Ein kleines Stück vom Traum der Zeit - Regan Holdridge - E-Book

Ein kleines Stück vom Traum der Zeit E-Book

Regan Holdridge

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Beschreibung

Helene und Rikarda begegnen sich 1936 als Kinder. Ihre Freundschaft überdauert die folgenden Jahre, obwohl ihre Charaktere unterschiedlicher kaum sein könnten. Sie erleben zusammen den Krieg, die erste Liebe und Enttäuschung und die Verluste, die mit den Bombennächten einhergehen. Rikardas Familie wird vollständig auseinandergerissen, während Helenes große Liebe in den Wirren des Krieges verschwindet. Ihre einst heile Welt bricht nach und nach in sich zusammen. Schließlich flüchten sie zusammen mit ihren Müttern nach Bayern, auf den Bauernhof von Verwandten, wo sie die letzten Kriegsmonate verbringen und den Einmarsch der Amerikaner erleben. Nach der Kapitulation verändert sich mit einem Schlag alles und ihre Leben beginnen, sich voneinander zu lösen und nichts bleibt mehr, wie es war.

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Seitenzahl: 472

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Ein kleines Stück vom Traum der Zeit

Titel SeiteVorwortKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Kapitel 14Nachwort

Ein kleines Stück vom Traum der Zeit

Regan Holdridge

Text: © Copyright by Regan Holdridge

Herausgeber:Regina HonoldAlpenstr. 24a87760 [email protected]

Druck: epubli – ein Service der neopubli GmbH, Berlin

Für Opa Fritz und Oma Lydia,die untrennbar mit den schönsten und unbeschwertestenErinnerungen an meine Kindheit verbunden sind.

Die meisten der hier beschriebenen Ereignisse entstammenErzählungen von Menschen, die ich persönlichgekannt habe. Von Kindesbeinen an habe ichalles aufgeschrieben, was sie von ihren Erinnerungenberichtet haben und daraus ist dieses Buch entstanden.

Irgendwelche Ähnlichkeiten und Parallelen mitlebenden Personen oder anderen Schicksalen sind rein zufällig.

Vorwort

Leipzig, 2010

Nieselregen fiel fein und kaum sichtbar auf die Erde und bündelte sich in den Rinnsalen, die über die Straße flossen und sich in den Schlaglöchern des rissigen Asphalts sammelten. Das von Rostflecken übersäte Taxi spritzte das Wasser aus einer Pfütze, ehe es vor dem kleinen, quadratischen Häuschen zum Stehen kam. Der weiße Verputz blätterte scheinbar unbeachtet von den Hauswänden ab und im einstmals von Rosenstauden überquellenden Garten wucherten Unkraut und Wildblumen durcheinander. Die eleganten, oben abgerundeten Fenster des 20er-Jahre-Baus schienen einer längst überholten Epoche anzugehören, ebenso wie die gusseiserne Palisade, die den kleinen Balkon umfasste und ihn mit all seinen schnörkeligen Verzierungen wie einen Baldachin einhüllte.

Der Taxifahrer stieg aus, ließ seine Zigarette in die Pfütze fallen und öffnete den Kofferraumdeckel. Die beiden kleinen Taschen fanden gerade auf einem zufällig erhöhten Teil des Gehsteigs Platz, den das Wasser verschonte.

Die Frau, die auf dem Rücksitz gesessen hatte, schob nun langsam die Beine aus dem Wagen. Sie hieß Helene. Ihr hellgraues, beinahe weißes Haar fiel in sanften Locken und zu einem Zopf zusammengefasst auf ihre Schultern herab. Die großen, dunklen Augen schauten umher, voll innerer Anspannung, umrahmt von den Falten, die das Alter gezeichnet hatte. Sie war Mitte achtzig, hatte die besten Jahre ihres Lebens gelebt und doch schlug ihr Herz mit einem Mal wieder so schnell und aufgeregt wie das eines jungen Mädchens. Der Anblick dieses Hauses brachte alles in ihr zurück, alles...

Sie schloss die Augen. Sie wollte sich nicht erinnern. So vieles war geschehen, seitdem sie zum letzten Mal hier gestanden hatte: Die Mauer war gefallen, Deutschland wiedervereint und die Grenzen der Deutschen Demokratischen Republik für immer aus den Atlanten und Straßenkarten verschwunden und mit ihnen all das Leid, das mit der unpassierbaren Grenze unweigerlich verbunden gewesen war. Gleich nach der Wiedervereinigung, da war sie einmal hier gewesen, nur ein einziges Mal und danach nie wieder.

Auf der anderen Seite stieg eine gepflegte, hübsche Frau Anfang sechzig aus. Sie blinzelte gegen den Regen an.

„Mama, bist du dir sicher, dass wir hier richtig sind?!“

„Natürlich! Wie könnte ich mich da irren?“

Die Tochter seufzte und hakte ihre Mutter bei sich unter, die sie jedoch abschüttelte. Sie konnte noch sehr gut alleine laufen!

„Hier.“ Seufzend drückte ihre Tochter dem Taxifahrer nun einen 20-Euro-Schein in die Hand. „Der Rest ist für Sie.“

„Oh! Verbindlichsten Dank“, erwiderte dieser und grinste und zeigte eine Reihe ungepflegter Zähne. „Viel Vergnügen bei Ihrem Aufenthalt in unserem schönen Leipzig!“

„Das werden wir bestimmt haben!“ Helene hob die Schultern, unsicher und ein wenig zweifelnd. „Auf Wiedersehen!“

Sie strich sich mit ihrer Hand über die Wange. Der Nieselregen setzte sich überall fest, auf ihrer Jacke, ihrem Haar und ihrem Gesicht. Ihre Tochter bückte sich und hob ihre beiden Taschen auf.

Helene schaute noch immer zu dem Häuschen hinüber. Sie hatte geglaubt, es sei vorbei. Sie hatte gedacht, es läge zu lange zurück, als dass sie dabei noch irgendwelche Empfindungen haben könnte und es ihr etwas anhaben würde. Doch jetzt musste sie sich eingestehen, dass es nicht stimmte. Plötzlich verwandelte sich etwas in ihr wieder in das junge, unerfahrene Mädchen, die kleine Nené, die gar nicht hier sein wollte...

Sie schüttelte den Kopf. Sie hatte sich einstmals geschworen, niemals mit Melancholie zurückzuschauen und auch niemals zuzulassen, dass die Erinnerungen bedeutender wogen als die Zukunft. Ihre dunklen Augen glänzten.

„Sollen wir hineingehen?“ Das war die Stimme ihrer Tochter und sie nickte stumm.

Die beiden Stufen vor dem Eingang, die geschnitzte Haustür mit dem kleinen, runden Glas am oberen Teil, das Namensschild unter der Türklingel – nichts schien sich verändert zu haben. Nach einem kurzen Augenblick, in dem sie sich sammeln musste, drückte sie auf den Knopf. Sie hörte das scheußliche Schrillen der Glocke durch die Tür – kein bisschen besser geworden als vor einem halben Jahrhundert. Obwohl sie wusste, dass niemand ihr öffnen konnte, weil das Haus seit vielen Jahren leer stand, wartete sie lange Sekunden. Nur noch einmal hatte sie den Ton dieser Klingel hören wollen.

Sie verharrte dort, im Nieselregen und versuchte, die heraufdrängenden Gedanken, die sie irgendwo im hintersten Teil ihrer Seele verstaut und begraben hatte, zurückzuzwingen. Sie wollte sich nicht erinnern!

Helene drückte die Klinke. Die Tür schwang lautlos auf. Sie hatte zuerst hierher kommen wollen, erst danach ins Hotel; zuerst noch einmal alleine sein in dem Haus, in dem sie so viele glückliche Stunden verlebt hatte. Es war verkauft worden, nachdem es all die Jahre leer gestanden hatte nach Tillas Tod. Jetzt wurde es ausgeräumt und die neuen Eigentümer würden es herrichten für sich und ihre Zukunft. Ein schöner Gedanke, fand Helene.

Der Läufer, der die Stufen ins Obergeschoß hinaufführte, war noch immer so rot wie einstmals, vielleicht ein wenig ausgewaschen und verblasst. Das ganze Treppenhaus schien unverändert mit den vielen Kleiderhaken an der Wand und dem mannshohen Spiegel neben der Tür zum Wohnzimmer, wo vor langer Zeit einmal der alte, prächtige Biedermeier gethront hatte. Ihre Tochter stellte die beiden Koffer ab und blickte sich zaudernd nach allen Seiten um. Sie hatte darauf bestanden, ihre Mutter auf die lange Reise zu begleiten und sie nicht in ihrem Alter alleine herfahren zu lassen.

Helene behielt ihre Jacke an, denn es war kühl in dem unbewohnten Haus. Sie atmete tief durch. Behutsam öffnete sie die Türe zum Wohnzimmer. Das Sofa, der Couchtisch, der Bücherschrank – alles wie damals, sogar der rostende Bullerofen in der Ecke hatte offensichtlich noch bis zum Schluss seinen Dienst getan. Nur der Fernseher musste neueren Datums sein, der war bei ihrem letzten Besuch noch nicht da gewesen. Sie rechnete einen Moment lang nach: Zwanzig Jahre...ein halbes Leben.

Der Regen trommelte draußen auf die Fensterbleche. Wie stark die Gefühle sie überkamen, hier in diesem Zimmer, in diesem Haus. Hier hatten sie im Winter oft gesessen, sie und Riki, und ihre Hausaufgaben gegenseitig korrigiert. Das hieß, eigentlich gab es immer nur für Riki etwas zu verbessern, weil sie damals schon die Musterschülerin gewesen war und es eigentlich niemals etwas gab, das sie nicht beherrschte. Du liebe Güte, wie lange das zurücklag! Dazwischen war ihr Leben vergangen.

Sie ließ sich auf dem durchgesessenen, viel zu weichen Sofa nieder, in dessen Polstern sie völlig versank und ihr Blick schweifte durch das Zimmer. In dem Buffett stand noch immer das Porzellan mit dem rosa Blütendruck – das Vermächtnis der Familie Tengler, mindestens hundert Jahre alt. Wie durch ein Wunder hatte es den Krieg überstanden.

