Am Montag werden sie uns lieben - Najat El Hachmi - E-Book

Am Montag werden sie uns lieben E-Book

Najat El Hachmi

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Beschreibung

Ein junges Mädchen marokkanischer Herkunft wächst an der Peripherie von Barcelona auf. Inmitten der religiösen und kulturellen Zwänge ihres muslimisch geprägten Umfelds sehnt sie sich nach Freiheit. Doch die Ausgangsbedingungen sind kompliziert, sodass ihr Weg in die Freiheit nur gelingen wird, wenn sie einen hohen Preis dafür zahlt. Alles beginnt an jenem Tag, an dem sie ein Mädchen kennenlernt, das aus einem freieren Elternhaus kommt und all das verkörpert, wonach sie sich sehnt. Ihre neue Freundin stellt sich den Herausforderungen ihres Lebens als Frau mit einer Energie, einem Enthusiasmus und einer Entschlossenheit, die sie faszinieren und dazu bringen werden, in ihre Fußstapfen zu treten … Najat El Hachmi eröffnet in ihrem Roman intensive Einblicke in die Erfahrungen von jungen Frauen aus Einwanderungsfamilien, die aufgrund ihres Geschlechts, ihrer sozialen Schicht und ihrer Herkunft unterdrückt werden – und zeigt, wie sie für ihre Freiheit kämpfen. »Es gibt kein Leben in Würde ohne Freiheit. Ich möchte meine Bücher den mutigen Frauen widmen, die vom Weg abwichen, um frei zu sein.« Najat El Hachmi

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Über dieses Buch

Eine junge Frau marokkanischer Herkunft wächst zwischen den religiösen und kulturellen Zwängen ihres muslimisch geprägten Umfelds an der Peripherie von Barcelona auf. Sie sehnt sich nach Freiheit und einem selbstbestimmten Leben.

Alles beginnt an jenem Tag, an dem sie ein Mädchen kennenlernt, das sich den Herausforderungen ihres Lebens als Frau selbstbewusst und entschlossen stellt. Gemeinsam mit ihrer neuen Freundin versucht sie der sozialen Kontrolle und der Perspektivlosigkeit zu entkommen. Doch wird ihnen die Befreiung gelingen?

Über die Autorin

Najat El Hachmi ist eine katalanisch-marokkanische Autorin, die im Alter von acht Jahren gemeinsam mit ihrer Familie von Marokko nach Spanien migrierte und heute in Barcelona lebt. El Hachmis Werk beschäftigt sich mit den Themen Identität, kulturelle Verwurzelung und Entfremdung und der Bedeutung des Frauseins in der muslimischen Kultur.

Najat El Hachmi ist in Europa eine der kritischsten Stimmen gegen radikalen Islamismus und die damit verbundene Unterdrückung von Frauen.

2021 erhielt sie für »Am Montag werden sie uns lieben« den renommierten Nadal-Literaturpreis.

Najat El Hachmi

Am Montag werden sie uns lieben

Roman

Für die Mutigen, die vom rechten Weg abwichen, um frei zu sein. Auch wenn es schmerzte.

Inhalt

Montag, Montag, Montag …

Erster Teil

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Zweiter Teil

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Montag, Montag, Montag …

Am Montag werden wir andere Menschen sein. Am Montag werden sie uns lieben.

Wir werden nicht stehen bleiben. Wir werden über Wege aus Staub und Lehm laufen, werden so hoch springen, dass wir mit dem Kopf an die Zimmerdecke stoßen, wir werden den Hunger besiegen, der unsere Bäuche quält, werden unsere Triebe im Zaum halten. Wir werden stark sein; wir werden einen eisernen Willen haben.

Am Montag fangen wir ein neues Leben an, wir werden sein, wie wir sein müssen, und nicht, wie wir sind. Wir werden uns auf die angemessene Weise einfügen, werden unser Fleisch in die korrekte Passform pressen, werden das Überschüssige abwerfen, und so werden wir Erfolg haben, ganz gewiss und für immer. Wir werden alle Regeln peinlich genau einhalten, werden uns benehmen, wie es sich gehört, und all unsere Pflichten erfüllen: jene, die man uns auferlegt hat, und jene, die wir selbst erfunden haben, um noch besser zu sein, als man es von uns erwartet.

Ab Montag werden wir schlanker sein, anmutiger, fleißiger, ab Montag werden wir gute Mädchen sein. Wir werden nicht mehr zweifeln, keine Zeit mehr vergeuden, nicht mehr traurig sein, nicht mehr verzagt oder faul, nicht mehr müde, nicht mehr unbeständig und wechselhaft. Ab Montag, ohne Wenn und Aber, werden wir Diät halten, Sport machen, kein Stäubchen mehr im Haus dulden, keinen Moment mehr ungenutzt verstreichen lassen, dafür sorgen, dass die Kinder immer gut angezogen sind, dass sie sich richtig ernähren und zeitig schlafen gehen. Wir werden uns weiterbilden und uns so kleiden, dass wir die besten Jobs und die besten Ehemänner abkriegen. Wir werden uns hübsch machen, sodass wir nicht mehr vom Leben zerzaust wirken. Wir werden gute Laune haben und mit den Kindern spielen, damit sie das Glück in unseren Gesichtern sehen und tags darauf selber glücklich sind. So glücklich wie wir. Wir werden studieren, werden uns anstrengen, vorankommen und all das erreichen, was bisher unmöglich schien.

Ab Montag werden wir in alle Schablonen passen, die man uns vorlegt. Wir werden sie vereinbar machen, auch wenn sie zueinander im Widerspruch stehen. So sind wir: flexibel und adaptionsfreudig. Wir werden nicht mehr streiten, uns nicht mehr auflehnen. Wir werden sein, wie man sein muss, wie Gott befiehlt oder wie Film und Fernsehen befehlen, wie die Liebeslieder und Modemagazine befehlen, oder wie die feministischen Bücher und die Selbsthilfe-Ratgeber befehlen. Und so … so werden sie uns lieben.

Seit wie vielen Jahren schon dröhnt dieser martialische Trommelwirbel in unseren Köpfen? Wie fing es an mit unserem Wunsch, perfekt zu sein? Wie begannen wir damit, uns dem Diktat zu unterwerfen?

