DIE PHANTOM-LADY - Cornell Woolrich - E-Book

DIE PHANTOM-LADY E-Book

Cornell Woolrich

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  • Herausgeber: BookRix
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2022
Beschreibung

Nach einem Streit mit seiner Frau verlässt Scott Henderson seine Wohnung und begegnet in einer Bar einer fremden Frau. Sie beschließen, die Nacht gemeinsam zu verbringen, aber sich nicht ihre Namen zu verraten. Als Scott schließlich nach Hause kommt, erwartet ihn dort die Polizei: Seine Frau wurde ermordet – und er bräuchte ein Alibi. Doch niemand, der ihn zusammen mit der fremden Frau gesehen hat, will sich an die Frau erinnern...   Die Phantom-Lady  von Cornell Woolrich war im Jahr 1942 der erste Roman, den der Autor unter dem Pseudonym William Irish veröffentlichte. Der Roman gilt bis heute als eines der großen Thriller-Meisterwerke von Cornell Woolrich.   Der Signum-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur. 

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CORNELL WOOLRICH

 

 

Die Phantom-Lady

 

Roman

 

 

 

 

 

 

Signum-Verlag

 

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

DIE PHANTOM-LADY 

ERSTER TEIL  

ZWEITER TEIL 

DRITTER TEIL 

 

 

Das Buch

 

Nach einem Streit mit seiner Frau verlässt Scott Henderson seine Wohnung und begegnet in einer Bar einer fremden Frau. Sie beschließen, die Nacht gemeinsam zu verbringen, aber sich nicht ihre Namen zu verraten.

Als Scott schließlich nach Hause kommt, erwartet ihn dort die Polizei: Seine Frau wurde ermordet – und er bräuchte ein Alibi. Doch niemand, der ihn zusammen mit der fremden Frau gesehen hat, will sich an die Frau erinnern...

 

Die Phantom-Lady von Cornell Woolrich war im Jahr 1942 der erste Roman, den der Autor unter dem Pseudonym William Irish veröffentlichte. Der Roman gilt bis heute als eines der großen Thriller-Meisterwerke von Cornell Woolrich. 

Der Signum-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur. 

  DIE PHANTOM-LADY

 

 

 

 

 

  ERSTER TEIL

   

 

 

  Der 150. Tag vor der Hinrichtung

  6 Uhr abends

 

 

Die Nacht war jung, und er war es auch. Doch in seinem Gesicht stand ein mürrischer, verdrossener Ausdruck. Und das war schade. Denn es war einer jener warmen Maiabende, an denen sich die Stadt zu ihren Rendezvous zusammenfindet. An denen die eine Hälfte der Bevölkerung unter Dreißig sich ein letztes Mal das Haar zurückschniegelt und seine Brieftasche auffüllt, während die andere Hälfte letzte Hand an ihr Make-up gelegt, sich ihr bestes Sommerkleid angezogen hat und voller fiebernder Ungeduld auf eben jenes gleiche Rendezvous wartet.

Und dann ist es immer das alte.

»Da bin ich. Hast du schon lange gewartet?«

»Du siehst heute wieder bezaubernd aus. Wo gehen wir hin?«

Solch ein Abend war es. Der Himmel im Westen hatte sich tiefrot gefärbt, als ob auch er sich für ein Rendezvous schmücken wollte, und entlang den Straßen flammten die Neonlichter auf, als wollten sie mit den Vorbeiflanierenden flirten. Die laue Abendluft schien erfüllt von Champagner, mit einem Hauch von Coty, und wenn man nicht achtgab, stieg es einem in den Kopf. Oder es griff einem ans Herz.

Und da ging dieser junge Mann und trübte mit seiner finsteren Miene die romantische Szenerie des Abends. Es schienen nicht seine finanziellen Verhältnisse zu sein, was ihn bedrückte, denn er trug einen auf Maß geschneiderten, saloppen Anzug. Er war auch nicht etwa krank. Jeder, der mit so kräftigen, weitausgreifenden Schritten da hergeht, kann sich nur bester Gesundheit erfreuen. Der strotzenden Gesundheit eines Dreißigjährigen. Wenn er die Dreißig überschritten hatte, dann höchstens um Monate.

Der Sommermantel, der ihm über der Armbeuge hing, wippte im Takt seines Schrittes. Der Hut saß ihm zu weit hinten auf dem Kopf und hatte den Kniff an der falschen Stelle, so als ob sich der Mann nicht die Mühe gemacht hatte, ihn vor dem Spiegel zurechtzusetzen.