Ob Riki wohl schon angekommen war? Wie sie wohl aussehen würde? Ob sie sich wiedererkennen würden? Sie hatten sich nie mehr gesehen, auch nicht vor zwanzig Jahren. Sie kannte Riki nur noch aus ihrer Erinnerung als junge, schöne Frau, die nach dem Krieg ausgewandert war. Damals waren sie sich zum letzten Mal gegenübergestanden, am Flughafen, beim Abschied.

Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. Nein, Riki kam erst um halb vier mit dem Zug aus Berlin. Sie war gestern schon eingeflogen, aber hatte noch einen Tag in der alten Heimat ein bisschen verbummeln wollen.

Helene erhob sich und schlenderte hinüber zum Buffett. Sie öffnete die Türen des Schrankes, den Tilla sich in den 50ern geleistet hatte und musste lächeln, als sie den vielen Unrat und das Chaos darin erblickte. Genauso war Tilla gewesen, schon immer, ihr ganzes Leben lang. Unter einer angefangenen Häkelarbeit entdeckte die alte Frau einen großen Pappkarton. An den Ecken zeigte er Spuren von Feuchtigkeit und irgendetwas musste auf ihm gestanden haben, denn über seinen Deckel zog sich eine tiefe Einkerbung.

Helene runzelte die Stirn. Was es wohl für ein Wiedersehen sein würde, sie und Riki, nach all den Jahren? Lange starrte sie auf den Karton. Sie ahnte, was sich darin befand und sie wollte ihn nicht herausnehmen, sondern ihn von sich stoßen, ganz weit weg, damit sie ihn nicht zu öffnen brauchte.

„Wenn du länger hierbleiben willst, mache ich uns etwas warm“, sagte ihre Tochter in diesem Moment.

Sie öffnete die Klappe des Bullerofens und steckte ein paar Holzscheite hinein, die in einem Korb daneben lagen. Es dauerte nicht lange, dann knisterte es behaglich aus dem alten Utensil und es begann, seine Wärme im Raum zu verbreiten.

Helenes Hand zitterte ein wenig, als sie mit den Fingerkuppen vorsichtig über den Deckel des Kartons strich und die Häkelarbeit beiseiteschob. Ihre Tagebücher...präzise geführt, über jeden einzelnen Tag ihres jungen Lebens, nach ihrem Umzug von Lübeck nach Leipzig begonnen, bis zu dem Tag, an dem... Sie schüttelte den Kopf. Nein, sie würde keinesfalls darin lesen. Das brächte zuviel zurück, was sie längst erfolgreich verdrängt hatte. Dinge, von denen sie glaubte, dass sie keine Bedeutung mehr für sie hätten – viel zu vieles.

„Hast du etwas gefunden?“, fragte ihre Tochter, die sie scharf beobachtete und der sie nichts vorspielen konnte.

Helene packte den Karton mit beiden Händen. Sie wollte nicht hineinschauen! Sie wollte nicht die Einzelheiten zurückrufen – die Bombennächte, die Angst, den Tod...und ihre Jugend. Ihr blieben noch ein paar Stunden, bis ihre einstige beste Freundin eintraf, genauso alt geworden wie sie selbst, ein ganzes Leben später seit ihrer letzten Begegnung. Wie sie heute wohl aussah? Ob sie sich sehr verändert hatte, genauso runzelig geworden war wie sie selbst?

Helene ergriff den Deckel. Noch einen kurzen Moment zögerte sie, doch dann siegte die Neugier. Sie hob ihn an. Muffiger, modriger Geruch von Jahrzehnten auf dem feuchten Speicher schlug ihr entgegen. Sie glaubte, sich verschwommen daran zu erinnern, wie sie selbst ihre Tagebücher in dieser Kiste verstaut hatte. Jetzt stapelten sie sich wild durcheinander zwischen alten Schulheften und Zeitungsausschnitten. Ganz zuoberst lag ein Foto, darunter kamen noch mehr Aufnahmen zum Vorschein, alle ohne Farbe, klein und rechteckig, mit gezackten Kanten. Das oberste Bild zeigte zwei kleine Mädchen, beide etwa elf Jahre alt mit geflochtenen Zöpfen, die rechts und links über ihre Schultern nach vorn hingen. Beide lächelten schüchtern in die Kamera. Das eine Mädchen war blond, zierlich und klein und das andere einen halben Kopf größer mit dunklen Augen und ebensolchem Haar, beide in Röcken und Blusen und einem Halstuch, voller Zuversicht und Hoffnung und Naivität.

Mit einem Seufzer ließ sie das Bild ihren Fingern entgleiten. Es erschien ihr unwirklich, unbegreiflich, dass sie selbst einmal dieses dunkelhaarige Mädchen gewesen sein sollte. Jedes ihrer Tagebücher besaß eine Beschriftung auf dem Titel – die Zeiträume ihrer Aufzeichnungen. Sie nahm den Karton, setzte sich damit aufs Sofa und kramte nach dem ältesten Band, nach dem Anfang. Ihr Herz schlug bis zum Hals. Eine krakelige, schiefe Kinderhandschrift füllte die Seiten in alter, deutscher Sütterlinschrift, die sie kaum noch zu entziffern vermochte.

„Das bist ja du!“, rief ihre Tochter erstaunt und zog das Foto erneut heraus, um es zu betrachten. „Als Schulmädchen!“

„Ja“, erwiderte Helene lächelnd und deutete auf die Tagebücher. „Das war ich und das hier ist meine Geschichte.“

Kapitel 1

Leipzig, September 1936

„Heute wird mein erster Tag in der neuen Schule sein. Ich weiß jetzt schon, dass es mir dort nicht gefallen wird! Ich will wieder in meine alte Schule! Aber das geht ja nicht, weil Mutti und Paps unbedingt haben umziehen müssen...“

Das Mädchen saß am Küchentisch und beobachtete seine Mutter, wie diese vier Stullen mit Butter bestrich und in ein Stück Papier wickelte. Sie hielt den Kopf in die Hände gestützt und ihr Gesichtsausdruck ließ glauben machen, ihr stünde der schlimmste Tag ihres bisherigen Lebens bevor und genauso fühlte sie sich auch.

„Ich will nicht! Ich will zurück nach Lübeck, zu Oma!“

Ihre Mutter seufzte ein wenig verdrießlich und der andauernd wiederkehrenden Diskussionen leid. „Das geht doch nicht und das weißt du! Aber es wird dir bestimmt gefallen! Ich bin mir sicher!“

„Wird es nicht!“

„Ich hab’ den lieben Gott gestern Abend ganz besonders lieb darum gebeten, dass er es dir leicht und einfach macht und viele nette Kinder in deiner Klasse sein lässt!“

„Und? Hat er geantwortet?“ Sie stieß jedes Wort noch mürrischer hervor. Was nützte ihr der liebe Gott?! In die neue Schule musste sie ja doch alleine!

„Natürlich!“, versicherte ihre Mutter hastig. „Er hat die Wolken beiseitegeschoben und der Mond hat hervorgeblitzt!“

Pah, dachte das Mädchen. So dumme Geschichten können sich auch nur die Erwachsenen einfallen lassen!

Agnes Felder war eine zierliche, hübsche Frau von dreißig Jahren. Ihr Haar besaß die Farbe von Ebenholz, wie auch ihre großen, dunklen Augen. Ihr sonnengebräunter Teint wirkte überall, wo sie auftauchte ein wenig exotisch und das, obwohl ihr Stammbaum tadellos und weit in die beiden zurückliegenden Jahrhunderte hineinreichte. Agnes entsprang einer traditionsbewussten Hamburger Kaufmannsfamilie, in der immer streng darauf geachtet worden war, mit wem die Erben ihre Ehen eingingen. Lediglich ihr Vater hatte diesen Unfug nicht recht eingesehen und war von einer Geschäftsreise mit einer jungen Ungarin heimgekehrt. Ein Skandal zur damaligen Zeit in der biederen Gesellschaft von Hamburg und für das junge Mädchen, das bei ihrer Ankunft in der Hafenstadt kein Wörtchen Deutsch verstand, zu Anfang geradezu unerträglich. Sie wurde gemieden, hinter ihrem Rücken wurde getuschelt, mit dem Finger auf sie gezeigt und so lange sie lebte hatte sie damit zu kämpfen, nicht als vollwertiges Mitglied der Gesellschaft angesehen zu werden. Doch sie besaß Durchhaltevermögen und Ehrgeiz und schenkte ihrem Mann nicht nur vier kerngesunde Kinder, sondern führte nach dessen frühen Tod auch die Familiengeschäfte erfolgreich weiter, bis ihr ältester Sohn diese übernehmen konnte.

Bei Agnes waren einige dieser mütterlichen, ungarischen Gene durchgeschlagen, nicht nur in ihrem Äußeren, auch in ihren Charakterzügen. Von jeher war sie eine starke, energische Persönlichkeit gewesen, die zwar jung geheiratet hatte, jedoch immer politisch interessiert und auch engagiert gewesen war. „Streitbar und provozierend“ lautete das Urteil eines Artikels in der Hamburger Zeitung, in dem sie einmal erwähnt worden war, weil sie mit Gesinnesgenossinnen vor dem Rathaus für mehr Rechte für Frauen demonstriert hatte. Den Ausschnitt besaß sie noch heute, in ihr Poesiealbum eingeklebt, als Erinnerung und Ansporn.

Ihre politische Karriere dauerte – zu ihrem großen Leidwesen – jedoch nur bis zu ihrem neunzehnten Lebensjahr. Dann ging sie eine Ehe mit Paul Felder ein, einem Biologie- und Chemiestudenten aus Lübeck. Sie waren sich einige Monate zuvor begegnet, als der junge, nicht unattraktive Mann sein Gastsemester in Hamburg angetreten hatte. Er konnte keine Familie im Sinne eines reichen Kaufmanns aufweisen, sondern lediglich eine etwas undurchsichtige Familienchronik mit einem Erzeuger und einem Stiefvater, den seine Mutter in zweiter Ehe geheiratet hatte, nachdem sein leiblicher Vater mit einer verruchten Dame aus einer Tanzbar durchgebrannt war. Geld gab es nie im Überfluss und die Studiengebühren mussten sein Stiefvater und seine Mutter hart von ihrem wenigen Lohn abzwacken.