Ich weiß nicht, wie du damals funktioniertest, aber es genügte mir zu sehen, wie du unentwegt mit irgendwas beschäftigt warst, um zu wissen, auch bei dir drehte sich alles um »Ich muss mehr schaffen, ich muss mehr sein«. Was ich ebenfalls nicht weiß, weil wir nie darüber gesprochen haben, ist, ob das Hämmern bei dir noch die Gestalt einer inneren Stimme hatte, die dich aufscheuchte, oder ob es dir schon in Fleisch und Blut übergegangen war. In mir hatte sich »Am Montag, am Montag!« – dieser Wunsch, mit dem nächsten Wochenbeginn würde eine andere Zeit anbrechen, in der meine Willenskraft mir ein ganz neues Leben ermöglichte – schon lange festgekrallt. Das war mein Alarmsignal, wenn mein Kopf sich in schlüpfrige Gefilde bewegte, aus denen es, wenn ich nicht aufpasste, kein Zurück mehr geben würde. Wie Treibsand, in den man gerät. »Ab Montag, ab Montag!«, hatte bei mir angefangen, lange ehe wir uns kennenlernten; schon als ich zwölf war und mich mein Körper und die Folgen seiner Wandlung in Unruhe versetzten, mir ständig das Gefühl gaben, ich hätte mich nicht mehr unter Kontrolle.

Damals verfiel ich auf das Ritual, Listen zu schreiben, Unmengen von Listen gegen die bedrohlichen Impulse, die das Leben aussandte. Wenn mich die Fantasien überfielen, vor allem die sexuellen, tat ich alles, um sie abzuwehren, sie wegzuscheuchen. Um zur Wirklichkeit zurückzufinden, der erregten Einbildungskraft zu entrinnen, erstellte ich Listen all dessen, was ich ab Montag tun würde: Arbeits-, und Diätpläne, Anzahl und Art der zu absolvierenden Fitnessübungen, genaue Zeitkalkulation für Schularbeiten, Sport, Schlafen, Atmen. Alles, um organisierter zu sein, ordentlicher, braver. Alles, um die Beklemmung der verbotenen Wege, die sich in mir, in meinem Körper kreuzten und verwirrten, hinter mir zu lassen. Eben darum ging es: Ab Montag wäre ich wieder das gute Mädchen, das ich früher gewesen war, ohne dieses Pochen, das sich durch mein Fleisch zu schlängeln schien, ohne das Begehren, und dann – nur dann – würde ich akzeptiert, würde ich geliebt werden.

Hat es bei dir auch so angefangen? Oder ließen sie dir keine Zeit für die Angst, du könntest durchgehen wie ein wildes Pferd? Hattest auch du das Gefühl, du seist es nicht mehr wert, geliebt zu werden, weil du dich in einen gefährlichen Körper verwandelt hattest, der unter dem Blick der Männer zuckte, die dich von oben bis unten musterten? Oder vielleicht fühlte sich das alles für dich natürlicher an. Deine Eltern und meine, obwohl sie aus demselben kargen Dorf auf der anderen Seite der Meerenge kamen, hatten nicht die gleiche Mentalität.

Doch was uns widerfuhr, beschränkte sich nicht auf den engen Familienkreis. Wir waren eine neue Art weiblicher Wesen, geboren und aufgewachsen in Gefilden, wo die exotische Sitte herrschte, erwachsene Frauen tun zu lassen, wozu sie Lust hatten, anders als im Land unserer Eltern. Wir gaben vor, es nicht zu merken, doch auf uns lastete ein ständiger Verdacht: Wenn man uns nicht an die kurze Leine nahm, würde es keine Möglichkeit geben, uns auf dem rechten Weg zu halten. Deshalb dröhnt der Trommelwirbel so tief in unserem Innern.

Die Zügel, die man uns anlegte, waren vielfältig und lenkten manchmal in gegensätzliche Richtungen. Die Familie, die Nachbarschaft, die Vorgesetzten bei der Arbeit, die Modezeitschriften, die Kleidergeschäfte, in denen es nie unsere Größe gab. Die einen wollten uns mit prächtigen Locken, damit wir in das exotische Schema passten, das sie so sehr faszinierte. Seht nur, das Unbekannte! Die anderen verlangten von uns glattes, langes Haar, schwarz wie die Nacht – Schönheitsideal uralter Dichter, deren Verse bis ins abgelegene Dorf unserer Eltern vorgedrungen waren. Allerdings immer säuberlich zum Dutt eingerollt oder zu Zöpfen geflochten. Die einen fanden, unsere Haut solle braun sein, die anderen wollten uns weiß. Die einen wollten uns als Gegenbild zur Stattlichkeit unserer Mütter, die anderen wünschten uns so dick wie möglich. Aber immer ging es darum, so zu sein, wie man sein sollte, und nicht so, wie wir waren.

Hast du dir manchmal ausgemalt, wie es gewesen wäre, wenn wir all diese Fallen erkannt und ohne zu zögern »Nein!« geschrien hätten? Wenn wir das, was wir waren, verteidigt hätten? »Nein, nein und nochmals nein!« Wenn wir uns aufgebäumt und gerufen hätten: »So bin ich und so bleibe ich! Dass ich etwas wert bin, sagt mir mein Gefühl!«

Hast du dir einmal vorgestellt, wie es wäre, wenn wir die Zeit zurückdrehen und unsere Jugend noch einmal haben könnten – ohne die tausend Hindernisse, die man uns in den Weg legte, und die tausend weiteren, die wir uns selbst ausdachten? Aber das erkannten wir damals nicht. Dafür brauchten wir erst ein Leben voller enttäuschter Bemühungen, dafür mussten wir erst tausendmal auf die Nase fallen und uns wieder aufrappeln. Erst als das Korsett, das uns einschnürte, uns beinahe erstickte, konnten wir uns entschließen, es zu sprengen.

Ich weiß nicht genau, wie bei dir das stählerne Netz aussah, das uns abverlangte, uns fortwährend selbst zu verstümmeln. Aber ich weiß, dass es auch für dich schlimme Folgen hatte, wenngleich du sehr anders damit umgegangen bist als ich. Ich habe immer bewundert, wie ganz du warst, wie unbeirrt – wie du es schafftest, dich wirklich nach jedem Straucheln gleich wieder zu erheben. Deinen Mut habe ich bewundert, die Leichtigkeit, mit der du kühne Entscheidungen trafst, über die ich mir nächtelang den Kopf zerbrochen hätte. Du nicht, du löstest jedes Problem im Nu. Nie vom Zweifel gehemmt, immer voller Tatkraft, und da, wo ich ewig grübelte, wusstest du auf Anhieb, was zu tun war. Produktiv, pragmatisch, stets zum Lachen aufgelegt, von einer strahlenden Lebensfreude – das krasse Gegenbild zu den Schatten, die mir oft auf dem Gemüt lasteten. Vielleicht liegt es gerade daran, an der Fröhlichkeit, die immer von dir ausging, dass ich deinen verborgenen Schmerz nicht aufspüren konnte. Du erschienst plötzlich in meinem Leben und warst das Bild all dessen, was ich gerne sein wollte und nicht war.

