich nachvollziehen, wieso sein Blick an einer Reisenden haften bleibt. Er steckt sich eine Zigarette an, hält sie affektiert zwischen seinen langen Fingern wie eine Frau, raucht in langsamen Zügen. Ist er schwul? Möglich. Er macht einen verdächtig kultivierten und gepflegten Eindruck.
Ich beschäftige mich mit meinem Croissant und versuche, ihn zu ignorieren, was nicht einfach ist. Er sitz mir zugewandt, wird quasi gezwungen, mich zu betrachten, außer er würde sich bewusst von mir abwenden, indem er sich auf einen anderen Stuhl setzte. Aber macht er nicht, und ich denke, das will er nicht, im Gegenteil, sein Blick nagelt mich fest.
»Verzeihen Sie, darf ich Sie was fragen?«, fragt er so unvermittelt, dass ich erschrecke.
Ich muss trotzdem grinsen, was auch ihm ein Lächeln entlockt. Überraschend schöne Zähne hat er.
»Sie fragen, ob sie was fragen dürfen. Ich bin offen für alle Fragen, ob Sie eine Antwort bekommen, ist eine andere Frage.«
Alles klar, somit wäre der Tarif geklärt. Eine bockige Zicke, vielleicht ist es auch nur das normale Selbstbewusstsein moderner Frauen. Angriff ist die beste Verteidigung, wird sie sich gesagt haben. Bei diesen jungen Amazonen sind wir alten Männer so oder so untendurch, macht man uns doch für alle Entgleisungen verantwortlich. Keine hoffnungsvolle Aussicht für mein Anliegen.
»Ich wollte nur fragen, ob Sie mich ein Stück mitnehmen könnten?«
Mit sowas hat sie nicht gerechnet, denn ihre Augen weiten sich kurz. Sie zögert, vermutlich drechselt sie an einer plausiblen Absage. Ist nachvollziehbar. Ich entspreche kaum ihrer Vorstellung eines vertrauenswürdigen Beifahrers.
»Sie wissen ja gar nicht, wohin ich fahre«, entgegnet sie trocken.
»Das stimmt, aber es spielt keine Rolle. Ich reise in den Tag hinein ohne ein bestimmtes Ziel.«
Sie schmunzelt kaum sichtbar, vermutlich macht sie sich über meine Reiseroute lustig.
»Aber zumindest sollte doch eine grobe Vorstellung vom Ziel existieren.«
»Ungefähr Richtung Süden. Ich lass mich überraschen. Irgendwann werde ich irgendwo stranden, wo es mir gefällt«, sage ich und störe mich sogleich an meiner melodramatischem Wortwahl.
Sie deutet auf meinen Seesack, der neben mir auf dem Boden steht und meint: »Leichtes Gepäck. Lange darf die Reise nicht dauern.«
»Das täuscht. Ich habe mich auf das Wesentliche konzentriert, damit käme ich um die ganze Welt, wenn es sein müsste.«
Sie mustert mich schweigend, aber meine ursprüngliche Frage beantwortet sie nicht. Was ist denn daran so schwierig? Ein Ja oder ein Nein, es gibt kein Vielleicht. Mir ist es eigentlich scheißegal. Wenn sie nicht will, dann stelle ich mich an die Straße und hänge den Daumen in den Wind. Da fährt schon wer vorbei, der mich mitnimmt.
Die Wirtin lässt sich blicken, da gebe ich ihr zu verstehen, dass ich zahlen möchte. Sie kommt mit dem Kassenzettel zu mir, ich begleiche den Betrag, lächle sie an und lege noch was drauf. Sie lächelt auf eine Weise zurück, dass es als Angebot verstanden werden könnte. Ich bedanke mich, schnappe meinen Seesack und verabschiede mich bei den beiden Frauen, dann laufe ich davon.
Blöde, arrogante Schnepfe, denke ich, während ich durch das Dorf latsche, um eine geeignete Stelle zu finden, wo ein Auto anhalten kann, um mich einzuladen. Da hat mir die Wirtin einiges besser gefallen, die war wenigstens nett. Verflucht, hör auf, vergiss endlich die Weiber. Ich atme tief durch, denn heute ist erst der Anfang vom Beginn. Es ist wichtig, dass das Leben an mir abperlt, nichts darf haften bleiben, sonst macht alles keinen Sinn. Keine neuen Verpflichtungen und Beziehungen eingehen, nirgends Wurzeln schlagen, all den Verführungen ausweichen, die lauern.
Der spärliche Verkehr zieht an mir vorbei, ohne mich eines Blickes zu würdigen. Mir ist klar, dass ich nicht in das Schema eines Anhalters passe, weshalb sich die meisten Automobilisten auf das Experiment mit mir nicht einlassen wollen. Trotzdem hält ein Lieferwagen eines Baugeschäfts. Ich öffne die Seitentür, entgegen blickt mir ein etwa gleichaltriger Mann, unrasiert und mit einem fehlenden Schneidezahn.
Ob ich nach Biel will, fragt er.
Ich finde es perfekt und bedanke mich bei ihm.
Ich wuchte den Seesack auf den Mittelsitz, steige ein und bevor ich die Tür geschlossen habe, lässt er die Kupplung springen, dass der Wagen einen Satz macht. Wir grinsen uns an.
Ob ich in den Urlaub fahre, will er wissen.
Ich verneine und erkläre, einen Ort für die alten Tage zu suchen.
Er fährt wie ein Henker, schneidet die Kurven, ignoriert hartnäckig die Höchstgeschwindigkeit und drängt sich virtuos und unter gehässigem Gehupe durch den Kreisverkehr. Ich amüsiere mich köstlich.
Zu arbeiten, bis man tot umfalle, sei eine Schande, wettert er und flucht verächtlich. Er speit die Worte regelrecht aus und besprenkelt die Frontscheibe mit seiner Spucke. Das furchige Gesicht hat seine gutmütige Gelassenheit verloren.
Das sei tatsächlich nicht der Sinn des Lebens, pflichte ich ihm bei und frage nach dem Grund, was ihn denn von einem anständigen Ruhestand abhalte.
Er wirft mir einen leeren Blick zu und knurrt etwas von Fehlern, die er begangen habe.
Ich tröste ihn und erkläre, dass es mir ähnlich ergangen sei.
Ob ich Scheiße gebaut habe, lautet seine Frage.
Ich nicke vielsagend.
Er ist kurz abgelenkt, als er einen Radfahrer überholt und dabei nur knapp eine Kollision auf der Gegenspur vermeiden kann.
Er schielt zu mir rüber und ist der Ansicht, dass ich offensichtlich Ärger mit der Polizei habe.
Ich verneine und bemerke nebenbei, dass man nicht unbedingt Gesetze brechen muss, um sich in die Scheiße zu reiten. Ich und das Leben an sich seien das Problem.
Ohlala, die große Krise, meint er wissend.
Ich stimme ihm zu und er zeigt sich mitfühlend.
Irgendwie erhält unser Gespräch eine falsche Richtung. Ich habe keine Lust auf die Darlegung meiner Verfehlungen einzugehen. Ich sollte mir unbedingt eine harmlose Geschichte zurechtlegen, damit ich mich nicht jedes Mal in Selbstzerfleischung üben muss. Den Leuten geht mein Leben einen feuchten Kehricht an.
Der Alte scheint begriffen zu haben, dass ich keine Lust auf eine Lebensbeichte habe und konzentriert sich auf den Verkehr. Mir passt das so. Eine halbe Stunde später erreichen wir Biel, eine unscheinbare Stadt am See, wo er mich aussteigen lässt. Wir schütteln uns die Hand und wünschen uns schmunzelnd einen angenehmen Lebensabend. Ich schultere den Seesack und marschiere Richtung See, überlege kurz, die Füße ins Wasser zu halten, aber entscheide mich, die Reise fortzusetzen. Es ist bald zehn Uhr und weit bin ich nicht gekommen. Ich stelle mich wieder an den Straßenrand und übe Geduld. Ich werde noch unzählige Stunden auf Mitfahrgelegenheiten warten müssen, also wäre es nicht falsch, mich daran zu gewöhnen.