So hielt sich die Begeisterung über den vermeintlichen Schwiegersohn in spe bei Agnes’ Familie entsprechend in Grenzen und nachdem das Techtelmechtel nicht – wie erhofft und prophezeit – schon nach ein paar Wochen zu Ende ging, wurde der Familienrat einberufen. Dieser legte der streitbaren Tochter dringend nahe, den „unwürdigen Studenten“ zum Teufel zu jagen.

In Agnes regten sich der angeborene Widerstand und Trotz, nicht nur wegen ihrer politischen Gesinnung, dass Frauen noch immer viel zu wenig Mitspracherecht in ihrem eigenen Leben besaßen. Vor allem aber deshalb, weil ihr der unerwünschte, junge Mann längst viel zu viel bedeutete, als dass sie ihn einfach hätte fortschicken können. Um ihre Familie jedoch nicht völlig zu verärgern, gab sie schließlich schweren Herzens nach und mit der festen Überzeugung, ihn niemals wiederzusehen. Sie hatte jedoch nicht mit Pauls Hartnäckigkeit gerechnet, der sich von ihrem Korb nicht beeindrucken ließ und ihr weiterhin den Hof machte. Als sein Semester sich dem Ende neigte, der endgültige Abschied bedrohlich näher rückte und sich für die Situation der beiden Liebenden noch immer keine geeignete Lösung gefunden hatte, beschloss Agnes, den unehrenhaftesten Schritt von allen zu gehen: Wenn sie erstmal ein Kind erwartete, konnten ihre Eltern nichts mehr gegen eine Heirat einwenden!

Sie nahm Paul an einem Abend mit zu sich nach Hause, als sie wusste, dass ihre Eltern ausgegangen waren. Natürlich hielt er die Idee für schlecht und nicht den richtigen Weg, eine Ehe zu beginnen. Er war so entsetzlich korrekt und immer um Etikette bemüht, dass es seine zukünftige Braut schier um den Verstand brachte! Agnes ihrerseits hatte sich zu viele Gedanken gemacht, wie sie ihren Paul doch noch heiraten durfte, um so kurz vor dem Ziel aufzugeben. Es gelang ihnen noch zweimal, ein Schlafzimmer für sich alleine zu finden, wo niemand sie stören konnte. Dann stand der Abschied bevor und Paul fuhr zurück nach Lübeck, allerdings nur für wenige Wochen, bis das Eiltelegramm aus Hamburg eintraf: Sofort kommen – stop – bin guter Hoffnung – stop – Heirat sobald wie möglich erwünscht! – stop – In Liebe Deine Agnes

Ein wenig schockiert und mit klopfendem Herzen setzte Paul sich in den nächsten Zug, mit den besten Wünschen seiner Mutter und seines Stiefvaters begleitet, um seine junge Braut aus Hamburg abzuholen. Wirklich willkommen geheißen wurde er bei seinen Schwiegerleuten allerdings nie. Im Gegenteil – wegen des Kindes, das „in Sünde“ entstanden war, brach die traditionsbewusste Hamburger Kaufmannsfamilie mit der unehrenhaften Tochter. Der Kontakt zu ihr wurde auf ein Minimum reduziert und mit finanzieller Unterstützung durfte sie natürlich auch nicht rechnen.

Zu Anfang war ihr Leben in Lübeck schwierig gewesen. Sie hatten mit Pauls Eltern in der winzigen Wohnung leben müssen, weil er als Student noch nichts verdiente. Die Verhältnisse waren mehr als beengend gewesen und das Geld noch knapper als zuvor. Nach der Geburt ihrer Tochter hatte Agnes angefangen, stundenweise in einem Hotel als Zimmermädchen zu arbeiten und so waren sie über die Runden gekommen, bis Paul schließlich an einem Gymnasium für bessere Söhne zunächst als Lehramtsanwärter und später hauptverantwortlich Biologie und Chemie unterrichtete.

Im Laufe der Jahre waren sie mehrmals umgezogen, bis sie schließlich eine hübsche Wohnung in einem dreistöckigen Gebäude in Lübeck gefunden hatten. Unweit davon befand sich eine Mädchenschule, wohin Helene zu Fuß gehen konnte und auch das humanistische Gymnasium, in dem Paul unterrichtete, war in wenigen Minuten zu erreichen. Sie lebten dort vier glückliche Jahre, bis zu dem verhängnisvollen Tag, an dem der Brief eines Notars aus Leipzig in ihren Briefkasten flatterte...

„Jetzt mach’ doch kein solches Gesicht!“ Agnes seufzte ungeduldig und schüttelte den Kopf. Schon seit Tagen lief ihre elfjährige Tochter mit dieser Leidensmiene umher. „Die Welt geht nicht gleich unter, nur weil du eine neue Schule besuchen musst!“

„Warum können wir nicht zurück nach Lübeck gehen?! Warum haben wir unbedingt hierher ziehen müssen?! Das verstehe ich nicht!“

Agnes verdrehte die Augen und wickelte die Butterbrote in das Papier. Das Thema langweilte sie allmählich. „Hier. Pack das ein und dann müssen wir los. Es ist nicht weit und ab morgen kannst du allein gehen.“

„Ich will aber nicht!“

Ihr Vater betrat die Küche. Er hatte die letzten Worte seiner Tochter gehört. „Irgendwelche Probleme?“

Seine Frau hob die Schultern. „Nur die üblichen.“

Trotz seines jungen Alters von Anfang dreißig, war Paul Felder eine stattliche, respekteinflößende Erscheinung, mit seinen über Einsneunzig und dem Kreuz, an das nur maßgeschneiderte Anzüge passten. Er trug einen Schnauzbart, den er hegte und pflegte und sein dunkelblondes Haar stets zu kurz geschnitten. Auch für ihn sollte dies der erste Tag an seiner neuen Unterrichtsstätte und vor einer neuen Klasse werden. Erst vor wenigen Wochen waren er, seine Frau und Helene von Lübeck hierher gezogen. Seine Tante mütterlicherseits war unerwartet verstorben und hatte ihm – ausgerechnet ihm, der am wenigsten mit ihr zu tun gehabt hatte – das Haus am Stadtrand von Leipzig hinterlassen. Ein hübsches, eigentlich für sie drei viel zu großes Gebäude, Anfang des Jahrhunderts erbaut, mit zwei Bädern und vier Schlafzimmern. Ein riesiger Garten umgab es nach allen Seiten, in dem eine Menge Unkraut wucherte und die Büsche am Rand des Grundstücks glichen einem Urwald. Es war unmöglich, von irgendeiner Seite hinein oder hinaus zu sehen. Die einzige Lücke stellte die Gartenpforte dar und selbst dort bildeten wuchernde Rosen ein Spalier, unter dem man hindurch musste. Seit Monaten hatte Tante Hedwig den Garten nicht mehr gepflegt und genauso sah es auch überall aus. Sie war alleinstehend gewesen, hatte jung geheiratet, um bald darauf Witwe zu werden. In den Monaten vor ihrem Tod war es mit ihrer Gesundheit nicht mehr zum Besten gestanden und hatte es ihr unmöglich gemacht, das Haus längere Zeit zu verlassen.

Helene kannte diese Tante Hedwig nicht, hatte sie auch nie gesehen. Sie wusste nur, dass ihr Vater sie ab und an einmal besucht hatte. Dann hatten sie und Agnes ihn zum Bahnhof gebracht, ihm zum Abschied gewunken und jedesmal war er mit Keksen und anderen Süßigkeiten zurückgekehrt. Das hatte ihr immer gefallen. Süßigkeiten gab es bei ihr zu Hause nur selten. Aber jetzt hasste sie diese Tante Hedwig, denn die war Schuld, dass sie von Zuhause fortgezogen waren! Wieso hatte sie auch das Zeitliche segnen müssen, diese Tante Hedwig?! Und war ihr kein besserer Erbe eingefallen, als ausgerechnet Paul?

„Wollt ihr euch nicht ein bisschen beeilen?“ Ihr Vater warf einen ungeduldigen Blick auf die Küchenuhr. „Sonst kommt das Kind schon am ersten Tag zu spät!“

„Na, komm!“ Agnes zupfte an der Bluse ihrer Tochter, um sie zum Aufstehen zu bewegen. Nur widerwillig kam das Mädchen der Aufforderung nach und schlurfte in Richtung Hausflur.

„Und vergiss nicht, auf dem Rückweg bei der Arbeitvermittlung vorbeizugehen und die Stellenausschreibung abzugeben, damit wir jemanden für den Garten und die Küche finden! Vor allem für den Garten!“, erinnerte Paul seine Frau.

„Es wird sich sowieso keiner melden!“

„Sei doch nicht immer so pessimistisch!“ Paul setzte sich an den Frühstückstisch, wo seine beiden hartgekochten Eier, die drei Brötchen, sowie der Kaffee und die Erdbeermarmelade auf ihn warteten – wie jeden Morgen. Die Eier links vom Teller, mit den selbst gehäkelten Hütchen oben drauf, damit sie auch schön warm blieben, beide in Eierbechern, die Brötchen im Korb vor ihm und rechts davon der Marmeladentopf.

„Ich sehe die Dinge nun mal, wie sie sind!“, rief Agnes aus dem Flur zurück. „Niemand wird sich freiwillig auf eine Stellung bewerben, wo er erst einmal ein halbes Jahr mit Unkraut jäten beschäftigt ist!“

Paul reckte den Hals, um zum Küchenfenster hinaus auf den Platz in ihrem Garten zu blicken, wo einstmals Gemüse angebaut worden war und jetzt nur noch das Gewächshaus, das sich zwischen dem hüfthohen Gras erhob, daran erinnerte.

