AM ENDE DIESER LANGEN NACHT - Cornell Woolrich - E-Book

AM ENDE DIESER LANGEN NACHT E-Book

Cornell Woolrich

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  • Herausgeber: BookRix
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2020
Beschreibung

Sie haben praktisch keine Chance zu entkommen: Es bleiben ihnen genau vier Stunden für die Flucht. Sie will auf keinen Fall ohne ihn fort. Und er wagt nicht zu fliehen, bevor er nicht jene Person in der riesigen Stadt gefunden hat, die ihn vom Mordverdacht freisprechen kann. Ein abgerissener Knopf, eine Zigarrenkippe, eine Streichholzschachtel - das sind die einzigen Spuren. Die Mordkommission ist ihnen dicht auf den Fersen, unerbittlich verrinnt die Zeit... Cornell Woolrich (* 4. Dezember 1903 in New York City; † 25. September 1968 ebenda) war ein US-amerikanischer Schriftsteller, der in der Hauptsache durch seine düsteren Kriminalromane und Detektivgeschichten bekannt ist. Er prägte maßgeblich den "Hardboiled-Typus" der Schwarzen Serie und lieferte zahlreiche Vorlagen für (Dreh-)Bücher des Film Noir. Woolrich schrieb auch unter den Pseudonymen George Hopley und William Irish. Die US-amerikanische Literatur-Kritik bezeichnete Cornell Woolrich als "den Edgar Allan Poe der Moderne". Der Roman Am Ende dieser langen Nacht erschien erstmals im Jahr 1944; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1981. Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.

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CORNELL WOOLRICH

 

 

Am Ende dieser

langen Nacht

 

Roman

 

 

 

 

Apex Crime, Band 142

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

 

AM ENDE DIESER LANGEN NACHT 

1. Zehn Minuten vor eins 

2. Viertel nach eins 

3. Ein Uhr vierzig 

4. 2 Uhr 

5. Zwei Uhr dreiundzwanzig 

6. Vier Minuten vor drei Uhr 

7. Drei Uhr 

8. Drei Uhr fünfundzwanzig 

9. Viertel vor vier 

10. Vier Uhr neunzehn 

11. Vier Uhr achtundzwanzig 

12. Eine Minute nach fünf Uhr 

13. Fünf Uhr einundzwanzig 

14. Viertel vor sechs 

 

 

Das Buch

 

Sie haben praktisch keine Chance zu entkommen: Es bleiben ihnen genau vier Stunden für die Flucht. Sie will auf keinen Fall ohne ihn fort. Und er wagt nicht zu fliehen, bevor er nicht jene Person in der riesigen Stadt gefunden hat, die ihn vom Mordverdacht freisprechen kann. Ein abgerissener Knopf, eine Zigarrenkippe, eine Streichholzschachtel - das sind die einzigen Spuren. Die Mordkommission ist ihnen dicht auf den Fersen, unerbittlich verrinnt die Zeit...

 

Cornell Woolrich (* 4. Dezember 1903 in New York City; † 25. September 1968 ebenda) war ein US-amerikanischer Schriftsteller, der in der Hauptsache durch seine düsteren Kriminalromane und Detektivgeschichten bekannt ist. Er prägte maßgeblich den »Hardboiled-Typus« der Schwarzen Serie und lieferte zahlreiche Vorlagen für (Dreh-)Bücher des Film Noir. Woolrich schrieb auch unter den Pseudonymen George Hopley und William Irish. Die US-amerikanische Literatur-Kritik bezeichnete Cornell Woolrich als »den Edgar Allan Poe der Moderne«. 

Der Roman Am Ende dieser langen Nacht erschien erstmals im Jahr 1944; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1981.  

Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.

   AM ENDE DIESER LANGEN NACHT

 

 

 

 

 

 

 

  1. Zehn Minuten vor eins

 

 

Für sie war der Mann nichts weiter als ein rosa Ticket, ein abgenutztes, halb entzweigerissenes Tanzticket. Zweieinhalb Cents sprangen dabei heraus. Nichts weiter als zwei Füße, welche die ihren bedrängten, ein Nichts, eine Nummer, von der sie hin und her geschoben wurden, bis die fünf Minuten um waren. Fünf Minuten Zurufe, das Niederprasseln des Zweivierteltakts vom Podest der Band, wie ein Sandsturm, der gegen leere Blechbüchsen trommelt - und dann plötzliche Stille, so als sei alles abgeschaltet worden. Ein paar erleichterte Atemzüge, die Rippen vom Arm des Fremden befreit. Und dann alles wieder von vorne - erneuter Sandsturm, ein weiteres rosa Ticket, wieder ein paar Füße, die hinter den ihren herjagten, ein neuer Gesichtsloser, der sie dorthin lenkte, wohin es ihm passte.

Mehr bedeuteten sie alle nicht für sie. Ja, sie liebte ihren Job, sie liebte das Tanzen. Vor allem, wenn sie dazu angeheuert werden konnte. Manchmal wünschte sie, sie wäre mit einem Hinkefuß geboren worden. Oder taub, dass sie niemals wieder das Geschmetter einer zur Decke gerichteten Zugposaune hören müsste. Dann hätte es all das hier für sie nicht mehr gegeben. Wahrscheinlich hätte sie stattdessen dreckige Hemden gewaschen oder schmutziges Geschirr in einem Restaurant gespült. Was nützen also all die Wünsche? Es kam nichts Besseres nach. Aber was schadete das schon? Man hatte nichts zu verlieren.

