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Nach dem Unfalltod seines Vaters übernimmt Morton Patterson notgedrungen dessen Pferderanch, zu der er keinerlei Bezug hat und die er vor Jahren bereits verlassen hat. Er wird außerdem der Erziehungsberechtigte für seinen kleinen, zwölfjährigen Bruder Toby, dessen Leben sich ausschließlich um die Pferde und vor allem seinen geliebten Hengst "Butch" dreht. Finanzielle Sorgen und Tobys neue Lehrerin machen Morton zu schaffen. Sie will, dass Toby in einer "anständigen Familie" untergebracht wird und schaltet das Jugendamt ein, denn über der Arbeit und den täglichen Problemen findet sich nicht immer genügend Zeit für den Jungen, der häufig seine eigenen Wege geht. Doch dann erkrankt Toby völlig unerwartet an einem Gehirntumor. Die Ärzte machen Morton keine großen Hoffnungen, was eine Heilung betrifft. Morton weiß nicht, wie er das Geld für die Behandlung aufbringen soll. Tobys Gesundheitszustand verschlechtert sich zusehends. Als das Frühjahr heranbricht, entschließt er sich deshalb, seinem geliebten Hengst die Freiheit zu schenken...
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Seitenzahl: 356
Veröffentlichungsjahr: 2021
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Regan Holdridge
Texte: © Copyright by Regan Holdridge, 2002
Herausgeber: Regina Honold Alpenstr. 24a 87760 Lachen [email protected]
Druck: epubli – ein Service der neopubli GmbH, Berlin
Die Geschichte eines Jungen, eines Pferdes und einer Vision.
Zur Erinnerung an einen schwarzen American Saddlebred Hengst namens „Highland Dale“. Niemand hat mein Leben mehr beeinflusst als er.
Der Junge saß auf einem der harten Holzstühle in dem langen, schmalen Flur. Wie lange er schon dort saß, das konnte er nicht genau sagen, vielleicht eine halbe Stunde, vielleicht auch eine ganze. Nichts geschah um ihn herum, außer, dass ab und zu jemand an ihm vorbeilief, ihn neugierig anschaute und sich dann wieder auf den dunkelblauen Teppichboden des Flurs konzentrierte. Zu einer der Türen, die genau dieselbe Farbe besaßen, wanderten die braunen Augen des Jungen immer wieder hinüber. Irgendwann, vor einiger Zeit, die er nicht benennen konnte, war darin sein großer Bruder verschwunden. Ein Bruder, der sechzehn Jahre älter war als er und den er eigentlich nicht kannte. Dennoch entschied dieser große Bruder soeben über sein Schicksal und darüber, wie es mit ihm weitergehen würde: Wo er leben und aufwachsen sollte, obwohl er schließlich mit seinen elf Lebensjahren durchaus in der Lage gewesen wäre, diese Frage für sich selbst zu entscheiden. Und was ihm ganz und gar nicht behagte, war die Vorstellung, dass sein zukünftiges Dasein sich womöglich in einer engen Stadtwohnung zutragen könnte, weit fort von seinem Zuhause und dem, was ihm wichtig war, ja, eigentlich alles bedeutete.
Dieses Amt hier, das nur dafür zuständig war, die Belange von Kindern und Jugendlichen zu vertreten, würde die Entscheidung treffen, die er selbst vor dem Gesetz und dem Richter noch nicht für sich einfordern durfte. Auch das gefiel dem Jungen nicht und je länger er hier saß und wartete und nichts tun konnte, desto unleidiger wurde seine Stimmung. Dass sein Vater zu schnell gefahren war – dafür konnte er doch nichts und dass er zu seinem großen Bruder im Grunde keinerlei Beziehung hatte, dafür doch auch nicht! Nein, weggehen würde er nicht, niemals! Da konnte niemand etwas daran ändern, auch keine Beamten und kein großer Bruder.
Trotzig verschränkte der Junge die Arme vor der Brust und warf sich auf dem Stuhl zurück. Er wollte endlich wissen, was hinter dieser Tür vor sich ging, welche Entscheidungen die Erwachsenen trafen, obwohl es doch eigentlich ihn betraf! Ihn und sein Leben, seine Zukunft!
Laute Stimmen ließen ihn den Blick heben. Zwei Frauen schoben einen braunhaarigen Jungen, etwa in seinem Alter, den Flur hinab, der sich wild schreiend und weinend zur Wehr setzte. Er schlug wütend um sich, trat und biss und die beiden Frauen hatten ganz offensichtlich größte Mühe, ihn irgendwie vorwärts zu zerren. Sie öffneten eine Tür, bugsierten ihn hinein und schlugen sie hinter sich zu; das schrille Geschrei verstummte.
Der Junge biss sich auf die Unterlippe. Ein Schauer jagte ihm über den Rücken und einen kurzen Moment war er verführt, einfach aufzustehen und davonzulaufen. Warum eigentlich nicht? Wieso sollte er bei seinem großen Bruder bleiben? Er war ihm mehr fremd als vertraut, sie hatten gerade erst begonnen, sich kennenzulernen. Er schüttelte für sich selbst den Kopf. Nein, das wäre unfair und gemein. Das konnte er ihm nicht antun, diesem großen, blonden Mann, der ihrem gemeinsamen Vater sehr ähnlich sah. Er war das genaue Gegenteil zu ihm selbst. Der Junge runzelte die Stirn. Er besaß die braunen Augen und die rötlich schimmernden Haare seiner Mutter, ähnlich der Farbe einer reifen Kastanie, die gerade vom Baum gefallen war. Jedenfalls hatte sein Vater das immer wieder betont. Er selbst konnte dazu nichts sagen – er erinnerte sich nicht an seine Mutter, wusste nicht, wie sie ausgesehen oder sich angefühlt hatte. Das einzige, was ihm geblieben war von seiner Familie, das war ein sechzehn Jahre älterer Bruder.
Immer wieder kreisten seine Gedanken darum, wie schwer es seit diesem Tag vor wenigen Wochen für sie alle plötzlich geworden war, seit dem Tag, an dem sein Vater in das Auto gestiegen und zu schnell gefahren war. Der Junge hasste ihn manchmal dafür, dass er sich nicht an die vorgeschriebene Geschwindigkeit gehalten hatte; dann wäre alles jetzt ganz einfach und normal, wie immer. So jedoch herrschte in ihrer aller Leben Chaos und Ungewissheit und Angst.
Der Junge schloss die Augen und verharrte auf dem harten Holzstuhl, versunken in seine Überlegungen und die Aussichten, was sein weiteres Leben betraf. Irgendwann hörte er, wie eine Türe aufschwang und er öffnete seine Augenlider einen Spalt. Die schlanke, hochgewachsene Gestalt trat zu ihm und eine Hand streckte sich nach ihm aus.
Fragend hob der Junge den Blick und als er in das Gesicht blickte, das ihn an das seines Vaters erinnerte, ahnte er es. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht und er ergriff die ihm angebotene Hand. Sie waren allein mit sich und ihrer verzwickten Brüderbeziehung. Seine kleine Kinderhand verschwand vollkommen in den langen, kräftigen Fingern des jungen Mannes und er marschierte neben ihm her, den Flur entlang, den Weg zurück, den sie gekommen waren und von dem er nicht wusste, ob es der richtige sein würde.