„Solange ich denken kann, sah der Garten so aus oder zumindest ganz ähnlich! Tante Hedwig hatte eben keinen grünen Daumen!“

„Das lag wohl weniger am Geschick, als an der Arbeit!“

Helene schlurfte noch mal herein, von ihrer Mutter geschoben, den Ranzen auf dem Rücken und die Lippen fest zusammengepresst. Verabschieden, hatte Agnes ihr befohlen und sie in die Küche zurück dirigiert. Papa einen Kuss geben, wie es sich für brave Mädchen gehörte.

Sie war ihr einziges Kind geblieben. Nach zwei Fehlgeburten, die Agnes beide einigermaßen gut überstanden hatte, war ihre Hoffnung auf weiteren Nachwuchs mehr als gering. So blieb es auch nicht aus, dass Helene von ihren Eltern immer besonders behütet wurde und den kleinen Mittelpunkt der Familie darstellte. Was ihr im Übrigen durchaus bewusst war – im Gegensatz zu ihren Eltern, die von sich glaubten, überaus streng und konsequent zu sein.

Helene hatte das Haar und die Augen ihrer Mutter geerbt, ihre kantigen, wenig mädchenhaften Gesichtszüge jedoch gingen mehr in Richtung ihres Vaters. Beides gefiel ihr nicht. Sie träumte davon, blond zu sein und blauäugig und so hübsch wie Agnes und sie war es gewohnt, ihren Willen durchzusetzen. Vaters Liebling und Mutters Schatz, das war sie immer gewesen und plötzlich ging das nicht mehr, aus ihr völlig unerfindlichen Gründen. Es war ihnen gleich gewesen, dass sie nicht aus Lübeck fort gewollt hatte, dass es ihr in Leipzig nicht gefiel. Paul entschied und innerhalb von wenigen Wochen war ihre bis dahin heile Welt in sich zusammengebrochen.

Vier Wochen lebten sie nun schon hier, waren mit ihrem ganzen Hab und Gut umgezogen, einschließlich des Kanarienvogels, der jetzt munter vor der breiten Fensterfront im Wohnzimmer sein Liedchen trällerte und dem Paul zu Weihnachten einen größeren Käfig und einen Kameraden versprochen hatte. Dazu sollte es jedoch nicht kommen, weil zuvor Nachbars Katze eines schönen Nachmittags durch die offene Terrassentür schlich und sich an Zwitschi heranpirschte. Zu dessen Glück warf sie allerdings nur den Käfig vom Beistelltisch, dessen Klappe aufsprang und dem Vogel das Leben und die Freiheit schenkten. Er flog ein bisschen wild durchs Zimmer, ehe er die offene Tür fand. Er hob sich in die Lüfte, fröhlich jubilierend und zirpend und schwenkte nach Südosten ab. Alle Suchaktionen blieben erfolglos und Paul beschloss, dies sei ihr letztes Haustier gewesen.

Dass sie sich an dieser Schule nicht wohlfühlen würde, wusste Helene in dem Moment, als ihre neue Lehrerin aus dem Klassenzimmer trat, um sie zu begrüßen. Ihr Name war Übele, Fräulein Übele – wobei sie auf das Fräulein besonderen Wert legte – und sehr bald schon sollte sich herausstellen, dass sie so war, wie sie hieß: Streng, kalt und mit großer Vorliebe für jegliche Art von Drill. Sie trug immer graue oder schwarze Röcke und dazu weiße Blusen, bis oben hin streng zugeknöpft, oft mit einem marineblauen Halstuch. Zudem benötigte sie eine Brille, deren dicke Gläser ihre Augen dahinter sehr klein und schmal wirken ließen. Ihr Haar, dessen Farbe an die eines Straßenköters erinnerte, weder braun noch blond, sammelte sich, glatt nach hinten gekämmt, in einem Haarnetz.

Ihr Blick glitt prüfend über die neue Schülerin hinweg, die sie im Gegenzug misstrauisch beäugte und sich halb hinter ihrer Mutter versteckte.

„Sie ist ein sehr sensibles Kind“, begann Agnes und versuchte, ihre Tochter hinter sich hervorzuzerren, was ihr nur teilweise gelang. „Sie ist in Lübeck auf eine reine Mädchenschule gegangen, wo sehr viel Wert auf eine gute Erziehung gelegt wurde. Wie sie mit Jungs zurechtkommt, kann ich Ihnen deshalb nicht sagen.“

Andere Kinder liefen den Flur hinab, an ihnen vorbei, zu ihren Klassenzimmern. Sie lachten und redeten und ein paar betrachteten Helene neugierig. Ein Junge streckte ihr die Zunge heraus und sie schnitt daraufhin eine böse Grimasse. Sie konnten sie alle gern haben! Sie wollte nicht auf diese Schule und sie hatte nicht vor, hier länger zu bleiben! Abhauen würde sie, zurück nach Lübeck, zu Oma Leonore!

„Machen Sie sich keine Sorgen“, hörte sie Fräulein Übeles energische Stimme, die an den Tonfall eines Feldmarschalls erinnerte. „Ich bin bisher noch mit all meinen Schülern zurechtgekommen. Sie müssen nur zuerst Disziplin lernen, das ist die Grundvoraussetzung für ein gutes Leben!“

Sie beugte sich ein wenig nach vorn und ihre winzigen, grünen Augen hinter den Brillengläsern fixierten das Mädchen unbarmherzig.

„Wir werden uns mit Sicherheit gut verstehen, nicht wahr, Helene?“

Ihr Name klang aus dem Mund der Lehrerin beinahe wie eine Drohung und ihr fiel auf diese Frage nichts Besseres ein, als hilflos die Schultern zu heben.

„Wenn du im Unterricht gefragt wirst, stehst du auf, trittst einen Schritt neben die Bank und fängst erst dann an zu sprechen. Zum Melden nehmen wir nur den Zeigefinger der rechten Hand, kein Lineal, keinen Stift und wir schnippsen auch nicht, rufen nicht in die Klasse und reden nur, wenn wir dazu aufgefordert werden! Verstanden?“

Das Mädchen nickte stumm, eingeschüchtert, während ihre Mutter der Lehrerin kurz die Hand reichte. „Ich glaube, ich gehe dann...“

„Es freut mich sehr, dass Sie Ihre Tochter unserer Schule anvertrauen“, merkte Fräulein Übele noch an. „Ich versichere Ihnen, dass wir ausschließlich daran interessiert sind, die Werte unseres Vaterlands, unseres Volks und unseres Führers zu vermitteln. Heil Hitler!“

Agnes starrte die Frau, deren Alter sie auf höchstens Mitte zwanzig schätzte, irritiert an. „Ja...äh...vielen Dank...bis heute Nachmittag, Helene.“

Sie wandte sich ruckartig ab. In ihr lebte noch immer die Frauenrechtlerin und vor allem jemand, der sich für Politik und Menschenrechte interessierte. Sie war nicht in der Partei, im Gegenteil. Sie lehnte Adolf Hitler und seine Parolen und das Geschrei, mit denen er sie in der Öffentlichkeit vertrat, entschieden ab. All dieses zur Schau stellen von Macht war ihr schlicht zuwider und es gelang ihr nur sehr schwer, sich im Zaum zu halten, wenn es darum ging, ihre Meinung über den Führer an den Mann zu bringen. Jedesmal bat Paul seine Frau dann inständig, sich doch zusammenzunehmen, damit es „keinen Ärger gebe“. Agnes verabscheute diese Ängstlichkeit ihres Mannes beinahe ebenso wie Hitlers Geschrei und es kam ihr nie in den Sinn, dass es am Ende wahrhaftig gefährlich sein könnte, wenn sie immer lautstark gegen ihn wetterte.

Sie hatte schon gleich nach der Machtergreifung „Mein Kampf“ gelesen – eigentlich nur aus Neugier und um mehr über diesen Mann zu erfahren. Sie nannte das Werk „eine Aneinanderreihung von schwülstigen Sätzen eines vergeisterten Psychopathen“.

Ebenso wie ihr Bruder, der sich in einer Widerstandsbewegung gegen die Nationalsozialisten engagierte, glaubte sie daran, dass dieser Führer ihnen kein Glück bringen würde. Deshalb mied sie es unter allen Umständen, den Hitler-Gruß auszuführen und sie hatte auch ihrer Tochter klargemacht, dies wann immer möglich ebenfalls zu vermeiden. Sie seien kein Mitglied in der Partei und deshalb sei das einzige, was sie grüßten, der gute Tag.

Im Klassenzimmer warteten zweiundzwanzig Kinder auf ihre Lehrerin und die neue Mitschülerin. Bis auf 8 Schüler bestand die Klasse nur aus Mädchen und Helene fühlte, wie die Blicke der anderen sie zu durchbohren schienen. Es war nie leicht, als Neue in eine eingeschworene Gemeinschaft einzudringen. Kinder konnten gemein sein und rücksichtslos, ja, verletzender noch als manchmal Erwachsene unter sich. Helene konnte ein Lied davon singen. In jedem Schuljahr waren die Klassen auf der Mädchenschule in Lübeck anders aufgeteilt worden und es gab Schülerinnen, mit denen man sich eben besser verstand und welche, die man nicht so gerne mochte. Mit den meisten kam Helene nicht klar, was wohl in erster Linie mit ihrer Schüchternheit zusammenhing. Wenigstens hatte es immer ein, zwei Mädchen gegeben, die ebenfalls an den Rand der Gemeinschaft gedrängt wurden und an die sie sich halten konnte. Doch jetzt geschah es zum ersten Mal, dass sie in eine komplett neue Schule wechselte, wo sie absolut niemanden kannte und völlig auf sich alleine gestellt war.

Als die Klassenlehrerin das Zimmer betrat, sprangen alle Kinder von ihren Plätzen auf, rissen den rechten Arm nach vorn und brüllten aus Leibeskräften: „Heil Hitler, Fräulein Übele!“

Es dauerte einen Moment, ehe Helene begriff, dass sie dabei zu einer Porträtaufnahme des Führers blickten, die neben der Tafel an der Wand hing. Dann wurde sie auch schon von ihrer Lehrerin nach vorn geschoben, um sie den anderen kurz vorzustellen. Viel gab es nicht über sie zu berichten und Helene atmete bereits erleichtert auf, in der Annahme, es fürs Erste überstanden zu haben.

