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Es ist, als träfen Menschheitswege wieder aufeinander, die sich vor langer Zeit getrennt haben. Voller Neugier schauen Ninhursanga und Chris auf die Kultur und das Leben des anderen. Zwei Zeitströme scheinen sich zu vereinigen. Der eine entstammt der Vergangenheit und hat das Wissen der Herkunft als heiligen Schatz bewahrt. Der andere bezieht sich auf die Verheißung der Zukunft und strebt stets vorwärts. Zweifel und Gewissheit, Freude und Trauer, Angst und Neugier begleiten das Entdecken der jeweils anderen Welt. Welchen Preis verlangt der Fortschritt den Menschen ab? Welches Opfer fordert das Bewahren? Und doch, der Raum für Hoffnung, Glück und Verständigung bleibt. Behutsam, immer mit dem Blick füreinander, erfolgt das gemeinsame Erkunden von Wahrheit. Ein Buch, das erzählt, wie Kraft, Mut und Mitgefühl unser Leben leiten kann.
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Seitenzahl: 225
Veröffentlichungsjahr: 2025
Start
Impressum
Ninhursanga
Beim großen Baum am Fluss
Die Reise zu den Sternen
Ínanna - Vivian
Geister und Götter
Die Begegnung mit der Erde
Vivian begegnet Ninhursanga
Das Leben
Wandel, Heimkehr, Frieden
Abschied
Weitere Bücher
Die Erde und die Steine sehnten sich danach,
sich mit der Luft zu vermischen,
und Menschen und Tiere und Bäume
verwandelten sich in Wasser,
und Erde wurde Luft.
Edvard Munch
Für meine Mutter
Möge die Weisheit aus anderen Zeiten und Kulturen
das Leben aller Menschen bereichern,
sodass sie dieses Erbe hochhalten
und auf ihrem Weg hin zur Freiheit
die Fülle der Menschheitsentwicklung in sich tragen.
Gott ist für das Göttliche – die Schöpfung – zuständig.
Der Mensch für das Menschliche – die Menschlichkeit.
Das ist seine Aufgabe!
Damit ist er Ausdruck des Schöpfers.
Michael Wolfgang Geisler
Am Fluss im Schatten des großen Baumes
Novelle
© 2025 Michael Wolfgang Geisler
Website: www.einschamanenweg.de
Lektorat Rohlmann & Engels, www.lektorat-rohlmann-engels.com
Cover: Tore Sætre, Wikimedia Commons
Solen von Edvard Munch, das an den Wänden im Festsaal der Universität Oslo zu sehen ist. Die Gemälde entstanden in der Zeit von 1909 bis 1916.
Druck und Distribution im Auftrag des Autors:
tredition GmbH, Heinz-Beusen-Stieg 5, 22926 Ahrensburg, Deutschland
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt.
Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich.
Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig.
Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors:
Michael W. Geisler, Lichterfelder Str. 11a, 14547 Beelitz, Germany
Kontaktadresse nach EU-Produktsicherheitsverordnung:
ISBN:
978-3-384-16806-1 (Softcover)
978-3-384-16807-8 (E-Book)
In einer kleinen Siedlung, am Zusammenfluss zweier mächtiger Wasserläufe mitten im dichten Wald gelegen, wuchs Ninhursanga auf. Bereits in jungen Jahren lernte sie bei Hodura, dem Schamanen, den Geistern zu begegnen und vor ihnen für die Menschen ihrer Gemeinschaft einzutreten. Nach Hoduras Tod war ihr die Aufgabe übertragen, sich mit all ihren Fähigkeiten dafür einzusetzen, dass die Menschen an jenem Ort im Einklang mit der Schöpfung lebten.
Die Bewohner des Dorfes schauten mit Ehrfurcht und Hochachtung auf diese Frau. Für sie gab es keinen Zweifel: Ninhursanga stand in einer innigen und unverbrüchlichen Verbindung mit den hohen Geistwesen.
Einst rief der Herrscher des Himmels, Awona, der sich sowohl in weiblicher als auch männlicher Gestalt zeigt, die Herrin der Fruchtbarkeit zu sich. Er beauftragte sie, dafür Sorge zu tragen, dass ein Mädchen geboren werde, in dem in besonderer Weise die Natur der Göttin zum Ausdruck komme. Awona wusste, es bedurfte solch eines Menschen, damit auf Erden das Leben kraftvoll fortbestand.