Der Verkehrsfluss zieht an mir vorbei und die Sonne brennt erbarmungslos hernieder.
Die Begegnung mit diesem Alten hinterließ einen schalen Nachgeschmack. Ich hatte mir ernsthaft überlegt, ihn ein Stück mitzunehmen, aber bevor ich ihm zusagen konnte, lief er davon. Arschloch, dachte ich in diesem Moment und fühlte mich in der Meinung bestärkt, dass alte Männer schwer zu ertragen sind.
Grummelnd steige ich in meinen Renault R5, Jahrgang 1982, zwölf Jahre älter als ich, den ich von meiner Großmutter geerbt habe, und orgele mir einen ab, bis er endlich zum Laufen kommt. Mach mir jetzt keine Schande, das kann ich nicht gebrauchen. Er hat mich noch nie im Stich gelassen und hat immerhin zweihundertsechzigtausend Kilometer auf dem Zähler. Ich liebe diese Karre, pflege sie aufopfernd und habe schon einiges an Geld hineingesteckt. Es gibt Männer und Frauen, die glücklich gewesen wären, sie hätten jemals so viel Zuneigung von mir erhalten.
Ich fahre los und allmählich stellt sich eine spürbare Entspannung ein. Das Autofahren hatte schon immer eine beruhigende Wirkung auf mich gehabt. Als Kind legte ich mich während der Fahrt auf die Rückbank und schlief bald ein, später verarbeitete ich all meine Krisen und Gefühle während unzähliger Fahrten mit dem R5. Der Zählerstand gilt als Beleg für das Auf und Ab in meinem emotionalen Leben. Ich war ein schwieriges Kind und blieb dieser Strategie bis zum heutigen Tag treu. Ich bin mir dessen bewusst, aber scheiterte bei jeder Gelegenheit, dies zu ändern.
Zärtlich streichle ich über das Lenkrad, lege den Wagen in die Kurven, bis ich mich in den schaukelnden und rhythmischen Bewegungen verliere. Summend fahre ich die kurvige Straße Richtung Biel, erreiche den Stadtrand und reihe mich in den dichter werdenden Verkehr ein. Es ist bald zehn Uhr. Ich entscheide mich, dem See entlang nach Neuchâtel zu fahren, da traue ich meinen Augen nicht. Der Alte steht da vorne am Straßenrand und hält den Daumen in die Luft.
Soll ich mit gestrecktem Mittelfinger an ihm vorbeifahren, um auf diese Weise zu verstehen geben, was ich von ihm halte? Einen Moment lang finde ich Gefallen an diesem Gedanken. Nichts zwingt mich, anzuhalten und ihn mitzunehmen. Gar nichts, keine moralische Verpflichtung, keine Konvention. Ich bin für sein Weiterkommen nicht verantwortlich, nur für mein eigenes.
Aber ich schaffe es nicht, an ihm vorbeizufahren. Es ist sein Blick und sein Lächeln, das mich zum Anhalten zwingt. Er hat mich erkannt. Ich halte spät, damit er wenigstens fünfzig Meter zu laufen hat. Eine kleine Anstrengung soll er auf sich nehmen, um gefahren zu werden. Aber er nimmt sich aufreizend viel Zeit und kommt mit dem Seesack auf der Schulter gemütlich angeschlendert. Er öffnet die Beifahrertür, klappt die Rückenlehne nach vorne, schwingt sein Gepäck auf den Rücksitz, bringt den Sitz wieder in die Grundstellung. Dann setzt er sich, schließt die Tür und grinst mich an.
»So ein Zufall«, meint er, während er sich mit den veralteten Sicherheitsgurten abmüht. »Danke.«
Ich nicke und fahre los.
Endlich hat er sich angeschnallt, nestelt noch an seiner Hose rum, dann blickt er schweigend geradeaus. Liegt es an mir, Konversation zu machen? Ich denke nicht, also schweige auch ich. Ein seltsames Gefühl, neben einem Fremden zu sitzen, ohne sich mit ihm zu unterhalten. Andererseits schätze ich die Ruhe, da ich bemühten Smalltalk verabscheue. Es dauert knapp zehn Minuten, bis er das Schweigen bricht.
»Jetzt nähme es mich doch wunder, wohin Sie fahren.«
Soll ich ihm die Wahrheit erzählen? Er würde sie vermutlich nicht glauben, sähe sie sogar als einen schlechten Scherz.
»In den Süden.«
Er überlegt.
»Das ist ein weiter Begriff.«
»So ist es. Ich habe keine Idee und bin gespannt, wo es mich hinführen wird.«
Im Augenwinkel bemerke ich, wie er mich mustert, dann wieder nach vorne schaut.
»Also haben wir etwa dasselbe Ziel, nämlich keines. Zumindest keines, welches mit einer Ortschaft verbunden wäre.«
»Ein lustiger Zufall.«
Mir scheint, er benötigt immer einen Moment, bis er sich eine Antwort zurechtgelegt hat.
»Ja, das ist außergewöhnlich. Sicherlich sind wir nicht die Einzigen, die im Süden ihr Glück suchen. Sehnsuchtsorte gibt es da ja zuhauf. Trotzdem ist die Wahrscheinlichkeit verschwindend klein, zufällig mit demselben vagen Ziel in demselben Auto zu sitzen.«
Erst jetzt wird mir bewusst, was das zu bedeuten hat, besser gesagt, was sich mit dieser Konstellation aufdrängt. Erhofft er sich, bis in den Süden in dem Wagen sitzen bleiben zu können? Bitte nicht, so habe ich mir die Reise nicht vorgestellt. Eine bezaubernde Frau wünschte ich mir als Begleiterin, aber keinen alten Sack. Ich schiele zu ihm rüber und meine zu erkennen, wie er sich ähnliche Gedanken macht.
»Was schauen Sie mich so an?«, fragt er.
»Ich frage mich, was Sie denken.«
»Raten Sie mal, was ich denke. Sie werden nie draufkommen.«
»Ich sage Ihnen, was Sie denken. Sie sehen die verführerische Gelegenheit, bequem und ohne dauernd eine Mitfahrgelegenheit suchen zu müssen, in den Süden zu kommen. Richtig?«
Es sieht aus, als wäge er seine Worte wieder sorgfältig ab.
»Zugegeben, einen Wimpernschlag lang ging mir diese Option durch den Kopf. Nur kann ich mir nicht vorstellen, dass Sie sich das wünschen.«
»Und wieso nicht?«
»Weil ein in die Jahre gekommener Mann kein interessanter Begleiter für eine junge Frau sein kann.«
Ich bin freudig überrascht.
»Das hat was. Ich verneige mich vor Ihrer Weisheit.«
»Aber ich könnte ja auch mit den Mitteln des alten Mannes locken und vorschlagen, die Reise zu bezahlen. Benzin, Hotel und Essen.«
»So ein Schrott! Was macht das für einen Sinn? Wieso nehmen sie nicht gleich die Bahn oder das Flugzeug?«
Er zögert wieder.
»Weil ich keine Spuren hinterlassen will.«
Irritiert blicke ich zu ihm rüber, suche den Schalk in seinem Gesicht, erkenne aber nur humorlosen Ernst. Es verschlägt mir etwas die Sprache.
»Nein, es ist nicht so, wie Sie vermuten«, fährt er fort. »Das Ganze ist völlig unspektakulär, quasi eine komplizierte Familienangelegenheit. Ich suche nur meine Ruhe, mehr nicht.«
Ich glaube ihm kein Wort. Er ist ein durchtriebener Hund, deutet eine dubiose Geschichte an, um meine Neugier zu wecken, und verharmlost sie im nächsten Satz. Er spielt mit mir und ich frage mich, ob ich mich darauf einlassen soll. Aber was kann ich dabei verlieren? Eigentlich nichts, im Gegenteil, er käme für alle Kosten auf. Billig käme er nicht davon.