„Klaus!“ Fräulein Übele gab einem Jungen mit sehr auffälligen, dunkelroten Haaren in der ersten Reihe ein Zeichen, sich zu erheben. Er schnellte in die Höhe, um sich neben seiner Bank in militärisch straffer Haltung aufzubauen, das Kinn gerade, den Blick stur nach vorn zur Tafel gerichtet.

„Das ist unser Klassensprecher“, erläuterte Fräulein Übele. „Er wird dich in der Pause durch die Schule führen und dir alles zeigen.“

Höflich nickte Helene ihm zu, wie sie es von ihren Eltern gelernt hatte. „Guten Tag“, flüsterte sie, kaum hörbar, doch Fräulein Übeles Ohren funktionierten hervorragend.

„Wie hast du ihn eben gegrüßt?!“

Der unerwartete Aufschrei ließ Helene zusammenzucken.

„Guten Tag“, wiederholte sie nach einem langen Augenblick. Sie konnte nichts Falsches daran erkennen.

„Gütiger Himmel! Haben sie dir Zuhause noch nicht mal einen korrekten Gruß beigebracht?!“

Im nächsten Moment spürte das Mädchen, wie sie von ihrer Lehrerin herumgerissen wurde. Ihr rechter Arm erhielt mit einem schmerzhaften Ruck eine gerade Ausrichtung nach vorne-oben.

„Der korrekte Wortlaut lautet ‚Heil Hitler‘! Der Arm und die Finger bleiben dabei gestreckt! Und wir grüßen am Morgen immer das Porträt unseres Führers! Da! Dort links! Denn der Führer ist das Wohl und der Segen des Deutschen Volkes! Merk’ dir das!“

Auf das stumme, verschüchterte Nicken hin gab Fräulein Übele ihrer neuen Schülerin einen ungeduldigen Wink. Das konnte ja nichts werden, wenn diese Göre nicht einmal richtig zu grüßen vermochte! Und wie schlaff sie ihre Schultern hängen ließ! Das würde noch eine Menge Arbeit geben!

„Da, in der letzten Reihe, ist noch eine Bank frei. Weil wir eine ungerade Zahl von Schülern sind, wirst du sie für dich alleine haben.“

Ihren endgültig geplatzten Einstand gab Helene damit, dass sie auf dem Weg nach hinten über das gestellte Bein eines der Jungen stolperte und der Länge nach auf den Gang zwischen den Bänken aufschlug. Begleitet vom schallenden Gelächter der Klasse rappelte sie sich wieder hoch und beeilte sich, ihren hochroten Kopf in der zugewiesenen, letzten Reihe zu verstecken. Erst als Fräulein Übele schon längst mit dem Unterricht begonnen hatte, wagte sie es, vorsichtig um sich zu schauen. Rechts von ihr, in derselben Bankreihe über dem Gang, saßen zwei Mädchen. Sie kritzelten eifrig auf ihren Schiefertafeln und schienen sehr konzentriert. Zu ihrer linken Seite saßen auch zwei Mädchen. Die allerdings wirkten eher, als würde der Volkskundestoff sie gehörig langweilen. Das Mädchen, das zu Helenes Seite hockte, besaß wunderschönes, blondes Haar, das sie zu zwei dicken Zöpfen geflochten trug und ihr beinahe bis auf die Hüften hinabreichte. Ihre ungewöhnlich aufrechte Haltung fiel augenblicklich auf und ihre großen, hellblauen Augen erinnerten an einen geschliffenen Diamanten.

Helene fand, dass dieses Mädchen schön aussah, soweit sie schon begriff, dass es mehr und weniger ästhetische Menschen auf dieser Welt gab. Auf einmal bemerkte ihre Mitschülerin, dass sie von der Neuen unablässig angestarrt wurde und sie erwiderte ihren Blick für einen Moment. Langsam hoben sich ihre Mundwinkel zu einem Lächeln und sie nickte ihr kurz zu, kaum merklich, jedoch nicht abweisend.

Die ersten vier Wochen stellten die Hölle auf Erden für Helene dar und jeden Morgen weigerte sie sich mit viel Gejammer und Tränen, aber ohne Erfolg, jemals wieder zur Schule zu gehen. Solange, bis selbst ihr Vater anfing darüber nachzudenken, ob es nicht wirklich besser wäre, sich nach einer anderen Bildungsstätte umzuschauen. Als Alternative kam jedoch nur ein privates Internat in Frage, weil sich dieses als einzige Institution unweit ihres Hauses befand, während sämtliche anderen Schulen nur mit der Straßenbahn oder dem Zug erreichbar waren. Die Internatskosten überstiegen jedoch bei weitem ihr monatliches Budget. So blieb Helene nichts anderes übrig, als weiterhin nachts in ihrem Bett Stoßgebete zum Himmel zu schicken, in der Hoffnung, eines Tages erhört zu werden. Sie träumte schlecht und konnte nicht einschlafen, weil ihr die Erlebnisse des Schultages im Kopf herumspukten: Die Hänseleien, die mentalen Angriffe auf ihre Person und das Gefühl des Ausgeschlossen- und Unbeliebtseins.

Agnes redete stundenlang auf sie ein, dass sie es sich nicht so sehr zu Herzen nehmen dürfte, wenn die anderen dumme Bemerkungen und Späße auf ihre Kosten vom Stapel ließen – das sei am Anfang immer so, wenn man in eine neue Schule käme. Das würde aufhören mit der Zeit. Sie sollte es nur einfach ignorieren.

Doch jeder Tag wartete mit neuen, unangenehmen Überraschungen für das Mädchen auf, meist in Form von Kränkungen ihrer Mitschüler. Vielleicht, wenn sie sich einmal zur Wehr gesetzt hätte, dann wäre damit Schluss gewesen, doch dazu war Helene viel zu schüchtern, ängstlich und gut erzogen. So versuchte sie, die Sticheleien bestmöglich zu ignorieren oder einfach so zu tun, als könnten sie ihr nichts anhaben – was natürlich nicht stimmte. Ihr sensibles, zartes Gemüt geriet allein schon bei der Vorstellung in Panik, am anderen Morgen wieder die Straße hinablaufen zu müssen und sich Fräulein Übele mitsamt ihrer Klasse zu stellen. Am schlimmsten waren die Sonntage. Helene hasste Sonntage, denn das bedeutete, dass sie einen ganzen Tag lang nur darüber grübeln konnte, was die neue Woche wohl Schreckliches für sie bereithielt. Da halfen auch die Ausflüge mit ihren Eltern zu uralten Schlössern und Ruderpartien auf irgendwelchen Flüssen nichts. Am besten schaffte sie es noch, nicht daran zu denken, wenn sie ein Buch las. Lesen – das war ihre Lieblingsbeschäftigung: Geschichten von tapferen Helden und Prinzen, Rittern und mutigen Kriegern, von wilden Indianern bei Karl May – den sie heimlich aus dem Schrank ihres Vaters mopste, denn Agnes hielt Winnetou und Old Shatterhand für „Schundlektüre“ – und glühenden Liebhabern in den Groschenheften, die im Nähkästchen ihrer Mutter versteckt lagen. Helene verschlang alles und wenn sie erst einmal in ihrer Fantasiewelt entschwunden war, konnte sie auch für eine Weile vergessen, dass ihre eigene Realität ganz anders aussah, dass sie eigentlich vollkommen unerträglich für sie war und dass sie alles dafür gegeben hätte, einfach für immer im Wilden Westen oder zwischen spanischen Toreros zu verschwinden oder sich auf einem Schloss mit kaltherzigen Gräfinnen herumzuärgern. Alles schien besser als diese Schule und die dazugehörigen Kinder.

Kapitel 2

Etwa sechs Wochen nach Beginn des neuen Schuljahrs kauerte Helene wie in jeder Pause wieder einmal allein auf einer der Bänke im Schulhof und knabberte lustlos an ihrer Butterstulle. Sie schlug dann immer die Beine übereinander und klappte ihren Oberkörper ein wenig nach vorn. Das sah zwar nicht schön aus, aber es gab ihr das Gefühl, ein wenig kleiner und unsichtbarer für die anderen zu sein.

Sie zählte die Minuten, bis die Pause zu Ende sein würde – wie jeden Tag, das hatte sie sich angewöhnt, auch heute. Alles verlief wie immer. Sie kauerte dort, mümmelte mit verschlossener, finsterer Miene an dem Brot und träumte ein bisschen von Oma Leonore in Lübeck, solange, bis ein Ball geflogen kam und sie hart und unvorbereitet am Kopf traf. Helene stieß einen leisen Schrei aus und drehte sich um. Sie wollte zumindest sehen, wer die Frechheit besaß, Bälle nach ihr zu werfen, auch wenn sie nicht wagen würde, sich gegen den Täter zu wehren. Als Schuldigen konnte sie Wilhelm identifizieren, einen Jungen aus ihrer Klasse, sowie mehrere ihrer Mitschülerinnen und ein paar Mädchen aus der Parallelklasse.

„Na, du Schwachkopf? Hast jetzt endgültig einen Dachschaden?“

„Das geht ja gar nicht!“, rief Ursula. „Die ist so blöd – blöder geht’s gar nicht! Und viel zu hässlich für unsere Klasse!“

In diesem Moment löste sich ein Mädchen aus einer Gruppe, die bisher nicht weit entfernt zusammengestanden hatten. Es trug ein Buch in der Hand und spazierte selbstbewusst an den anderen vorbei.

„Das passt!“, schrie Wilhelm ihr wütend hinterher, als er sie erkannte. „Gleich zwei blöde Ziegen auf einer Bank!“

„Die Neue hat so dunkle Haare! Hoffentlich ist sie nicht mit Juden verwandt!“, rief eines der anderen Mädchen und entriss Wilhelm den Ball, um weiterzuspielen.