Er hatte sicher nicht die Absicht gehabt, dort einzukehren, wo er schließlich hineinging. Man merkte dies an der jähen Art, mit der er seinen Schritt verhielt, als er daran vorbeikam. Es war, als ob ihn jemand bremste; sicher hätte er die Bar gar nicht bemerkt, wenn nicht gerade in diesem Augenblick deren Neonlichter aufgeflammt wären. Anselmo's stand in geraniumroten Leuchtbuchstaben über dem Eingang zu lesen, und der Schein davon fiel über den Gehsteig, als ob jemand einen Kübel Ketchup darauf ausgegossen hätte.

Der Mann betrat die Bar und kam in einen langen, niedrigen Raum, drei, vier Stufen unter der Höhe des Gehsteigs. Es war keine sehr große Bar, und sie war, im Augenblick wenigstens, auch nicht sehr voll. Entlang der Wand standen in kleinen Nischen Tische, doch der Mann beachtete sie nicht, sondern trat direkt an die halbkreisförmige Theke. Er sah sich nicht um, wer daran saß oder ob überhaupt jemand daran saß. Er warf seinen Mantel über einen der hohen Hocker, warf den Hut darauf, und es war offensichtlich, dass er hier die Nacht, oder zumindest den größten Teil davon, zu verbringen beabsichtigte.

Ein weißes Jackett erschien verschwommen vor seinen niedergeschlagenen Augen, und eine Stimme sagte: »Guten Abend, Sir.«

»Scotch«, sagte der Mann. »Und ein wenig Wasser. Wie wenig Wasser, ist mir verdammt egal.«

Das Glas Scotch war längst geleert, als das Wasser immer noch unberührt dastand.

Es muss wohl so gewesen sein, dass er in Gedanken nach einem Salzstangenbehälter, oder was sonst noch auf einer Bartheke herumzustehen pflegt, griff, als seine Hand eine andere, weichere berührte, die zur gleichen Zeit in den Behälter langte.

»'tschuldigung«, sagte er. »Nach Ihnen.«

Er wandte sich wieder seinem Whisky zu, um dann dem Mädchen doch einen abschätzenden Blick zuzuwerfen. Er sah sie lange an, immer noch in seiner finsteren, düsteren Art.

Das Ungewöhnliche an dem Mädchen war ihr Hut. Er ähnelte sowohl in Form wie in Farbe einem Kürbis, so flammend gelb, dass einem die Augen schmerzten. Wie ein Lampion schien er den halbdunklen Barraum zu erhellen, und hinten, genau in der Mitte, stand eine Feder hoch wie der Fühler eines Insekts. Nicht einer Frau unter tausend hätte ein solcher Hut gestanden. Ihr jedoch stand er, und nicht einmal schlecht. Gewiss wirkte er auffallend, aber keineswegs komisch.

Das Mädchen knabberte indessen an einer Salzstange und gab sich Mühe, seinen kritischen, düsteren Blick, mit dem er sie musterte, nicht zu beachten. Er hingegen wandte sich direkt an sie, ohne irgendeinen der üblichen Umschweife:

»Haben Sie etwas vor?«

»Ja und nein.« Diese Antwort war weder abweisend noch ermutigend.

»Wenn ja, dann sagen Sie es. Ich will Sie nicht belästigen.«

»Sie belästigen mich nicht - bis jetzt nicht.« Sie brachte es mit dem genau richtigen Tonfall heraus, dass sie sich noch kein Urteil gebildet hatte.

Seine Augen suchten die Uhr über dem Spiegel hinter der Theke.

»Es ist jetzt zehn nach sechs«, sagte er.

Sie war seinem Blick gefolgt. »So. Und?«

Er hatte inzwischen seine Brieftasche gezogen und ihr zwei orangefarbene Billetts entnommen. »Ich habe zwei ausgezeichnete Karten für die Show im Casino. Parkett, erste Reihe.«

»Sie machen es ziemlich direkt.« Ihr Blick glitt von den Eintrittskarten zu seinem Gesicht hinauf.

Er wusste sie zu entwaffnen. »Mir geht es darum, dass die Karten ausgenutzt werden. Wir können vorher ja eine Vereinbarung treffen. Es erleichtert die. Dinge, wenn die Show zu Ende ist.«

»Das kommt ganz auf die Vereinbarung an.«

»Wir sind ganz einfach zwei Leute, die zusammen zum Dinner gehen und sich hinterher eine Show ansehen. Keine Namen, keine Adressen, keine überflüssigen persönlichen Fragen.«

Sie sah es ein. »Wenn es dabei bleibt, scheint es mir eine vernünftige Abmachung zu sein. Gehen wir. Ich hatte bereits vorher bezahlt und trödelte mit meinem Drink nur noch ein wenig herum.«

So zahlte auch er seinen Scotch, und sie gingen.