Um dieses Vorhaben Wirklichkeit werden zu lassen, nahm die Fruchtbarkeitsgöttin die Gestalt einer Libelle an und suchte die junge Frau des Stammesführers auf, als sie sich in der Frühe am Fluss wusch. Gedankenverloren saß Iahiara auf einem Stein, an dem das Wasser an allen Seiten gemächlich vorbeiströmte, und betrachtete einen Strudel, der sich zu ihren Füßen gebildet hatte. Da spürte sie ein leicht schmerzhaftes Ziehen im Unterleib, das sich im ganzen Körper ausbreitete und sie aufschrecken ließ.
Erstaunt schaute sie an sich hinab. Aber sie konnte nichts Ungewöhnliches entdecken und ihre Aufmerksamkeit wurde auch sogleich von einer großen Libelle abgelenkt, die über dem Wasser schwebte. Das Insekt schillerte betörend bunt im Sonnenlicht. In jenem Augenblick des Schmerzes hatte die Göttin Iahiara den Keim eingepflanzt, aus dem Ninhursanga als neuer Mensch wachsen sollte.
In jener Nacht träumte die Häuptlingsfrau von der Raubkatze Koi, deren Kraft und Mut von den Menschen verehrt wurden. Iahiara sah, wie sich das Tier liebevoll näherte und seinen Kopf neben ihren auf das Lager legte. Sie meinte, seinen warmen Atem an ihrer Wange zu spüren. Große Freude durchströmte ihr Herz.
Neun Monate nach diesem Geschehen, der Mond erhellte in seiner vollen Größe das Dorf, riss ein furchterregender Schrei der großen Raubkatze die Bewohner aus dem Schlaf. Als sie in die Nacht horchten, vernahmen sie das laute Jammern einer unter Schmerzen Gebärenden. Heftige Wehen erschütterten den Körper der Häuptlingsfrau. Die Helferinnen, die bei der Geburt anwesend waren, berichteten später, dass sich im Gesicht des Neugeborenen, als sein Körper den Mutterleib verließ, der Ausdruck der Herrin der Fruchtbarkeit gezeigt habe.
Dem Kind wurde der Name Ninhursanga, Gabe des Lebens, gegeben. Für ihre Mutter, die Alten und Weisen bestand sofort nach der Geburt Gewissheit, dass die Göttin der Fruchtbarkeit ihnen und ihrem Volk diese Tochter zum Geschenk gemacht hatte.
Während Hodura die Zeremonie zur Begrüßung des Säuglings feierte, eröffnete sich ihm in der Begegnung mit Awona die Geschichte der Menschwerdung und die irdische Aufgabe des Mädchens.
In den kommenden Jahren erzählten die Alten den Kindern von jenem Ereignis. Abends am Feuer berichteten sie vom vielfachen Wirken der Ahnen, Geister und Götter sowie jener ungewöhnlichen Geburt, die an diesem Ort stattgefunden hatte. Mit großen Augen und offenen Mündern hörten die Kinder zu. Ihr Atem stockte, wenn sie meinten, in diesem Augenblick selbst in der Dunkelheit den furchteinflößenden Schrei Kois zu vernehmen. Ihre Körper drängten sich Schutz suchend aneinander; die Hände verkrampften sich. Sie dachten an das Bild der Raubkatze, das Hodura in einen Stein geritzt beim heiligen Tanz um den Hals zu tragen pflegte.
Gemeinsam erlebten sie, wenn die Alten sprachen, die Anwesenheit der Geistwesen. Denn nichts auf der Erde und in den Weiten des Alls existiert, das nicht vom Geist durchdrungen ist.
Nach solchen Erzählungen träumten die Menschen von diesem Geschehen. Erfüllt von ihrem Erleben wachten sie in der Dunkelheit auf, betrachteten den Himmel, die Sterne, den Mond, hörten die Geräusche der Tiere im Wald. So manches Mal setzen sie sich zusammen, um von dem, was sie im Schlaf erlebt hatten, zu berichten. Denn ein Traum ist wahr und oft bedeutungsvoller als das im wachen Zustand Erfahrene.
Doch nicht allein angeregt durch Erzählungen war Ninhursanga Teil der Träume, sondern ebenso, wenn die Menschen Rat suchten, tauchte Ninhursanga während ihres Schlafs auf und antwortete den Bewohnern des Dorfes auf ihre Fragen. Auch wenn sie, die so tief mit den Geistern Verbundene, nicht unter ihnen weilte, sondern in fernen Ländern, blieb sie in den Träumen stets an ihrer Seite. Sie vermittelte zwischen den Menschen und den Geistern. Sie half ihnen dabei, im Einklang mit allem, was ist, zu leben.