Ich weiß nicht, ob ich das Recht habe, über dich zu sprechen, aber ich muss es tun. In den entscheidenden Jahren meines Lebens warst du der wichtigste Mensch für mich. Ohne dich, da bin ich mir sicher, wäre dieses, mein Leben ganz anders verlaufen. Ich wurde in deinem Schutz erwachsen, du warst mein Halt, ohne dich hätte ich nicht überlebt. Jetzt klingt mir deine Stimme im Ohr: »Übertreib mal nicht, Kleine. Immer musst du alles dramatisieren.«

Aber es ist wahr – dich bei mir zu haben, bewahrte mich vor der finstersten Verzweiflung. Und davor, den Verstand zu verlieren.

Ich werde deinen Namen nicht nennen und ein paar Züge von dir verfremden, damit entferntere Bekannte dich nicht identifizieren können. Auch so weiß ich nicht, ob ich imstande bin, von den Jahren zu erzählen, in denen wir zusammen unterwegs, in denen wir füreinander da waren. Aber es ist mir ein Bedürfnis. Damals machten wir es uns nicht klar, doch wir erschlossen neues Terrain. Wir taten Dinge, die für unsere Mütter undenkbar gewesen wären. Wir zerrissen nach und nach alle Schleier, wir durchbohrten undurchdringliche Mauern mit einem winzigen Löffelchen, und wir merkten es gar nicht. Wir dachten, wir tun nur, was wir nicht lassen können, doch jede kleine Kerbe, die der Löffel in den Stein schabte, war ein Stückchen Freiheit, das wir eroberten.

Dass diese Freiheit für immer durchzogen blieb von unsichtbaren Fäden, die sie an Bedingungen knüpfen wollten, konnten wir nicht sehen. Nein, wir hielten uns an diesen Fäden fest – an irgendetwas mussten wir uns ja festhalten, während wir aus der Welt heraustraten, in die wir hineingeboren waren. Denn man kriegt nicht mehrere Revolten auf einmal hin. Und so merkten wir nicht, wie sich die Fäden nach und nach um uns wickelten und uns von Neuem fesselten. Als wir sie dann doch spürten, weil sie begannen, uns ins Fleisch zu schneiden, fragten wir uns, ob wir uns in unser Schicksal fügen, alle Hoffnung fahren lassen müssten. Es schien doch keinen Raum der echten Freiheit für uns zu geben, es schien unmöglich, sie aus eigener Kraft zu erlangen. Oder ob wir uns noch mehr, immer mehr Fallen stellen sollten, um den schrecklichen Zweifel nicht zu hören: dass die Freiheit vielleicht gar nicht existierte. Dass wir aus einer Welt der Unterdrückung geflohen waren, bloß um in einer Welt mit anderen Formen der Fremdbestimmung zu landen. War all unsere Mühe umsonst gewesen?

Enterbt, verbannt, aus der Siedlung geflüchtet, blieb uns nichts außer unserer Fähigkeit, uns anzustrengen. Und immer mächtiger wurde der Zweifel: Was, wenn all die Schinderei nichts nutzte? Wenn wir es nie schaffen würden, diejenigen zu werden, die wir werden wollten? Wenn die Kraft unserer Körper und das Hämmern in uns, das uns immer antrieb, mehr zu schaffen, mehr zu sein, nicht ausreichten für das andere Leben, nach dem wir uns sehnten?

Ich weiß nicht, ob ich imstande bin, unsere Geschichte der kleinen großen Siege zu erzählen, die Geschichte unserer Jugend in der Ungewissheit. Ich würde es nicht tun, würde nicht über uns sprechen, wenn ich jetzt nicht überall Mädchen sähe, die sind wie wir – Mädchen, die mir von ihrem Leben erzählen, und es klingt schmerzhaft ähnlich wie bei uns. Junge Frauen mit dem Trommelfeuer im Kopf, beim Versuch, aus dem Schützengraben zu entkommen, aus Stadtvierteln wie unserem, aus Elternhäusern und Familien wie unseren, wo ihnen die gleichen Steine in den Weg gelegt werden wie uns. Wenn sie mit mir reden und ich mich in ihren Worten gespiegelt sehe, dann denke ich, ja, es muss erzählt werden, was wir erlebt haben: für uns selbst, für unsere Wunden – die offenen und die vernarbten –, vor allem aber für sie. Denn sie haben ein Recht darauf, unser Gedächtnis mit uns zu teilen, sofern sie es wollen. Obwohl es bloß ein kleines Gedächtnis ist, die Erinnerung an ein letztlich doch konventionelles Leben. Wir waren keine Heldinnen, das strebten wir gar nicht an – wir wollten nur sein, sein, sein! Auch wenn wir am Montag, Montag, Montag abermals versuchen würden, uns in etwas zu verwandeln, was nicht wir waren. Denn wir wollten nicht nur sein, wir wollten außerdem geliebt werden. Und vielleicht gibt es in einem bestimmten Alter und unter bestimmten Umständen wirklich keine andere Möglichkeit, man selbst zu sein, als heimlich, innerhalb der vorgegebenen Formen.

Dies ist die Geschichte unserer gescheiterten Versuche, frei zu sein, obwohl wir uns anpassten, und die Geschichte unserer endgültigen Flucht, als uns bewusst wurde, dass das eine mit dem anderen nicht vereinbar war. Es ist die Erzählung von dem Strudel, in den die Emanzipation uns hineinriss. Es ist auch eine Erzählung von Einsamkeit und Entwurzelung.