Ein Jahr später
Die angelehnte Haustür des kleinen, einstöckigen Ranchhauses schnellte quietschend auf und ein gesetzter, dürrer Mann trat heraus, unter das Vordach. Er formte seine runzeligen, rauen Hände zu einem Trichter, was seine krächzende Stimme noch lauter über den Hof schallen ließ: „Das Abendessen ist fertig! Lasst mich ja nicht wieder eine Stunde warten!“
Abwartend stemmte er die Hände in die Hüften. Sein lockiges, ungekämmtes Haar besaß eine dunkelgraue Farbe, die beinahe schon ins Weiße überging, obwohl er erst wenig über sechzig war. Die Sonne hatte sein schmales Gesicht im Laufe der vielen Jahre, die er in der freien Natur zugebracht hatte, braun gebrannt und die feinen Äderchen hervortreten lassen. Tiefe Furchen verliefen von der Nase, an den Mundwinkeln vorbei, bis zu seinem kantigen Kinn. Manche Leute, die ihn nicht kannten, bezeichneten sein Gesicht als „gegerbt“ und „typisch“: Typisch für das Land und die Menschen, typisch für die rauhen Witterungen und die jahrzehntelange, harte Arbeit.
„Himmel nochmal!“, fluchte er laut und trat einen Schritt unter der überdachten Veranda heraus. „Hey! Habt ihr Bohnen in den Ohren? Das Abendessen ist fertig!“
In der Mitte des überschaubaren Hofes parkte ein mit Rostflecken und Dellen übersäter Ford Pick-up, dessen hellblaue Farbe unter der Schicht aus Staub und Morast nur schwerlich zu erkennen war. Die Motorhaube stand offen und zwei Männer beugten sich mit kritischen Mienen über den Antrieb des Fahrzeugs.
„Tja“, stieß der eine hervor und fuhr sich mit den Fingern durch das wellige, schwarze Haar. „Er scheint sich allen Ernstes dazu entschlossen zu haben, bald auf den Schrottplatz zu wandern!“ Seine tiefe, markante Stimme drang dem schlankeren, ihn um fast einen Kopf überragenden, jungen Mann wie aus weiter Entfernung ans Ohr.
„Ich fürchte, diesmal hat sogar dein technischer Verstand recht“, lautete die Erwiderung. Mit einem Seufzer richtete er sich auf, wobei sein Kennerblick das Innere des Motorraums begutachtete. Er schüttelte den Kopf, was eine Strähne seines blonden, glatten Haares nach vorn, in die Stirn fallen ließ. „Offen gestanden hat mir das gerade noch gefehlt! Als ob wir nicht schon genug...“ Er brach ab. „Ach, vergiss es. Ist ja auch egal, ändert nichts mehr an dem ganzen Mist!“
Morton Patterson war achtundzwanzig Jahre alt und seit er die Ranch vor einem Jahr von seinem verstorbenen Vater übernommen hatte, war es nicht das erste Mal, dass ihn das Auto im Stich zu lassen drohte. Sein auffallend schlanker, durchtrainierter Körper maß über einen Meter neunzig, was ihn in den alten, ausgewaschenen Jeans fast mager aussehen ließ. Wie immer, wenn ihm etwas Sorgen bereitete, traten auch jetzt seine breiten Kiefernknochen hervor und seine hohe Stirn über den hellblauen Augen runzelte sich in vielen, kurzen Fältchen.
„Lass uns morgen versuchen, ob wir ihn nochmal retten können“, schlug Ray McGill leise seufzend vor und klopfte seinem Arbeitgeber aufmunternd auf die Schulter. „Vielleicht erspart er uns den Gang zum Autohändler, wenn er eine Nacht darüber geschlafen hat, dass wir ihn wirklich entsorgen, wenn er nicht spurt!“
„Jetzt sagt mir mein Magen erstmal, dass Onkel Hank nicht umsonst zum Essen gerufen hat“, erwiderte Morton mit einem verzerrten Lächeln, das seine wahre, deprimierte Stimmung überspielen sollte. Er gab dem anderen jungen Mann einen auffordernden Wink.
Sein zwei Jahre jüngerer Reitlehrer und Pferdetrainer verstand und trat einen Schritt zurück, damit seine Finger nicht dazwischen gerieten, als Morton die Motorhaube mit einem lauten Knall zufallen ließ.
„Na, endlich!“, erklang der Ausruf des Alten vom Wohnhaus her. „Ich schlage schon Wurzeln!“
Morton musste grinsen. „Geh’ du schon vor und versuch’ zu verhindern, dass er wieder zu rotieren anfängt! Ich hole Toby.“
„Geht klar, Boss!“ Ray lachte auf seine sehr eigene Art, wie nur er es mit seiner tiefen Stimme zu tun vermochte.
Wer Ray McGill zum ersten Mal begegnete, dem stach immer zuerst sein kantiges Gesicht ins Auge, das von ungewöhnlicher Ebenmäßigkeit, ja geradezu auffallender Attraktivität war. Die dichten, schwarzen Brauen betonten das Türkisblau seiner Augen noch deutlicher, was zu seiner bräunlichen, von der Sonne gedunkelten Haut beinahe exotisch wirkte. Jetzt grinste er, wobei seine geraden, weißen Zähne zwischen den geschwungenen, vollen Lippen aufblitzten. Er bemerkte den sorgenvollen Blick, mit dem Morton Patterson das Auto bedachte.
„Schau nicht, als wäre er abgebrannt! Noch fährt er doch!“
„Noch, ja!“, bestätigte der junge Ranchbesitzer mit düsterer Miene und trat mit dem Stiefel gegen den linken Vorderreifen. „Zu seiner eigenen Sicherheit würde ich ihm auch raten, das noch länger zu tun!“
Von Südwesten, den flachen, langgezogenen Hügel herab, wand sich der schmale, geteerte Weg in Richtung Stadt zwischen hohem Präriegras und vereinzelten Sträuchern in den gut dreißig Fuß breiten, sandbedeckten Innenhof hinab. Zur linken Straßenseite hin befanden sich die ausgedehnten, unterteilten Pferdekoppeln mit ihren dreireihigen, schiefen Zaunlatten aus den Stämmen junger Bäume. Rechts, versteckt hinter wucherndem Gestrüpp und Brombeeren stand das Ranchhaus und etwa zehn Schritte dahinter begann der ausgedehnte, mehrere Quadratmeilen große Mischwald mit seinen mächtigen Kiefern, deren Alter zu bestimmen unmöglich war. Sichelförmig erstreckten sich die Bäume in weitem Bogen über das Land, zunächst nach Nordosten, um dann, gut zwölf Meilen entfernt, in Richtung Westen abzuknicken. Die letzten Ausläufer im Süden grenzten unmittelbar an die Gebäude der kleinen Ranch, die sich schützend in den Waldsaum drückten.
Hinter den letzten Koppelzäunen stand der lange, flache Pferdestall, den Hank zusammen mit Randall Patterson vor knapp fünfzehn Jahren neu gebaut hatte. Ein doppelflügliges Tor, das von Frühjahr bis in den Herbst hinein den Tag über offen stand, führte in eine breite, helle Stallgasse, von der aus die Pferde gefüttert wurden.
Genau in der Mitte zwischen Stall und Ranchhaus erhob sich die stattliche, alte Scheune aus Gründerzeiten mit ihren fast drei Meter hohen Toren und nur das weiße Windrad zu ihrer Rechten, dessen Flügel sich unaufhörlich im frischen Spätsommerwind drehten, überragte ihre imposante Erscheinung noch.
Um die letzten, alleinstehenden Bäume des Waldes, von denen eine Handvoll bis zwischen Pferdestall und Scheune heranreichten, war ein weiterer Koppelzaun errichtet worden, auf dessen oberster Stange zwei zwölfjährige Jungen saßen. Neben ihnen döste eine kleine, wohlgenährte Stute von rostbrauner Farbe. Eine breite, weiße Blesse verlief unregelmäßig über ihrer Nase. Sie hielt den Kopf gesenkt, während der Führstrick am Halfter unbeachtet auf die Erde herabhing.