Ninhursanga gehörte zur Welt des Dorfes wie der Fluss, der den Fisch schenkt, oder das Ackerland, auf dem die Pflanzen gedeihen, wie der Mond und die Sonne.
Allein, auch in dieser Gemeinschaft war ein tiefgreifender Wandel, der die gesamte Welt erfasst hatte, nicht zu übersehen. Immer seltener ließ sich der Ruf Kois hören. Die Wälder in der Umgebung verloren durch Abholzung an Weite und mit der schwindenden Lebensfülle der Natur löste sich auch die Verbindung zu den Geistern. Die Jungen zogen in die Städte und lernten dort, die Wirklichkeit auf andere Weise, als es ihnen aus ihrer Kindheit vertraut war, zu betrachten. Sie wollten Veränderung und suchten nach neuer Kenntnis über die Welt. Noch erzählten die Alten ihre Geschichten. Doch eine dumpfe Ahnung lag über dem Land, dass auch dies ein Ende finden würde.
Ein Wiegenlied für die neugeborene Ninhursanga,
damit sie in Harmonie mit der Schöpfung aufwachsen und
ihre Kraft und Weisheit in die Welt bringen kann.
Die Erde ist deine Mutter.
Sie hält dich.
Der Himmel ist dein Vater.
Er beschützt dich.
Schlaf, schlaf.
Der Regenbogen ist deine Schwester.
Sie liebt dich.
Die Winde sind deine Brüder.
Sie singen für dich.
Schlaf, schlaf.
Wir sind zusammen – immer.
Wir sind zusammen – immer.
Es existierte nie eine Zeit,
in der das nicht so war.
Aus: Leslie Marmon Silko, Lullaby
Feine Nebelschleier lagen über dem Land und schenkten ihm etwas unwirklich Märchenhaftes. Die Natur schien sich vor dem Blick des Betrachters verbergen zu wollen. Nur wer sich ihr empfindsam und mit Hingabe zuwandte, sollte sie erkennen können.
Es war früher Morgen. Die ersten Sonnenstrahlen spiegelten sich im braunen Wasser des Flusses, der träge vorbeizog. Allein Treibgut, das er mit sich trug, unterbrach das gleichförmige Geschehen.
Ninhursanga und Chris saßen schweigend am Ufer im Schatten eines hoch aufragenden, frei stehenden Baumes, dessen starke Äste sich ausladend in den Raum erstreckten. Die grünen Blätter suchten das Licht.
Hier an diesem mächtigen Strom lag Ninhursangas Zuhause. Klein und zierlich wirkte ihre Erscheinung. Demgegenüber war Chris von kräftiger Statur. Seit gut zwei Monaten weilte er in diesem ihm fremden Land. Seine Heimat befand sich weit entfernt im Norden.
Chris schloss die Augen. Er spürte die Anwesenheit Ninhursangas neben sich. Diese Frau lebte in tiefer Gewissheit um ihren Platz im Kosmos. Ihre Existenz war Teil eines Ganzen. Sie musste keine Anerkennung suchen, denn sie wusste von sich. Voller Aufmerksamkeit und Mitgefühl wandte sie sich der Welt zu. Noch nie zuvor war Chris einem Menschen begegnet, von dem eine derart intensive Liebe ausging. Dabei prüfte Ninhursanga ihr Gegenüber mit kritischem Blick. Es war für Chris nicht einfach gewesen, ihr Vertrauen zu gewinnen. Doch war dies geschehen, lebte in ihr eine tiefe Zuneigung.
In den Wochen des Zusammenseins mit Ninhursanga hatte Chris festgestellt, dass er Fragen stellen musste, wenn er mehr von seiner Freundin erfahren wollte. Ninhursanga teilte dann gerne ihr Wissen. Doch im alltäglichen Gespräch verhielt sie sich zurückhaltend. Es war nicht ihre Art, ohne besonderen Anlass von ihrem Erleben und ihrer Erkenntnis zu erzählen.
»Was ist für dich Wahrheit?«, fragte Chris in die gedankenvolle Stille. Er hatte nun die Augen wieder geöffnet, blickte aber nicht zu Ninhursanga, als er diese Worte sprach, sondern betrachtete das gleichmäßig fließende Wasser.