Heute, nach all der Zeit, habe ich das Bedürfnis, wieder so mit dir zu sprechen wie damals, deine Aufmerksamkeit zurückzugewinnen, und sei es in der Illusion des weißen Papiers, um jenen langen Jahren der täglichen Erschütterungen nachzuspüren, der Geschichte unserer Körper, die Geiseln waren in für uns unüberschaubaren geografischen oder historischen Konflikten. Weltpolitik, philosophische Systeme und internationale Spannungen wurden auf dem Fleisch von unbedeutenden Frauen wie uns ausgetragen, in einer namenlosen Siedlung, die nicht einmal in den Stadtplänen verzeichnet ist. Ich schreibe dir, um dich wiederzufinden, aber auch, um das Mädchen wiederzufinden, das ich selbst war.

Erster Teil

1

An dem Tag, als wir uns kennenlernten, gingen wir beide kurzärmelig. Damals galt es in unserer Siedlung in den Außenbezirken der Außenbezirke Barcelonas (es hätten auch die Außenbezirke der Außenbezirke jeder anderen Stadt sein können) noch nicht als anstößig, wenn junge Mädchen ihre Arme zeigten. Heute trifft dort kein Sonnenstrahl mehr auf ihre Haut, die Härchen auf ihren Unterarmen bleichen im Sommer nicht mehr aus, kein Tropfen Wasser spritzt mehr auf ihre nackten Rücken. Und das nicht, weil nun immer kühles Wetter wäre, sondern weil der Obskurantismus die Köpfe der Menschen gekapert hat und dort auf keinen Widerstand stieß. Viele von den verhüllten Mädchen, die du heute im Viertel sehen würdest – es sind viel mehr als damals, als deine Familie dort ankam –, sagen, sie verzichteten freiwillig, aus eigener Überzeugung, auf Sonne und frische Luft, auf Meer und Schwimmbad, auf Liebe und Sex. Manchmal diskutiere ich mit ihnen, wenn ich meine Mutter besuche, die immer noch dort lebt. Aber das ist so, als würde mein Ich von heute sich mit meinem siebzehnjährigen Ich unterhalten. Auch wir verzichteten ja bewusst auf Dinge und glaubten, das sei, weil wir es selbst so wollten.

Als wir uns kennenlernten, gingen wir also beide kurzärmelig. Ich war damals draußen immer geduckt unterwegs, mit gekrümmtem Körper, als wollte ich mich vor den Blicken der Leute verstecken. Egal, wer mir begegnete, jedes Mal duckte ich mich. Dieser Körper war meiner, doch er machte mich beklommen, weil ich nicht wusste, wie ich mich von ihm lösen konnte. Als ich dich zum ersten Mal ansah, erblickte ich ein strahlendes Gesicht. Dein Lächeln steckte mich an, Widerstand zwecklos, doch als ich dir in die Augen schaute, merkte ich gleich, dass in der Tiefe, unter all dem liebenswerten Funkeln, ein Schatten nistete, den ich nicht deuten konnte. Mein geduckter Körper und der Schatten in deinem Blick waren Früchte der gleichen Wunde, aber das war damals weder dir noch mir klar.

Wenn es Nacht wurde in unserer Hochhaussiedlung, schienen die erleuchteten Fenster Hunderter winziger Wohnungen Augen zu sein, die uns beobachteten. All unsere Bewegungen, unsere Gespräche, Gesten und Taten waren öffentlich, spielten sich unter den Augen der ganzen gestapelten Nachbarschaft ab. Nachbarinnen und Nachbarn, die tatsächlich einen großen Teil ihrer Zeit damit verbrachten, unser Leben zu überwachen. Ich denke oft an Sam, die in der Etage unter uns wohnte und jedes Mal in schallendes Gelächter ausbrach, wenn jemand ihr erzählte, was über sie geredet wurde.

»Als würde mich das kümmern. Leben und leben lassen«, sagte sie dann immer.

Und vielleicht war ich deshalb so oft bei ihr und saß mit ihr auf ihrem Bett mit den ausgeleierten Sprungfedern – wenn wir uns hinsetzten, rutschten wir immer gegeneinander. Ihr Zimmer war voller Schachteln und Tüten, die nirgendwo anders Platz fanden. Ich weiß nicht, ob sie sich immer noch Sam nennt oder Samira. Erinnerst du dich, wie wütend sie wurde, wenn wir sie bei ihrem vollen Namen nannten? Weil der nach bravem Mädchen klang, nach einer, die sich mit 14 verheiraten lässt und mit 15 das erste Kind bekommt. Sie wollte, dass wir sie Sam nannten, weil sich das moderner anhörte und besser zu dem passte, was sie außerdem noch sein wollte: schwarz. Wir lachten darüber, aber sie war überzeugt, dass sie es schaffen würde.

»Wir Moras sind gar nichts«, sagte sie zu uns, »wir kommen weder in Videos noch in Filmen vor, wir existieren nicht. Wir tauchen, wenn überhaupt, höchstens in den scheißlangweiligen Reportagen im zweiten Programm auf. Im Fernsehen zeigen sie uns höchstens mal von Weitem oder von hinten, als Gruppe, alle verschleiert, als wären wir Teil einer Herde in der Savanne. Wir machen nichts, wir singen nicht, wir tanzen nicht. Aber die Schwarzen, die sind cool, die haben ihre Musik, ihre Serien, die stehen im Licht. Die werden nicht analysiert, sondern bewundert.«

Samiras gab es durchaus einige in unserem Viertel, obwohl Schulpflicht galt und die Ehe mit Minderjährigen verboten war. Waren die Jahre im Voraus arrangierten Verbindungen mit einem Cousin aus dem alten Dorf, der Einreisepapiere brauchte, etwa keine Kinderehen? Alles für das Wohl der Familie. Wenn die Samiras etwas anderes wollten, rissen sie sich gefälligst zusammen, genauso wie ihre Eltern sich zusammenrissen und Tag für Tag Kartoffeln mit Dosentomaten aßen, weil frisches Essen zu teuer war und ja jeden Monat Geld an die Angehörigen auf der anderen Seite der Meerenge geschickt werden musste. Alles war Teil desselben Opfers: billig essen, in Wohnungen mit niedrigen Decken und verzogenen Resopalschränken hausen, jede Überstunde abreißen, die möglich war, und die Tochter mit 14 Jahren dem ältesten Sohn eines Bruders geben, der sonst keine Chance hätte, über die Grenze zu kommen. Wenn sie 15 wurden, schoben die Samiras schon ihr erstes Baby im Kinderwagen herum, und niemand sang ihnen Liebeslieder.