„Ihr seid unmöglich, ihr alle zusammen!“, schimpfte Hank, als er Ray nun kommen sah und trommelte mit seiner rechten Stiefelspitze demonstrativ auf den trockenen Erdboden. „Dass man euch doch immer eine halbe Stunde eher rufen muss, damit ihr euch bequemt, zu meinem mühevoll bereiteten Mahl zu erscheinen!“
„Dann wollen wir dich nicht länger enttäuschen! Was gibt’s denn heute?“ Ray schnupperte. Der verlockende Duft aus der Küche stieg ihm in die Nase und er schob Hank kurz entschlossen zur Haustüre.
„Wir sind immer noch nicht vollzählig!“, protestierte der Alte, da es ihm nicht gelang, sich aus dem Griff des jungen Mannes freizumachen.
Morton legte sich die Hand schützend über die Augen und blickte abwartend zu der Koppel zwischen Pferdestall und Scheune hinüber.
„Toby!“, rief er seinem kleinen Bruder schließlich zu, als dieser noch immer keine Anstalten machte, sich zu rühren. „Kommst du?“
Die beiden Jungen unterbrachen ihre lachende Unterhaltung. Endlich sprangen sie von der Zaunlatte.
„Dann treffen wir uns morgen, vor der Schule!“, sagte Aaron, der kleinere der beiden, ein wenig rundlich geraten und mit einer dunkelblonden Stoppelfrisur. Er griff nach dem Führstrick am Halfter seiner Stute.
„Leider!“, knirschte Toby und verzog gequält das Gesicht. „Was haben wir denn eigentlich für Schularbeiten auf? Darüber bist du doch immer informiert!“
„Oh, oh“, machte Aaron, Böses ahnend und seine braunen Augen weiteten sich bedenklich. „Wenn du sie morgen wieder nicht hast…“
„Ach was!“, fiel sein bester Freund ihm mit einer scheinbar lässigen Handbewegung ins Wort. „Was soll denn schon groß passieren? Dann gibt Miss Shaughnessy mir eben wieder einen Strich auf dieser lächerlichen ‚Hausaufgaben-Vergessens-Liste‘! Na, und?“
Das klang sehr erwachsen und mutig, auch, wenn ihm bei der Vorstellung an den Zorn und das Geschrei seiner Klassenlehrerin nicht ganz wohl zumute war.
„Na, du musst es ja wissen! Den Ärger erspare ich mir jedenfalls lieber! Darum muss der Fernseher heute Abend auch aus bleiben. Mathe ist angesagt. Vielleicht kapiere ich das doch noch eines Tages!“ Aaron zog seine träge Stute ungeduldig hinter sich her. „Nun komm schon, Bella! Du darfst doch zu den anderen auf die Koppel! Wenn sie bloß nicht immer so faul wäre! Nicht einmal der Gedanke an frisches Gras kann sie beschleunigen!“
„Probier’s doch mal mit einer doppelten Ration Hafer“, riet Toby und lief seinem Freund voraus, um den Riegel beiseitezuschieben und das Tor zu öffnen. Kaum, dass sich die Lücke im Zaun auftat, schien die Stute ihr Ziel zu erkennen. Sie stieß ein kurzes, übermütiges Quietschen aus und trabte unerwartet los.
„Hey!“ Hastig versuchte Aaron, das Halfter über ihre Ohren zu ziehen, doch seine kurzen Beine konnten mit der ungewöhnlich schnellen Gangart seines Pferdes nicht mithalten. Zwei Meter vor dem Tor beschloss Bella, das hinderliche Stück Leder ohne Hilfe ihres Besitzers abzuwerfen. Die ruckartige Bewegung brachte den Jungen, der ohnehin schon auf Höhe ihrer Hinterbeine zurückgefallen war, ins Straucheln. Ein dumpfer Schlag übertönte das Trappeln der Hufe. Toby grinste, während er das Tor hinter der Stute wieder verschloss und Aaron sich ächzend auf die Beine rappelte.
„Oh man! Ich möchte nur ein einziges Mal erleben, dass sie beim Reiten auch freiwillig so rennt!“ Aaron klopfte sich den Sand von der Jeans. „Irgendwann kriege ich richtig Ärger wegen ihr! Zum Beispiel, wenn sie wieder mitten auf der Straße zu pennen anfängt und den ganzen Verkehr aufhält!“
„Den Ärger kriegst du auch so“, meinte Toby trocken und nahm seinem besten Freund das Halfter aus der Hand. „Und zwar dann, wenn du heute schon wieder zu spät nach Hause kommst!“
„Au backe! Wie spät ist es denn?“ Aaron warf einen Blick auf seine Armbanduhr. „Was?! Schon halb sechs? Ach du Schande! Meine Eltern reißen mir den Kopf ab!“
Entsetzt stürzte Aaron zu seinem Fahrrad, das den ganzen Nachmittag über achtlos neben dem Koppelzaun, im Gras gelegen hatte. „Bis morgen!“, rief er über die Schulter zurück, während er bereits mit aller Kraft in die Pedale trat und das Rad den leichten Anstieg der schmalen Straße hinauf lenkte.
Eilig hängte Toby das Halfter an den Anbindebalken vor dem Koppelzaun und lief zu seinem Bruder hinüber, der noch immer vor dem Haus stand und auf ihn wartete. „Ich komme schon!“
„Wo ist Butch?“, wollte Morton wissen.
„Da – noch draußen!“ Der braunhaarige Junge deutete hinter sich, zur Koppel, auf deren Zaunlatte er und sein Freund eben noch gesessen hatten und wo jetzt ein goldfarbener, großer Hengst neugierig seinen zierlichen, hübschen Kopf darüber streckte.
„Ich bringe ihn erst nachher in den Stall. Jetzt ist es noch so warm!“
„Von mir aus!“ Fürsorglich legte Morton ihm die Hände auf die Schultern. „Allerdings hoffe ich, dass Bellas Halfter nicht morgen früh noch dort hängt, wo es nichts verloren hat!“
„Natürlich nicht!“, versicherte Toby entrüstet und verzog beleidigt sein rundes Jungengesicht mit der Stupsnase und den vielen, kleinen Sommersprossen.
Seufzend winkte Morton ab. „Schon gut. Und was treibt der Hund?“
„Hmm!“ Suchend drehte Toby den Kopf in alle Richtungen. „Vorhin war er noch da! Wirklich! Ich schwöre es!“
„Du weißt, dass er nicht herumstreunen soll!“ Mahnend zog der junge Mann die Brauen hoch. „Sollte er zu wildern anfangen…“
„Das tut er nicht! Niemals! Dazu ist er doch viel zu faul!“, verteidigte Toby seinen Hund fest überzeugt und schrie aus Leibeskräften: „Shaggy! Shaggy! Komm hierher!“
Keine zwei Wimpernschläge später kam um das Eck des Pferdestalls ein gelbbrauner, zottiger Hund geschossen.
„Siehst du, was habe ich gesagt?“ Triumphierend kraulte Toby dem Tier das Kinn. Schwanzwedelnd blickten die treuen, dunklen Knopfaugen zu dem Jungen hinauf. Das dichte Fell kringelte sich um den stämmigen Körper und verdeckte die kleinen Schlappohren fast vollständig. Obwohl er jeden zweiten Tag gebürstet werden musste, sah ihm das nie jemand an, weil sich immer irgendwelcher Unrat in seinem Fell verfing.