Sie unterhielten sich in seiner Sprache, die Ninhursanga erstaunlich gut beherrschte. Dennoch: Schon bevor er den Satz beendet hatte, beschäftigte ihn, ob sie verstehen konnte, was er mit dem Begriff »Wahrheit« meinte.
Sie schwieg. Er überlegte, ob er erläutern sollte, was er wissen wollte. Da hörte er ihre Stimme.
»Das Leben zu kennen«, vernahm er und es schien ihm, als stammte dieser Satz aus einer anderen, fernen Wirklichkeit, von der er nichts wusste.
Chris schaute auf. Seine grünbraunen Augen betrachteten ihr Gesicht, die dunklen Haare, den schmalen Hals.
Ninhursanga nickte ihm zu, als sie seinen fragenden Gesichtsausdruck bemerkte, und fuhr fort: »Wahrheit musst du in dir bilden. Der Mensch kann das Leben erkennen – jeder auf seine Weise. Wir alle haben unseren eigenen Weg zu gehen. Viele Pfade führen zur Wahrheit.« Zeit verging. Ninhursanga schaute zum Fluss. Dann sprach sie: »Es ist das Leben, welches die Fragen an dich stellt. Du musst die Antworten finden. Sie können dir von der Schöpfung berichten. Wohin sie strebt. Wohin du strebst … Wir alle suchen.«
Ihre Blicke begegneten sich.
»Das Leben will«, ergänzte sie. »Es will erkannt werden. Schau auf den Fluss. Er folgt seinem Lauf und seine Umgebung richtet sich danach aus.«
Sie nannte Chris in ihrer Sprache Niharrda, was der die Welt zu verstehen sucht bedeutet. Denn Niharrda schaute voller Neugier auf alles, was ihm begegnete, und vieles löste ein tiefes Staunen in ihm aus. Wie unglaublich vielfältig diese Welt doch war, stellte er in solchen Augenblicken voller Ehrfurcht fest. Er meinte, seine Verwunderung über den Reichtum der Wirklichkeit körperlich spüren zu können.
Ninhursanga hatte seinen Namen auch gewählt, weil sie in ihm eine noch verborgene Weisheit erahnte. Sie wollte ihm helfen, sich zu entdecken. Sie wusste: Er war nicht nur ein Mann der Fragen, sondern ebenso der Antworten.
Seit seiner Schulzeit interessierten Chris philosophische und spirituelle Themen. In den letzten Jahren hatte er sich intensiv mit christlicher Mystik beschäftigt. Er suchte nach der Bedeutung des Lebens. Dabei schätze er den nüchternen, rationalen Blick auf die Welt. Aber dieser versagte meist, wenn er sich den existenziellen Fragen des menschlichen Daseins zuwandte. Vieles blieb Ahnung, Vermutung, Gefühl … Er fragte sich, ob sich die beiden Pole von intuitiver Ahnung und vernunftgeleiteter Rationalität zusammenführen ließen, um einen weiten, widerspruchsfreien Blick auf die Wirklichkeit zu erlauben.
Spätestens seit dem Studium der Biologie verstand er sich als Wissenschaftler. Sein Interesse galt den Mikroalgen. Bei seinen Forschungen auf diesem Gebiet tat sich für ihn eine in ihrer Vielfalt faszinierende Lebenswirklichkeit auf.
Ninhursanga hatte vollkommen recht damit, wenn sie Chris als Menschen auf der Suche bezeichnete. Er wollte Neues entdecken und aus Begrenzungen ausbrechen.
Wie oft hatte Chris in den letzten Jahren darunter gelitten, wenn ihn seine Arbeit ihn zu zwingen schien, die Wirklichkeit auf die Ausmaße eines Labors zu begrenzen! Er fühlte sich wie in einem Käfig gefangen. Er wollte die Welt verstehen. Doch sie blieb ihm rätselhaft.
Dann kam eine Zeit, in der Chris zunehmend das Interesse an seiner Umgebung verlor. Trostlos, traurig und sinnlos erschien ihm alles. Er überlegte, wie er der Enge, die er empfand, entgehen konnte; er schmiedete Pläne, im Ausland zu forschen und stellte Forschungsanträge. Aber es gab auch Momente tiefer Resignation, in denen er sich zu keiner Aktivität aufraffen konnte. Fast schien es in solchen Augenblicken, als habe er seine Neugier und sein Staunen über die Welt verloren. Immer mehr verschloss er sich gegenüber der Außenwelt. Auf seine Frau wirkte sein Verhalten, als wollte er sie aus seinem Leben ausschließen.