Tatsächlich hatte Sam sehr kleine und sehr krause Locken, und immer bekam sie gesagt, ihr Haar sei wie bei einer Schwarzen. Dir sah sie gar nicht ähnlich. Sie hatte die vollsten Lippen aller Mädchen, die ich je gekannt habe, herzförmig und so prall, als könnten sie jederzeit bersten. Ich stellte mir vor, wie Männer mit dem Finger über diese Lippen streichen würden, wie sie den Wunsch hätten, hineinzubeißen. Aber wenn mir solche Gedanken kamen, kehrte ich schnell zu Montag, Montag zurück, zu den Listen im Kopf, Listen über Listen, um die Erregung zu bremsen.

Was mir allerdings nicht immer gelang. Ja, als wir uns kennenlernten, Ende der 90er, war ich schon in der Phase. Besessen von einer Selbstbeherrschung, zu der ich nie imstande sein würde, überzeugt, dass ich sonst nicht erreichen könnte, was ich mir vorgenommen hatte: die besten Noten schreiben, einen normalen Körper haben anstatt dieser Verwirrung aus geradezu monströsem Fleisch, Englisch lernen, einen Roman schreiben, alle Bücher lesen und herauskommen aus diesem Loch, in dem wir lebten – um zu reisen, etwas anderes kennenzulernen als unser Hochhausviertel mit den niedrigen Decken.

Sam kannte ich aus der Schule. Allerdings hatte sie das Lernen nie sonderlich interessiert, und sie ließ es nach dem ersten Abschluss sein. »Alte, bei mir bleibt eh nichts hängen« – sie nannte mich immer Alte.

Und als sie mich dir vorstellte, fügte sie hinzu: »Sie ist eine widerliche Streberin. Meine Mutter sagt dauernd zu mir, du müsstest sein wie die Tochter von Muh und nicht so ein verrücktes Huhn.«

Im Viertel nannten sie mich die Tochter von Muh und in der Schule Streberin, manche auch Streber-Mora. Die Jungs, die meisten von ihnen ebenfalls Moros, sagten, ich hielte mich wohl für was Besseres, aber ich solle mir bloß nicht einbilden, dass ich durch die Streberei irgendwann keine Mora mehr wäre. »Du bist eine scheiß Mora, genau wie wir.«

Natürlich gab es auch christliche Schüler. Die nannten wir so, weil sie bei uns zu Hause so genannt wurden, da war die Welt aufgeteilt zwischen Moros und Christen. Auch die Christen nannten mich Streberin oder Streber-Mora, je nach Tag und Stimmung, je nachdem, ob es gerade Streit gab oder nicht. Vielleicht lag es an all diesen unsichtbaren Grenzen in der Schule, dass ich mich grundsätzlich mit Büchern wohler fühlte als mit Menschen.

Wenn Sam mich Streberin nannte, dann mit Bewunderung. Ich würde es weit bringen, wiederholte sie unermüdlich – nie hätte sie geglaubt, dass ich mir trotz meiner guten Noten völlig unzureichend vorkam. Schrieb ich eine Eins minus, verfolgte mich der fatale Fehler, der mir das Minus beschert hatte: ein unverzeihlicher Makel, der bewies, dass ich doch zu nichts fähig war, zu nichts taugte. Wenn die anderen mich für intelligent hielten, dann nur, weil es mir irgendwie gelang, sie alle zu täuschen, meine heillose Dummheit vor ihnen zu verbergen.

Viele Jahre lang geißelte ich mich auf diese Weise ständig selbst: Mein großes Vergehen war meine Mittelmäßigkeit, dafür verdiente ich allen Schmerz der Welt. Deshalb traf ich mich so gerne mit Sam und redete mit ihr – weil sie eine leuchtende Jugend hatte und nicht so eine gestörte und krankhafte wie ich.

Dass ich so viel las, führten sowohl Sam als auch meine Mutter und alle aus dem Viertel darauf zurück, dass ich besonders lerneifrig war. Du weißt ja, so sehen unsere Familien Bücher: als Werkzeug für gute Schulabschlüsse, als Ausweis von Ernsthaftigkeit und vorbildlichem Betragen. Hätten meine Eltern die Romane lesen können, die mich nachts erregten, dann hätten sie sie mir verboten, so wie sie beim Fernsehen umschalteten, sobald sich ein Kuss anbahnte. Doch da sie Analphabeten waren, glaubten sie an die moralische Erbaulichkeit jeglicher Schrift. Schließlich fußte unser Leben als Muslime auf dem heiligen Buch – unvorstellbar, dass ein Gegenstand, der dem Koran ähnelte, Dinge enthielt, die man nicht laut sagen, oder gar solche, die man nicht einmal denken durfte.

Ich versuchte es zu vermeiden, weil ich mich danach immer unerträglich schämte, aber oft, wenn in einem der Bücher ein paar Absätze der Schilderung einer Liebesbegegnung oder einer Sexszene gewidmet waren, las ich sie wieder und wieder und konnte meine Hand dann nicht daran hindern, zu der Feuchtigkeit zwischen meinen Beinen hinabzuwandern. Ich hielt dabei den Atem an und bewegte mich so wenig wie möglich, um meinen kleinen Bruder, der im unteren Bett schlief, nicht zu wecken. Wenn die Explosion der Lust eintrat, weinte ich. Ich weinte immer nach dem Orgasmus. Nicht einmal mit dir konnte ich darüber reden.

Wenn ich heute die Absätze wieder lese, die mich damals so sehr erregten, staune ich, wie harmlos sie sind. Sie nennen fast nichts beim Namen, das meiste war bloß Frucht meiner blühenden Fantasie.

Ich las aber auch, weil ich Angst vor dem richtigen Leben hatte. Das wusstet ihr alle nicht, weder meine Familie noch du noch Sam. Sam hatte Freude am Leben, sie sprach ungehemmt von Jungs und flirtete mit ihnen, ohne dass sie wirklich bei ihr landen konnten. Sie galt als »leichtes Mädchen«, weil sie freimütig lachte und sich kleidete, wie sie wollte – und ihre Eltern ließen es zu. Sam hatte keine Angst davor, schön gefunden zu werden. Ich bewunderte und beneidete sie für ihre spontane, aufgeschlossene Art, und dass sie auf so unantastbare Werte wie ihren guten Ruf oder die Familienehre einfach schiss. Wenn ich an sie denke, klingt mir immer Cyndi Laupers Girls just want to have fun im Ohr. Das wäre damals für uns richtig gewesen, das war, was wir hätten tun sollen: unsere Jugend genießen.