»Angenommen, ich zöge Ihren Vorschlag in Betracht, müssten wir zuerst die Spielregeln festlegen. Das verstehen Sie doch?«
Er nickt.
»Erstens: Sie lassen die Finger von mir, sie denken nicht mal daran, Doppelzimmer kommen nicht in Frage.«
Er nickt.
»Zweitens: Sie bezahlen sämtliche Spesen.«
Er nickt.
»Drittens: Ich bestimme, wo wir durchfahren.«
Er nickt.
»Viertens: Ich bestimme, wann die Reise zu Ende ist.«
Er nickt.
»Haben Sie noch etwas beizusteuern?«
Er nickt und meint: »Fünftens: Nur Sie sitzen hinter dem Steuer. Man hat mir den Führerschein entzogen, also kann ich Sie beim Fahren nicht ablösen. Und sechstens: Ich bezahle nur in bar. Wenn eine Kreditkarte nötig ist, benützen wir die Ihrige und ich gebe Ihnen dann das Geld. Mehr fällt mir im Moment nicht ein.«
Stoff genug, um in ein tiefes Grübeln zu verfallen und die idyllische Uferstraße mit der Aussicht auf den See und die angrenzenden Weinberge überhaupt nicht wahrzunehmen. Meine Gedanken spielen verrückt. Ich bekomme das Gefühl nicht los, soeben in irgendeinen Scheiß hineinzuschlittern. Das geht alles eine Spur zu schnell, zu einfach. Da gibt es irgendwo einen Haken, ich hab das Kleingedruckte nicht gelesen, eine Fußnote nicht beachtet. Es würde zu meinem verfickten Leben passen, völlig naiv in eine Falle zu tappen und total ausgebrannt in der lausigsten Gosse des Südens zu landen, während er sich einen hübschen Lebensabend mit allem Tralala gönnt.
»Da gibt es ein Problem. Ich traue Ihnen nicht«, platzt es aus mir heraus.
Er wendet sich mir zu und meint: »An Ihrer Stelle würde ich das auch nicht. Da könnte ja jeder kommen. Wer bin ich denn? Ein alter Sack, der sich von zuhause abgesetzt hat und keine Spuren hinterlassen will. Dubios, windig, vertrauensunwürdig. Da nützt es wenig, wenn ich verspreche, sie in Ruhe zu lassen. Offen gesagt, kann ich Ihnen nicht mehr bieten, als dieses Ehrenwort.«
So eine altmodische Kacke! Jetzt bringt er noch seine Ehre ins Spiel. Typisch für diese Generation. Wer spricht denn heutzutage von Ehre, außer Angehörige von kriminellen Gangs und südländischen Sippschaften.
»Ich weiß nicht so recht«, winde ich mich voller Unbehagen. »Sie machen einen anständigen Eindruck auf mich, aber genau aus solchen Typen wie Sie werden Frauenmörder geschnitzt.«
Ich registriere im Augenwinkel, wie er in sich hinein grinst und zum Seitenfenster hinaus glotzt, damit ich es nicht bemerke.
»Sie nehmen mich nicht ernst.«
Seine Schultern beben, derart muss er lachen und in mir beginnt es zu brodeln, es säuert mich langsam an. Ich ignoriere ihn, konzentriere mich dafür auf den Verkehr, der abbremst und zum stehen kommt. Eine Baustelle mit einem Rotlicht. Ich stelle den Motor ab, kurble die Scheibe hinunter, stecke mir eine Zigarette an.
Er dreht sich mir zu, blinzelt mich mit wässrigen Augen an und meint: »Verzeihen Sie mein Gelächter, aber die Vorstellung, einem Frauenmörder zu entsprechen, finde ich köstlich. In einem gewissen Sinn liegen Sie gar nicht falsch. Manch ein Arzt unterhält seinen eigenen Friedhof.«
Es dauert einen Augenblick, bis ich seine Worte eingeordnet habe. Mein Blick mustert ihn eindringlich.
»Sie sind Arzt?«
»Arzt im Ruhestand.«
Das muss ich zuerst verarbeiten.
Das gibt ihr offensichtlich zu denken.
Ich ärgere mich, es erwähnt zu haben. Es war ein Reflex, der in der Vergangenheit Türen öffnete und Respekt verlieh. Jetzt schäme ich mich beinahe dafür, nutzte ich doch früher diesen Status rücksichtslos aus. Genau genommen machte mich mein arrogantes Gehabe als Arzt zu dem, was ich jetzt bin: zu einem Arschloch!
»Was für ein Arzt?«, will sie wissen.
»Spielt das eine Rolle?«
»Aber sicher. Wären Sie Frauenarzt, dann könnten Sie mal schauen, ob ich meinen Tripper endlich los bin.«
Für einen Wimpernschlag bin ich geneigt, sie ernst zu nehmen, bis ich zu ihr rüber schiele und auf ihren Lippen die Andeutung eines Schmunzelns erkenne. Sie schaut zu mir und wir grinsen uns an, bis ungeduldig gehupt wird, weil unterdessen die Ampel auf Grün geschaltet hat. Krachend legt sie den Gang ein und rauscht kichernd los.
»Das ist Vergangenheit«, versuche ich zu erklären. »Ich praktiziere schon länger nicht mehr. Vorbei ist vorbei. Punkt. Blöd, dass ich es erwähnt habe.«
Sie wirft mir einen vielsagenden Blick zu, als will sie mir zu verstehen geben, dass das letzte Wort dazu noch nicht gesprochen wurde. Zum Glück nimmt sie das Fahren in Anspruch, verdichtet sich doch der Verkehr und gleichzeitig stellt sich die Frage nach dem Weg.
»Geradeaus führt uns die Straße Richtung Neuchâtel. Ich denke, das passt«, murmelt sie.
Ich schweige, schließlich betrifft das den dritten Punkt der vorläufigen Vereinbarung. Ich verändere meine Sitzposition, dass ich sie besser im Auge habe. So genau habe ich sie bis jetzt nicht betrachtet, aber jetzt, wo wir möglicherweise eine längere Zeit miteinander verbringen könnten, macht dies Sinn.
Sie besitzt eine lädierte Attraktivität. Noch keine dreissig Jahre alt, doch bereits hat das Leben ihre Spuren hinterlassen. Alkohol? Drogen? Eine angeschlagene Psyche? Dunkelbraune, gelockte Haare, die sie ungebändigt über die Schultern fallen lässt, zartgeschnittene Züge, traurige Augen in schlammigen Grau, dünne Lippen und ein zierliches Kinn. Ein Puppengesicht, gäbe es da nicht diese Spuren. Einzig wenn sie lacht, verschwindet der Schleier für einen Augenblick. Ihr Körper kann unter ihrem saloppen Sweatshirt nur erahnt werden, jedoch den feingliedrigen Händen entsprechend, wird ihre Figur kaum übermäßig gepolstert sein. Ich versuche, sie nicht auf das Äußere zu reduzieren, was ja früher meine Spezialität war.
Sie ist sich bewusst, dass ich sie taxiere, aber sie lässt es über sich ergehen. Sie wirft sich sogar in Pose, streicht das Haar hinter das Ohr, damit sie besser zur Geltung kommt. Eine unwillkürliche Geste, die mich optimistisch stimmt, dass eine Vereinbarung möglich wird.
»Und, genug gesehen? Zufrieden mit mir?«
»Der äußere Eindruck lässt manchmal ins Innere blicken.«
»Lieber nicht.«
Was sagt man zu solch einer Aussage? Mir fällt auf jeden Fall nichts Gescheites ein, weshalb ich schweige.
»Frankreich kommt immer näher«, bemerke ich beiläufig nach einer Weile.