Chris besprach zwar seine Absichten für einen Auslandsaufenthalt mit ihr. Allerdings war für sie stets durchgeklungen, dass er unabhängig von ihrer Haltung sein Vorhaben verwirklichen würde. Noch vor Kurzem waren sie sich einig gewesen, Kinder haben zu wollen. Durch seine Reisepläne wurde dieser ihr wichtige Wunsch jedoch immer weiter in eine ungewisse Zukunft verschoben. Die Bindung zwischen ihnen lockerte sich. Chris bemerkte das nicht. Seine Frau nahm es mit Schmerzen wahr. Oft saß er im Wohnzimmersessel und seine Gedanken drehten sich ratlos im Kreis. Wie gelähmt wartete er auf Entwicklung und Wandel.
Offensichtlich bedurfte es einer tiefen Erschütterung, eines Abschieds vom Alten, damit ein Neuanfang möglich wurde. Als seine Frau sich schließlich von ihm trennte, brach von einem Augenblick auf den anderen seine Welt zusammen. Er hatte alles verloren. Niedergeschlagen und unfähig zu einer Reaktion schaute er auf das Scheitern.
Doch von diesem Zeitpunkt an war es, als drängten mächtige Kräfte der Erneuerung auf eine Veränderung seines Lebens.
Während einer Mittagspause in einem Restaurant hatte er sich lustlos und einsam gefühlt. Aus der gemeinsamen Wohnung mit seiner Frau war er vor wenigen Tagen ausgezogen und lebte jetzt zur Zwischenmiete in einem winzigen Appartement.
Um sich abzulenken und auf andere Gedanken zu kommen, lauschte er dem Gespräch am Nebentisch. Eine Studentin erzählte von einer Stiftung, die im Gedenken an einen berühmten Wissenschaftler ein Förderprogramm für wenige kleinere wissenschaftliche Projekte auf dem Gebiet der Mikroorganismen aufgelegt hatte. Voraussetzung war, dass die Forschung in von der Zivilisation kaum berührten Regionen der Welt stattfand. Je mehr er hörte, desto stärker hellte sich seine Stimmung auf. In Gedanken malte er sich aus, wie er in menschenleeren Gegenden, weit entfernt von seiner Heimat, bisher unbekannte Mikroorganismen entdeckte – Kleinstlebewesen mit Eigenschaften, die auf dem Gebiet des Umweltschutzes und der Gesundheit neue Perspektiven für die Menschheit eröffneten. Er würde Veränderung in die Welt bringen! Ideen von Aufbruch und Wandel beschäftigten ihn, als er die Gaststätte verließ.
Allerdings einige Tage später nach einsamen, traurigen Nächten in seinem Appartement und der unerfreulichen Routinetätigkeit im Labor hatten sich die pessimistische Stimmung und Resignation wieder eingestellt. Während Chris lustlos am Kaffeeautomaten des Institutes stand, kam eine Kollegin hinzu und fragte beiläufig, ob er jemanden bei der Stiftung, von der vor wenigen Tagen am Nachbartisch das Gespräch gewesen war, kenne. Sie sei gerade dabei, eine Liste mit Kontaktdaten von Partnern zusammenzustellen. Er verneinte, erwähnte aber, was er im Restaurant vernommen hatte, und stellte Bezugspunkte zu seiner Arbeit und seinem tiefen Verlangen nach einem Neuanfang her.
Schließlich verdichteten sich die Ereignisse. Die Kollegin lief ihm zwei Tage später erneut über den Weg. Sie erzählte ihm von einem Telefonat, das sie zwischenzeitlich mit einem Verantwortlichen der Stiftung geführt hatte. Nun war sie erstaunt zu hören, dass Chris bisher keinerlei Initiative gezeigt hatte, um Kontakt aufzunehmen. Voller Enthusiasmus schilderte sie ihm die Möglichkeiten, die sich für ihn eröffnen konnten. Sein Wunsch im Ausland zu forschen, würde Wirklichkeit werden! Neues, Unbekanntes ließe sich entdecken. So gelang es ihr, Chris Mut zu machen. Noch am selben Tag begann er mit der Erstellung des Forschungsantrags. Kurz darauf wurde er genehmigt. Chris war 34 Jahre alt, als er zu seiner Reise in die Ferne aufbrach. So kam es, dass er hier neben dieser fremdartigen, weisen Frau saß und Fragen stellte.