Doch was so simpel klingt, war etwas völlig Neuartiges. Nie zuvor hatte es geheißen, dass Mädchen Spaß haben sollten. Und wenn doch unsere Mütter, kaum der Kindheit entwachsen, schon selbst Kinder bekommen hatten, wie sollten wir dann wissen, was Jugend bedeutet? Im Land unserer Eltern gab es so etwas nicht. Wie sollten wir ganz normale, unbeschwerte Mädchen der Jahrtausendwende sein, wenn hundert erleuchtete Fenster uns belauerten?

Ich war überzeugt, dass ich alles über das Leben aus Büchern lernen konnte – alles über Liebe, Sex, Freiheit, über was auch immer. Etwas gelesen zu haben, so glaubte ich, sei das Gleiche, wie es selbst erlebt zu haben. Wo sollte der Unterschied liegen? Du, in deiner pragmatischen Art, beide Füße fest auf dem Boden (wobei ich glaube, in unserem Viertel waren eh alle viel pragmatischer als ich), würdest zu mir sagen: Blödsinn, es ist eine Sache, etwas hier zu kapieren – und dazu würdest du dir auf eine Weise an die Stirn tippen, die sehr typisch für uns oder vor allem für unsere Mütter ist –, und eine ganz andere, es wirklich zu tun. So wie ein Kochrezept, würdest du sagen: Du liest es, und alles passt, aber dann machst du dich ans Werk, und siehe da, manches klappt, manches nicht. Warum? Aus tausend Gründen. Kleine – du nanntest mich nicht Alte, sondern immer Kleine –, in den Büchern steht nicht alles. Nicht mal in den Kochbüchern. Sie verraten dir nicht, was die Köche wissen und wovon sie glauben, dass es allen klar sei. Sie sagen dir nicht, welches Mehl genau, oder ob Gasherd, ob Elektro. Es gibt tausend Dinge, die das Rezept verschweigt und die du erst rausfindest, wenn du selber kochst. Das Leben wird gelebt, nicht gelesen.

Na ja, ich weiß nicht, ob du wirklich so geschwollen reden würdest. Du warst tiefsinnig, deinem Alter weit voraus, aber du sprachst immer klar und verständlich. Deshalb riefst du später, als wir uns besser kannten und ich dich ohne Ende zutextete, gerne: »Stopp, Kleine, stopp, stopp, stopp, ich verstehe kein Wort von dem, was du redest.«

Was mir damals nicht gelang dir zu sagen, ist, dass das Lesen – mich als Teil einer Welt zu fühlen, die nichts gemein hatte mit unserer eigenen, viel zu engen Wirklichkeit; mich in eine Hauptfigur mit kleinen und großen Abenteuern hineinzuversetzen – meine Art war, mich auf das Leben vorzubereiten. Sicher, es waren nur Trockenübungen. Aber sie gaben mir den Halt, um nicht in all den Normen zu ertrinken, die man uns auferlegte.

Und es war eine Art, das Leben kennenzulernen, ohne dass es mich überfordern konnte. Wenn ich in ein Buch eintauchte, ließ ich meinen Körper ein Stück hinter mir, er schien mir dann nicht mehr ganz so bedrohlich, auch wenn er manchmal aus seiner Lethargie erwachte, bei einem der Absätze, die ich erregend fand.

Auf mich selbst fixiert, wie ich war, merkte ich anfangs gar nicht, dass auch euch mit euren Körpern Dinge geschahen, über die wir nicht laut reden konnten. Heute weiß ich, hinter der Sprachlosigkeit stand die Angst vor der Lust, vor der Liebe, vor dem Sex, vor der Freiheit. Aber auch die Angst vor Übergriffen, vor den furchtbaren Folgen, die es haben konnte, das Begehren von Männern zu wecken – ein bedrohliches Begehren, vor dem unsere Mütter uns immer gewarnt hatten, schon als wir klein waren. Geh nicht alleine, geh nicht im Dunkeln, der Wolf liegt auf der Lauer. Und als wir uns in Frauen verwandelten, in Jungfrauen, wuchs die Gefahr ins Unermessliche. Doch all das begriff ich erst Jahre später.

Du kanntest Sam von früher. Eure Eltern waren in dem Dorf auf der anderen Seite der Meerenge Nachbarn gewesen, und nachdem ihr hier ins Hochhaus gezogen wart, ein paar Etagen über uns, nahmen sie den Kontakt wieder auf. Wir standen mitten auf dem Platz zwischen den drei Wohntürmen, als Sam uns einander vorstellte. Alle Fenster beobachteten uns. Wie gebannt standen wir uns gegenüber, du und ich. Was würde ich dafür geben, diesen kostbaren Moment noch einmal erleben zu dürfen! Wie ich mich sofort zu dir hingezogen fühlte, ein körperlicher Impuls, nicht dem Willen oder Verstand unterworfen. Während uns die Sonne sanft den Rücken wärmte, spannte sich ein unsichtbares Gummiband zwischen uns, das uns dann immer wieder zueinander zog, sodass uns von nun an jeder beliebige Vorwand recht war, um uns zu treffen. Liefen wir uns draußen über den Weg, blieben wir stundenlang stehen, ins Gespräch vertieft. Kam ich dann nach Hause, stellte meine Mutter mir tausend Fragen, wo ich war.

»Du konntest mich vom Fenster aus sehen«, antwortete ich, »ich stand da unten mit einer Freundin.«

»Dein Glück, dass er nicht da ist.«

Meine Mutter sagte immer er anstatt dein Vater.

Manchmal trafen wir uns zu dritt in Sams engem Zimmer, manchmal begegneten wir uns im Treppenhaus. Ich kann mich nicht erinnern, was genau wir dann stundenlang im Stehen besprachen, wohl aber an das Kribbeln, die spontane Zutraulichkeit, mit der ich dir meine Geheimnisse verriet und die ich nie zuvor verspürt hatte.

Allerdings hatte ich damals solche Angst davor, es könnte schlecht über mich geredet werden, dass ich mich bemühte, überhaupt nichts zu verbergen zu haben, nichts Fragwürdiges zu tun. Der Grund war nicht mein Gewissen, sondern die Sorge, die Privilegien einzubüßen, die man mir gewährt hatte: dass ich das Gymnasium besuchen oder für bestimmte Erledigungen aus dem Haus gehen durfte – solche Freiheiten waren für Frauen wie meine Mutter unerhört, sie verließen das Haus höchstens einmal in der Woche.