In dieser ganzen Stadt hatte sie nur einen einzigen Freund. Er tanzte nicht, er war immer am selben Ort, Nacht um Nacht, und schien zu sagen: »Nur Mut, Kleines, es dauert nur noch eine Stunde, du hältst schon durch, du hast immer durchgehalten.« Und dann eine Weile später: »Nur noch eine halbe Stunde, Kleines - ich arbeite für dich.« Und dann endlich: »Nur noch eine Runde, Kleines, dann bist du für heute Nacht befreit. Wenn du wieder an mir vorbeikommst, stehe ich auf ein Uhr!«

Ja, der einzige Freund, der sie nicht im Stich ließ. Der einzige in New York, der ihr eine Chance gab. Der einzige, der auf ihrer Seite stand, wenn auch nur passiv.

Sie konnte die Uhr nur durch die beiden letzten Fenster links sehen, die zur Seitenstraße lagen, und nur dann, wenn sie dort vorübertanzte. Die übrigen Fenster gaben lediglich den Blick auf andere Gebäude frei; sie standen immer einen Spaltbreit offen, damit Luft hereinkam und der Musiklärm auf die Straße hinausdrang und vielleicht Passanten anlocken würde.

Die Uhr war ziemlich weit entfernt, aber das Mädchen hatte gute Augen. Sanft leuchtend hoben sich die Zeiger gegen den schwarzen Taft der Nacht ab. Ein Kreis aus zwölf glänzenden Kerben und zwei beleuchtete Stäbe, die stetig vorrückten. Strich um Strich, und dafür sorgten, dass sie schließlich von hier wegkam. Es war die Uhr auf dem Turm des Paramount-Gebäudes, es war das Gesicht eines Freundes. Ein seltsamer Freund für ein schlankes, rothaariges Mädchen von zweiundzwanzig Jahren, aber er überbrückte die Spanne zwischen Durchhalten und Verzweiflung.

Und noch etwas - sie konnte die Uhr auch von dem Zimmer ihrer Pension aus sehen, in der sie hauste, obwohl sie dort noch weiter entfernt war und sie sich auf die Zehenspitzen stellen musste. Dort war sie allerdings nichts weiter als eine unbeteiligte Zuschauerin - nur hier war sie ihr Freund.

Sehnsüchtig blickte das Mädchen jetzt über die anonyme Schulter hinüber. »Noch zehn Minuten«, sagte die Uhr. »Das Schlimmste ist vorbei, Kleines. Beiß die Zähne zusammen!«

»Ziemlich voll hier heute Abend.«

Für einen Augenblick wusste sie gar nicht, woher die Stimme kam, so sehr hatte sie sich in einem Vakuum der Selbstvergessenheit befunden. Dann erkannte sie, dass die Worte von der körperlosen Nummer stammten, die sie vor sich her schob.

Ah so. Er wollte sich also unterhalten? Nun, damit wurde sie fertig. Er hatte ohnehin diesen Punkt wesentlich später erreicht als die anderen. Er hatte sie bereits zum dritten oder vierten Mal hintereinander geholt. Und vor der letzten Pause hatte sie nur vage die gleiche Anzugfarbe wahrgenommen; sie unterzog sich niemals der Mühe, einen Tänzer vom anderen zu unterscheiden.

»Mhm.« Einsilbiger ging es nicht.

Er versuchte es erneut: »Ist es immer so voll wie heute Abend?«

»Nein, wenn geschlossen wird, ist es leer.«

Schon gut, sollte er sie ansehen, wie er Lust hatte. Sie war nicht verpflichtet, zugänglich zu sein, sie musste lediglich mit ihm tanzen. Seine zehn Cents deckten die Fußarbeit, keine verbalen Bemühungen.

Für diesen letzten Tanz war das Lokal verdunkelt worden. Das war immer so. Die direkte Beleuchtung wurde ausgeschaltet, die Gestalten auf dem Tanzboden bewegten sich wie raschelnde Gespenster. Es war dafür gedacht, die Gäste dahinschmelzen zu lassen, so dass sie mit dem Gefühl auf die Straße hinausgingen, dort oben ein privates Tête-à-Tête gehabt zu haben. Und das alles für zehn Cents und einen Pappbecher voll künstlicher Orangeade.

Sie spürte, wie er den Kopf ein wenig zurücklegte und sie schärfer anblickte, so als wolle er herauskriegen, was sie zu ihrem Verhalten bewog. Sie richtete die Augen ausdruckslos auf die silbernen Lichtflecken, die unentwegt über die Wände kreisten.

Warum starrte er sie an? Er würde in ihrem Gesicht keine Begründung für ihr Benehmen finden. Warum blickte er nicht in all die Agenturen hinein, in denen ihr Geist noch herumlungerte - auf dem Stuhl neben der Tür. Warum sah er nicht in die Garderobe dieses schäbigen Bumslokals hinein, in dem sie schließlich einen Job bekommen hatte, in die Garderobe, aus der sie noch vor Beginn der Proben hatte fliehen müssen, nur weil sie einfältig genug gewesen war, auf Vorschlag des Besitzers dort zu warten, nachdem die anderen schon gegangen waren? Oder warum warf er nicht einen Blick in den Geldschlitz des Automaten an der Siebenundvierzigsten Straße, in dem das letzte Fünfcentstück verschwunden war, das sie an jenem unvergesslichen Tag besessen hatte. Oder warum schaute er nicht in den abgenutzten Koffer unter ihrem Bett? Er wog nicht viel, aber er war gefüllt. Gefüllt mit abgestandenen Träumen, die zu nichts mehr taugten.