»Ach ja?«
Sie hat keine Lust auf Konversation, starrt geradeaus auf die Straße und scheint in ihren Gedanken verloren zu sein. Wir queren die Stadt auf der Autobahn, die hauptsächlich durch den Untergrund führt. Ich kenne Neuchâtel aus früheren Zeiten und hätte gewusst, wo ein hervorragendes Restaurant oder eine lauschige Bar zu finden wäre. Orte, die ich ausschweifend genossen habe. Aber das gehört in ein anderes Leben.
Wir preschen an der Zigarettenfabrik vorbei, was mich sogleich animiert. Nachdem ich mühsam die Scheibe heruntergekurbelt habe, stecke ich mir eine an.
»Ein Klischee. Ärzte, die rauchen und den Patienten es verbieten«, stichelt sie.
»Wie ein Priester, der Keuschheit predigt und kleine Jungs missbraucht. Etwa so?«
»Ein etwas krasses Gleichnis, aber die grobe Richtung stimmt.«
»Bleiben wir doch bei der Bildsprache. Wenn ich rauche, dann ist das zu vergleichen mit einer alten Karre, welche beim Einparken einen kleinen Kratzer abbekommt. Und sollte es mich umbringen, so ist es auch egal. Bei Ihnen ist das eine andere Geschichte.«
Konzentriert fährt sie durch den dichten Verkehr und ich muss ihr zugestehen, dass sie das hervorragend und sehr sicher macht. Ich als Beifahrer bin gewöhnlich unerträglich, finde dauernd etwas zu nörgeln. Aber sie wirkt so entspannt wie die wenigsten Menschen hinter dem Steuer.
»Zu jung zum Sterben. Ist es das?«
»Es ist eine Frage der persönlichen Freiheit, wie man mit dem eigenen Körper umgehen will.«
Das Gespräch versiegt, was mir gefällt. Sie hat offensichtlich keine Mühe zu schweigen und ich hasse belangloses Gelaber. Beide hängen wir in unserer Welt fest und sie überlegt vermutlich, was von der angedachten Vereinbarung zu halten ist. Da fehlt noch die Übereinkunft, irgendetwas passt ihr nicht. Sie zaudert.
Sie folgt der Straße nach Yverdon, lässt sich im Verkehr treiben, schaltet das Radio ein, findet aber keinen Sender, der ihr zusagt. Das Gerät ist nicht das neuste, trotzdem ist ein CD-Player integriert. Aus dem Seitenfach fischt sie eine silbrige Scheibe und füttert den Schlitz damit. Es beginnt mit dem rhythmischen Schlagen des Herzens und es wird mir auf der Stelle klar, das ist Pink Floyds The Dark Side of the Moon. Ich kenne jeden Ton, jeden Akkord, den ganzen Text, einfach alles, jeder Song hat mich geprägt. Das Album meiner Jugend und es läuft mir heute noch kalt den Rücken runter, die Härchen stellen sich auf, der Puls beschleunigt.
Sie bemerkt meine Unruhe und fragt: »Soll ich was anderes einlegen?«
»Im Gegenteil. Bitte lauter machen.«
Sie dreht auf und grinst diebisch zu mir rüber. Erstaunlicherweise scheppert die Anlage kein bisschen und der Sound hievt mich zurück in längst vergessene Zeiten. Was für eine unerwartete Freude und welche Ironie. Gestern hörte ich mir das Album zum letzten Mal an, quasi zum Abschied, bevor ich heute Morgen in der Früh das Haus für immer verließ. Der Soundtrack des Lebens, was das auch bedeuten mag. Ich schließe die Augen, ergebe mich der Musik. Wir surfen schwerelos dahin und mich flutet ein unermessliches Glücksgefühl, wie ich es seit einer Ewigkeit nicht mehr wahrgenommen habe. Als fielen die Sünden der Vergangenheit von mir ab. Eine Illusion, eine grandiose, die etwas in sich zusammenfällt, nachdem der letzte Ton des Albums verklungen ist.
Ich atme tief durch und realisiere erst jetzt, dass wir uns auf irgendeiner Hauptstraße bewegen, die ich nicht kenne.
»Sonst noch einen Musikwunsch?«, fragt sie.
»Sie haben mit dem Höhepunkt begonnen, ab jetzt spielt es keine Rolle mehr, was Sie abspielen.«
Sie nickt und meint: »Ein Highlight der Musikgeschichte. Ich fahre total darauf ab, obwohl ich nicht mal geboren war, als es veröffentlicht wurde.«
»Es gibt Musik, die steht über dem Ganzen, trotzt allen Strömungen, sie ist Geschichte und begleitet einem durch das Sein.«
»Selbst den Scheiß hilft sie auszublenden.«
»Die perfekte Droge für die Seele. Das Leben wird nicht besser, aber erträglicher.«
Ohne uns anzuschauen, flogen die Worte hin und her. Da gibt es eine gemeinsame Ebene. Das muss ich mir merken.
»Ich habe Durst«, sagt sie. »Wollen wir einen Halt einlegen?«
»Sehr gerne.«
Was soll ich sagen? Er hat mich für einen Moment in meinem Innern berührt. Da fielen Worte, die ich nicht erwartet habe, die mir gefielen. Erwachen da plötzlich Sympathien? Nur weil wir denselben Musikgeschmack haben. Vielleicht hat er mir nur geschmeichelt, damit ich ihn mitnehme.
Wir setzen uns in ein Gartenrestaurant in einem kleinen Bauerndorf und bestellen uns Bier.
Er schaut auf seine Uhr und meint: »Dreizehn Uhr. Bei mir meldet sich schon der erste Hunger. Und bei Ihnen?«
Da fällt mir ein, dass das Croissant die einzige Nahrung war, welche ich heute zu mir genommen habe.
»Ich hätte bis zum Abendessen durchgehalten, aber jetzt ist mein Vorsatz im Eimer. Nur eine Kleinigkeit.«
»Auf dieser Schiefertafel wird ein Plättchen mit Trockenfleisch, Wurst und Käse angepriesen. Das wär doch was.«
Auf der Stelle schmerzt mein Magen vor lauter Appetit.
»Damit kann ich bestens leben.«
Er bestellt bei dem schwitzenden Kellner, der uns das Bier bringt, dann lehnt er sich zurück und betrachtet mich mit diesem Blick, mit dem er mich schon während der Fahrt erforscht hat. Ein unangenehmes und gleichzeitig neues Gefühl. Wann musterte mich das letzte Mal jemand mit Neugier? Waren es gewöhnlich nicht misstrauische und feindselige Blicke? Und erst begehrliche Blicke, daran mag ich mich kaum mehr erinnern.
»Warum schauen Sie mich so an?«, frage ich und ziehe das Sweatshirt aus, da die Hitze zu drücken beginnt.
»Ich versuche, Sie irgendwie einzuordnen.«
Ich bin nicht sicher, ob sein Blick noch als neugierig oder bereits als lüstern eingestuft werden muss. Ich sitze im Tanktop ohne Büstenhalter darunter am Tisch, weshalb ich mich frage, ob ich ihn damit provoziere. Schwer vorstellbar, dass sich hinter seinem Interesse an meiner Person nichts Sexuelles verbirgt, egal wie aufreizend ich am Tisch sitze. Männer in diesem Alter werden von unerfüllter Geilheit getrieben und scheuen auch nicht, sich damit lächerlich zu machen. Nochmals ein Ritt auf einer jungen Stute, man weiß ja nie, wann es das letzte Mal sein wird. Der Gedanke fährt mir eiskalt den Rücken runter.
Ich schiebe meine Bedenken mal zur Seite und kontere: »Da reihen Sie sich unter all jenen ein, die das auch versucht haben.«
»Ja, ich kann mir vorstellen, dass Sie kein pflegefreundliches Schmusekätzchen sind. Für mich übrigens keinesfalls ein schlechtes Wesen. Nur Ecken und Kanten geben Profil.«
Ich lache. Der hat keine Ahnung, von was er spricht. Ich wünsche ihm meine Ecken und Kanten.