 

Ein Taxi brachte sie zum Maison Blanche. Am Eingang des Speisesaals empfing ihn der Oberkellner, und er bemerkte sehr wohl, dass seine unbekannte Begleiterin sich im Hintergrund hielt, augenscheinlich in der Absicht, dadurch weniger Beachtung zu finden.

»Ein Platz, Sir?«, fragte der Kellner.

»Nein. Ich habe einen reservierten Tisch für zwei Personen.« Und dann gab er seinen Namen: »Scott Henderson.«

Der Oberkellner überflog seine Liste. »Ah, ja.« Er blickte über die Schulter des Gastes hinweg. »Sind Sie allein, Mr. Henderson?«

»Nein«, gab Henderson gleichgültig zur Antwort.

Es war der einzige noch freie Tisch. Er stand ganz zurückgesetzt in einer der Nischen, so dass er nur von einer einzigen Seite aus beobachtet werden konnte.

Als seine Begleiterin im Eingang des Speisesaals erschien, trug sie keinen Hut mehr, und er war überrascht über die Veränderung, die dies ausmachte. Es ließ sie irgendwie alltäglich erscheinen. So als ob ohne den Hut ihre Persönlichkeit dahingeschmolzen wäre. Sie war ganz einfach nur noch eine Frau in Schwarz, mit braunem Haar; nicht groß, nicht klein, ohne Charm und Schick - eine Durchschnittsfrau, wie nur Gallup sie erfinden kann.

Niemand sah ihr entgegen, als sie den Saal betrat, oder verschwendete einen zweiten Blick an sie. Der Oberkellner war gerade dabei, einen Salat anzurichten, und so musste Henderson aufstehen und sie zu dem Tisch führen, an dem er saß. Sie legte den Hut, den sie in der Hand trug, auf den dritten Stuhl am Tisch und bedeckte ihn mit einem Zipfel des Tischtuchs, wohl um ihn vor Flecken zu schützen.

»Kommen Sie öfter hierher?«, fragte sie.

Er war wohl zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um ihre Frage zu hören.

»Entschuldigen Sie«, berichtigte sie sich. »Das fällt wohl unter die Kategorie unnötige persönliche Fragen.«

Der Kellner, der ihnen servierte, hatte ein Grübchen am Kinn. Henderson konnte nicht umhin, es zu bemerken.

»Wollen Sie nicht Ihre Handschuhe ausziehen?«, fragte er sie, als ihnen zu dem Wiener Schnitzel die übliche Zitronenscheibe serviert wurde und sie die Scheibe mit der Gabel auszupressen versuchte.

Sie streifte den rechten sofort ab. Bei dem linken zögerte sie. Dann schließlich, als ob es besondere Entschlusskraft gekostet hätte, zog sie auch diesen von der Hand.

Er gab sich alle Mühe, den Ehering daran nicht zu sehen, sondern blickte über ihre Schulter in eine andere Richtung. Dennoch entging ihm der Ring nicht. Er konnte ihn einfach nicht übersehen.

Sie war eine angenehme Unterhalterin, ohne aufdringlich und banal zu sein. Einmal sprach sie von der Sängerin der Show, die sie sich gemeinsam ansehen wollten: »Diese Mendoza! Als ich sie das erste Mal hörte, sang sie mit reinem Chicagoer Dialekt. Seit sich jedoch ihre Engagements vermehrt haben, wird ihre Aussprache zusehends lateinamerikanischer. Ich bin überzeugt, sie ist noch niemals südlicher als Florida gewesen.«

Gegen Ende des Dinners bemerkte er, dass sie seine Krawatte fixierte. Sie war einfarbig, ohne jedes Muster.

»Hat sie die falsche Farbe?«, erkundigte er sich.

»Nein, es ist eine hübsche Farbe«, beeilte sie sich, ihm zu versichern. »Nur - ich weiß nicht, sie scheint nicht ganz zu Ihrem Anzug zu passen. Aber ich will durchaus nicht kritisieren...«

Er tat es mit einem Lächeln ab. Sie zündeten sich Zigaretten an, nippten noch eine Weile an ihren Kognakgläsern, und dann gingen sie.