An all diesen Orten hätte er eine Antwort bekommen, aber nicht in ihrem Gesicht. Was hatte es also für einen Sinn, hineinzustarren? Gesichter waren ohnehin Masken.

Er versuchte erneut sein Glück. »Es ist das erste Mal, dass ich hier bin.«

Sie wandte die Augen nicht von den Silberflecken an den Wänden. »Wir haben Sie sehr vermisst.«

»Ich glaube, Sie haben die Tanzerei satt. Vermutlich geht sie Ihnen jetzt, am Ende des Abends, auf die Nerven.« Er versuchte eine Erklärung für ihr mürrisches Verhalten zu finden, um damit seine Selbstachtung aufrecht erhalten zu können; er wollte sich einreden, dass es nicht an ihm lag. Das wusste sie. Sie wusste genau, wie Männer reagierten.

Diesmal richtete sie die Augen mit vernichtendem Ausdruck auf ihn. »Oh, nein. Ich habe es niemals satt. Ich kann gar nie genug kriegen. Wenn ich nachts in mein Zimmer zurückkehre, übe ich noch Sprünge und Stepptanz.«

Er senkte flüchtig den Blick und hob ihn dann wieder. »Sie sind über irgendetwas verärgert, nicht wahr?« Es klang nicht wie eine Frage, sondern wie eine Feststellung.

»Ja. Über mich.«

Er gab nicht auf. Begriff er keine Andeutungen, bedurfte es eines Schlages mit dem Hammer? »Gefällt es Ihnen hier nicht?«

Das war nun die Krönung der ganzen Serie alberner Bemerkungen, mit der er sie aus Konversationsgründen bedacht hatte. Sie spürte, wie sich ihre Brust vor Wut zusammenkrampfte. Mit Sicherheit wäre ein explosiver Ausbruch erfolgt, hätte nicht die Band in diesem Augenblick mit einem klirrenden Blechbüchseneffekt das Stück beendet und wäre nicht die direkte Beleuchtung an der Decke wieder auf geflammt. Eine Trompete gab einen letzten gellenden Schrei von sich.

Ihre erzwungene Intimität war zu Ende. Seine zehn Cents hatten ihren Zweck erfüllt. Sie ließ die Hand aus seiner Armbeuge fallen, als sei sie etwas längst Abgestorbenes; gleichzeitig gelang es ihr unauffällig aber wirksam, seinen Arm von ihrer Taille zu schieben.

Sie versuchte den Seufzer der Erleichterung, der sich ihr entrang, gar nicht erst zu unterdrücken. »Gute Nacht«, murmelte sie tonlos. »Wie schließen hier jetzt.« Sie wandte sich um und wollte weggehen.

Aber bevor es so weit war, ließ sie der Ausdruck von Überraschung auf seinem Gesicht innehalten. Halb abgewandt blieb sie stehen. Er fummelte in seinen verschiedenen Taschen herum und förderte schließlich eine Handvoll zusammengerollter Tickets zutage.

»He, ich glaube, die hätte ich wohl nicht alle zu kaufen brauchen«, murmelte er bedrückt, mehr an sich selbst als an sie gerichtet.

»Was hatten Sie denn vor - wollten Sie die ganze Woche über hier kampieren? Wie viele haben Sie da überhaupt?«

»Ich weiß nicht mehr. Ich glaube, so für zehn Dollar.« Er hob den Blick. »Ich wollte einfach hier rein, und ich habe mich gar nicht damit aufgehalten...«, begann er und brach dann ab.

Sie begriff jedoch. »Sie wollten nur einfach hier rein?«, sagte sie, und ihre Stimme hob sich. »Das sind ja hundert Tänze! So viel gibt es an einem Abend gar nicht.« Sie warf einen Blick zum Vorraum hinüber. »Und ich weiß auch nicht, was Sie da tun können. Der Kassier ist schon heimgegangen, und Sie können sich für die Dinger jetzt gar nichts zurückerstatten lassen.«

Er hielt die Tickets noch immer eher hilflos als über den Verlust bestürzt in den Händen. »Ich möchte gar nichts erstattet haben.«

»Dann werden Sie morgen Abend wieder herkommen müssen und den Abend darauf, so lange, bis Sie sie aufgebraucht haben. Sie verlieren ihre Gültigkeit nicht.«

»Ich fürchte, das kann ich nicht«, sagte er ruhig. Er streckte ihr die Tickets zögernd hin. »Hier - wollen Sie sie haben? Sie bekommen doch einen Anteil, oder nicht?«

Ihre Hände zuckten unwillkürlich in Richtung der Zettel, dann brachte sie sie schnell unter Kontrolle. »Nein«, sagte sie trotzig. »Danke nein.«

»Aber mir nützen sie nichts mehr. Ich werde nie mehr hierherkommen. Sie-können sie wirklich nehmen.«

Es wäre leicht verdientes Geld gewesen. Aber sie hatte es sich seit langem zur Regel gemacht - aus bitterer Erfahrung heraus nirgendwo bei irgendetwas nachzugeben, selbst wenn nicht erkennbar war, was für den anderen dabei herausspringen konnte. Wenn man in einer Sache, ganz gleich welcher, nachgab, war die Gefahr zu groß, dass man den nächsten Schritt noch leichter tat.