»Es hat allerdings viele Vorteile, stromlinienförmig gebaut zu sein. Es erspart einiges an Ärger«, bemerke ich und hoffe, das Thema damit angeschlossen zu haben.
Er verzieht sein Gesicht, als wäre er mit meinem Kommentar nicht ganz einverstanden, aber sagt nichts. Dann stoßen wir an.
»Auf unsere gemeinsame Fahrt, ob sie hier endet oder bis in den Süden führt«, sagt er, als wäre ein Trinkspruch angebracht.
Da ich nicht reagiere, knüpft er an: »Verzeihen Sie mir diese doofe Anspielung, aber ich käme gerne auf diese Vereinbarung zurück. Ich bettle nicht um eine Mitfahrgelegenheit, es nähme mich nur wunder, wie es weitergeht.«
Sein gutes Recht, fragen darf man ja. Aber Tatsache ist, dass ich mir überhaupt nicht sicher bin, ob ich auf der Reise in den Süden Gesellschaft wünsche. So war das auf jeden Fall nicht vorgesehen. Stimmt auch wieder nicht, eigentlich habe ich gar nichts geplant. Der Entscheid, zu verschwinden, war so spontan, dass ich mich damit selbst überraschte. Da gab es keine Zeit für Planung, da war nur der überfallartige Drang abzuhauen. Nur weg und dies möglichst auf der Stelle. Ich nahm sozusagen den Notausgang. Kurzschluss. Ich will gar nicht daran denken, welchen Scherbenhaufen und wie viele Fragezeichen ich zurückgelassen habe. Und kaum bin ich einige Stunden unterwegs, da hängt mir ein Typ am Rockzipfel, der mein Vater sein könnte.
»Ich habe unzählige Zweifel, über die ich gar nicht reden möchte, zudem finde ich, ehrlich gesagt, nur sehr wenige Argumente, die für eine gemeinsame Reise sprechen.«
»Ach so.«
»Ich bin nicht im Entferntesten auf Gesellschaft vorbereitet. Zudem kennen wir uns doch kaum und auf der Fahrt wären wir uns so nah. Und ich bin immer noch nicht ganz überzeugt, dass Sie kein Frauenmörder sind.«
»Aha. Verstehe.«
»Nein, Sie verstehen gar nichts. Da müssten Sie mich kennen, was Sie aber nicht tun.«
»Dann erzählen Sie von sich. Ich bin ein aufmerksamer Zuhörer.«
Ich bin froh, dass das Plättchen serviert wird und ich Zeit zum Nachdenken erhalte. Geht ihm meine Geschichte überhaupt was an? Das Plättchen entpuppt sich als Platte und sieht verdammt verführerisch aus. Wir greifen zu.
»Ich bin abgehauen, weil ich es nicht mehr ausgehalten habe«, beginne ich trotz meinen Zweifeln zu erzählen. »Können Sie sich vorstellen, in eine Sackgasse geraten zu sein, aus der es keinen Ausweg mehr gibt. Beruflich, gesellschaftlich und beziehungstechnisch habe ich es völlig verkackt. Dabei kann ich nicht mal jemandem die Schuld in die Schuhe schieben. Es war ganz alleine mein Verdienst. Ich bin nicht gesellschaftsfähig, kann meine vorlaute Schnauze nicht halten und lasse keinen Fettnapf aus, in den ich treten kann. Schwer vorstellbar, dass mich jemand vermissen wird.«
Während ich rede, türmt er akribisch Trockenfleisch auf sein Brot. Ich schiebe mir ein Stück Käse in den Mund.
»Gibt es denn etwas Positives über ihre Person zu berichten?«, fragt er, dann beißt er genussvoll in sein Konstrukt.
»Es gäbe schon einige Dinge an meiner Person, die mir gefallen. Zum Beispiel meine Füße, meine Verdauung, mein Hintern und nicht zu vergessen mein unerschütterlicher Sinn für Humor.«
»Nennt man das nicht Zynismus?«
»Ja genau, der ist absolute Weltklasse, wobei mir scheint, dass Sie mir in dieser Disziplin das Wasser reichen könnten.«
Er grinst und nimmt wieder einen Bissen von seinem überhäuften Brot.
»Eine Berufskrankheit, die ich nicht loswerde. Aber erzählen Sie doch konkret, wie Sie es schafften, rundum in Ungnade zu fallen«, meint er, nachdem er sorgfältig gekaut und hinuntergeschluckt hat.
»Der Tropfen, der das Fass zum überlaufen brachte, war meine Weigerung, mich impfen zu lassen. Je mehr man mich drängte, desto mehr weigerte ich mich. Klar, das war idiotisch, aber ich lasse mich zu nichts zwingen, egal, um was es sich handelt. Dabei war der Zwang nicht mal das Ausschlaggebende, es war die Art und Weise, wie man mich nötigte. Leute, mit denen ich eben noch Kaffee getrunken habe, wünschten mir mit einem Mal einen langsamen und qualvollen Tod an den Hals. Das kam nicht mehr in Ordnung, im Gegenteil, wie bei einem Stachel im Fleisch entzündete sich die Stelle und begann zu eitern. Übrig blieb nur Abneigung und Enttäuschung.«
Während ich sprach, zeigte seine Miene alle Ausdrücke von erstaunt, über irritiert bis grimmig. Zuletzt ein dezentes Kopfschütteln.
»Verrückt, was diese Pandemie aus uns gemacht hat. Aber ich denke, das war es nicht alleine, was Sie in die Flucht getrieben hat«, folgert er richtig.
»Ja. Leider gibt es noch weitere Baustellen, nur darüber möchte ich jetzt nicht reden. Zu intim, zu persönlich.«
»Verstehe. Geht mich auch gar nichts an«, murmelt er kauend.
»Sie meinen schon wieder, mich zu verstehen. Hören Sie endlich damit auf, das nervt.«
Ein Traktor mit einem Anhänger voller Mist rumort an uns vorbei, zieht eine ländliche Duftnote hinter sich her. Wir rümpfen die Nasen und müssen lachen. Er bestellt sich ein weiteres Bier, auf was ich auch Lust hätte, aber der letzte Funken Vernunft lässt es nicht zu. Ich werde heute Abend nachlegen.
»Clever ihre Masche mit dem entzogenen Fahrausweis. So können Sie saufen und ich muss nüchtern hinter dem Lenkrad arbeiten.«
»Die Ironie des Schicksals ist, dass ich wegen Alkohol am Steuer den Ausweis entzogen bekommen habe. Ich bin nicht sonderlich stolz darauf, da bei dem Unfall eine Person schwer verletzt wurde.«
Er erzählt das in einem nüchternen Ton, ohne das zu erwartende Selbstmitleid und ohne fühlbare Reue, als wäre es eine Geschichte, die in die Jahre gekommen und beinahe in Vergessenheit geraten ist. Allerdings sprechen seine Augen eine andere Sprache. Die Sicht in die Vergangenheit ist nicht ungetrübt.
»Scheiße!«, sage ich, mehr fällt mir dazu nicht ein.
Schweigend essen wir an dem Plättchen weiter, werfen uns manchmal hastig forschende Blicke zu, nur um zu kontrollieren, wie sich die Laune entwickelt, bewegen wir uns doch auf dünnem Eis mit unseren Geständnissen. Jeder lässt ein wenig die Hosen runter, man sieht zwar nicht viel, aber ahnt Böses.
»Wir könnten ja eine provisorische Vereinbarung treffen. Quasi eine Etappe auf Probe, bevor wir uns definitiv einigen«, schlage ich vor und schiebe den letzten Bissen in den Mund. »Das gäbe uns die Gelegenheit, Ergänzungen und Optimierungen einzubringen.«
»Arbeiten Sie als Juristin im Vertragswesen?«
»Ich bin Lehrerin.«
Er mustert mich von neuem, als sähe er mich in einem überraschend anderen Licht. Ein sparsames Schmunzeln schleicht auf seine Lippen.