Draußen im Foyer erst setzte sie ihren Hut wieder auf. Und sofort war sie wieder jemand, dem man Beachtung schenkt. Keine blasse, farblose, in Schwarz gekleidete Frau ohne persönlichen Akzent mehr. Ein Jemand, ein Etwas.

Ein Riese von einem Theatertürsteher öffnete ihnen die Tür des Taxis, als sie vor dem Maison Blanche vorfuhren, und er schaute verdutzt, als der gelbe Hut direkt unter seiner Nase vorbeiglitt. Er blickte diesem Ungetüm von Hut nach, als seine Trägerin bereits durch die Pendeltür verschwand. Henderson bemerkte dieses kleine Zwischenspiel, um es sofort wieder zu vergessen. Sofern man überhaupt jemals etwas ganz Vergisst.

Das leere Theaterfoyer zeigte, dass sie spät dran waren. Selbst der Kartenkontrolleur hatte seinen Platz an der Tür bereits verlassen. Ein Theaterdiener prüfte ihre Karten beim Schein einer Taschenlampe und führte sie den Mittelgang entlang zu ihren Plätzen vor.

Die erste Reihe war beinahe zu dicht an der Bühne. Grell flammte vor ihren Augen das Orange der voll erleuchteten Bühne auf und blendete sie, bis sich ihre Augen daran gewöhnt hatten.

Schweigend, ohne auch nur eine einzige leise Bemerkung, sahen sie den Darbietungen zu. Ein- oder zweimal glitt ein Lächeln über Hendersons Gesicht. Das war alles.

Der Vorhang rauschte zusammen und der erste Teil war beendet. Im Saal gingen die Lichter an, und allenthalben rührte man sich, stand von seinen Plätzen auf und ging ins Foyer hinaus.

»Rauchen wir eine Zigarette?«, fragte er sie.

»Ach, ich denke, wir bleiben lieber hier. Wir haben ja nicht so lange gesessen wie die anderen.« Sie hatte den breiten Kragen ihrer Jacke hochgeschlagen, und es war offensichtlich, dass sie dadurch ihr Profil verbergen wollte.

»Sind Sie auf einen bekannten Namen gestoßen?«, murmelte sie lächelnd.

Er blickte auf das Programmheft und bemerkte, dass er beim Durchblättern die Ecken eingeknickt hatte wie ein Schuljunge in seinem Lesebuch. »Ach, das ist nur so eine Gewohnheit von mir, die ich schon seit Jahren habe. Ich tue es ganz unbewusst.«

Die Orchestertür im Boden vor der Bühne öffnete sich, und die Mitglieder des Orchesters kamen herausdefiliert, einer nach dem anderen, um den zweiten Teil der Show zu bestreiten. Henderson und seiner Begleiterin am nächsten, nur durch eine Art Barriere getrennt, war der Schlagzeuger, ein bleicher, mausgesichtiger Kerl. Sein mit Pomade glatt zurückgeschniegeltes Haar wirkte beinahe wie eine Badekappe. Er trug einen winzigen Schnurrbart, der eher den Eindruck machte, als habe er sich unter der Nase schlecht rasiert.

Er sah zuerst nicht ins Publikum hinein, sondern beschäftigte sich mit seinen Instrumenten, indem er hier und dort etwas zurechtrückte. Dann fand er nichts weiter zu tun, blickte auf und bemerkte augenblicklich sie und ihren Hut.

Es schien ihn irgendwie blitzartig zu treffen. Er öffnete den Mund wie ein nach Luft schnappender Fisch, und auch in der Folge glitten seine Augen immer wieder zu ihr zurück, als ob sie ihn hypnotisierte.

Henderson beobachtete es eine Weile mit belustigter Neugier. Dann, als er sah, dass sie sich dadurch belästigt fühlte, machte er dem Vorgang ein Ende, indem er dem Schlagzeuger einen solchen giftigen, starrenden Blick zurückwarf, dass dieser sich nur noch mit seinen Trommeln und Becken beschäftigte. Doch hatte Henderson den Eindruck, als schiele er dennoch von Zeit zu Zeit herüber.

»Ich scheine Eindruck gemacht zu haben«, flüsterte sie belustigt.

»Mehr noch. Wie Sie den Schlagzeuger durcheinandergebracht haben, besteht die Gefahr, dass sie die ganze Show durcheinanderbringen werden«, gab er zurück.

Während der Mitte der zweiten Hälfte legte nach einem wilden Crescendo das amerikanische Hausorchester seine Instrumente zur Seite, um einer exotischen Kapelle und Estela Mendoza, der südamerikanischen Sensation des Abends, Platz zu machen.