»Nein«, sagte sie energisch. »Vielleicht bin ich blöde, aber ich möchte keine Provision bekommen, wenn ich nicht dafür getanzt habe. Weder von Ihnen noch von sonst jemand.« Und damit verließ sie ihn wirklich, drehte sich vollends auf dem Absatz um und ging über die verlassene Tanzfläche.

Vor der Garderobentür auf der anderen Seite des Tanzsaals warf sie fast automatisch noch einmal einen Blick zu ihm zurück. Seine Hände kneteten das Bündel Tickets noch fester zusammen. Dann warf er das Papierknäuel gleichgültig weg, so dass es am Rand der Tanzfläche niederfiel, drehte sich um und schlenderte auf den Ausgang im Foyer zu.

Insgesamt hatte er ungefähr sechsmal mit ihr getanzt. Und jetzt hatte er Tickets im Wert von über neun Dollar weggeworfen. Und es war nicht geschehen, um sie zu beeindrucken, sie hatte gesehen, dass er gar nicht bemerkt hatte, wie sie ihn beobachtete.

Er ging ziemlich leichtfertig mit seinem Geld um, so als wüsste er nicht, was er damit anfangen sollte, als ob er es nicht schnell genug loswerden könnte. Das bedeutete - wenn überhaupt etwas -, dass er nicht daran gewöhnt war, welches zu haben. Denn sie war intelligent genug, um inzwischen begriffen zu haben, dass diejenigen, die immer über ausreichend Geld verfügten, niemals in Verlegenheit gerieten, wenn es sich darum drehte, was sie damit tun sollten.

Sie zuckte mit einer Schulter, trat in die Garderobe und schloss die Tür hinter sich.

Den nächsten Schritt, das Verlassen des Gebäudes, bezeichnete sie stets als Spießrutenlaufen, aber es verursachte ihr kein wirkliches Entsetzen mehr. Es war, als ob man über eine Pfütze mit Schmutzwasser stieg, die im Weg war - unangenehm, aber schnell überwunden.

Die Beleuchtung war wieder erloschen, diesmal endgültig, als sie aus der Garderobe trat. Nur ganz hinten brannte noch eine Lampe, damit die Putzfrau etwas sehen konnte. Sie ging durch den düsteren, höhlenartigen Saal, ihre Schritte wurden durch den Teppichbelag an der Seite gedämpft. Draußen war es nun heller als in der Tanzhalle. Sie kam an den beiden letzten Fenstern vorbei, und ihr Freund, ihr Verbündeter und Komplize, zeichnete sich wie immer leuchtend gegen den Nachthimmel ab. Falls sie ihm einen Dankesblick zuwarf, blieb es ein Geheimnis zwischen ihr und der Uhr.

Sie teilte die Flügel der Schwingtür und trat in den noch erleuchteten Vorraum hinaus, der zur Treppe führte.

Draußen standen zwei Männer. Jemand war immer da, lungerte herum, und wenn man bis zum Tagesanbruch wartete. Einer hockte auf einer der Rattan-Bänke und wartete offenbar auf jemand anderen, ein Mädchen, das noch im Haus war; er warf ihr nur einen flüchtigen Blick zu. Der andere, der oben an der Treppe stand, war derjenige, der sie für das letzte halbe Dutzend Tänze engagiert hatte.

Er blickte jedoch angestrengt die Treppe hinab in Richtung zur Straße und keineswegs erwartungsvoll auf die Tür, durch die sie soeben gekommen war. So als ob er eher durch seine Unentschlossenheit, wohin er sich wenden sollte, aufgehalten worden sei als durch die Absicht, mit jemand zusammenzutreffen. Tatsächlich verriet ihr sein überraschter Blick, als sie vorüberging, dass er sie gar nicht hatte kommen sehen.

Sie wäre wortlos vorübergegangen, aber seine Hand fuhr zum Hut - er hatte jetzt einen auf und er sagte: »Gehen Sie jetzt nach Hause?«

War sie drin abweisend gewesen, so war sie hier draußen im Vorraum ausgesprochen giftig. Dies hier war feindliches Territorium. Es gab keinen Rausschmeißer, der einen beschützen konnte, man war auf sich selbst angewiesen. »Nein, ich komme gerade herein. Ich steige rückwärts die Treppe hoch, damit niemand mein Gesicht erkennt und weiß, wer ich bin.«

Sie ging die mit Gummimatten belegten Stufen hinab und trat ins Freie. Er blieb oben stehen, so als wisse er nicht, was er tun sollte. Und er wartete auch auf niemand, denn im Haus war nur noch ein einziges Mädchen, und das war bereits mit Beschlag belegt. Erneut zuckte sie leicht mit einer Schulter. Was kümmerte sie das schon? Was kümmerte sie überhaupt irgendein Mensch?

Die frische Luft tat gut. Wie immer holte sie tief Luft, teils aus Erleichterung, teils aus Erschöpfung.