»Dieses braune Wasser«, begann Ninhursanga zu erzählen und betrachtete den Lauf des Flusses, »erinnert an das, was wir Heiler und Magier den Ring der Dunkelheit nennen. Er umgibt die Erde. An diesem Ort finden sich die Seelen der Verstorbenen wieder, die voller Verwirrung, verloren und ohne Hoffnung auf ihr vergangenes Leben schauen. Sie können nicht verstehen, was im irdischen Dasein geschah.« Eine Pause trat ein. Es schien so, als benötigte Ninhursanga Zeit, um sich zu erinnern. Erst nach einer Weile fuhr sie fort: »Von einer jungen Frau, deren Seele von dort auf die Erde zurückgekehrt war, möchte ich dir berichten. Ich begegnete ihr, als ich im Norden wohnte.«
Ninhursanga schaute ihren Gesprächspartner an. Sie sah die Skepsis, aber auch das Interesse in seinem Gesicht. Ihr Blick wandte sich wieder dem breiten Strom zu, der gemächlich an ihnen vorbeizog, und sie meinte, durch das trübe Wasser hindurch die Fische in der Tiefe wahrzunehmen. Im Einklang mit dem Fluss lebten diese Tiere. Sie stellten keine Fragen. Sie versuchten nicht zu verstehen.
»Du zweifelst, Niharrda«, sagte sie schließlich. »Du denkst, jenen dunklen Ring aus unzähligen winzigen schwarzen Punkten habe noch kein Mensch gesehen … Nicht mit den Augen, Niharrda, nicht mit den Augen! Er bleibt dem Blick verborgen. Und doch existiert er als Ort geistiger Düsternis. Licht, Materie und Information sind dort gefangen.
Besäßen die Wissenschaftler in deiner Heimat eine noch bessere Technik, könnten sie feststellen, dass eine feine Kraft, die sie Schwerkraft nennen, von ihm herrührt. Solche dunklen Felder umgeben im Kosmos vielfach die Materie.« Ninhursanga holte tief Luft. Sie musste sich mühevoll auf den richtigen Gebrauch ihr fremder Begriffe konzentrieren.
Ninhursanga hatte bei ihren Aufenthalten außerhalb ihrer Heimat viel über die dort praktizierte Wissenschaft gelernt. Voller Neugier und Wissensdrang versuchte sie die fremde Welt zu verstehen. Sie war fasziniert von ihrer Erkenntnis und verband, was sie hörte, mit ihrer Einsicht in den Weltenlauf.
Sie zögerte weiterzusprechen: »Frage mich, Niharrda. Dein Denken ist anders als meines.«
Niharrda nickte und schloss die Augen. Vertraut war ihm der Klang seines Namens geworden. Er erinnerte sich, wie er noch vor wenigen Wochen verwundert aufgeblickt und sich gefragt hatte, ob tatsächlich er gemeint sei. Und jetzt verzauberten ihn Tonfall und Rhythmus ihrer Stimme, wenn sie ihn Niharrda nannte.
Während er mit geschlossenen Augen voller Hingabe im Schatten des großen Baumes saß, tauchte das Bild eines dunklen, bräunlich gefärbten Ringes auf. Und er erkannte: Dort weilen Seelen, denen es nicht gelingt, das von ihnen zuvor im irdischen Dasein Erfahrene zu verstehen. Diese in Verlorenheit gefangenen Seelen zieht es zur Erde. Dadurch erschaffen sie eine verbindende Kraft.
Er meinte, jetzt zu begreifen, was Ninhursanga ihm mitteilen wollte: Der gesamte Kosmos besteht aus Wesen, von denen Kräfte ausgehen. Seelen streben zur Erde, weil die Erde ein Ort ist, der es ihnen erlaubt, Erfahrungen zu machen und Erkenntnis zu erlangen. Aus der Dunkelheit kann Helligkeit werden, weil sich Bewusstsein ausbildet.
Er wusste, wie anders die Wirklichkeit seiner Freundin war. Für sie entstand Wahrheit aus ihrer tiefen Verbindung mit allem, was ist. Sie fühlte die Wahrheit! Er war es hingegen gewohnt, von außen auf das Geschehen zu blicken, als wäre er nicht zugehörig.
Niharrda verlor sich in Gedanken. Seine erste Begegnung mit Ninhursanga wurde ihm gegenwärtig. So vieles hatte sich seitdem ereignet.