„Komm, du kriegst jetzt auch was zu Abendessen!“, versprach Toby und klopfte sich auf den Schenkel, was bei Shaggy erfreutes Kläffen auslöste und ihn wie einen Gummiball auf und ab springen ließ.
Zufrieden ächzend lehnte Toby sich auf dem Stuhl zurück und schob den leeren Teller in die Mitte des kurzen, rechteckigen Tisches.
„Nirgendwo sonst auf der Welt gibt es ein solches Steak!“, erklärte er und rieb sich den vollen Bauch.
„Na, ist ja schön, dass wir dich doch noch satt bekommen haben“, kommentierte sein großer Bruder und schmunzelte. Er schien jedesmal wieder verblüfft, wieviel Essbares doch in einem kleinen Jungen Platz fand. „Bald besteht unsere größte Geldausgabe in deinen Essensvorräten!“
Er und Ray saßen bereits seit fast zehn Minuten bei ihrem allabendlichen Kaffee, bei dem sie stets die Ereignisse des Tages besprachen und den Terminplan für den darauffolgenden gleich mit.
Der Wohnraum der Ranch nahm die größte Fläche im Erdgeschoß ein. An der Wand gegenüber der Haustüre führte die schmale Holztreppe ins obere Stockwerk hinauf und direkt links war ein offener Kamin mit großen, rauen Steinen in die Wand eingebaut. Im Anschluss ging ein offener Durchgang in die schmale Küche. In der Mitte des Raumes hatte der alte Holztisch mit der breiten Schramme quer über der Platte seinen Platz eingenommen. Dort saßen sie in der Regel jeden Abend zusammen, diskutierten die Geschehnisse des vergangenen Tages und planten die bevorstehenden Arbeiten.
„Es freut einen immer, wenn man erfährt, dass man auf seine alten Tage hin nicht ganz unnütz geworden ist“, meinte Hank mit einem Augenzwinkern und trug den Teller hinüber in die Küche zum restlichen Abwasch.
„Sollte es jemals soweit sein“, rief Morton, „erhältst du es von mir ohnehin schriftlich!“
„Das hat dein Vater auch sein Leben lang zu mir gesagt und im Laufe der vergangenen zweiunddreißig Jahre bestimmt schon mehr als fünfhundert Mal, aber wie du feststellen musst, hat er auch immer nur davon gesprochen. Das heißt…“ Verschmitzt grinsend kratzte er sich das unrasierte Kinn, das mit grauen Bartstoppeln übersät war. „Eigentlich auch nur dann, wenn mein vorlautes Mundwerk wieder einmal schneller war als mein Verstand!“
„Jetzt will ich noch Kuchen“, verkündete Toby mit leuchtenden Augen. Allmählich fand sich in seinem Magen wieder Platz für neue Genüsse. Außerdem wollte er noch dableiben, bei den Männern und mitreden, wenn sie den Ablauf für den morgigen Tag besprachen. Auch, wenn ihm das leider nichts brachte, denn auf ihn wartete ja diese leidige Schule mit der neuen Lehrerin, die er nicht ausstehen konnte. Aber immerhin würde ihm die Ranch ja eines Tages einmal gehören, da konnte er nicht früh genug anfangen, sich mit allen wichtigen Dingen zu beschäftigen, die diese betrafen.
„Kommt nicht in Frage!“, widersprach sein großer Bruder prompt und machte eine energische Handbewegung. „Sonst kannst du heute Nacht wieder nicht schlafen, weil dir schlecht ist!“
„Oh man! Das ist gemein!“ Enttäuscht vergrub Toby den Kopf zwischen den Händen. Was verstand denn Morton schon davon? „Und dann soll ich mich jetzt auch noch auf meine Schularbeiten konzentrieren können, wenn mein Magen knurrt!“
„Der hat überhaupt keinen Grund mehr zu knurren!“, beharrte Morton unnachgiebig. „Was macht die Schule überhaupt?“
„Ach, hör mir bloß damit auf!“ Genervt verdrehte Toby die Augen. „Diese neue Lehrerin! Sie ist eine Zumutung – jedenfalls für mich!“
„Neue Lehrerin?“ Fragend blickte Ray den jungen Ranchbesitzer an. Bisher hatte er dem kleinen Zank der beiden Brüder lediglich amüsiert zugehört.
„Nachdem Mr. Bingham doch in Pension gegangen ist, haben sie eine junge Frau eingestellt – frisch vom Studium“, gab Morton achselzuckend Auskunft. „Sie muss ungewöhnlich gute Noten und Zeugnisse aufzuweisen haben. Direktor Okonek ist jedenfalls völlig begeistert von ihren Fähigkeiten!“
„Ich nicht“, warf Toby ein. Die Aussicht, am anderen Morgen wieder zu ihr in den Unterricht zu müssen, behagte ihm schon jetzt herzlich wenig. „Sie ist furchtbar streng und lässt wirklich überhaupt nichts durchgehen! Und dann die Masse an Hausaufgaben, die sie aufgibt – ein Wahnsinn! Ich weiß gar nicht, wer das alles schaffen soll!“ Frustriert verdrehte der Junge die Augen. „Hoffentlich bessert die sich noch!“
Mortons Mundwinkel zuckten verdächtig. „Am besten fängst du gleich damit an“, schlug er vor, „bevor du Butch von der Koppel holst! Dann wirkt der restliche Teil vielleicht nicht mehr ganz so abschreckend!“
„Das werde ich auch müssen“, knurrte Toby verstimmt und erhob sich widerstrebend von seinem Platz. „Sonst werde ich heute nämlich überhaupt nicht mehr fertig!“
„Vielleicht sollte ich mich mal eingehender mit deiner Lehrerin beschäftigen“, schlug Ray hinter seiner Kaffeetasse heraus vor und grinste. „Wie sieht sie denn aus?“
„Lass Tobys Lehrerin in Frieden!“, befahl Morton und rollte die Augen. „Es reicht schon, wenn die Hälfte der Damen in der Stadt nicht mehr sicher sind!“
„Warum sind sie nicht mehr sicher?“, wollte Toby von der Treppe her wissen. „Wegen Ray? Was macht er denn mit ihnen?“
Morton drehte sich auf seinem Stuhl zu ihm herum. „Das erklär’ ich dir anderes mal und in der Hoffnung, dass du dir Ray niemals zum Vorbild nimmst. Vorher machst du aber deine Hausaufgaben!“
Toby wusste, es hatte keinen Sinn, mit seinem großen Bruder zu streiten, wenn es um die Schularbeit ging. Da hatte er bereits mehrmals den Kürzeren gezogen.
„Shaggy!“ Augenblicklich tapsten die Pfoten des gelbbraunen Hundes auf den Holzbohlen des Fußbodens.
„Ich hoffe, er hat sich nicht wieder im Schlamm gewälzt, wenn er heute Nacht dein Bett seiner Decke als Schlafstätte vorziehen sollte“, wünschte sich Morton mit prüfendem Blick auf den Hund.