Die eigentliche Gefahrenzone lag auf der Straße. Dort trieben sich zwei undeutlich erkennbare Gestalten herum, in einigem Abstand vom Ausgang, Zigaretten im Mundwinkel. Sie trat vollends hinaus und ging in entgegengesetzter Richtung den Gehsteig entlang. Es standen dort immer irgendwelche Burschen herum, wie Kater, die ein Mauseloch beobachteten. Diejenigen, die sich oben im Vorraum herumtrieben, warteten in der Regel auf ein bestimmtes Mädchen; die anderen hier unten warteten auf irgendein Mädchen.

Sie kannte dieses riskante Spiel auswendig. Sie hätte ein Buch darüber schreiben können, aber sie hätte das gute weiße Papier damit nicht beschmieren mögen. Es gab immer eine Verzögerung, bevor die direkte Herausforderung erfolgte. Nie fand sie in unmittelbarer Nähe des Ausgangs statt, sondern dann, wenn sie sich schon in einiger Entfernung befand. Manchmal dachte sie, das hätte mit Mut zu tun. Lieber als der Maus von Angesicht zu Angesicht gegenüberzutreten, warteten die heldenhaften Kater, bis sie ihnen den Rücken zukehrte. Wie dem auch war, es handelte sich um die Pfütze schmutzigen Wassers, die übersprungen werden musste.

Heute Nacht erfolgte die Herausforderung in Form eines Pfiffs. Das war häufig so. Es handelte sich nicht um einen ehrlichen schrillen Pfiff, er war gedämpft und verstohlen. Sie wusste, dass er ihr galt. Dann das verbale Postskriptum: »Warum eilt's denn so?« Sie beschleunigte ihren Schritt nicht einmal; damit hätte sie der Sache mehr Bedeutung zugemessen, als sie wert war. Wenn die Kerle sich einbildeten, sie hätte Angst...

Eine Hand legte sich um ihre Armbeuge. Sie versuchte nicht, sich loszureißen. Sie blieb kurz stehen und blickte auf die Hand. »Nehmen Sie sie weg«, sagte sie kalt.

»Was ist los, kennst du mich nicht? Du hast wohl'n kurzes Gedächtnis, was?«

Ihre Augen wurden zu schmalen Schlitzen. »Hören Sie - ich habe jetzt frei. Es ist schon schlimm genug, dass ich mit Kerlen wie Ihnen reden muss...«

»Ich war aber gut genug für dich, als ich vor zwei Nächten dort oben war, wie?« Er war jetzt vor sie getreten und blockierte den Weg.

Sie wich weder zurück noch tat sie ihm die Ehre an zu versuchen, um ihn herumzugehen. »Der großzügige Spender«, sagte sie gelassen. »In einer Nacht sechzig Cents verpulvert und nun wollen Sie hier auf dem Gehsteig den Bonus kassieren.«

Ein Taxi war langsam vorgefahren, angezogen durch irgendein unauffälliges Zeichen des Burschen, das ihr entgangen war. Die-Tür stand einladend offen.

»Na schön, du bist schwer zu kriegen. Nun hast du deine Schau abgezogen, ich glaub dir ja. Komm, das Taxi wartet!«

»Ich würde noch nicht mal um fünf Cents in einen Straßenbahnwagen mit Ihnen steigen, geschweige denn in ein Taxi.«

Er versuchte, sie seitlich darauf zuzuschieben. Es gelang ihr, die Taxitür hinter sich zuzuschlagen, die nun als Wall diente, gegen den er sie presste.

Ihnen gegenüber war ein Mann stehengeblieben. Es war der, der im Vorraum gestanden war, als sie herauskam. Sie konnte ihn über die Schulter des Burschen weg sehen. Um Hilfe wollte sie ihn nicht bitten. Bei derartigen Gelegenheiten bat sie niemals jemand um Hilfe. Auf diese Weise konnte man sicher sein, nicht enttäuscht zu werden. Das Ganze war ohnehin unwichtig; in einer Minute würde alles vorbei sein.

Der andere Mann kam näher und sagte in unsicherem Ton: »Soll ich was unternehmen, Miss?«

»Stehen Sie nicht einfach rum! Was glauben Sie, worum sich's hier handelt, um die gute Tat des Tages? Wenn Sie selbst einen Muskelkater haben, rufen Sie wenigstens einen Polizisten.«

»Oh, das wird nicht nötig sein, Miss«, sagte er in einem seltsam bescheidenen Ton, der unter diesen Umständen ganz unangemessen wirkte.

Er zog den anderen Mann auf sich zu, und sie hörte den Schlag nur, ohne ihn zu sehen. Er verursachte einen Laut, der klang, als sei ein nur wenig durch Fleisch gepolsterter Körperteil getroffen, also musste es sein Kinn gewesen sein. Der Mann taumelte gegen das Schutzblech des Taxis, kippte nach hinten und rutschte über das gebogene Blech auf die Straße, wo er halb ausgestreckt, halb auf einen Ellbogen gestützt liegen blieb.

Eine Zeitlang rührte sich keiner der drei.