Ein scharfer Rippenstoß seiner Begleiterin erreichte Henderson, noch ehe er es selber sah. Verständnislos starrte er sie an und dann zurück zur Bühne.

Die beiden Frauen hatten die fatale Entdeckung, die seinem langsameren männlichen Verstand erst jetzt auf ging, schon längst gemacht. Ein geheimnisvolles Zischeln erreichte sein Ohr. »Sehen Sie sich doch nur ihr Gesicht an. Gut, dass die Bühnenrampe dazwischen ist. Sie könnte mich jetzt glatt umbringen. Und ich weiß endlich, woher sie das Modell für meinen Hut nahmen.«

»Aber das ist doch kein Grund, wütend zu sein. Eher schmeichelhaft.«

»Es ist sinnlos, von einem Mann zu erwarten, dass er das versteht. Stehle meine Juwelen, stehle mir das Gold aus den Zähnen, aber stehle mir nicht das Modell meines Hutes. Und in diesem Fall glaube ich wirklich, dass das Modell gestohlen worden ist.«

»So eine Art Plagiat also?« Mit neuerwachtem Interesse folgte er den Darbietungen der Mendoza.

Ihre Kunst war einfach. Wie wirkliche Kunst immer ist. Sie sang etwas auf Spanisch, was jedoch, selbst wenn man Spanisch verstand, wenig Sinn ergeben konnte. Etwa:

 

»Chica chica bum bum -

chica chica bumm bum...«

 

Wieder und wieder. Dabei rollte sie ständig mit den Augen, schwenkte die Hüften von einer Seite zur anderen und warf bei jedem Schritt, den sie tat, den weiblichen Zuschauern aus einem um die Taille gebundenen Korb Blumensträußchen zu.

Nachdem sie den Refrain ihres Liedes zweimal gesungen hatte, war jede der Zuschauerinnen der ersten beiden Reihen im Besitz eines solchen Sträußchens. Nicht jedoch Hendersons Begleiterin. »Sie kann mir den Hut einfach nicht verzeihen.« Und tatsächlich bemerkte Henderson, dass die Mendoza seiner Begleiterin immer wieder wütende Blicke zuwarf, wenn sie an der Rampe an ihnen vorbeikam. Dabei verhielt sie jedes Mal ihren Schritt, und das hatte einen Nebeneffekt. Der Scheinwerfer, der der Mendoza folgte, tauchte bei dieser Stellung immer die beiden gleichen gelben Hüte in sein grelles Licht, und bald ging ein Wispern durch den Zuschauerraum.

Der Mendoza blieb nichts anderes übrig: Sie kapitulierte, als Hendersons Begleiterin ihr immer wieder durch ein Schnippen mit der Hand Zeichen machte. »Oh, habe ich Sie übersehen? Verzeihen Sie. Es war nicht beabsichtigt.«

Hendersons Begleiterin fing das Sträußchen auf, und Henderson hörte auch, was sie flüsterte: »Du südamerikanische Canaille!«

Nachdem die Mendoza so am Ende doch den Kürzeren gezogen hatte, arbeitete sie sich mit weitschwingenden Hüften in die Kulissen zurück, während das Trommeln der südamerikanischen Kapelle langsam verebbte gleich dem Rollen eines sich mehr und mehr entfernenden Zuges.

Donnernder Applaus dröhnte durch den Saal, doch die Mendoza, von zwei Männerarmen - wohl denen des Managers - zurückgehalten, erschien nur halb vor der Kulisse, um diesen Applaus in Empfang zu nehmen, und gab auch keine Zugabe. Dann wurde die Bühne dunkel, und die nächste Nummer begann abzurollen.

Nachdem sich der Vorhang zum letzten Mal gesenkt hatte, stand Henderson auf und warf das Programmheft des Abends achtlos auf seinen Sitz.

Zu seiner Überraschung griff seine Begleiterin danach und fügte es ihrem eigenen Programmheft hinzu. »Nur so als kleine Erinnerung«, bemerkte sie.

»Ich hielt Sie bisher nicht für sentimental.«

»Nicht sentimental - nur manchmal impulsiv, und diese kleinen Dinge erinnern mich dann an Stunden wie diese.«

Er folgte ihr hinaus, und sie fanden ein leeres Taxi. »War das alles nicht reichlich pathetisch?« war alles, was sie noch sagte.

Er hatte dem Fahrer bisher keine Adresse gegeben.

»Wie spät ist es?«, fragte sie in diesem Augenblick.