„Ach! Haltet doch euer dummes Schandmaul!“, entgegnete die Schülerin, die sich nun zu Helene gesellt hatte.

Wilhelm wirbelte herum und spuckte vor ihr aus. „Sei du mal ganz still! Mein Vater sagt, du hast Italienerblut in dir! Ganz was Verkommenes bist du!“

„Stimmt ja gar nicht! Mein Vater ist sogar in der Partei!“

„Pah! Wer’s glaubt!“

Das Mädchen mit den langen, blonden Haaren blieb vor der Bank stehen und streckte Helene das Buch entgegen. „Hier vom Übel...ich meine, von Fräulein Übele. Mathematik, das fehlt dir doch noch.“

„Oh!“, machte Helene und nahm es nach kurzem Zögern entgegen. „Danke.“

„Schon gut. Sie hat es mir aufgetragen.“

„Hmm.“

Die beiden Mädchen schauten sich fest in die Augen, als wollten sie prüfen, wer von ihnen beiden die Stärkere war. Helene schaute als erste weg. Der Name der anderen war Rikarda, das wusste sie, doch sie hatte bereits mitbekommen, dass sie von den Klassenkameraden lediglich mit Riki angesprochen wurde. Obwohl auch sie den Rang einer Außenseiterin innehatte – wohl wegen ihrer Abstammung – wurde sie längst nicht so offen und verbal angegriffen wie Helene. Das mochte an ihrer schwer erklärbaren, unnahbaren Ausstrahlung liegen, vielleicht auch an ihrer Schönheit, die ihr eine Art von Sonderstatus verlieh.

Dass Rikarda kein bisschen italienisches Blut in sich trug, erfuhr Helene erst viel später. Im Augenblick interessierte sie das auch gar nicht. Abgesehen davon versprach die Vorstellung, dass Rikardas Vorfahren vielleicht einst verschleppt worden waren, einen Hauch von Abenteuer und Exotik, die ihr selbst ja auch nicht unbekannt waren. Oft erzählte Agnes von ihrer Mutter, die Ungarin gewesen war und was für eine großartige, starke Persönlichkeit sie gewesen sei.

Für Helenes Fantasie stellte Rikis Familiengeschichte ohnehin mehr als nur einen spannenden und außergewöhnlichen Nährboden dar: Ihre Mutter war einst eine vielversprechende, junge Theaterschauspielerin und Operettensängerin gewesen, bis sie ihren ersten Mann kennengelernt und ihn geheiratet hatte. Mit Anfang Zwanzig hatte sie einem Jungen das Leben geschenkt und drei Jahre später ihre Tochter zur Welt gebracht. Die Ehe stand jedoch unter keinem guten Stern, trotz des innigen Verhältnisses zu ihrer Schwiegermutter. Schon bald nach der Geburt von Riki hatte sie sich von ihrem Mann getrennt, um einen jungen Arzt zu heiraten, dessen Vater einst aus Italien ins Deutsche Königreich übergesiedelt war. Sie verlor das Sorgerecht für ihren Sohn, der fortan beim Vater lebte, behielt jedoch ihre kleine Tochter, die nach ihrer Wiedervermählung den Namen Orsini übertragen bekam, ein eindeutiges Indiz ihrer Herkunft wie es auf den ersten Blick schien und doch viel komplizierter.

Riki selbst störte sich herzlich wenig an diesem Handicap, das ihr Name für sie bisweilen bedeutete. Ihre Mutter hatte es damals als das Beste empfunden, damit sie richtig zur Familie gehörte und damit Punkt. Sie hasste es auch, sich ständig erklären zu müssen, wenn es um ihren Stiefvater ging und darum, dass ihre Mutter keine „ehrbare“ Frau mehr sei, weil sie sich hatte scheiden lassen. Ansonsten gab es wenig, was Riki wirklich gegen den Strich ging. Sie schien mit ihrem Platz als akzeptierte Einzelgängerin innerhalb der Klasse gut zurechtzukommen und da sie ohnehin keinen sonderlich großen Ehrgeiz besaß – den sollte sie erst später entwickeln – war es ihr auch gleich, wenn Fräulein Übele sie immer wieder vor die Klasse treten und an der Tafel vorrechnen ließ, obwohl sie grundsätzlich alles falsch machte. Sie konnte Fräulein Übele nicht ausstehen und das beruhte auf Gegenseitigkeit. Vielleicht lag es daran, dass Riki es vortrefflich verstand, die Lehrerin um eine passende Antwort verlegen zu machen. Wenn ihr etwas nicht passte, schwieg sie einfach und schaute das Übel aus ihren schönen, stahlblauen Augen so lange an, bis diese vor Zorn wieder einmal ihren Zeigestock auf dem Pult zerschlug. Riki konnte ihre Lehrerin allein mit ihrem selbstbewussten Auftreten um die Fassung bringen und sie nahm jede Möglichkeit wahr, dies für sich auszunutzen.

Das genaue Gegenteil dazu war Helene. Sie fühlte sich unbeholfen und hilflos ohne Freundinnen, denen sie folgen und hinter denen sie sich im Ernstfall verstecken konnte. Immer waren da stärkere Mädchen gewesen, die sie zu gern beschützt hatten, um ihren Rang als die „Besseren“ und „Stärkeren“ zu unterstreichen. In deren Gegenwart hatte sie keine Sorgen zu haben brauchen. Aber diese Mädchen waren jetzt alle in Lübeck und sie saß hier in Leipzig, in der letzten Reihe in der Mitte, alleine und von ihrer Klassenlehrerin alles andere als geschätzt.

Den Grund dafür konnte Helene nur erahnen. Zum einen lag es vermutlich an ihrem recht schlapp ausfallenden Hitlergruß. Ganz sicher musste es daran liegen. Sie sah keinen Sinn darin, das Porträt eines Mannes zu grüßen, den sie nicht kannte, noch nie in Person gesehen hatte und von dem ihre Mutter sagte, dass er „ein Schwein, ein Betrüger und ein verrückter Egomane“ sei. Woraufhin ihr Vater sie immer mit hektischen Bewegungen zum Schweigen brachte und sie ermahnte, solche Worte nicht vor dem Kind in den Mund zu nehmen: „Wenn sie das in der Schule auch vom Stapel lässt, dann verliere ich meine Stellung und du kommst ins Zuchthaus!“

Hinzu kam erschwerend, dass Helene – genau wie Riki – in Fräulein Übeles Lieblingsfach Mathematik eine Null war. Kopfrechnen war gerade noch drin, wenn ihr genügend Zeit blieb. Unter Druck funktionierte nichts mehr und das wusste Fräulein Übele. Bei den Mathematiktests stellte sie sich daher gern hinter Helene und beobachtete, wie diese immer nervöser und unsicherer wurde. Die Noten fielen entsprechend aus, es gab ein großes Donnerwetter Zuhause und Nachhilfe bei Paul. Dieser jedoch bewies bei seiner Tochter weit weniger Geduld als bei seinen jugendlichen Abituranwärtern und irgendwann gab er es auf und überließ es fortan seiner Frau, ihrer Tochter im Rechnen auf die Sprünge zu helfen.

Schon nach kurzer Zeit kannte Helene die meisten Rituale und die wichtigsten Hackordnungen, sodass sie viele Probleme mit den anderen Kindern vermeiden konnte und allmählich begannen ihre Mitschüler, sie in Ruhe zu lassen. Sie fanden neue Opfer und vorerst konnte sie aufatmen. Sie wurde auch gut im „sich klein und unsichtbar machen“, indem sie sich in dunklen Ecken lautlos herumdrückte und während des Unterrichts nie freiwillig einen Beitrag leistete, sich nie meldete und nur dann sprach, wenn sie aufgefordert wurde und manchmal selbst dann nicht – nämlich, wenn sie die richtige Antwort nicht wusste. Bevor sie sich blamierte, schwieg sie lieber.

Es war November geworden, Nebel hing über den Straßen, der sich erst im Laufe des Tages verzog und manchmal lag auch schon Rauhreif. Am Tag zuvor hatte Helene helfen müssen, den Rasen zu mähen. Sie hatten zwar seit kurzem eine Haushälterin, allerdings konnte diese dem Urwald unmöglich alleine zu Leibe rücken. So musste Helene ihr nach der Schule helfen. Dafür ging Agnes jeden zweiten Tag zur Konditorei und besorgte ihnen ein Stück Schokoladentorte, sozusagen als Entschädigung. Die ungewohnt anstrengende, körperliche Arbeit über mehrere Tage hinweg, schafften das 11jährige Mädchen allerdings mehr als sie zugab. Sie wollte aber auch ihre Mutter nicht enttäuschen und lud weiterhin langes, feuchtes Gras auf Schubkarren und an einem Tag konnte sie nicht verhindern, während des Morgengrußes zu gähnen. Während die anderen Kinder das gewohnte „Heil Hitler, Fräulein Übele!“ brüllten, sperrte Helene lediglich den Mund auf und im selben Moment traf sie der kalte, unbarmherzige Blick aus den kleinen, engen Mausaugen der Lehrerin.

„Helene! Wir sind heute augenscheinlich noch nicht ganz wach! Nun, das wird sich gleich ändern!“

Die nächsten Stunden, bis zur großen Pause, verbrachte sie also in der Ecke zwischen Fenster, Tafel und Hitlerporträt und durfte von dort aus dem Unterricht folgen, natürlich unter den schadenfreudigen Blicken der anderen Jungen und Mädchen. Sie glaubte, ihre Beine würden irgendwann unter ihr nachgeben, doch Fräulein Übele ließ keine Gnade walten. Als endlich die Klingel zur Pause schrillte, spürte Helene knieabwärts nichts mehr, als wäre das kein Teil ihres Körpers. Nachdem alle anderen das Klassenzimmer verlassen hatten, musste sie ans Pult treten, sich eine zweite Standpauke anhören, von der sie die Hälfte nicht verstand. Fräulein Übele erklärte ihr irgendetwas von „Respekt“ und „dem deutschen Volk“ und „der arischen Zukunft“, von der Helene überzeugt war, noch nie zuvor gehört zu haben. Am Ende bekam sie zwei Strafarbeiten: Einen Aufsatz über den Sinn des Hitlergrußes zu verfassen und zweihundert mal in Schönschrift zu schreiben: „Der Führer liebt wache Schüler, die beim Morgengruß nicht gähnen“.