Dann raffte sich der Bursche mit seltsam unzusammenhängenden Bewegungen vom Boden auf, wobei er sich zuerst mit den Beinen nach hinten schob, um vor weiteren Schlägen sicher zu sein. Als er aufgestanden war, drehte er sich um, ohne Drohungen auszustoßen oder seine Feindseligkeit durch sonst etwas zu erkennen zu geben - wie jemand, der zu praktisch veranlagt ist, um mit solchen Mätzchen die Zeit zu vergeuden und machte sich davon.

Der Taxifahrer entschied, dass für ihn hier nichts mehr herauszuholen war, und verzog sich, nachdem er dem Mädchen einen kurzen, fragenden Blick zugeworfen hatte, um herauszufinden, ob sie die Absicht hegte, mit ihrem neuen Partner seine Dienste in Anspruch zu nehmen.

Ihr Dank war nicht gerade überschwenglich. »Warten Sie immer so lang?«

»Ich konnte ja nicht wissen, ob er nicht ein spezieller Freund von Ihnen war«, murmelte er missbilligend.

»Ihnen zufolge haben spezielle Freunde wohl das Recht, einen auf dem Heimweg zu überfallen. Pflegen Sie so was zu tun?«

Er lächelte ein wenig. »Ich habe keine speziellen Freunde.«

»Das gleiche trifft für mich zu«, sagte sie energisch. »Und Sie können versichert sein, dass ich auch keine haben möchte.« Sie warf ihm einen Blick zu, der die persönliche Bedeutung der Bemerkung unterstrich.

Er merkte, dass sie im Begriff war, sich umzudrehen und ohne weitere Umschweife ihren Weg fortzusetzen. »Ich heiße Quinn Williams«, platzte er heraus, so als könne er sie auf diese Weise noch einen Augenblick länger aufhalten.

»Sehr erfreut.« Aber es klang gar nicht so, sondern eher wie ein Bleigewicht, das gegen einen Zinkeimer schlägt.

Sie drehte sich vollends um.

«Vielleicht sollte ich besser ein oder zwei Häuserblocks weit mit Ihnen kommen?«, meinte er.

Sie akzeptierte das Anerbieten weder, noch lehnte sie es ausdrücklich ab. »Er wird schon nicht zurückkommen«, sagte sie lediglich. Er nahm ihre vage Äußerung als Zustimmung und ging neben ihr her, wenn auch in formellem Abstand von einem halben Meter.

Einen ganzen Häuserblock weit wanderten sie beide schweigend dahin; sie, weil sie entschlossen war, sich gar nicht erst der Anstrengung zu unterziehen, etwas zu sagen, er - eingedenk seiner bisherigen vergeblichen Bemühungen -, weil er der Situation nicht gewachsen war und nicht wusste, was er reden sollte.

Sie überquerten eine Kreuzung, und sie sah, dass er einen Blick nach hinten warf. Aber sie äußerte sich nicht.

Den zweiten Block brachten sie im gleichen steinernen Schweigen hinter sich. Sie blickte starr geradeaus, als ob sie allein wäre. Sie schuldete ihm nichts, schließlich hatte sie ihn nicht aufgefordert, mit ihr zu kommen.

Sie erreichten die zweite und letzte Kreuzung. »Von hier aus gehe ich nach Westen«, sagte sie kurz und bog ab, als wolle sie ihn ohne weiteres verlassen. Er begriff nicht, sondern bog verspätet ebenfalls ab, holte sie ein und murmelte irgendetwas Undeutliches wie: nun könne er ebenso gut vollends mitgehen.

Sie hatte gesehen, wie er erneut einen Blick nach hinten geworfen hatte. »Machen Sie sich keine Sorgen«, sagte sie bissig. »Der ist endgültig fort.«

»Wer?«, fragte er verdutzt. Und dann, als ob er begreifen würde, was sie meinte: »Oh, an den habe ich nicht gedacht.«

Sie blieb schlagartig stehen und stellte ihr Ultimatum: »Hören Sie - ich habe Sie nicht gebeten, mich den ganzen Weg zu begleiten. Wenn Sie es trotzdem tun wollen, ist das Ihre Sache. Nur eines - setzen Sie sich keine Flausen in den Kopf!«

Er nahm es schweigend hin, protestierte in keiner Weise, dass sie ihn falsch beurteilte. Das war eigentlich das erste, was ihr an ihm gefiel, seit er vor ein oder zwei Stunden in ihren Dunstkreis getreten war. Aber sie hegte Vorurteile gegen alle, die auf die gleiche Weise wie er in ihr Leben eindrangen, denn ihre Erfahrung hatte sie gelehrt: Je weniger unangenehm man diese Männer anfangs fand, um so vorsichtiger musste man sein, da sie sich am Ende, sobald man einen Teil seiner Rüstung abgelegt hatte, meistens als noch viel abscheulicher herausstellten.

Sie gingen beide weiter, nach wie vor im Abstand von einem halben Meter voneinander. Die Gemeinsamkeit lag lediglich in der gleichzeitigen Fortbewegung. Es war die seltsamste Begleitung, die sie je gehabt hatte; aber wenn sie schon unvermeidbar war, dann zog sie sie allen übrigen Möglichkeiten vor.

Sie schritten eine tunnelartige Seitenstraße entlang, über die einmal die Hochbahn in Richtung Neunte Avenue geführt hatte. Sie existierte nun nicht mehr, aber die Straße war für alle Zeiten in ihrer Entwicklung gehemmt durch die sechzig Jahre Zwangsjacke, die sie erduldet hatte: fensterlose Flächen von Lagerhausmauern, die geschwungene Rückseite einer bekannten Eislaufbahn, die wie ein Betontank aussah, Lücken zwischen den Gebäuden, die als Parkplätze dienten.