„Selbst wenn“, meinte Ray mit unbeteiligter Miene und stand auf, um sich in der Küche noch Kaffee nachzuschenken. „Er hat heute schon im Wassertrog gebadet! Zwar nicht unbedingt freiwillig, aber sauber ist er auf alle Fälle!“
„Ach, darum sieht er so zerzaust aus!“ Vorwurfsvoll stemmte Toby die Arme in die Hüften. „Du sollst ihn nicht immer aus Rache in den Trog werfen, wenn du selber schuld bist! Wieso lässt du dich auch jedesmal von ihm ärgern?“
„Wer spricht von seiner Unerzogenheit? Er war so gehorsam und anständig wie selten!“ Grinsend lehnte Ray sich an den Türrahmen zur Küche. „Wir haben gespielt – und dabei meinte er mir beweisen zu müssen, was für ein unübertrefflich toller Hochspringer er doch ist! Nun – seine Füße sind leider für ein Hindernis in der Größenordnung des Wassertrogs doch ein wenig zu kurz!“
Toby seufzte versöhnlich. „Diese Geschichte hätte ich mir an deiner Stelle jetzt auch ausgedacht! Komm, Shaggy! Wir müssen noch Schularbeiten machen!“ Mit der linken Hand am Geländer zog er sich lustlos und ohne großen Einsatzwillen die Stufen der Treppe hinauf.
„Den Vorwurf lasse ich nicht auf mir sitzen!“, rief Ray ihm, gespielt schmollend, nach.
Kläffend jagte Shaggy seinem Herrn hinterher und überholte ihn mit wenigen, mühelosen Sätzen. Toby ließ sich auf das Spiel ein und versuchte, den kleinen Hund einzuholen und er hatte ihn schon fast erreicht. Noch, ein, zwei große Schritte, doch – der Boden! Was geschah mit den Stufen? Sie wankten plötzlich unter ihm, als befände er sich auf einem Schiff bei Windstärke zehn! Zuerst gingen sie von rechts nach links und dann zurück, als balancierte er auf einem wild schlagenden Pendel und schließlich drehte sich seine gesamte Umgebung wie ein Karussell um seinen Kopf. Mit beiden Armen ruderte Toby nach dem stützenden Halt des Treppengeländers. Die Wellen schlugen donnernd und tosend über ihm zusammen, wollten ihn zu Boden reißen, doch das harte Holz des Geländers, um das sich seine Finger mit aller Kraft schlossen, hielt ihn, hielt ihn auf den Beinen, ließ ihn zurück in die Wirklichkeit finden. Der schier unerträgliche Krach, das Hämmern und Pochen in seinem Schädel verlor an Intensität, wurde leiser von Sekunde zu Sekunde.
„Hey! Was ist denn?“ Von sehr weit her hörte Toby, wie sein großer Bruder aufsprang, die Stuhlbeine schabten über den Boden und eine Hand packte ihn durch die Sprossen am Wadenbein. Er spürte, wie er leicht geschüttelt wurde. „Ist dir nicht gut?“
Genauso unerwartet wie es über ihn gekommen war, verschwand es auch wieder. Der Nebel um sein Bewusstsein lichtete sich. Die verschwommene, dunkel und grau gewordene Welt, die den Wohnraum darstellte, nahm wieder ihre vertrauten Konturen an. Ein wenig blass um die Nase hob Toby den auf die Arme gestützten Kopf.
„Doch, doch!“, murmelte er schnell. Wie merkwürdig hohl seine Stimme klang, als hallte sie zigtausendmal in seinem Körper wider. „Alles in Ordnung! Ich bin nur gestern vom Fahrrad gefallen.“ Das war nicht einmal gelogen. „Aber ist nicht weiter schlimm!“
Noch war ihm ein wenig flau im Magen und in seinem Schädel pochte ein eigenartiger, stechender Schmerz im Rhythmus seines Pulsschlags und jagte ihm einen Angstschauer über den Rücken, doch mit letzter Mühe brachte Toby ein Lächeln zustande.
„Ich fange jetzt endlich mit den Hausaufgaben an“, erklärte er leise und stieg behutsam, um sein unsicheres Gleichgewicht und die zittrigen Knie zu verbergen, die restlichen Stufen empor, in den Flur, wo Shaggy schon die ganze Zeit auf ihn wartete. Niemand sollte sich um ihn sorgen müssen – erst recht nicht Morton oder Ray, die schon genug eigene Probleme hatten.
Kaum, dass oben die Zimmertüre in den Angeln knarrte, brach Hank das eingetretene Schweigen: „Er ist vom Fahrrad gefallen, ja, aber davon hat er sich nicht mal eine Schürfwunde eingefangen!“ Unverkennbar kritisch fixierte er den jungen, blonden Mann.
Müde winkte Morton ab. Obwohl sein Verstand ihn eines Besseren belehren wollte, tat er, als ob ihn die Geschehnisse von eben nicht beunruhigen konnten. „Vielleicht ist er einfach in der Schule zur Zeit ein wenig überfordert. Obwohl ich mir eigentlich überhaupt nicht vorstellen kann, dass es dort tatsächlich so schlimm ist, wie er immer tut. Ich meine, ich habe diese Miss Shaughnessy als sehr offene, freundliche…“
„Seine Lehrerin wird kaum an Tobys Zustand schuld sein!“, warf Ray ernst ein.
Morton seufzte und starrte regungslos vor sich hin. „Vielleicht ist es auch bloß ein Wachstumsschub. So was soll’s geben...“
„Tatsächlich?“ Zerstreut nahm Ray einen großen Schluck seines heißen, schwarzen Kaffees. Der eigenartige Anfall des Jungen von eben, den er nicht so recht zu deuten vermochte, beschäftigte ihn. „Hoffen wir, dass Toby keine Gehirnerschütterung hat! Das ist nicht besonders angenehm, wie ich aus eigener Erfahrung weiß!“
„So verweichlicht ist er nun wirklich nicht, dass er vom Zusammenstoß mit einem Brombeerstrauch gleich einen derartigen Schaden davonträgt!“ Eindringlich schaute Hank zu Morton hinüber, der noch immer an der Treppe lehnte und den Blick starr auf seine schmutzigen Stiefel gerichtet hielt. Schonungslos fuhr der Alte fort: „Es war nicht das erste Mal, dass Toby schwindelig geworden ist. Er ist zwar verflixt gut darin, irgendetwas zu verheimlichen, aber mich haut er so schnell nicht übers Ohr! Das erste Mal ist es mir schon vor etwa einem Monat aufgefallen.“
Die hellblauen Augen des jungen Mannes weiteten sich. „Ein Monat?!“
Er versuchte, sich sein kaum nennenswertes Wissen über Medizin in Erinnerung zu rufen, doch das half ihm auch nicht sonderlich. Nur seine feinhörige, innere Stimme jagte ihm einen erschreckenden Schauer über den Rücken, aber er war zu gut darin geübt, die Ohren zuzuhalten, als dass er sie wirklich beachtet hätte.
„Ach, vielleicht liegt es wirklich nur daran, dass er größer wird“, versuchte Ray ihn und noch mehr sich selbst, zu beruhigen, doch es klang nicht sehr überzeugend. „Du siehst ja, was er den ganzen Tag so vertilgt! Sei kein Pessimist, Hank!“
Seufzend raufte Morton sich das kurze, blonde Haar. „Lass uns das mit Toby einfach mal beobachten! Vielleicht vergeht es ja von selbst wieder!“ Erschöpft legte er sich einen Moment die Hand über die geschlossenen Augen. „Und apropos Pessimist: Unser hochgeschätzter fahrbarer Untersatz scheint sich dazu entschlossen zu haben, in nächster Zeit wieder einmal zu versagen!“
„Oh!“, machte Hank gedehnt und zog unheilvoll die Stirne kraus. „Dann wäre da aber auch noch die defekte Wasserpumpe!“
„Tja“, kommentierte Ray, wie nur sein realistisch veranlagter Kopf dazu imstande war. „Bei der gibt es nur noch die radikalste Möglichkeit und zwar die der Verschrottung! Gut, im Moment können wir das Wasser noch mit dem Schlauch von der Scheune herüberleiten – aber im Winter?! Wenn wir jeden einzelnen Eimer schleppen müssen?!“ Auf seinem gutaussehenden Gesicht konnte jeder deutlich ablesen, dass er sich diese entsetzliche Schufterei gerade bildlich ausmalte.