»Kurz vor dreiviertel zwölf.«

»Fahren wir doch zu Anselmo's Bar zurück, wo wir uns getroffen haben. Wir nehmen einen Gute-Nacht-Schluck und trennen uns dann dort. Sie gehen Ihre Wege, und ich meine. Ich liebe es, wenn sich ein Kreis derart schließt.«

Er war so höflich, nicht zu erwähnen, dass Kreise in der Mitte leer sind.

Die Bar war jetzt wesentlich voller. Dennoch fand er am Ende der Theke für sie einen freien Hocker und stellte sich neben ihre Schulter.

»Also dann«, sagte sie und hob ihr Glas eine Handbreit von der Theke auf. »Viel Glück weiterhin. Hat mich gefreut, Sie kennenzulernen. Und ansonsten - danke.«

»Nett von Ihnen, das zu sagen.«

Sie tranken; er das ganze Glas auf einmal, sie nur einen Teil. »Ich bleibe noch eine Weile hier«, sagte sie. »Gute Nacht - und alles Gute.« Sie sagte es so, dass ihm keine andere Wahl blieb, als zu gehen. Und er ging. Dies war das Ende der Episode, auch wenn er sich in der Tür noch einmal umdrehte und sie in ihrem schwarzen Kleid und ihrem gelben Hut mit der Feder sitzen sah.

 

 

 

Der 150. Tag vor der Hinrichtung

Mitternacht

 

 

Zehn Minuten später und geradewegs acht Häuserblocks nördlich stieg er an der Hausecke eines Appartementhauses aus dem Taxi. Er ließ das Wechselgeld des Taxifahrers in die Tasche gleiten, öffnete mit seinem Schlüssel die Haustür und ging hinein.

In der Vorhalle stand ein Mann herum, der auf irgendetwas zu warten schien. Im Haus wohnte er nicht; Henderson hatte ihn noch niemals getroffen. Er wartete auch nicht darauf, dass ihn der Fahrstuhl hinauftrug, denn wie der Anzeiger besagte, hing der Fahrstuhl unbeweglich in einem der oberen Stockwerke.

Henderson ging an dem Mann vorbei, ohne ihn eines weiteren Blickes zu würdigen, und drückte den Knopf für den Fahrstuhl.

Irgendwie schien der andere ein unreines Gewissen zu haben, überlegte Henderson, während er wartete. Vielleicht war er hier mit jemand verabredet, einem Mädchen wahrscheinlich, das auszuführen er kein Recht hatte. Nun, was ging ihn, Henderson, das schon an?

Der Fahrstuhl kam, und Henderson stieg ein. Automatisch schlossen sich hinter ihm die schweren bronzenen Türen. Er drückte den Knopf zum sechsten, obersten Stockwerk. Ehe er hinaufglitt, sah er noch durch die Scheiben, wie der Mann in der Halle völlig vertieft und sinnlos eines der billigen Bilder an den Wänden anstarrte.

Im sechsten Stockwerk stieg er aus und kramte in der Tasche nach dem Wohnungstürschlüssel. Im Gang war es totenstill. Das Klimpern des Kleingeldes in seiner Tasche, während er nach dem Wohnungsschlüssel suchte, war das einzige Geräusch.

Er steckte den Schlüssel in das Schloss der Tür zu seiner Wohnung, gleich rechts vom Fahrstuhl, und öffnete sie. Die Wohnung lag in tiefem Dunkel. Aus diesem oder einem sonstigen Grund stieß er einen ärgerlichen Laut der Überraschung aus.

Er schaltete das Licht ein und betrat den kleinen, sauber eingerichteten Vorraum. Das Licht erleuchtete jedoch nur das kleine Viereck dieses Raumes. Hinter dem bogenförmigen Durchgang blieb es dunkel, so undurchdringlich wie vorher.

Er schloss hinter sich die Wohnungstür und warf Hut und Mantel auf einen Stuhl. Das anhaltende Schweigen, die anhaltende Dunkelheit schienen ihn zu irritieren. Und wieder stand, wie tun sechs Uhr dieses Abends, der finstere, düstere Ausdruck in seinem Gesicht.

Er rief einen Namen, rief ihn durch den Bogengang in die dahinterliegende Schwärze. »Marcella!« Und es klang fordernd und nicht besonders freundlich.

Die Dunkelheit gab keine Antwort.

Er ging hindurch und sagte in der gleichen barschen, fordernden Art: »Los, gib endlich Antwort! Meinst du etwa, ich weiß nicht, dass du wach bist? Von unten aus sah ich Licht im Schlafzimmer. Lass also die Mätzchen. Das bringt uns keinen Schritt weiter.«

Das Dunkel blieb schweigsam.