Das Licht der Straßenlampen - nur wenige und weit auseinanderstehend - bedeckte sie beide flüchtig wie mit einer dünnen Puderschicht, bevor sie wieder vom Dunkel aufgesogen wurden.

Schließlich sagte er doch etwas. Sie wusste es nicht genau, aber sie glaubte, dass es die erste Bemerkung war, die er seit dem Zwischenfall vor dem Taxi machte. »Soll das heißen, dass Sie in allen anderen Nächten allein hier durchgehen?«

»Warum nicht? Es ist hier nicht schlimmer als dort hinten. Wenn sich hier einer auf Sie stürzt, dann geschieht es nur des Geldbeutels wegen.« Es drängte sie hinzuzufügen: »Wieso - haben Sie Angst?« Aber sie unterließ es. Vielleicht hauptsächlich deshalb, weil er nichts getan oder gesagt hatte, was einen solchen Hieb verdient hätte, wenigstens bis jetzt noch nicht, und sie war es müde, ewig die Krallen zu zeigen und sprungbereit zu sein; im Augenblick war es eine Wohltat, sie eingezogen zu lassen.

Er blickte erneut zurück. Es geschah jetzt zum zweiten- oder drittenmal. Selbst wenn es hinten etwas zu sehen gegeben hätte, wäre das in der Dunkelheit unmöglich gewesen.

Diesmal konnte sie eine Bemerkung nicht unterdrücken. »Wovor fürchten Sie sich - dass er mit dem Messer hinter Ihnen herjagt? Keine Sorge, das tut er bestimmt nicht.«

»Ach, der«, sagte er. »Sie meinen diesen Burschen.« Er warf ihr einen überraschten Blick zu, als hätte sie ihn aus weit entfernten Gedankengängen zurückgeholt. Er lächelte ein bisschen einfältig und fuhr sich mit der Hand über den Nacken. Dann murmelte er: »Ich wusste gar nicht, dass ich das tue. Muss eine neue Angewohnheit von mir sein.«

Er hat etwas auf dem Herzen, sagte sie sich. Man blickt nicht auf diese Weise alle paar Schritte zurück. Und seltsamerweise glaubte sie ihm, dass es nichts mit der Sache vorhin zu tun hatte. Sein Misstrauen bezog sich nicht unmittelbar auf den Gehsteig hinter ihnen und darauf, dass sich dort jemand an ihn heranschleichen könnte, es war mehr allgemein, umfassender, bezog sich auf die gesamte nächtliche Dunkelheit hinter ihm.

Und nun fiel ihr auch dieser absurde Erwerb von Tickets ein, dort im Tanzlokal, die er hinterher so gleichgültig weggeworfen hatte, als ob sie für heute Nacht ihren Zweck erfüllt und damit ihren Wert eingebüßt hätten, so als ob er sie zu einem späteren Zeitpunkt doch nicht mehr benutzen könnte.

Sie dachte auch noch an etwas anderes. »Als ich herauskam und Sie da im Vorraum standen, oben an der Treppe - warteten Sie da auf jemand?«

»Nein«, erwiderte er.

»Warum standen Sie dann dort, obwohl das Lokal schon geschlossen war?« Sie wusste im Übrigen, dass er auf niemand gewartet hatte, denn er hatte ja die Treppe hinabgeblickt und nicht auf die inneren Türen.

»Ich weiß nicht«, sagte er. »Ich glaube, ich - wusste nicht, wohin ich gehen oder was ich tun sollte, nachdem das Lokal geschlossen worden war. Ich - ich glaube, ich habe versucht, mich zu entscheiden, wohin ich mich nun wenden sollte.«

Warum war er dann nicht draußen gestanden, vor dem Eingang - das wäre doch der passende Ort zum Überlegen gewesen. Aber das fragte sie ihn nicht. Die Antwort war sowieso klar. Weil man so von unten, vom Eingang her, nicht gesehen werden konnte, falls jemand nach einem suchte.

Aber sie stellte auch noch aus einem anderen Grund keine Fragen. In ihrem Innern war ein Fallgitter heruntergegangen: Was geht dich das an? Warum willst du das wissen? Soll er seine Angelegenheiten für sich behalten. Bist du vielleicht eine Gemeindeschwester? Kümmert sich um dich jemand?

Schweigend und verbittert tadelte sie sich selbst. Du hast noch immer nichts dazugelernt, was? Sie schlagen dich grün und blau, und du streckst noch immer dem nächsten, der daherkommt, die offene Hand hin.

Braucht es vielleicht Prügel mit dem Bleirohr, bis das endlich in deinen Kopf geht?

Er blickte erneut zurück, und sie schwieg.

Sie waren an der Neunten Avenue angelangt, breit und trostlos in ihrer schmutzigen Düsternis, woran all die roten und weißen Lichter der Autos nichts ändern konnten.