„Antrag gestrichen!“ Morton schüttelte den Kopf. „Jedenfalls für die nächsten Wochen. Hast du dir schon einmal diese kleine Zettelchen angesehen, die sich Preisschilder nennen?!“
„Das mit der Wasserpumpe hab’ ich schon lange gesagt“, kommentierte Hank.
„Vielleicht sollte sich jeder von uns eine reiche Witwe angeln“, warf Morton zynisch ein und schlenderte an den Tisch zurück, um seinen nur noch lauwarmen Kaffee in einem Zug auszutrinken. „Oder wir fahren nach Vegas und spielen Roulette!“
Hank kicherte. „Und welchen Einsatz willst du bringen, du gescheites Köpfchen, wenn du nichts hast?“
Kraftlos ließ Morton sich auf einen der Stühle sinken. „Manchmal frage ich mich, was uns denn noch passieren kann? Und kaum, dass ich das getan habe, kommt wieder jemand vorbei und steckt mir das nächste Problem in den Kragen!“
Eine lange Minute herrschte bedrücktes Schweigen im Wohnraum und nur das leise Ticken der Wanduhr über dem Kamin, zeugte als einziger Beweis davon, dass die Zeit unaufhörlich fortschritt. Keiner wusste so recht, was er darauf antworten sollte, denn die Tatsache, dass die Worte Mortons zweifellos korrekt zu sein schienen, bestürzte sie alle ein wenig.
Als erster traute Ray sich, den Mund wieder aufzumachen, wie immer in heiklen Momenten. Es gab sowieso kaum etwas, wovor er zurückschreckte. Weshalb auch? Er hatte in seinem sechsundzwanzigjährigen Leben schon zuviel gesehen, als dass ihn noch irgendetwas wirklich aus der Fassung bringen konnte.
„Ich schau mir den Karren morgen auf jeden Fall nochmal an und diese verfluchte Pumpe auch“, versprach er, wobei seine blauen Augen ein wenig verunsichert auf dem jungen Ranchbesitzer ruhten. So hoffnungslos kannte er ihn überhaupt nicht. „Vielleicht lässt sich ja doch noch etwas retten!“
Mit einem dankbaren Lächeln drehte Morton den Kopf herum: „Morgen kommt ein Züchter aus Utah, um sich unsere Jungpferde anzusehen.“
„Ich weiß“, erwiderte Ray und nickte leicht. „Du hast das erwähnt. Ich kenne ihn flüchtig. Wenn ich ihn nicht völlig falsch in Erinnerung habe, werden wir ein paar Pferde zu einem sehr guten Preis an ihn verkaufen können!“
Die beiden jungen Männer warfen sich einen langen, vielsagenden Blick zu. Sie wussten beide, dass dieses gewöhnliche Geschäft viel bedeutender wog, als sie es sich gegenseitig eingestanden.
Keiner der Männer ahnte, dass hinter der Mauer, am Rand der Treppe, Toby stand und jedes Wort belauschen konnte. Er hatte zwar die Türe seines Zimmers geöffnet, ja, aber dann war er zurückgeschlichen, weil er gewusst hatte, dass sie über ihn und den Schwindelanfall sprechen würden.
Neben ihm verharrte regungslos der gelbbraune, zottige Hund, als belausche auch er die Gespräche. Langsam wandte Toby sich ab. Auf Zehenspitzen ging er in sein Zimmer zurück, um sich dort an den Schreibtisch zu setzen. Das offene Fenster vor ihm zeigte in Richtung des Stalls und er konnte die Pferde auf den Koppeln beobachten. Nein, er durfte auf keinen Fall krank werden und er konnte niemandem – weder Ray, noch Hank und schon gar nicht Morton – anvertrauen, dass diese Kopfschmerzen und das Schwindelgefühl ihn schon sehr viel länger quälten, als sie alle vermuteten. Das musste sein Geheimnis bleiben.. Sie hatten schon genug Sorgen – auch ohne die seinen.
Gedankenverloren kraulte er seinen Hund hinter den Schlappohren, während er mit der anderen Hand die Seiten des Mathematikbuchs umschlug. Als Morton vor mehr als einem Jahr sein Leben in Kansas City aufgegeben und zurück auf die Ranch gekommen war, hatte Toby geglaubt, alles würde gut werden. Das hatte sich jedoch als Trugschluss erwiesen, dumme, törichte Kinderträume waren das gewesen, nichts weiter.
Morton hat sich nie für die Ranch interessiert, dachte er und diese Tatsache schmerzte ihn. Genauso wenig, wie für mich oder für Dad. Wir waren ihm beide gleichgültig.
Bis zu Randalls Tod – dann war Morton auf einmal mit all dem konfrontiert worden, was er gemieden hatte, solange Toby sich erinnern konnte. Natürlich – sein Vater hatte ihn hin und wieder in den Bus gesetzt, damit er zu seinem großen Bruder fahren konnte, in den Schulferien. Zuerst war da immer diese Frau gewesen, die er nicht hatte ausstehen können und dann, irgendwann, hatten sie sich immer seltener gesehen. Als ihr Vater den tödlichen Unfall gehabt hatte, war ihr letztes Treffen über ein Jahr zurückgelegen und der junge, blonde Mann, der plötzlich in der Tür gestanden hatte, fast ein Fremder für ihn gewesen.
Aber das ist er nicht mehr, dachte Toby. Er ist einfach mein Bruder, genau wie Ray und Hank meine Freunde sind.
Diese drei Männer waren die einzige Familie, die er hatte und er durfte auf keinen Fall zulassen, dass sie einander wieder verloren, nur, weil es ihm gerade nicht gut ging. Wegen ihm waren sie alle auf der Ranch vereint und jetzt bestand seine Aufgabe darin, dafür zu sorgen, dass sie es auch bleiben würden.
Das lange, einstöckige Schulgebäude der kleinen Stadt im mittleren Westen des Bundesstaates Colorado lag ruhig und von einem großen, geteerten Pausenhof umgeben am Rande der südlichen Stadtgrenze. Hinter einem Holzzaun erstreckte sich der Pausenhof und neben der breiten, schweren Eingangstür des Gebäudes lehnten unzählige Fahrräder quer neben- und durcheinander unter den Fenstern. Das Haus selbst stammte aus den 30er Jahren und wirkte mit seinen hohen Fenstern fast ein wenig antiquarisch und überholt.
Der Unterricht hatte schon längst begonnen und im langen Flur des Erdgeschoßes herrschte andächtige Stille, als auf einmal die Tür aufschwang und ein Junge in Bluejeans und grün-kariertem Hemd hereinstürmte. Immer zwei Stufen auf einmal nehmend, rannte er die Treppe ins Obergeschoß hinauf. Mit Schrecken entdeckte er die Uhr an der Wand. Ihm graute bei der Vorstellung dessen, was ihm nun wohl blühen würde und er konnte nicht leugnen, dass ihm dabei ausgesprochen mulmig zumute wurde. Er kannte die Zornesausbrüche seiner Lehrerin mittlerweile nur allzu gut.