Hatte Helene ihre neue Schule schon zuvor nicht gern von innen gesehen, so war es ihr jetzt endgültig verleidet, sich dort blicken zu lassen. So oft sie allerdings abends davon träumte einfach zu schwänzen, so brav und wohlerzogen trabte sie am anderen Morgen sauber frisiert doch wieder die Treppe ins zweite Stockwerk hinauf, um sich in ihre Bank zu quetschen.

Ein Lichtblick war das nach Hause kommen. Es hatten sich einige Frauen auf die Stellenausschreibung beworben. Die meisten allerdings hatten schnell einen Rückzieher gemacht, als sie erkannten, dass Agnes keine sehr geschickte Hausfrau war und sie außerdem Ansichten vertrat, die womöglich irgendwann zum Verhängnis werden konnten. Die einzige, die schließlich übrigblieb, hieß Doro. Wie ihr Nachname lautete, wusste Helene nicht. Vielleicht hatte noch nicht einmal ihre Mutter eine Ahnung davon. Doro war groß und stark, mit riesigen Brüsten, wie sie es noch nie bei einer Frau gesehen hatte. Sie wippten unter dem Stoff, wenn Doro schneller lief und wenn sie sich anstrengte, verfärbte sich ihr Vollmondgesicht unter den braunen, kurzen Haaren dunkelrot. Musste sie die Treppe hinauf, keuchte sie bisweilen wie ein Walross und als sie die Sense im Garten ansetzte, um dem „unkontrollierten Gewuchere“ ein Ende zu setzen, wurde jede ihrer Bewegungen mit einem pfeifenden Schnaufen begleitet.

Helene mochte Doro sehr. Sie ging ihr gerne freiwillig zur Hand und hörte ihr zu, wenn sie in malerischen Farben davon erzählte, wie sie im nächsten Frühjahr den Gemüsegarten bepflanzen wollte und im Gewächshaus Gurken und Tomaten wachsen sollten. Die Beerensträucher, die mehr als im Überfluss quer durch den Garten verteilt waren, wurden zurückgestutzt, ebenso die drei Apfelbäume und der Birnbaum, der am Spalier neben der Terrasse die Wand nach oben kletterte.

Doro war auf dem Land geboren und aufgewachsen. Ihre Mutter hatte als Magd auf einem landwirtschaftlichen Anwesen gearbeitet und das dort erlernte Wissen an ihre fünf Kinder weitergegeben. In ihrer kleinen Wohnung, im vierten Stock eines Mietshauses, konnte Doro allerdings kein Gemüse anbauen und so war sie dankbar dafür, einen Haushalt gefunden zu haben, wo niemand Lust hatte, diese Aufgabe selbst zu erledigen. Doros Mann arbeitete als Schaffner bei der Eisenbahn. Ihr einziger Sohn war Schreiner in einer Tischlerei und zu Doros Bedauern zeigte er herzlich wenig Interesse daran, bald eine eigene Familie zu gründen.

„So ein paar Enkelchen, das wäre halt schon was!“, pflegte sie regelmäßig ihre Geschichten über „das Jungchen“ abzuschließen, wie sie ihren Sohn liebevoll nannte. Dann geriet sie wieder ins Schwärmen wie viel Glück sie doch mit ihm gehabt hätte – denn „nicht jede Mutter kriegt so einen herzensguten Sprössling“, der außerdem noch eine Menge anderer Talente zu besitzen schien – außer ein guter Nachkomme zu sein. Zum Beispiel beherrschte er famos den Umgang mit Karten, wofür er regelmäßig für ein paar Tage hinter schwedischen Gardinen verschwand. Dann kam Doro immer mit großem Kummer zur Arbeit und jammerte, weil „das Jungchen mal wieder so viel Pech beim Spielchen hatte“. Außerdem war ihr Sohn in sämtlichen „verpönten Einrichtungen der Stadt“ berühmt-berüchtigt, unter denen Helene sich beim besten Willen nichts vorzustellen vermochte und von denen Doro auch nicht sonderlich angetan schien. Und er besaß die faszinierende Fähigkeit „den Schnaps schon auf zehn Kilometer Entfernung zu riechen“. Doro hegte und pflegte ihre beiden Männer, verwöhnte sie und wenn wieder einmal etwas schiefzulaufen drohte, schimpfte und verfluchte sie beide, dass Agnes ihrer Tochter bisweilen die Ohren zuhielt.

Helene bekam das besagte Jungchen, welches mit richtigem Namen Olaf hieß, nur einmal zu Gesicht als er seine Mutter mit dem Motorrad abholte. Er entsprach nicht gerade der Vorstellung, die ein kleines Mädchen, das Karl May und Liebesromane verschlang, von einem Traumprinzen hatte: Groß, ungepflegt und mit Dreitagebart, einem Bierbauch und zwei fehlenden Zähnen. Hinzu kam noch, dass er weder grüßte, noch sonderlich vertrauenserweckend wirkte. Helene beschloss nach dieser ersten Enttäuschung Männer betreffend, einfach zu vergessen, dass sie ihn kennengelernt hatte. Denn es fiel ihr schwer zu glauben, dass eine so resolute und nette Frau wie Doro einen solch muffeligen, unfreundlichen Sohn haben konnte.

Einmal radelten sie gemeinsam hinaus aufs Land, zu einem kleinen Bauernhof, der von Doros Bruder und dessen Familie bewirtschaftet wurde. Es war schon Ende November und kalt, doch der erste Schnee ließ noch auf sich warten. Doro band einen Handkarren an den Gepäckträger ihres Fahrrads und während sie in der warmen Bauernstube einen „guten Tropfen“ zu sich nahm, durfte Helene den Wagen mit Pferdemist befüllen: „Davon wird’s dir dann auch warm!“

Sie zerhackte die halbgefrorenen Pferdeäpfel mit einer viel zu schweren Schaufel, deren Eigengewicht sie schon kaum zu heben vermochte und irgendwann hatte der älteste Junge des Hofbesitzers doch Mitleid und ging ihr zur Hand.

„Ihr Städter!“, meinte er verächtlich, nachdem er den kleinen Wagen mit wenigen Handgriffen und einem riesigen Berg Mist befüllt hatte. „Nix gewohnt und keine Kraft! So kommst du ja nie durch den Winter!“

Helene ignorierte den Kommentar, bedankte sich höflich und war froh, als sie mit Doro den doch recht langen Heimweg antreten konnte. Zuhause musste der Mist jedoch erst wieder abgeladen werden. Doro gab Anweisungen, wie Helene ihn unter den Beerensträuchern verteilen sollte, während sie selbst es sich leichter machte und nur ein wenig etwas um die Stämme der Apfelbäume streute. Um an die wichtigen Stellen der Sträucher zu gelangen, nämlich den Wurzelstock, musste das Mädchen halb unter die Zweige kriechen und vor allem die Brombeeren hinterließen deutliche Spuren in ihrem Gesicht. Außerdem stank sie zum Gotterbarmen nach Mist und Pferd, sodass ihre Mutter sie sofort in die Badewanne steckte.

In Doro fand Helene ihre erste und für eine ganze Weile auch einzige Freundin in dieser Stadt, die ihr noch immer fremd und fast ein bisschen unheimlich erschien. Den Winter über, der nicht allzu streng verlief, verbrachte sie sehr viel Zeit mit Büchern aus der Schulbibliothek und damit, ihre Eltern zu drangsalieren, damit sie in den Ballettunterricht gehen durfte. Auf einem Plakat, das in der Stadt aushing, war eine berühmte Ballerina abgebildet, die auf Tournee kam und in der Oper tanzte. Helene fand, dass sie noch nie eine solch schöne und elegante Frau gesehen hatte.

Paul sah die Ausgabe für den Unterricht als Verschwendung an und Agnes fürchtete, dass ihr kleines Gehalt, das sie mehrere Stunden in der Woche damit verdiente, im Lebensmittelladen die Regale zu befüllen, dann nicht mehr reichte. Sie war nämlich den Zigaretten verfallen. Sie rauchte immer nur in Pauls Arbeitszimmer, weil auch er dort seinen Pfeifentabak in die Luft qualmte. Es war das einzige Zimmer im Haus, wo sie ihrer Sucht nachgingen. Agnes liebte es, ihre Zigaretten auf lange Spitzen zu stecken und dazu über die Sinnlosigkeit der heutigen Frauenverbände zu philosophieren. Paul hörte ihr meistens nur zu, gab mal ein „Ah!“, mal ein „Oh?“ von sich und widmete seine Aufmerksamkeit ansonsten der Tageszeitung. Zigaretten allerdings kosteten Geld und da Agnes nicht gerade wenig rauchte, selbstredend umso mehr. Da blieb keine müde Mark für Ballettunterricht, von dem sie ohnehin glaubte, dass er für ihre Tochter nicht geeignet wäre: „Zu groß, zu kräftig, zu ungeschickt!“ sei sie, meinte Agnes.

Paul dagegen hatte seine eigenen Problemchen mit der Arbeit seiner Frau, die ihm nicht ganz recht war. Es schien ihm auch schlecht für seinen Ruf, dass sie Geld dazuverdiente: „Die Leute werden denken, dass ich dich und unser Kind nicht versorgen kann!“

Um solche Oberflächlichkeiten scherte Agnes sich herzlich wenig. Ihre hausfraulichen Fähigkeiten hatten sich im Laufe ihrer Ehe nur mäßig erweitert und verbessert. Eigentlich hatte sie nie heiraten, sondern studieren wollen. Das wäre jedoch in ihrer diktatorischen Familie unmöglich gewesen. Eine Frau gehörte an den Herd, nicht in einen Vorlesungssaal, Punkt. Heimlich hatte sie aber doch angefangen, sich die Studiengänge an der Hamburger Universität anzusehen und musste bald darauf feststellen, dass Frauen dort zwar offiziell zugelassen, aber nicht unbedingt begeistert empfangen wurden. Zu allem Überfluss war ausgerechnet an diesem Punkt ihres Lebens Paul aufgetaucht und noch viel entsetzlicher war, dass sie sich unsterblich in diesen etwas verbohrten, spießigen Lehramtsanwärter hatte verlieben müssen. So war sie letztlich doch dort gelandet, wo sie eigentlich partout nicht hatte hin wollen.