»Oh, Lehrerin. Da lag ich mit meiner Einschätzung aber ziemlich falsch. Ich dachte mir, Sie seien eine Pflegefachfrau.«
»Wie kommen Sie denn darauf?«, unterbreche ich ihn.
»Äh, na ja, persönliche Erfahrungen eben.«
Schwierig einzuordnen, was er damit meint, aber ich habe keine Lust nachzuhaken. Vermutlich nichts Erbauliches.
»Ich nehme an, dass es da unvergessliche Erinnerungen an Krankenpflegerinnen gibt.«
»Auf jeden Fall«, sagt er und hat so einen fiesen Zug um den Mund. »Aber zurück zu Ihrem Vorschlag. Er gefällt mir. Ist fair.«
Sie streckt mir tatsächlich die Hand entgegen, als gelte es irgendeinen Kuhhandel abzuschließen. Ich lächle sie an und schlage ein. Ihr Griff ist fest, die Handfläche leicht schwitzig, aber nicht unangenehm.
»Danke«, sage ich.
»Freuen Sie sich nicht zu früh. Da wartet eine harte Bewährung auf Sie.«
»Ich liebe Herausforderungen.«
Der Kellner räumt ab und ich frage nach der Rechnung.
»Das Zeichen für den Aufbruch. Man könnte meinen, Sie haben es eilig.«
»Ich dachte, wir befinden uns auf einer Reise.«
»Sie haben recht, man sollte in Bewegung bleiben, sonst wird man träge und erstarrt zum Schluss.«
Ich bezahle die Zeche, dann setzen wir uns in den Wagen. Sie muss etwas lange orgeln, bis der Motor anspringt, aber das nimmt sie gelassen, als ob sie es gewöhnt wäre. Sie fährt los und steuert durch das beschauliche Hinterland zwischen Yverdon und Lausanne. Wir haben die Fenster runtergekurbelt, lassen die warme Luft durch das Innere strömen und rauchen. Viel wird nicht gesprochen, wir verlieren uns in Tagträumen. Angenehm. Ich denke, diese Reise könnte mir gefallen.
»Kennen Sie den Lac de Joux?«, frage ich vorsichtig im Bewusstsein, dass ich gemäß der Vereinbarung zur Reiseroute nichts zu sagen habe.
»Nein. Muss man den See kennen?«
»Nicht zwingend. Ein idyllischer See in einem langgezogenen Tal hoch oben im Jura. Berühmte Uhrenmanufakturen sind da zu Hause. Die Straße durch das Tal endet in Frankreich, damit kann Genf umfahren werden, sofern man dies wünscht.«
Sie schielt zu mir und meint: »Und wenn ich mitten durch Genf fahren möchte?«
»Diese Option steht weiterhin zur Verfügung. Ich dachte nur, Sie bevorzugen die stille und ländliche Straße. Der Weg ist das Ziel oder so ähnlich.«
»Okay, wir sind ja nicht in Eile. Aber wehe, dieses Tal ist den Umweg nicht wert.«
Ich habe mächtig dick aufgetragen, denn es sind einige Jahre vergangen, seit ich das letzte Mal den Lac de Joux besucht habe. Entsprechend tief muss ich in meinen Erinnerungen wühlen, um den Weg da hoch zu finden. Ich schwitze, will ich mir doch keinesfalls eine Blöße geben, aber mit etwas Dusel erreichen wir nach einer kurvigen Bergfahrt den See. Wir wählen die Straße entlang dem rechten Ufer. Kein Verkehr, es herrscht gähnende Einsamkeit auf dem Asphalt und das Auge kann sich in aller Ruhe an der Idylle laben. Die leicht kräuselnde Oberfläche des Sees glitzert verführerisch, ein erfrischendes Bad wäre durchaus ein kurzer Halt auf dem Weg in den Süden wert. Aber ich behalte diese Idee für mich, denn mir fehlt eine Badehose. Spontanes Nacktbaden wäre zu diesem Zeitpunkt der Reise ein falsches Signal.
Schnell erreichen wir das Ende des Sees, er ist ja nicht sehr groß, und plötzlich steht vor uns die erste Uhrmanufaktur am Rande des Dorfes Le Chenit. Für ein abgelegenes Bergtal ein bemerkenswerter Gebäudekomplex. Nicht protzig, eher eine Erscheinung mit nobler Zurückhaltung, die trotzdem zu verstehen gibt, wer hier zu Hause ist. Staunend rollen wir vorbei und gelangen am anderen Ende des Dorfes zum nächsten Luxusuhrenhersteller von Weltformat. Die Straße führt über Le Brassus an weiteren berühmten Uhrenmanufakturen vorbei bis zur Landesgrenze. Bizarre Eindrücke.
Es sind unterhaltsame Kilometer mit vielen Ah! und Oh! sowie einem Tankstopp, bis wir den französischen Zoll erreichen, wo sich uns zwei uniformierte Beamte in den Weg stellen. Ich krame schon mal meine Identitätskarte hervor, während sie sich hinter dem Steuer versteift und eine säuerliche Miene aufsetzt. Sie rollt langsam bis auf Höhe der Zöllner, hält an und schaut, ohne zu grüßen, stur geradeaus. Trotz der sommerlichen Hitze scheint die Luft um uns herum zu gefrieren. Sie hat offensichtlich ein Problem mit Uniformen oder Grenzen. Vielleicht hat sie was zu verbergen.
Einer der beiden bückt sich und blickt in den Wagen.
»Guten Tag«, grüßt er in einem sachlichen Ton. »Haben Sie etwas zu verzollen?«
Sie reagiert nicht.
»Guten Tag. Entschuldigen Sie, aber meine Nichte versteht kein Französisch, zudem ist sie stumm. Aber abgesehen davon haben wir nichts zu verzollen, wir fahren nur Transit nach Genf.«
Der Zöllner mustert Sie neugierig und gleichzeitig faltet sich seine Stirn voller Mitgefühl.
»Ist in Ordnung, ich wünsche Ihnen eine gute Fahrt.«
Ich bedanke mich, sie quittiert es mit einem undefinierten Laut, dann rollt sie vorsichtig los, als hätten wir rohe Eier geladen. Ich verstaue meinen Ausweis, setze mich wieder bequem hin und harre der Dinge.
Es dauert gefühlte fünf Minuten, bis sie beiläufig bemerkt: »Das war eine echt coole Nummer. Die stumme Nichte, die nichts versteht. Ha!«
»Hauptsache er hat es gefressen.«
Wir gondeln durch eine sanfte Berglandschaft aus fetten Weiden und dunklen Tannenwäldern, an gedrungenen Höfen und ausgestorbenen Talstationen von Sesselbahnen vorbei, ohne zu wissen, wohin wir fahren. Die Wegweiser bei den Abzweigungen sagen mir nichts. Immer tiefer hinein in eine einsame Landschaft.
»Wie heißt du eigentlich?«, fragt sie mit einer unerwarteten Direktheit.
»Benedict. Und du?«
»Emma.«
Wir versinken wieder in Schweigen. Erstmals habe ich ein leises Gefühl von Orientierungsverlust. Wir fahren drauflos und haben keine Ahnung wohin. Der alte R5 verfügt selbstverständlich über kein Navi und Emma hat auch kein portables Gerät an die Frontscheibe gepappt. Wir orientieren uns blind, die grobe Richtung ist Süd-West, vermute ich, und bei jeder Abzweigung entscheidet ihr Instinkt. Wie vereinbart, befiehlt sie, wo es durch geht, und ich muss eingestehen, dass dies mir irgendwie passt. Eine neue Erfahrung, sich einfach treiben zu lassen, entbunden von allen Verantwortungen. Etwas, das mir das Leben bis jetzt vorenthalten hat. Immer musste ich bestimmen, wo es langging, auch wenn es die falsche Richtung war.
»Benedict, das ist ein französisch klingender Name und dein Französisch ist perfekt. Bist du Franzose?«
Ich schrecke aus den Tiefen meiner Gedanken hoch.