Einen Augenblick lang blieben sie am Randstein stehen. Dann betrat sie die Straße. Er zuckte flüchtig zurück. »Kommen Sie schon, es ist Grün«, sagte sie. Er folgte ihr sogleich, aber das unerwartete Zögern war aufschlussreich gewesen. Es musste irgendwo eine Ursache dafür geben. Dann erkannte sie, dass es nicht an der Ampel gelegen hatte, sondern an der einsamen Gestalt auf der anderen Seite drüben, die sich jetzt gelassen entfernte; an diesem Streifenbeamten, der seine Runde machte.

Sie sah, wie ihm die Augen ihres Begleiters folgten und dann erst zum Ampellicht schweiften, angeregt durch ihre Bemerkung.

Ihr Fallgitter blieb eigensinnig geschlossen.

Sie erreichten den gegenüberliegenden Gehsteig und wanderten weiter, tauchten im Rachen des westwärts gelegenen Häuserblocks unter. Drei blässliche Straßenlampen, die weit auseinanderstanden, trugen kaum dazu bei, die anscheinend ins Endlose führende Dunkelheit zu erhellen. Sie betonten sie lediglich durch den Kontrast. So als wollten sie sagen: Schaut her, wie das Licht ist - wenn es welches gibt. Die Luft hatte jetzt etwas Klammes, wie in der Nähe von Wasser. Trostlos jaulte irgendwo vor ihnen die Sirene eines Schleppers. Eine zweite antwortete, irgendwo drüben auf der Jersey-Seite.

»Jetzt bin ich bald da«, sagte sie.

»Ich bin noch nie so weit draußen gewesen«, gestand er.

»Für fünf Dollar pro Woche kriegen Sie weiter stadteinwärts nichts.« Und dann, obwohl ihr bewusst war, dass er keinerlei Einwand erhoben hatte, konnte sie nicht umhin, hinzuzufügen: »Sie können jederzeit umkehren, wenn Sie erschöpft sind.«

»Ich bin nicht erschöpft«, murmelte er.

Sie öffnete ihre Handtasche und suchte vorzeitig nach dem Hausschlüssel - eine vorbereitete Maßnahme, um ganz sicher zu sein, dass er da war.

Sie hielt inne, als sie beide im Strahlenkreis einer Straßenlampe angekommen waren; die herabstiebenden Lichtstäubchen schienen sie mit Leuchtpuder zu überziehen, so dass sie einander wieder sehen konnten. »So, hier ist es«, sagte sie.

Er sah sie nur an. Sie fand seinen Blick fast einfältig - so als versuchte er, die Tatsache innerlich zu verarbeiten, dass sie sich nun trennten und er wieder auf sich selbst angewiesen wäre. Zumindest fiel der übliche Quatsch weg - keine amourösen Ambitionen.

Auf der gegenüberliegenden Straßenseite befand sich der Eingang, dessen Bedrohlichkeit durch den flackernden, tief aus dem Innern dringenden zitronengelben Widerschein eines Lichts gemildert war, der jedoch nicht ganz bis zur Tür reichte, so dass dort nur eine Zwielichtzone entstand. Immerhin, es war besser als nichts. Früher war es dort völlig dunkel gewesen, und sie hatte einen Abscheu davor gehabt, spät in der Nacht durchzugehen. Dann war dort jemand in der Finsternis niedergestochen worden, und seither brannte am Fuß der Treppe ein Licht. Nun konnte man wenigstens erkennen, wer einen niederstach, dachte sie grimmig.

Sie machte es kurz mit dem Abschied; ein paar letzte Worte, um Abstand herzustellen, außer Reichweite zu kommen. Erfahrung hatte sie diese Technik gelehrt - keinesfalls durfte sie stehenbleiben, um sich Einwände und einschmeichelnde Gegenargumente anzuhören.

»Machen Sie's gut«, sagte sie. Und plötzlich war sie bereits drüben vor dem Eingang, und er stand allein auf dem Gehsteig. »Vielleicht treffen wir uns irgendwann mal wieder.« Damit war genau das Gegenteil gemeint; sie würde ihn nie wiedersehen, ebenso wenig wie er sie. Die Sache hatte damit ihr Ende.

Aber bevor sie im Eingang verschwunden war, hatte sie gesehen, wie er erneut den Kopf wandte und nach hinten ins Dunkel blickte, aus dem sie soeben gekommen waren. Furcht überwog in seinem Innern bei weitem das Bedürfnis nach Flirt.

Was ging er sie an? Er war für sie nichts weiter als ein rosa Tanzticket, halb entzweigerissen. Zweieinhalb Cents Verdienst. Ein Paar Füße, ein Nichts, eine Null.

 

 

 

 

  2. Viertel nach eins

 

 

Drin ging sie den Gang entlang. Nun war sie allein. Zum ersten Mal seit acht Uhr abends. Sie war ohne einen Mann. Keine Männerarme, die sie umschlangen, kein Männeratem in ihrem Gesicht. Sie war mit sich selbst allein. Vom Himmel hatte sie keine sehr lebhaften Vorstellungen, aber wenn man starb und wirklich in den Himmel kam, dann musste es so sein - allein, ohne einen Mann. Sie kam unter einer vereinzelten Lampe im Hintergrund vorbei, ihr Gesicht wirkte im Licht weiß und müde. Dann stieg sie zwei Treppen empor und lehnte sich oben gegen die vordere Tür, das Gesicht gesenkt, so als suchte sie angestrengt nach etwas, das auf dem Boden lag. Aber sie suchte nichts - sie war nur müde.