Er ging auf eine Stelle der Wand zu, an der er selbst im Halbdunkel den Lichtschalter gefunden hätte. »Bevor ich komme, bist du hellwach. In der Sekunde, da ich die Wohnung betrete, liegst du in tiefem Schlaf. Das sind doch Kindereien.«

Er streckte die Hand nach dem Lichtschalter aus, doch das Klicken kam, ehe er ihn berührt hatte. Die plötzliche Flut von Licht überraschte ihn, da sie gekommen war, ehe er sie erwartet hatte.

Er blickte auf den Schalter, sah eine Hand, folgte von der Hand dem Arm und sah in das Gesicht eines fremden Mannes.

Er machte eine halbe Kehrtwendung, stieß einen Laut der Überraschung aus und sah, dass drei Männer um ihn herumstanden. Sie standen reglos da, wie Statuen, der eine von ihnen direkt hinter ihm.

Henderson war so überrascht, dass er sich suchend umsah, ob er sich überhaupt in der richtigen Wohnung befand. Sein Blick blieb auf einem kobaltblauen Lampenständer in der Zimmerecke haften, auf dem tiefen Sessel neben dem Rauchtisch, auf dem Fotoständer, in dem ein Bild zu sehen war, das ihn und ein Mädchen mit durchwuschelten Haaren zeigte. Es war so. Er war in seinem eigenen Appartement.

Er war der erste, der sprach, denn es schien, als wollten die drei anderen die ganze Nacht dastehen und ihn wortlos anstarren. »Was haben Sie in meiner Wohnung zu suchen?«, sagte er barsch.

Er bekam keine Antwort.

»Wer sind Sie?«

Immer noch schwiegen die Männer.

»Was wollen Sie hier? Wie sind Sie überhaupt hier hereingekommen?« Wieder rief er den Namen von vorhin. Diesmal mit noch mehr Nachdruck, als ob er von ihr, Marcella, eine Erklärung für die Anwesenheit der drei Männer hier erwartete. Doch durch die geschlossene Tür gegenüber dem Bogengang, durch den er hereingekommen war, drang weiter nur geheimnisvolles, Unheil verheißendes Schweigen.

Dann endlich sprachen sie, und sein Kopf fuhr zu ihnen herum. »Sind Sie Scott Henderson?« Die drei hatten den Halbkreis um ihn noch ein wenig verengt.

»Ja, so heiße ich.« Er blickte unverwandt auf die Tür, die sich nicht öffnete. »Was ist? Was soll das Ganze?«

Mit einer Entschlossenheit, die ihn rasend machte, fuhren sie fort, Fragen zu stellen, statt seine eigenen Fragen zu beantworten. »Und Sie wohnen hier? Stimmt das?«

»Natürlich wohne ich hier!«

»Und Sie sind der Ehemann der Marcella Henderson. Stimmt auch das?«

»Ja! Jetzt hören Sie einmal: Ich will wissen, was hier eigentlich vorgeht.«

Einer von den dreien hielt ihm kurz die geöffnete Handfläche hin mit etwas, was eine Plakette sein konnte, was Henderson aber, weil es zu schnell ging, nicht erkannte.

Er versuchte zu jener geschlossenen Tür hinüberzugehen, doch einer der drei vertrat ihm den Weg. »Wo ist sie? Ist sie davongerannt?«

»Sie ist nicht davongerannt, Mr. Henderson«, sagte einer von ihnen ganz ruhig.

»Nun, wenn sie da drin ist, warum kommt sie dann nicht heraus?« Seine Stimme klang jetzt verzweifelt und schrill. »Um Gottes willen - reden Sie doch! Sagen Sie etwas!«

»Sie kann nicht herauskommen, Mr. Henderson.«

»Moment mal - was war das, was Sie mir da gerade zeigten? Eine Polizeimarke?«

»Jetzt beruhigen Sie sich erst einmal, Mr. Henderson.« Sie führten zu viert eine Art plumpen Tanz auf, denn Henderson hatte sich auf die Tür zu bewegt, und die Männer um ihn herum waren ihm gefolgt. Jetzt ging er ins Zimmer zurück, und wieder folgten ihm die anderen.

»Ich soll mich beruhigen? Ich will wissen, was geschehen ist! Sind wir ausgeraubt worden? Nehmen Sie die Hand von meinem Arm. Lassen Sie mich gefälligst hineingehen.«

Aber es hielten ihn drei Hände gleichzeitig zurück, und wenn es ihm gelang, eine davon abzuschütteln, waren immer noch die beiden anderen da, um ihn festzuhalten. Er hatte sich in eine wilde Erregung hineingesteigert, und als nächstes würden Handgreiflichkeiten folgen. Der hastige Atem der vier Männer füllte den Raum.