Schweigend und aufmerksam horchten die einundzwanzig Kinder auf die Stimme der jungen Frau vor der grünen, breiten Tafel, die hinter dem Lehrerpult an der Wand hing. Eine lange Reihe Zahlen und Rechnungen waren dort mit weißer Kreide angeschrieben und sie begann eben mit ihren Erläuterungen: „Wenn ihr diese beiden Summen, die sich wiederum aus der Addition der beiden Klammern ergeben, subtrahiert und…“ Das leise Klicken der Türklinke unterbrach ihre Ausführung, während ihre Miene sich gefährlich verdüsterte. „Na, sieh einer an! Das Wunder des heutigen Tages! Wie schön, dass du dich doch noch dazu entschließen kannst, meinem Unterricht beizuwohnen!“
Ganz von selbst hob sie den linken Arm, um auf ihre Uhr zu blicken. „Heute haben wir den vierzehnten Schultag nach Ende der Sommerferien und Beginn des neuen Schuljahres und du bist zum fünften Mal unpünktlich!“
Verärgert schüttelte sie den Kopf, wobei sich eine Strähne aus ihrer streng zurückgekämmten Frisur löste und ihr in die Stirn fiel. Die auffällige Farbe ihres feuerroten Haares lenkte von ihren ebenmäßigen, fast aristokratischen Gesichtszügen mit der spitzen Nase ab, auf denen sich immer eine gewisse hochnäsige Unantastbarkeit spiegelte. Der entschlossene, harte Zug um ihre vollen, ausdrucksstarken Lippen machte deutlich, dass sie weder Widerspruch, noch Niederlagen kampflos hinnahm und dass sie dieselbe Disziplin auch von ihren Schülern erwartete.
Eilig suchte Toby seinen Platz in der letzten Reihe neben Aaron auf, der ihn mit einem warnenden Blick bedachte, doch er kam gar nicht erst dazu, sich hinzusetzen.
„Guten Morgen, heißt das, wenn ich mich recht erinnere. Oder zumindest haben das deine Mitschüler mittlerweile begriffen!“
„Guten Morgen, Miss Shaughnessy“, stieß der Junge mit vollem Mund hervor und schluckte hastig.
Erst jetzt entdeckte die junge Lehrerin den Apfel in Tobys rechter Hand. Er biss erneut davon ab und schien keinen Hehl daraus machen zu wollen, wie gut dieser ihm schmeckte.
„Tut mir leid, dass ich zu spät bin“, erklärte er jetzt, sichtlich verlegen und zog seinen Stuhl zurück.
„Einen Moment!“ Der schrille Aufschrei ließ ihn innehalten. Sie schien wieder einmal kurz vor einer Explosion zu stehen und er konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass sein Zuspätkommen daran schuld sein sollte.
Langsam, mit verschränkten Armen, schritt die junge Frau auf ihren Schüler zu. Der vernichtende Blick ihrer grauen Augen ließ Tobys Herz schneller schlagen. Hilfe suchend zog er die Schultern hoch. Was sie jetzt wohl mit ihm vorhatte?
„Nachdem du schon wieder zu spät kommst, möchte ich jetzt gerne Näheres über deine schulische Arbeitsweise erfahren. Bitte gib mir dein Heft mit den Hausaufgaben. Ich werde dir darauf eine außerordentliche Note geben!“
Einen langen Augenblick starrte Toby sie flehend an. Bitte lass das nicht wahr sein! Er konnte sie doch nicht anlügen! Damit würde sich seine Situation nur noch mehr verschlimmern und darauf wollte er es nun wirklich nicht ankommen lassen. Seine Gedanken überschlugen sich, doch er fand keinen Ausweg, der ihn irgendwie hätte retten können. So blieb ihm also nur, die Wahrheit zu gestehen, ganz gleich, mit welchen Konsequenzen das für ihn verbunden sein würde.
„Ich…ich habe sie nicht“, murmelte er so leise, dass es gerade sein bester Freund neben ihm verstehen konnte. Wie erschlagen sank Aaron neben ihm in sich zusammen und verdrehte fassungslos die Augen.
„Wie bitte?!“ Lorraine Shaughnessys wutentbrannte, schrille Stimme hallte durch das Zimmer und durch die gekippte Fensterreihe hinaus in den Pausenhof. Ungnädig klopften ihre langen Fingernägel auf eine der Schulbänke neben Toby. „Leider haben wir deine Aussage eben nicht richtig verstanden!“
Der Junge räusperte sich. Seine Ohren klingelten – nicht etwa von der Lautstärke ihrer Stimme, oh nein, für alle anderen Kinder klang sie vermutlich wie immer. Nur ihm erschien sie wie durch einen Verstärker in seinem Gehör zu dröhnen.
„Es…es tut mir leid!“, stotterte er mit klopfendem Herzen. „Aber ich habe sie leider nicht!“
„Du hast sie nicht“, wiederholte seine Lehrerin, wobei Zornessröte in ihre Wangen stieg. „Wenn ich mich richtig erinnere, hattest du sie vorgestern auch schon nicht! Und vorige Woche mindestens dreimal nicht!“
Betreten senkte Toby den Kopf. Er war am zurückliegenden Abend wirklich nicht mehr dazu fähig gewesen, sie zu erledigen. Er hatte doch noch im Stall helfen und das Chaos, das er beim Reinigen von Butchs Sattel und Zaumzeug in der Sattelkammer hinterlassen hatte, beseitigen müssen. Aber das durfte er Miss Shaughnessy gegenüber natürlich nicht zugeben, sonst würde sie ihm vermutlich ohne mit der Wimper zu zucken eine schriftliche Abmahnung ausstellen und was das dann zu Hause wieder für Ärger geben würde...
„Hast du die Aufgaben vielleicht wieder einmal nicht begriffen? Oder ist meine Ausdrucksweise über die zu erledigenden Nummern für dich so unklar?“ Nur mit Mühe schien es Lorraine Shaughnessy zu gelingen, sich zu beherrschen. „Ehrlich gesagt ist mir in allen Schulklassen, die ich bisher unterrichtet habe, noch kein solch fauler, unverschämter und verantwortungsloser Lümmel begegnet, wie du es bist – Toby Patterson!“
Ruckartig warf der Junge den Kopf zurück. Aus dunklen, funkelnden Augen starrte er die rothaarige Lehrerin zutiefst verletzt und zornig an. Sie wusste ganz genau, dass sie ihn ungerecht behandelte! Damit versuchte sie nur wieder, einen Keil zwischen ihn und seine Mitschüler zu treiben! Er mochte sie nicht und sie konnte ihn genauso wenig leiden und das ließ sie ihn auch deutlich spüren. Ihre vereinnahmende, besserwisserische Art war ihm schlichtweg zuwider und trotzig brach es aus ihm heraus: „Im Gegensatz zu anderen Kindern habe ich noch andere Arbeiten zu erledigen, als nur die für die Schule!“
„Tatsächlich?“ Ungläubig rümpfte Lorraine Shaughnessy die Nase. „Und was soll das, bitteschön, sein?“
„Immerhin habe ich zu Hause ein eigenes Pferd! Wir züchten nämlich Pferde, auf unserer Ranch, müssen Sie wissen!“
„Oh!“ Sie zog den Ausruf unnötig in die Länge, was ihn spöttisch klingen ließ. „Dein Pferd? So, so! Schade, dass mir deine Eltern von dem Abend, an dem ich mich vorgestellt habe, nicht in Erinnerung geblieben sind!“
Toby verstand nicht, was sie damit sagen wollte, aber er spürte, dass es sich um nichts Positives handelte. Grübelnd schlenderte Lorraine Shaughnessy zurück nach vorn an der Tafel und zu ihrem Pult.