Der Umzug nach Leipzig hatte für sie zum Vorteil gehabt, dass sie den Fängen ihrer kleinbürgerlichen, gestrengen Schwiegermutter entkommen konnte, die schon lange die Ansicht vertrat, dass Agnes nicht dem Bild der Frau entsprach, das sie sich für ihren Sohn gewünscht hatte. Helene war der Abschied von der Großmutter am schwersten gefallen. Sie waren einander nicht unähnlich und das Mädchen hatte die alte Frau häufig dazu gebracht, sich neben sie auf den Boden zu setzen und mit ihr die Puppen in ihren Puppenstuben umherzuschieben – etwas, das Agnes niemals tat.

Mit der andauernden Zeit der Isolierung wuchs eine Art Trotz und Verärgerung in Helene. Wenn die anderen sie nicht dabei haben wollten – schön! Sie brauchte auch niemanden! Und sie würde denen allen eines Tages schon zeigen, dass sie einen großen Fehler gemacht hatten, sie nicht in einer ihrer verschiedenen Banden aufzunehmen!

Weihnachten ging vorüber, der Schnee schmolz und die ersten Märzenbecher drückten durch die matschige, aufgeweichte Erde. Die große Pause wurde von den Kindern meistens dazu genutzt, um zu spielen und eine Menge Lärm zu veranstalten. Helene schlenderte über den Hof. Sie hatte sich angewöhnt, sich ein bisschen Bewegung zu verschaffen, nachdem sie den halben Tag sitzen musste. Auf halben Weg rempelte sie Theo aus ihrer Parallelklasse an, ein ganz schlimmer Aufschneider.

„He!“, sagte er und stieß ihr seinen Ellenbogen schmerzhaft zwischen die Rippen. „Weißt du, was dein Vater ist?“

„Nee! Ich weiß,werer ist und was du denkst, ist mir schnuppe!“

„Häh!“ Theo schien wenig beeindruckt von ihrer energisch hervorgebrachten Retoure. „Mein Vater ist in der Partei und deiner nicht! Und das macht dich zu einer Null!“

„Pah! Und wenn schon! Woher willst denn du das wissen?“

„Weiß ich halt! Dein Vater ist eins von diesen Kommunistenschweinen. Die gehören alle ausgemerzt, sagt mein Vater. Genau wie die Juden!“

In Helene erwachte der Zorn. Da redete jemand schlecht über ihren Vater! Als ob es nicht schon genügte, dass sie ihr ständig Kränkungen an den Kopf warfen! „Nimm das sofort zurück!“

„Warum? Wenn’s doch wahr ist!“

„Nimm das zurück!!“ Noch nie in ihrem Leben hatte sie einen solchen Zorn empfunden. Wie konnte dieser dahergelaufene Besserwisser, dieses nichtsnutzige Großmaul es wagen, ihren Vater zu beleidigen?!

„Und wenn nicht? Was willste dagegen tun, häh? Bist ja bloß’n Mädchen!“

Helene wusste nicht, welcher Teufel sie ritt. Es schien, als hätte jemand anders die Kontrolle über ihren Verstand übernommen. Sie holte aus und mit all ihrer Kraft schlug sie Theo ihre Fäuste in den Bauch. Der Junge war auf eine solche Attacke nicht vorbereitet. Er strauchelte, fiel mit einem lauten Schlag rücklings um. Sofort war Helene über ihm. Sie wollte ihn in die Mangel nehmen, wie sie es in vielen Pausen bei anderen Schülern schon oft beobachtet hatte, doch jetzt war Theo auf der Hut. Er packte ihren Arm und bog ihn nach hinten, woraufhin Helene ihm gegen das Schienbein trat. Irgendwann rollten sie schreiend und wüste Beschimpfungen ausstoßend auf dem Pflaster des Pausenhofs. Sofort bildete sich ein Pulk um sie und ein paar Freunde von Theo versuchten, ihm zu Hilfe zu eilen. Sie zerrten Helene an den Haaren und wollten sie von ihm fort ziehen, doch plötzlich war da Riki. Wie aus dem Nichts fuhr sie auf einmal dazwischen und schlug die anderen Jungs mit ihrer eigenen, energischen Art in die Flucht. Der vorläufige Triumph hielt aber nicht lange an, denn der Tumult war von den aufsichtführenden Lehrern bemerkt worden.

Keine zehn Minuten später fanden sich Riki und Helene im Büro von Direktor Wengenstein wieder, der ihrer Geschichte mit stoischer Miene lauschte. Theo konnte dazu vorerst nicht vernommen werden. Seine Kratzwunden und ein vermutlich gestauchtes Handgelenk mussten ärztlich versorgt werden.

„Nun, denn“, meinte Direktor Wengenstein schließlich, nachdem die beiden Mädchen geendet hatten. „Ihr seid bisher noch nicht negativ aufgefallen. Deshalb bin ich gewillt, euch zu glauben. Wir belassen es für diesmal bei einer mündlichen Ermahnung und drei Stunden nachsitzen! Aber dass mir so etwas nie wieder zu Ohren kommt! Sonst werde ich zu anderen Maßnahmen greifen!“

Erleichtert schlugen Riki und Helene den Weg zurück in ihre Klasse ein. Die Gänge schienen wie ausgestorben, die Schüler befanden sich alle im Unterricht. Sie gingen ein Stück weit still nebeneinander her. Keine wusste so recht, was sie sagen sollte, dann bogen sie in das große, quadratische Treppenhaus ab, das an die Eingangshalle grenzte.

„Du, Riki?“

Die Angesprochene hob kaum den Blick von den Stufen.

„Hmm?“

„Danke.“

„Ach, vergiss es! Ich hab’ bloß gehört, was Theo gesagt hat und...na ja, ich hab’ halt was gegen Ungerechtigkeit! Und sieben Jungs gegen ein Mädchen...“ Sie vollendete den Satz mit einer wegwerfenden Handbewegung.

„Ich hab’ mich noch nie mit jemandem geprügelt! Was machen wir denn jetzt?“

„Wieso?“

„Na, wegen dem Nachsitzen!“

Riki überlegte einen Moment. „Am besten, du kommst hinterher kurz mit zu mir. Dann kannst du zu Hause erzählen, du hättest mich besucht. Meine Mutter lernt dich kennen und ich kann sagen, wir seien noch zusammen spazierengegangen. Einverstanden?“

„Aber...das ist doch eine Lüge!“ Helene konnte ihr nicht folgen. Was sollte das bringen, wenn sie noch mit zu Riki ging? Andererseits, sollte ihre Mutter Nachforschungen anstellen, würde diese Tatsache vielleicht von Vorteil sein.

„Quatsch!“, wies Riki sie zurecht. „Das ist eine Notlösung! Wenn Piero davon erfährt, reißt er mir den Kopf ab!“

„Wer ist Piero?“

„Mein Stiefvater.“ Sie zögerte kurz. „Weißt du, wir haben eine Sache gemein.“

„Und das wäre?“

„Mich mögen sie nicht, weil meine Mutter sich hat scheiden lassen und dich nicht, weil dein Vater die Partei ablehnt!“ Sie grinste. „Und weil du noch immer unfähig bist, den Gruß korrekt auszuführen!“

„Den Blödsinn brauche ich daheim nicht!“

„Ich auch nicht! Piero hält nichts von Hitler und seinen Gefolgsleuten! In der Klinik diskutieren sie oft darüber.“

„Dein Stiefvater ist Arzt?“

„Ja, Chirurg im Krankenhaus. Er schnippelt an den Leuten rum und solche Sachen! Also, wenn du mal krank wirst, durchwühlt Piero deine Innereien!“

Eine Seitengasse, fast fünfzehn Minuten Fußmarsch von der Schule gelegen, führte zum Haus der Orsinis. Es befand sich mitten zwischen anderen, hübschen Einfamilienhäusern, die rechts und links die schmale Straße säumten. Vor dem quadratischen 20er-Jahre-Bau erstreckte sich ein kurzer Garten. Darin wuchsen Rosen, überall Sträucher mit Rosen, Dutzende, mehr als Helene jemals zuvor gesehen hatte und in allen erdenklichen Farben. Lediglich am Zaun, der das Grundstück nach allen Seiten hin begrenzte, stach ein dünner, verkümmerter Stängel hervor, der wohl einstmals ein Birkenschößling gewesen war.

Als Riki das Gartentor aufstieß, hüpfte ihnen kläffend ein brauner, kurzbeiniger Dackel entgegen. In seinem Fell klebten Erdklumpen und er sprang an den Mädchen hinauf wie ein Gummiball.

„Das ist Otto“, erläuterte Riki. „Er gehört Oma.“

Oma hieß mit Vornamen Cynthia und war soeben damit beschäftigt, die Wäsche auf eine Leine zu hängen, die zwischen der Hausmauer und dem Kümmerling von Birke gespannt war. Sie winkte ihnen kurz zu, rief den Hund zu sich und schalt ihn, weil er wieder einmal zwischen ihren Rosen gebuddelt hatte. Otto schien diesen Anpfiff jedoch eher als Lobrede zu erachten, denn er lauschte den Worten seines Frauchens aufmerksam und mit wild klopfender Rute.

„Er heißt Otto wegen dem Bismarck“, erklärte Riki. „Meine Oma hat als Mädchen für ihn geschwärmt und seitdem heißen alle ihre Dackel Otto.“

„Aha! Hatte sie denn schon viele?“

„Ich glaube, das ist der fünfte oder so, aber ich weiß nicht genau. Kann auch schon der elfte sein. Wenn einer stirbt, kauft sie sich einen neuen.“

„Und deine Oma wohnt bei euch?“