Geheimnisse zu haben war viel zu riskant, und wenn doch, dann hätte ich sie niemandem aus dem Viertel anvertraut. Jedes Gerücht durchlief die drei Türme wie eine brennende Zündschnur, die Wände hatten Ohren. Deshalb wurde ich auch die Stumme genannt. In der Nachbarschaft machte ich kaum den Mund auf, ganz anders als in der Schule, wo ich redete wie ein Wasserfall, im Klassenraum, auf den Fluren, im Speisesaal. Im Gymnasium war ich die Einzige aus unserem Viertel, denn damals gab es in Spanien noch die Primarschule bis zum vierzehnten Lebensjahr, und die wenigen aus unserer Gegend, die danach überhaupt weitermachten, wechselten dann auf eine berufspraktische Schule.

Ich erinnere mich nicht, ob wir uns mit Küsschen begrüßten und worüber wir am ersten Tag sprachen. Ich erinnere mich an dein Lächeln, an dein glattes Haar, zum Pferdeschwanz gebunden; dass ich deine Wangenknochen imposant fand und dass du deine Mandelaugen damals schon schwarz umrandetest.

Eigentlich war es uns Unverheirateten untersagt, die Augen zu schminken, das war den Ehefrauen vorbehalten. Aber ich habe dich immer mit diesem eindringlichen Blick gekannt, mit den Brauen als Rahmen, wie auf persischen Miniaturen. Du verkörpertest das Schönheitsideal unserer Mütter, helle Haut und runde Hüften, auch wenn dein Gesicht voller Pickel war und du halb in dich selbst vergraben schienst. Dein Oberkörper war schlank, wenig Brust, schmale Schultern, doch von der Gürtellinie abwärts gingst du in die Breite, als hätte man dich auf einen anderen Unterkörper gepflanzt, langsamer und träger, um dich am Davonfliegen zu hindern. Waren das Gedanken, die mir an jenem Mittag auf dem Platz kamen? Oder sehe ich erst heute in deinen breiten Hüften und Schenkeln und den Pickeln in deinem Gesicht eine Art Maßnahme, um dich vor der Welt zu schützen, so wie es bei mir das ständige Geduckt-Gehen war?

Schon bald verbreiteten sich im Treppenhaus Gerüchte über dein Leben, über das, was dir vor deiner Landung in unserem Viertel widerfahren sein sollte. War an dem Klatsch etwas dran, dann rührte der Schatten auf dem Grund deines Blicks von einer sehr verständlichen Traurigkeit her, auch wenn du immer so fröhlich wirktest. Ich glaubte damals aber aus Prinzip nichts von all dem Gerede. Wenn meine Mutter zu mir sagte: »Weißt du, was die Tochter von Soundso gemacht hat?«, zuckte ich mit den Schultern und erwiderte: »Weder ich habe es gesehen noch du, also können wir nicht wissen, ob es wahr ist, und sollten uns kein Urteil erlauben.«

(Immer ging es bei den Gerüchten um Mädchen oder Frauen; Männer waren für die Brigade Sozialkontrolle der drei Türme nicht von Interesse.)

Meine Mutter nahm dann die Person in Schutz, von der sie den Klatsch gehört hatte, und zum Beweis, dass es keine Lüge sein könne, sagte sie, sie hätte bei Gott geschworen.

»Und wer würde es wagen, den Namen des Herrn unnütz zu gebrauchen? Wer, denkst du, würde sagen, ich schwöre beim heiligen Koran, und dann nicht die Wahrheit sprechen?«

Da zuckte ich wieder mit den Schultern, denn meistens ging es bei den Gerüchten eh um harmlose Dinge, die für Mädchen in unserem Alter ganz normal waren. Ob diese mit jenem gesprochen hatte, ob sie nachts draußen war, ob sie einen Job angenommen hatte, bei dem sie den Christen Alkohol ausschenkte oder alten Männern den Hintern abwischte. Jeder Vorwand war recht, um uns daran zu hindern, unsere eigenen Schritte zu tun, so klein sie sein mochten, und gnadenlos wurde über uns Gericht gehalten.

Die Dame aus dem sechsten Stock rechts – Stiefschwester einer entfernten Cousine meines Vaters und von allen Parabòlica genannt, weil sie, sobald ihr etwas zu Ohren kam, zur Telefonzelle rannte und ihr Geld dafür rausschmiss, die Neuigkeiten ins Dorf auf der anderen Seite der Meerenge weiterzutratschen – stand gleich auf der Matte, um meiner Mutter zu berichten, was sie über deine Familie gehört hatte. Sie erzählte ihr, auch wenn du aus demselben Dorf kamst wie die achtbaren Familien unserer raza (sie verwendeten diesen spanischen Begriff, wie sie überhaupt viele Worte aus dem Spanischen entliehen), welche zweifellos die edelste aller razas war, pflegtet ihr lose Sitten, ihr zähltet zu den Leuten, denen »alles egal« sei. Wenn ihr zu Hause Gäste empfingt, mischten sich Frauen und Männer.

Du weißt ja, wie dieses »denen ist alles egal« gemeint war. Es hieß nicht, dass ihr in einem guten Sinn entspannt wirktet, sondern dass es euch an moralischer Strenge fehlte, und das gab zu jeder Art von Argwohn Anlass. Keine Ahnung, wie die Parabòlica darauf kam, euch dergleichen nachzusagen, aber ihr wart noch nicht einmal richtig eingezogen, da haftete euch schon dieses Etikett an. Es erschwerte uns dann die Freundschaft, denn mein Vater sah darin eine Gefahr. Du weißt ja, er sah in so gut wie allem eine Gefahr.

Ich stellte mich immer taub, sobald über dich und deine Familie geschwätzt wurde. Für mich warst du bei Weitem der ehrlichste Mensch, den ich kannte. Und im Gegensatz zu den Nachbarinnen hast du dir nie das Maul über andere Leute zerrissen. Vertraute man dir etwas an, so behieltst du es für dich, wie eine Ärztin, die ihre Schweigepflicht wahrte.