„Kann es sein, dass das liebe Tier dich ein wenig überfordert?“
„Nein, nein!“, rief Toby erschrocken. Diese Anspielung war selbst für ihn unmissverständlich. „Ganz und gar nicht!“
„Und was hat es dann mit deinem ständigen Zuspätkommen auf sich? Kannst du mir dafür irgendwelche plausiblen Gründe nennen?“
Toby schluckte. Seine Gedanken arbeiteten fieberhaft. Wenn er sie jetzt belog, würde der Ärger wohl nie ein Ende nehmen. „Na ja...“ Es passte ihm nicht, ihr nun doch zustimmen zu müssen. „Am Morgen gehe ich meistens zuerst noch in den Stall.“
„Aha!“ Genau das schien sie erwartet zu haben. „Und wie sieht dein morgendlicher Ablauf an einem ganz normalen Tag wie heute, denn zum Beispiel so aus?“
Verständnislos kam der Junge ihrer Aufforderung nach: „Nun, ich stehe auf, füttere den Hund, dann gehe ich in den Stall. Dort helfe ich beim Misten und Füttern, hinterher gibt es Frühstück – das heißt, nicht immer. Manchmal ist es dafür schon zu spät. Dann esse ich auf dem Weg hierher.“
„Auf dem Weg? Ich denke, du kommst mit dem Fahrrad?“
„Ja, ja, aber essen und Fahrradfahren klappt prima zusammen! Ich brauche ja keinen Lenker, ich kann auch ohne fahren!“ Plötzlich durchzuckte ihn ein Geistesblitz und seine braunen Augen begannen siegessicher zu leuchten. „Sie sollten wissen, mein Fahrrad ist nicht mehr das Beste und es hat auch schon einige schlechte Erlebnisse hinter sich. Darum kann ich mit ihm auch nicht besonders schnell fahren – sonst springt die Kette jedesmal runter und dieser Ärger dann? Nein, danke! Da komme ich lieber erst ein paar Minuten nach dem Gong!“
Eine lange Minute starrte Lorraine Shaughnessy ihn mit einer Mischung aus Wut und Fassungslosigkeit an. Keines der anderen Kinder wagte, einen Laut von sich zu geben. Ihre Blicke flogen ununterbrochen zwischen ihrem Klassenkameraden und der jungen Lehrerin hin und her.
„Das Problem ließe sich wohl auf ganz einfache Art lösen“, sagte Lorraine Shaughnessy leise und ihr Tonfall machte deutlich, dass es nur noch eine Frage von Sekunden war, ehe sie die Geduld verlieren und ihren Schüler kräftig am Kragen packen würde. „Was hältst du davon, ganz einfach zehn Minuten früher von Zuhause wegzufahren?!“
„Zehn Minuten früher?“, wiederholte Toby bedenklich. Sein Verstand setzte einen Moment aus und so zuckte er selbst ein wenig zusammen, als er sich rufen hörte: „Dann muss ich ja auch früher aufstehen!“
Die Faust der Lehrerin schlug krachend auf das Pult. „Was denkst du eigentlich, was du dir herausnehmen kannst?!“ Ihr Aufschrei ließ Toby eingeschüchtert in sich zusammensinken. „Unter den gegebenen Umständen sehe ich mich leider gezwungen, mit deinen Eltern ein ernsthaftes Gespräch zu führen! Und jetzt möchte ich gerne mit dem Unterricht fortfahren. Dazu solltest du allerdings noch zwei Dinge beachten: Erstens werden in meinem Unterricht keine Äpfel gegessen und…“
„Aber…“, wollte Toby protestieren. Der schöne Apfel! Er konnte ihn doch nicht bis zur Pause liegenlassen!
„Ruhe!“, schrie Lorraine Shaughnessy unbeherrscht. Ihre Erfahrung und Qualifikation verboten ihr, den schier überschäumenden Zorn noch länger offen zu zeigen und so schluckte sie einige male, bevor sie zwanghaft bedacht fortfuhr: „Und zum zweiten: Du hältst jetzt den Mund! Die einzige, die hier redet bin ich! Außer, ich erlaube dir, dass du einen Beitrag zum Unterrichtsthema leisten darfst! Das tue ich allerdings nicht und jetzt wirf den Apfel weg! Na, los!“
Widerstrebend ging Toby hinüber zum Mülleimer und ließ das erst halbgegessene Obst hineinfallen. Mit finsterer Miene schlurfte er an seinen Platz zurück.
„Ich habe dich ja gewarnt!“, zischte Aaron ihm zu, als er sah, dass ihre Lehrerin sich wieder den Rechnungen an der Tafel zuwandte. „Du wolltest mir ja nicht glauben!“
Toby erwiderte nichts. Ein flaues Gefühl machte sich in seiner Magengegend breit und es wurde schlimmer, je länger er darüber nachdachte, was wohl passieren würde, wenn Lorraine Shaughnessy ihre Drohung tatsächlich wahrmachen und sich mit seinem Bruder in Verbindung setzen würde...
* * *
Verlassen lag der Innenhof der kleinen Ranch im Licht der tiefstehenden, orange-gelben Spätnachmittagssonne, als Toby mit quietschenden Bremsen vor dem überdachten Eingang des Wohnhauses zum Stehen kam. Achtlos lehnte er das Rad an das Holzgeländer, das den schmalen Vorbau zum Hof hin abgrenzte. Prüfend zog er die Brauen hoch und betrachtete die langen Schatten, die der Pferdestall und die Scheune auf den trockenen Sandboden malten. Die Sonnenstunden verringerten sich – es wurde mit jeder Woche spürbarer, wie der Herbst an den Abenden kühl und jeden Tag ein paar Minuten früher aus dem Wald hervorkroch und seine feuchten Nebelschwaden über die Pferdekoppeln verteilte.
Leises, dunkles Wiehern drang aus dem offenstehenden Stalltor ins Freie und Hufe polterten laut und ungeduldig gegen das Holz des Verschlags.
„Sei ruhig, Butch!“, rief Toby und steckte zwei Finger in den Mund. Auf den kurzen, schrillen Pfiff hin kam Shaggy ums Hauseck getrippelt und kläffte ein paarmal zur Begrüßung.
„Klar!“ Lächelnd beugte Toby sich zu ihm hinab und drückte seine Wange an das strohige, lockige Fell des kleinen Hundes. „Du darfst auch mit!“
„Dachte ich es mir doch!“, erklang eine schmunzelnde Stimme über ihm und ließ ihn erschrocken zusammenzucken. „Wenn Shaggy so schnell aus der Küche verschwindet, kannst nur du aufgetaucht sein!“
Toby blickte nicht auf. Er spürte auch so, dass Hank neben ihm stand und ihn beobachtete. „Ich habe vorhin Kirschkuchen gebacken“, verkündete der Alte und wartete gespannt auf die Wirkung seiner Worte.
Doch Toby hob nur gleichgültig die Schultern. Ihm war jetzt nicht nach dem süßen, klebrigen Kuchen zumute, so gut er ihm sonst auch schmeckte. „Ich habe keinen Hunger. Vielleicht später!“ Langsam richtete er sich auf.
„Ist dir nicht gut?“ Besorgt legte Hank seine abgearbeitete, raue Hand auf die Stirn des Jungen. „Hast du wieder Kopfschmerzen?“
„Nein, nein!“ Genervt schüttelte Toby ihn ab. „Ich geh’ jetzt ausreiten, das ist wichtiger.“ Er zögerte kurz, ehe er hinzufügte: „Diese verdammte Schule ist das schlimmste, was mir je passiert ist!“