Während seiner Reise zur Quelle des mächtigen Flusses war er am Uferbereich eines kleinen Dorfes an Land gegangen. Bei dieser Ortschaft vereinigten sich zwei Wasserläufe zu einem breiten Strom. Weißlich anmutendes Wasser trifft dort auf rotbraun gefärbtes. Er hatte bereits drei Viertel des Weges von der Mündung bis zum Ursprung des Flusses hinter sich, als er jene abgelegene Siedlung erreichte. Im nicht mehr allzu fernen Gebirge, von dem das Wasser stammte, weil sich dort die Wolken abregneten, lag das Ziel seiner Exkursion.
Je mehr er sich den hohen Bergen genähert hatte, desto kleiner waren die Ansiedlungen geworden. Von der großen Stadt an der Flussmündung hatte ihn sein Weg immer weiter weg von der Zivilisation geführt.
Er war allein mit seinem Boot unterwegs und die Einsamkeit der langen Tage auf dem Wasser gefiel ihm. Er und der Fluss hatten sich zu einer Gemeinschaft zusammengefunden. Das gleichmäßige Schaukeln war ihm ein vertrauter Lebensbegleiter geworden, der von der Stärke und Unbeirrbarkeit des Lebens zu berichten schien. Meist verbrachte er die Nächte unter einer zwischen den Bootswänden aufgestellten Plane – selbst wenn er sein kleines Schiff bei einer Ortschaft vertäut hatte. Er suchte nicht die Gesellschaft. Es waren nicht die Bewohner dieser Landschaft oder deren Kultur, die er kennenlernen wollte.
Das Ziel seiner Expedition lag in der Erforschung von Mikroorganismen und dem Wandel ihres Vorkommens an den verschiedenen Abschnitten des Flusses. Fortlaufend entnahm er Wasserproben und untersuchte sie. Er sah sich als einsamen Mikrobenfischer, der den Menschen aus dem Weg ging.
Als er den Zusammenfluss der zwei in der Farbe so unterschiedlichen Wasserströme erreichte, war ihm sofort bewusst: Hier herrschten außergewöhnliche Umweltbedingungen. An dieser Stelle wollte er einige Zeit des Forschens verbringen.
Als er am Ufer gestanden und sich zu verständigen versucht hatte, hatte ein Junge ihn zu Ninhursanga gebracht. Ein wenig besorgt blickte er zurück zu seinem Boot, während ihn das Kind an der Hand weiter in das Dorf führte. Hoffentlich findet mein Besitz nicht das Interesse der Bewohner, war ihm durch den Kopf gegangen.
Schließlich erreichten sie eine geräumige und ansprechend gestaltete Hütte. Gleich hatte die etwa 45 Jahre alte Frau, die ihn begrüßte, mit ihren lebhaften, strahlend-braunen Augen seine Aufmerksamkeit erregt. In das traditionelle farbige Gewand gekleidet stand sie vor ihm. Er war erfreut, dass sie sich in seiner Sprache an ihn wandte. Erkennbar begegneten ihr die Menschen, die sich sofort hinzugesellten, mit Hochachtung.
So ergab es sich, dass Ninhursanga bei allen Angelegenheiten seine Ansprechpartnerin wurde. Sie erzählte ihm, dass sie fast vier Jahre im Norden, im Land des Eigentums und der Maschinen, gelebt habe. Der Aufenthalt dort sei für sie eine Zeit großer Veränderungen gewesen, meinte sie.
In den ersten Wochen verbrachte er die Nächte auf seinem Boot. Die Geräusche der Natur begleiteten ihn in den Schlaf. Wenn die ersten Lichtstrahlen den Himmel in ein lichtes Grau tauchten, vernahm er das Singen und Rufen der zahlreichen Vögel, die den Sonnenaufgang begrüßten.
Eines frühen Morgens noch war der Tag nicht angebrochen und der Mond erhellte ein wenig die Landschaft, vernahm er einen zarten Gesang, in dem eine tiefe Traurigkeit mitschwang. Zunächst schienen die Klänge einem wunderbaren Traum anzugehören und er wollte die Augen geschlossen halten und der Stimme lauschen. Doch immer bewusster wurde ihm, dass das Lied von außen zu ihm drang und er erwachen musste, um es in seiner Schönheit zu erfassen. Schließlich öffnete er den Reißverschluss des Moskitonetzes. Eine kräftige Brise strich über das Wasser.