Die Parabòlica wurde aus mir nicht schlau. Wenn sie uns besuchte und in unserem kleinen Wohnzimmer Platz nahm, schob sie ihr Kleid hoch, bis darunter die Hosen zum Vorschein kamen, hakte die Finger in ihrem geflochtenen Gürtel ein, um ihn zurechtzurücken, und musterte mich von oben bis unten, auf eine Art, die mich nervös machte. Dann sagte sie: »Vor ein paar Tagen habe ich dich gesehen, aber du hast mich nicht mal bemerkt. Immer bist du so hastig unterwegs, immer mit gesenktem Blick. Natürlich bist du ein vorbildliches Mädchen.«

Das klang, als würde sie mich fragen: Was hast du zu verbergen? Irgendwas wird es doch sein, und über kurz oder lang finde ich es heraus.

Ich war damals, wie gesagt, darauf versessen, mein Leben mit Listen und Fitnessübungen unter Kontrolle zu halten, und ich las, so viel ich konnte. Nur weil ich zu keinem einzigen Gerücht Anlass gab, konnte ich weiter aufs Gymnasium gehen. Nie war meinem Vater irgendetwas Negatives über mein Betragen zu Ohren gekommen.

»Beim geringsten Fehltritt«, sagte mir meine Mutter in seinem Auftrag, »ist es mit allen Vergünstigungen für dich vorbei.«

Die Parabòlica konnte nicht ahnen, dass sie bald schon ein Vermögen in der Telefonzelle lassen würde, wenn sie von dir und mir und von unseren heimlichen Taten zu berichten hatte.

Kurz nachdem wir uns kennengelernt hatten, begannen wir zusammen zu joggen, du, Sam und ich. Was für eine skandalöse Neuigkeit, Gesprächsthema in allen Wohnungen, Gegenstand erhitzter Debatten: dass Mädchen wie wir, deren Mütter nie ohne einen guten Grund aus dem Haus gingen und schon gar nicht, ohne sich zu verhüllen; dass unverheiratete Mädchen wie wir in einem Viertel wie diesem, mit den Hochhäusern rings um den asphaltierten Platz, einem Viertel, dessen Grenzen ein Dreieck, geformt von einem Fluss, einem Bahngleis und einer Schnellstraße, bildeten, wie verrückte Ziegen über unbefestigte Wege rannten. Hatte man so was schon gesehen? Doch es war nur eine der Kontroversen, die wir auslösten. Kontroversen wegen unbedeutender Handlungen; der Löffel, der am Stein der gewaltigen Mauer kratzte, hinter der wir eingeschlossen waren. Es stimmt, uns war kaum bewusst, was wir taten. Wir waren nur ein paar Mädchen, die ihren Körper in Form bringen wollten und deshalb joggen gingen, so wie die Mädchen im Fernsehen.

2

»He, wartet … ich kann nicht mehr!«

Kaum drei Minuten waren wir in lockerem Tempo gelaufen, da fing Sam schon an zu jammern. Wir spürten, wie uns das Herz klopfte, wie uns das Blut schneller durch die Adern strömte, wie unsere Muskeln warm wurden. Du vorneweg, ich fast auf deiner Höhe, und Sam schleppte sich mit ein paar Metern Abstand hinterher. So trabten wir über die staubigen Wege, die sich im Winter in klebrigen Matsch verwandelten, unidyllische Staubwege mit dem Gewerbegebiet als Kulisse. Von den drei Türmen hatten wir uns ein Stück entfernt. Allerdings hatten wir nicht den Weg in Richtung Stadt genommen, der asphaltiert war, sobald er das Viertel der Häuschen mit Garten erreichte, zweistöckige Häuschen, die uns wie der größte Luxus vorkamen. Wir wollten keinen Nachbarn begegnen, darum waren wir erst hinter den Hügel zu unserer Rechten gegangen, ehe wir losliefen. Du fest entschlossen und ich im Kampf mit dem schwummrigen Gefühl, das mir zu der Zeit nahezu ständig das Denken vernebelte, mit der leichten Beklemmung, die ich für meinen Normalzustand hielt.

Ich konnte nicht glauben, dass wir es wirklich taten, dass wir joggten, obwohl wir nicht wussten, ob uns diese Freiheit gestattet war. Wir würden uns in Form bringen, so wie die Schauspielerinnen im Fernsehen, auch wenn wir in einem Viertel mit zu niedrigen Zimmerdecken lebten – was daran lag, dass die Bauherren vor Jahrzehnten auf den Trick verfallen waren, jedes Geschoss etwas weniger hoch zu bauen als das darunter, um am Ende eine Etage zusätzlich draufsetzen zu können: So ergaben sich diese gestauchten Wohnungen und diese groteske Skyline.

Dir, die du ganz woanders gelebt hattest, kam gar nicht in den Sinn, dass wir etwas Unlauteres tun könnten. Was sollte gegen Joggen einzuwenden sein? Die Geschwätzigkeit der Nachbarn kümmerte dich nicht. Oder du stelltest dich taub. Du erklärtest uns, dass du Sport machen müsstest, denn als du weg warst, hättest du stark zugenommen. Was dieses »weg« bedeutete, sagtest du nicht, und ich schloss daraus, dass du, obwohl bloß zwei Jahre älter als ich, schon einmal ohne deine Eltern gelebt hattest. Sam bohrte bei dir nach und berichtete mir später von der strengen Diät, die du befolgtest, um wieder zu werden wie früher: drei Äpfel am Tag. Da muss mein Gesicht vor Bewunderung geleuchtet haben. Kein anderes Mädchen aus unseren Kreisen hielt Diät, schon gar nicht eine derart strikte. Diät hielten andere Mädchen – glamouröser, reicher, weißer als wir. Mädchen, denen diese Art von Herrschaft über ihren eigenen Körper möglich war, weil sie die Unabhängigkeit genossen, von der wir nur träumen konnten. Ich spürte ja nicht, wie dir der Magen knurrte, ich dachte nicht an den Nährstoffmangel, den bloß drei traurige Früchte am Tag bedeuten mussten, ich machte mir nicht klar, wie einsam du bei deinen paar Bissen in der Küche warst, während der Rest der Familie wie gewohnt um eine riesige Schüssel Eintopf saß und das weiche Brot eintunkte, das deine Mutter buk. Nein, dein grausames, unverhältnismäßiges Opfer erweckte kein Mitleid in mir, denn ich wollte damals genauso sein. Ich sah in diesen Entbehrungen den Beweis deiner Willensstärke und beneidete dich darum.