»Ich wohne hier, dies ist mein Zuhause! So können Sie nicht mit mir umspringen. Mit welchem Recht halten Sie mich aus dem Schlafzimmer meiner Frau heraus...«

Plötzlich ließen sie von ihm ab. Der eine, der rechts von ihm stand, gab dem vor der Schlafzimmertür ein Zeichen, wenn auch nur zögernd. »Okay, lass ihn hineingehen, Joe.«

Die Hände ließen ihn so plötzlich los, dass er die ersten paar Schritte ins Schlafzimmer hinein taumelte.

In einen zärtlich dekorierten Raum, ein Zimmer der Liebe, ganz in Blau und Silber gehalten. Eine Zierpuppe saß mit ausgestreckten Beinen auf der Frisierkommode. Die Betten waren mit blauseidenen Steppdecken bedeckt. Eine davon war glatt wie ein Brett; unter der anderen zeichnete sich die Rundung einer Gestalt ab; sie war völlig zugedeckt, so dass nur oben ein paar krause, bronzefarbene Haare hervorsahen.

Henderson blieb jählings stehen. Sein Gesicht wurde leichenblass. »Sie... sie hat sich etwas angetan! Oh, diese Närrin!« Furchtsam blickte er auf den Nachttisch zwischen den beiden Betten, aber es war nichts darauf zu sehen, kein Trinkglas, kein Fläschchen, kein Tablettenröhrchen.

Mit schwankenden Schritten trat er ans Bett. Er beugte sich vornüber und fühlte durch die Bettdecke hindurch ihre Schulter. »Marcella, es ist doch alles gut - oder?«

Vage merkte er, dass die drei Männer hinter ihm hereingekommen waren - aber er hatte nur Zeit und Augen für sie, Marcella.

Drei Augenpaare verfolgten, wie er einen Zipfel der Bettdecke zurückschlug; nur ein kleines Dreieck, aber es war genug, ihn erstarren zu lassen.

Noch ehe er sich des Schrecklichen eigentlich bewusst wurde, zogen ihn drei Paar Hände zurück, und das blauseidene Betttuch wurde wieder über das Gesicht gezogen. Marcella war fort. Für immer.

»Bei Gott, das habe ich nicht gewollt«, sagte er mit gebrochener Stimme. »Nie und nimmer wollte ich...«

Drei Augenpaare wechselten vielsagende Blicke und registrierten, was sie sahen und hörten in ihrem Gedächtnis.

Sie führten ihn zurück ins andere Zimmer, zu einem Sofa. Er sank darauf nieder. Einer von ihnen ging und schloss die Schlafzimmertür.

Er saß ganz ruhig da und schirmte die Augen mit der Hand ab, als ob ihn das Licht plötzlich blendete. Die anderen standen herum; einer neben der Tür, der andere am Fenster, der dritte blätterte in einem Magazin. Wie er es tat, schien es, als ob dies im Augenblick das Wichtigste von der Welt wäre.

Schließlich sagte der neben der Couch, der sich inzwischen gesetzt hatte: »Wir werden mit Ihnen zu reden haben.«

»Bitte, eine Minute noch«, sagte Henderson schwach. »Sie müssen verstehen - ich bin noch völlig durcheinander...«

Der auf dem Stuhl nickte verstehend. Der zweite blickte immer noch unverwandt zum Fenster hinaus. Der dritte blätterte Seite um Seite seiner Illustrierten um.

Schließlich kniff Henderson die Augen zusammen, blinzelte ein paarmal und sagte dann ganz einfach und ruhig: »Es ist gut jetzt. Sie können beginnen.«

Es begann so lässig, ja beinahe nonchalant, dass es den Eindruck erweckte, als handele es sich lediglich darum, ein paar Details zu ermitteln, um damit das Bild abzurunden.

»Wie alt sind Sie, Mr. Henderson?«

»Zweiunddreißig.«

»Und Ihre Frau?«

»Neunundzwanzig.«

»Wie lange waren Sie verheiratet?«

»Fünf Jahre.«

»Ihr Beruf?«

»Ich bin in einer Maklerfirma.«

»Wann sind Sie heute Abend von hier fortgegangen, Mr. Henderson?«

»Zwischen halb sechs und sechs.«

»Können Sie die Zeit nicht ein wenig genauer angeben?«