Er kroch ins Freie. Über sich sah er Sterne und die Schwermut des Gesangs verband sich mit ihrem Verblassen am sich erhellenden Firmament. Doch nicht nur Traurigkeit, auch eine umfassende Liebe zu allem Leben lag in der Melodie. Fast meinte er, die Worte der fremden Sprache zu verstehen, die von dem unerfüllten Verlangen des Menschen zu erzählen schienen, von seiner Sehnsucht und Demut. Das Leben wird aus dem Schmerz geboren – so berichtete ihm das Lied, und es ist das Wissen um die Liebe, das hierdurch in das Dasein kommt.
Er lauschte der Stimme, verharrte regungslos und versuchte nicht, dessen Herkunft zu entdecken. Vielmehr beobachtete er auf dem Rücken liegend, wie die Sterne sich in der zunehmenden Helligkeit ihrer Umgebung verloren. Er wusste in diesem Augenblick, dass er im Schlaf zu ihnen gereist war. Nun musste er sich von den strahlenden Punkten verabschieden; sich von dem Ort trennen, der ihm wie eine Heimat vorkam.
Plötzlich verstummte das Lied. Die Sonne war am Horizont aufgegangen und er blickte in die Richtung, aus der ihn die Melodie erreicht hatte. Da erkannte er Ninhursanga, wie sie sich vom Ufer entfernte. Er sah ihre dunklen Haare, die über das farbige Gewand fielen, und spürte eine tiefe Zuneigung. Diese Frau war voller Liebe für die Welt. Der Fluss, das Dorf, die Menschen, die Sterne und die Sonne – mit allem war sie verbunden. Ihr Gesang hatte die Nacht verabschiedet und den Tag begrüßt. Er fragte sich, was das Besondere dieses Augenblicks sein musste, wenn sie sich ihm mit solcher Hingabe zuwandte.
Die nächsten Stunden verbrachte er wie verzaubert von dem Erlebten. Als er am Vormittag Ninhursanga begegnete und mit ihr sprach, spürte er auf neue Weise, wie umfassend sie der ganzen Welt zugehörig war. Er wünschte sich, das ebenfalls erleben zu können.
Später bei der Arbeit, während er eine ihm unbekannte Bakterienart mit dem Mikroskop betrachtete, sah er auch diese winzigen Lebewesen mit anderen Augen. Tief waren diese kleinen Kreaturen mit ihrer Umgebung verbunden! Maßgeblich gestalteten sie die Welt mit! Eine große Hochachtung erfasste ihn, als er erkannte, dass das, was er wie ein fremdes Objekt vergrößerte und untersuchte, Teil eines Ganzen war, dem auch er angehörte.
Seit zwei Monaten lebte er nun im Dorf und teilte den Alltag mit den Bewohnern. Er war inzwischen in eine kleine Hütte, die die Dorfbewohner für ihn erbaut hatten, umgezogen. Seinen Plan, zur Quelle des Flusses zu gelangen, hatte er aufgegeben. Er wollte in Ninhursangas Nähe bleiben und von ihrer liebevollen Weisheit lernen.
Wenn er mit Ninhursanga in Gespräche vertieft war, ihre Worte vernahm, die den Grund der Schöpfung berührten, fragte er sich manches Mal, warum sich sein Denken und Forschen so intensiv mit der Idee des Ursprungs beschäftigte. Stets interessierte ihn die Herkunft dessen, was ihm begegnete. Das Leben, wie die Wissenschaft es verstand, hatte mit den Mikroorganismen begonnen – das Menschsein mit der Existenz der Seele.
Das laute Schnattern von Wasservögeln unterbrach Niharrdas Erinnerungen. Fast ein wenig erstaunt darüber, hier an diesem Ort unter dem Baum zu sitzen, blickte er zum Ufer und der Schar Vögel, die sich dort versammelt hatten. Dann nach einer Weile wandte er sich Ninhursanga zu: »Sprich weiter. Erzähle mir, wie du die junge Frau, deren Seele aus dem Ring der Dunkelheit stammt, kennengelernt hast.«
Ninhursanga begann zu erzählen: »Als ich in die große Stadt des Nordens kam, da musste ich zunächst deine Sprache lernen. Ich arbeitete hart daran und schließlich konnte ich mich einigermaßen verständigen.
Oft war mir deine Welt fremd. So manches Mal spürte ich Unsicherheit und Angst und schaute ratlos auf das Handeln der Menschen. Ich verstand nicht, warum sie ihre Wirklichkeit auf das materiell Offensichtliche und von den äußeren Sinnen Erfassbare begrenzten. Die geistige Welt existierte für die Menschen nicht.