»Meine Mutter kommt aus Paris, der Vater aus Toulouse. Ja, ich bin ein echter Sohn der Grande Nation, bin aber Schweizer Bürger. Eine ambivalente Seele, die sich keiner der beiden Staaten zugeordnet fühlt. Ich bin ein Wesen im Niemandsland.«
»Werden die Wurzeln nicht überbewertet?«
»Ja und nein. Mit den Jahren verschieben sich die Prämissen. Die Gründe, wieso ich einst Schweizer werden wollte, haben sich relativiert. Heute spielen sie keine Rolle mehr. Materielle Werte, Sicherheit und Wohlstand haben ihren Reiz verloren. In Frankreich zu sein, ist schön, aber nicht mein ultimativer Wille. Eigentlich bin ich nirgends so richtig zu Hause.«
Im Augenwinkel nehme ich ihr angestrengtes Nachdenken wahr. Sie stiert auf die Straße, ohne sie bewusst wahrzunehmen, sie fährt wie ein Automat.
Nach einer Weile frage ich: »Wo sind denn deine Wurzeln?«
Ihre Antwort kommt prompt: »Basel, aber jetzt habe ich sie ausgerissen.«
Die Worte hat sie voller Verachtung ausgespien, dass ich erschrecke. Die Verletzungen scheinen gravierender zu sein, als vermutet. Sie wird es mir irgendwann erzählen.
»In einem guten Boden werden die Wurzeln wieder Halt finden.«
»Uuuh, das hört sich aber fürchterlich geschwollen an.«
Da hat sie recht und sie hat solch hohle Plattitüde auch nicht verdient. Ich schäme mich dafür.
»Schrecklich. Entschuldige meine Worte.«
Sie lächelt matt und meint: »Vergiss es. Ich halte nichts von nett gemeinten Phrasen. Am besten du gewöhnst dich gleich daran.«
»Ist dies das Kleingedruckte in der Vereinbarung?«
»Betrachte es als kleine Provokation und nimm es nicht persönlich. Ich bin launisch, störrisch, streitsüchtig, stur und nachtragend.«
»Gibt es da auch positive Eigenschaften?«
»Und wenn, dann sind sie verkümmert.«
Scheiße, jetzt wird es gleich sentimental. Daran bin ich wohl selbst schuld, ich, mit meinen dämlichen Bemerkungen. Halt die Schnauze alter Mann, sonst wird das eine mühsame Reise. Mir fehlt jegliche Lust auf Therapiestunden. Ich schweige, was ich bestens beherrsche, und sie hat offensichtlich auch kein Bedürfnis, weiter über ihre Probleme zu sprechen.
Die Straße führt mit reichlich Kurven stetig talwärts, bis wir eine größere Ortschaft namens Oyonnax erreichen. Ein unaufgeregtes Städtchen, das wir durchfahren, ohne anzuhalten. Es ist bald sechszehn Uhr, zu früh, um ein Hotel zu suchen, meint sie, und folgt dem Wegweiser Richtung Lyon. Ein verführerisches Ziel, welches mir gefiele, was ich jedoch für mich behalte.
Plötzlich taucht ein Wegweiser mit dem Namen Lyon auf und irgendwie reizt es mich, dahin zu fahren, um ein Hotel für die erste Übernachtung zu suchen. Ich war noch nie in Lyon, Grund genug, diese Stadt kennenzulernen. Benedict schweigt und scheint die Vereinbarung bezüglich der Routenwahl zu akzeptieren. Vielleicht hätte er denselben Weg eingeschlagen. Anderthalb Stunden später erreichen wir die ersten Vororte.
»Kennst du Lyon?«, frage ich, denn langsam bringt mich der dichte Verkehr ins Schwitzen.
»Ja, ich war schon einige Male hier.«
»Kannst du ein Hotel empfehlen?«
»Wir stiegen immer im Hotel Dieu Intercontinental ab. Die Lage im Stadtzentrum ist phänomenal.«
»Hört sich aber ziemlich abgehoben an.«
»Ist es auch.«
Dieser arrogante Arsch prüft mich. Egal, welches Hotel ich wähle, er wird bezahlen, dies ohne mit der Wimper zu zucken, selbst wenn es eine Suite in dem Luxusschuppen sein sollte. Es wäre aber auch ein Zeichen von Käuflichkeit, entschiede ich mich für den Prunk. Wiederum reizt es, in solch einem Hotel zu nächtigen. Ein bisschen Luxus darf schon sein.
»Du stehst auf Luxus und prahlst gerne damit. Oder täuscht das?«
Ich sehe im Blickwinkel, wie er verständnisvoll nickt.
»Alte Gewohnheiten«, mault er und blickt demonstrativ zum anderen Seitenfenster hinaus, als wäre er beleidigt.
»Vergiss es, war nur so eine unüberlegte Bemerkung.«
»Nein. Ich ärgere mich selbst über meine blasierte Großspurigkeit. Ein Charakterzug wie Fußpilz, unangenehm und schwer loszuwerden. Ich schlage vor, wir parken den Wagen irgendwo und suchen uns ein kleines Hotel in der Innenstadt. Es hat genug davon.«
Mist, dieser Schuss ging nach hinten los. Keine Luxusherberge, nur bescheidenes Mittelmaß.
»Außer, du wünschst eine Übernachtung in einem Fünfstern-Hotel«, ergänzt er.
»Ja, wieso nicht. Jetzt, wo du bezahlst, eröffnet sich die einmalige Gelegenheit, in seidenen Laken zu schlafen. So was kenne ich nicht.«
»Ist ganz nett, aber erwarte nicht zu viel. Man schläft in teuren Betten nicht zwingend besser. Fahr da vorne rechts über die Brücke, dann nach links und alles geradeaus der Rhone entlang. Ganz einfach.«
Ich quäle mich durch das Feierabendchaos, zu Beginn mit etwas Scheu gegenüber den französischen Verkehrsgepflogenheiten, mit der Zeit eindeutig mutiger. Benedict sitzt völlig entspannt neben mir und genießt den Ausblick auf die Stadt im sommerlichen Vorabendlicht. Mein Fahrstil scheint ihn nicht zu beunruhigen. Die Uferstraße will nicht enden.
»Da vorne kannst du rechts ranfahren.«
Ich staune.
»Das ist ein Hotel? Das sieht ja aus wie ein Regierungsgebäude.«
»Das liebe ich an den Franzosen. Wenn sie schon protzen, dann gleich richtig.«
Ich halte mit meinem betagten R5 vor dem Haupteingang an, wo mir ein livrierter Page mit einem smarten Lächeln die Türe öffnet. Er begrüßt mich mit einer unglaublichen Freundlichkeit und gibt mir das Gefühl, den ganzen Tag auf mich gewartet zu haben. Es berührt mich peinlich und bekomme zum Dank nur ein idiotisches Grinsen zustande. Ich steige aus, mein durchschwitztes Tanktop klebt mir am Rücken wie die Shorts am Arsch. Wieso nur habe ich mich nicht besser auf diese Ankunft vorbereitet? Nachdem sie gesehen haben, was für eine ärmliche und stillose Provinzschnalle ich bin, werden die mich nicht mehr ernst nehmen. Die geben mir eine verlauste Abstellkammer und spucken mir ins Essen.
Erst jetzt bemerke ich, wie Benedict einem zweiten Pagen Anweisungen zuflüstert und ihm diskret eine Geldnote zusteckt. Dann stapeln die zwei unser Gepäck auf einen Rollwagen, ein dritter setzt sich hinter das Steuer und fährt davon.
»Komm, wir gehen einchecken und einen Apéro trinken.«
Ich erwache aus meinem Zustand des Staunens.
»He, wo fährt der hin?«
»Das ist der Voiturier und ist während unseres Aufenthalts für deinen Wagen verantwortlich. Mach dir keine Sorgen, er ist weitaus wertvollere Fahrzeuge gewohnt.«
Ich dackle ihm hinterher in die Eingangshalle, wo mir der Unterkiefer entgleist. Wahnsinn! Eine Kuppel wie in einem Dom, mindestens dreißig Meter hoch, sorgfältig restauriert, mit einer modernen Bar und einer ledernen Sitzlandschaft ausstaffiert. Welch räumliche Opulenz.
»Setz dich schon mal hin, ich gehe die Formalitäten erledigen.«
Viele freie Sessel hat es nicht, aber ich schaffe es trotzdem, einen kleinen Tisch mit zwei Sofas zu annektieren. Ich setze mich und nehme das Studium dieses Kuppelbaus wieder auf. Ich bin fasziniert und tief beeindruckt. Ein livrierter Kellner baut sich mit dem üblichen Lächeln vor mir auf und fragt, mit was er mich beglücken darf. Ich verliere kurz den Faden, dann bestelle ich zwei Glas Champagner. Irgendwie überkam mich die Gewissheit, dass nichts anderes passender wäre. Mit einem ‚Avec plaisir, Madame’ sowie einer angedeuteten Verbeugung schwebt er davon. Nur sehr langsam komme ich wieder zurück auf den Boden, bemerke rundum Menschen, die ganz normal erscheinen, die weder im Abendkleid noch im Smoking dasitzen, die sich unterhalten, lachen und in ihre Smartphones glotzen, wie überall auf der Welt. Nichts Verrücktes und doch ein völlig anderes Universum.
Benedict kommt angeschlendert, setzt sich und sagt: »Das war mal während Jahrhunderten ein Hospital, erst vor einigen Jahren hat man es restauriert und ein Hotel daraus gemacht. Beeindruckend, nicht wahr?«
In diesem Moment kommt der Kellner angerauscht und stellt die Gläser mit Champagner und eine kleine Platte mit erlesenen Snacks auf den Tisch. Er wünscht uns viel Vergnügen und löst sich in Luft auf.
»Ausgezeichnete Wahl«, kommentiert Benedict mit einem schelmischen Schmunzeln und hält sein Glas in die Höhe. »Stoßen wir doch auf eine inspirierende Reise in den Süden und auf ein neues Leben an.«
»Santé«, sage ich, mehr fällt mir nicht ein, dann lassen wir es klingen und nippen an den Gläsern.
Ja, er passt in diese Umgebung. Ein Mann von Welt, der selbst in seinem Alter die smartere Lässigkeit ausstrahlt als sämtliche Jungs in meinem Jahrgang. Etwa einsachtzig, schlank, graue Augen mit stechendem Blick, kurzes, graumeliertes Haar, welches auf der Stirn leicht zurückweicht, tief eingegrabene Falten im Gesicht, ein harter Mund, immer noch eine attraktive Erscheinung, sofern man auf ältere Herren steht.
»Du warst schon einige Male hier?«, frage ich.
»Ja, drei bis vier Mal im Jahr. Zum Essen, Trinken und für die Liebe. Ich habe oft meine Affären hierher geschleppt, um sie zu beeindrucken. Keine Angst, diese Epoche habe ich beendet, zudem hat heute Nacht jeder sein eigenes Zimmer.«
Seinen Worten fehlt das Glühen romantischer Erinnerungen und in seinen Augen ist keine Wehmut zu erkennen. Eine nüchterne Antwort auf meine Frage, als erzählte er mir von seinen Schweißfüßen. Ein Verhalten, das Neugier weckt.
»Affären? Mehrzahl?«
Er schiebt ein Häppchen in den Mund, kaut andächtig und meint, nachdem er hinuntergeschluckt hat: »Ich hatte da eine Phase des Trotzes und der Rache. Kurz vor der Scheidung gab ich so richtig Dampf, um meiner jetzigen Ex möglichst große Schmerzen zuzufügen. Eigentlich war es völlig kindisch.«
Das Lachsschnittchen ist köstlich und ich mache mir meine Gedanken, während ich genieße. Ich frage mich, ob ich diese Information im Raum stehen lassen soll oder ob es angemessen wäre, nachzuhaken. Andererseits hätte er nichts erzählt, handle es sich um ein Tabuthema.
»Das berühmte Gemetzel auf dem Schlachtfeld. Hast du verloren?«
Er kippt sein Glas in einem Schluck und gibt der Bedienung auf Distanz zu verstehen, dass die nächste Runde fällig wäre.
»Bei so was kann man nur verlieren. Lebensjahre, Vermögen und sogenannte Freunde. Aber das Schlimmste ist, dass ich daran die Schuld trug. Das sage ich ohne Selbstmitleid und Reue. Ich war ein Arsch und sie eine blöde Zicke. Ich vernachlässigte sie, weil ich zu viel arbeitete und sie betrog mich mit einem fünfunddreißig Jahre jüngeren Studenten. Stell dir das mal vor. Also bediente ich mich beim jungen, weiblichen Pflegepersonal im Krankenhaus und teuren Nutten. Du kannst dir ja vorstellen, so was kann nicht gut enden.«
Ich bin etwas schockiert, versuche es aber nicht zu zeigen. Der redet hier mit einer aufreizenden Selbstverständlichkeit von seinen Fehltritten und dies auf eine derart unerträglich frauenfeindliche Weise, dass ich glatt kotzen könnte.
»Mir scheint, du hältst nicht viel von Frauen, außer sie lassen sich gut ficken.«
Die beiden frischen Gläser Champagner werden mit viel Trallala geliefert.
»Das siehst du eindeutig falsch. Meine Frau war ein Luder und jene, die mir ins Bett folgten, hatten auch nur ihre Karriere im Sinn. Ich bin mir sicher, dass viele sich zwingen mussten, mit mir zu schlafen. All die Frauen, die ich bewunderte, wollten nichts von mir wissen.«
»Hast du denn deine Frau nie geliebt?«
»Oh, die klassische Frage! Ehrlich gesagt: Nein! Ich habe sie als Luder kennengelernt und das ist sie geblieben, genauso. Sie war keine Mogelpackung. Aber ich wollte es nicht wahrhaben, denn sie war eine Venus und unglaublich sexy. Sie war ein Statussymbol und brachte mich gesellschaftlich in andere Sphären. Wir waren schlichtweg ein Traumpaar. Erfolg und Schönheit in Kooperation sind die perfekten Türöffner, was wir zu nutzen wussten, bis wir den Bogen überspannten. Wer hoch oben sitzt, kann tief fallen. Eine der banalsten Binsenwahrheiten überhaupt.«
Irgendwie beginnt mich seine Geschichte zu interessieren. Hört sich an wie ein Groschenroman, aber hinter seinen saloppen Worten verbirgt sich mit grosser Wahrscheinlichkeit eine griechische Tragödie. Womöglich verfügt er über eine beschissenere Vergangenheit, als der äußere Anschein es glauben macht. Das wäre so etwas wie ein Trost, an dem ich mich aufrichten könnte.
»Du machst mir einen geläuterten Eindruck, als hättest du eine moralisch höhere Stufe erreicht. Oder täuscht das?«
»Das siehst du falsch. Ich bin längst im sogenannten Scheißegalmodus. Nichts spielt mehr eine Rolle.«
Göttlich dieses Schnittchen mit Ziegenkäse und Rohschinken.
»Das sagte der Selbstmörder, bevor er von der Brücke sprang«, murmle ich kauend.
Er nippt in aller Ruhe an seinem Glas und blickt mich mit einem entrückten Blick an, als wolle er meinen Worten auf den Grund gehen. Dabei war mir dieser Spruch völlig unüberlegt über die Lippen gerutscht, es war nicht die Absicht, etwas Schlaues von mir zu geben.
Offen gesagt, hat sie durchaus passende Worte gewählt. Zufällig oder aus Intuition, es spielt keine Rolle. Den Tod bewusst zuzulassen, schrammt nahe am Selbstmord vorbei. Kein schneller und schmerzloser Tod, mehr ein Abtreten durch die Hintertür, ein Sterben in Raten. Allerdings muss ich ihr das ja nicht auf die Nase binden.