Eine fremde Tochter - Najat El Hachmi - E-Book

Eine fremde Tochter E-Book

Najat El Hachmi

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Beschreibung

Aufrichtig und mutig erzählt Najat El Hachmi die Geschichte einer jungen Frau, die in Marokko geboren wurde und in Katalonien aufwächst. Während ihre Mutter eng mit der traditionellen marokkanischen Lebensweise und muslimischen Religion verbunden ist, befindet sich die Protagonistin in einem permanenten Konflikt zwischen der katalanischen und marokkanischen Kultur und den Sprachen – ein Zustand, der ihre beidseitige Verbundenheit und zugleich ihre doppelte Fremdheit spürbar macht. Nachdem sie sich zuerst dem Willen der Mutter beugt und einer arrangierten Ehe zustimmt, schafft sie es schließlich doch nach langem inneren Kampf, die Bande zu zerreißen und ihren selbstbestimmten Weg zu gehen. Ein eindrucksvolles, multikulturelles Buch.

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Wir danken dem Institut Ramon Llull für die freundliche Unterstützung bei der Übersetzung dieses Buches.

Najat El Hachmi

Eine fremde Tochter

Roman

Aus dem Katalanischenvon Michael Ebmeyer

Über die Autorin

Najat El Hachmi, geboren 1979 in Nador, Marokko, emigrierte als Kind mit ihrer Mutter nach Spanien und lebt heute in Barcelona. Ihre vielfach ausgezeichneten Bücher beschäftigen sich mit Identität, kultureller Verwurzelung und Entfremdung. Mit „Eine fremde Tochter“ gewann sie den BBVA-San-Juan-Preis und den Preis der Stadt Barcelona für den besten katalanischen Roman.

Über den Übersetzer

Michael Ebmeyer, geboren 1973, Autor und Übersetzer aus dem Englischen, Spanischen und Katalanischen. Er hat Romane wie „Plüsch“, „Der Neuling“ (verfilmt als „Ausgerechnet Sibirien“) und „Landungen“, aber auch Sachbücher wie die „Gebrauchsanweisung für Katalonien“ geschrieben. Übersetzt hat er zuletzt das literarische Fußballbuch „Messi. Eine Stilkunde“ von Jordi Puntí sowie die Lyrikbände „Sprengkopf “ von Néstor Mendoza und „Chaosforschung“ von Rery Maldonado.

Über das Buch

Aufrichtig und mutig erzählt Najat El Hachmi die Geschichte einer jungen Frau, die in Marokko geboren wurde und in Katalonien aufwächst. Während ihre Mutter eng mit der traditionellen marokkanischen Lebensweise und muslimischen Religion verbunden ist, befindet sich die Protagonistin in einem permanenten Konflikt zwischen der katalanischen und marokkanischen Kultur und den Sprachen – ein Zustand, der ihre beidseitige Verbundenheit und zugleich ihre doppelte Fremdheit spürbar macht.

Nachdem sie sich zuerst dem Willen der Mutter beugt und einer arrangierten Ehe zustimmt, schafft sie es schließlich doch nach langem inneren Kampf, die Bande zu zerreißen und ihren selbstbestimmten Weg zu gehen.

Dieser Roman schildert stark und mutig, welche Konflikte Mädchen und junge Frauen mit Migrationshintergrund erleben – hin- und hergerissen zwischen Herkunfts- und Ankunftskultur. Ein faszinierendes, interkulturelles Leseerlebnis und ein Buch zur aktuellen Diskussion!

Für Anaïs

Inhalt

Über die Autorin

Über den Übersetzer

Über das Buch

Eine fremde Tochter

Epilog

Ich werde nicht mehr für euch da sein. Ab jetzt werde ich für mich da sein. Für mich oder für wen ich möchte, aber für niemanden mehr, der mich niedergedrückt und ohne Kopf will.

Heute früh hat sich Raureif gebildet. Er überzog die nach Jauche riechenden Felder der Hochebene, während ich mich in meinem Bett wälzte, das nicht aufhörte zu knarzen. Ein lächerliches Sprungfederbett, zu eng und zu kurz, in meinem immer dunklen Altstadtzimmer. Meine Mutter muss mich gehört haben, sie hat sehr gute Ohren und einen leichten Schlaf. Bei jedem Umdrehen habe ich an sie gedacht und auch jedes Mal, wenn ich das verklumpte Laken zurechtzog.

Ich bin in der Gewissheit aufgewachsen, dass ihr kein Geräusch aus meinem Bett entgeht, dass sie über meine Bewegungen Bescheid weiß und jeden Laut meines Körpers mitbekommt, selbst wenn ich mich gar nicht rege – wie ich atme, wie meine Eingeweide pochen. Im Bett, die Finger um das Kissen gekrampft, sagte ich mir ein ums andere Mal, dass ich nicht an sie denken durfte; dass dies der schwierigste Teil des anbrechenden Tages war; dass ich es schaffen musste, so schwer es mir auch fiel. Ließe ich sie in meinen Kopf hinein, und sei es nur für einen Moment, dann wäre es, als würde ich mich umwenden und zur Salzsäule erstarren.

Wenn ich die muffige, feuchte Luft des Zimmers etwas tiefer in die Nase sog, nahm ich den Geruch meines eigenen Atems wahr, den ich seit Stunden verteilt hatte, die Ausdünstungen meines Körpers. Um mich abzulenken, versuchte ich die Zusammensetzung dieses Geruchs zu bestimmen, die Bestandteile dessen, was mir entströmt und damit bereits tot war.

Die Schlaflosigkeit führte mich in eine Spirale flüchtiger Gedanken, von einem Ort zum anderen, zum anderen, zum anderen – und so weiter, ohne Ende. Diese Eigenart meines Kopfs, immer herumzuflattern, immer kreuz und quer, tut mir manchmal gut. Sie bringt mir Zerstreuung, kann mir zähe Stunden erträglich machen. Heute Nacht ist es aber nur zeitweise so gewesen. Dann wieder wurden die Stunden endlos, unerträglich, beklemmend, klaustrophobisch, und mehr als einmal war ich drauf und dran, aufzustehen und zu fliehen. Ich kann nicht mehr, sagte ich zu mir selbst und tastete im Dunkeln nach dem Resopalnachttisch. Ein altmodisches Resopal, kalt und glänzend, gemasert wie echtes Holz. Aber wo gibt es graues Holz? Ich fand schon immer, dass er ein angeberischer Nachttisch war, mit seinen rostigen Füßen. Resopal ohne Muster, glatt und eingestanden künstlich, wäre für meinen Geschmack würdevoller, wahrhaftiger. All das habe ich heute Morgen gedacht, während ich die Finger über die kalte Oberfläche gleiten ließ und auf diese Weise den Drang bremste, hinauszurennen.

Hinter der Wand, die uns trennte, atmete meine Mutter schwer, und es beruhigte mich zu wissen, dass sie schlief. Sie würde den Schrecken, der sie am Tag erwartete, besser durchstehen, wenn sie ausgeruht war. Vielleicht war diese Nacht für lange Zeit die letzte, in der sie schlafen konnte. Schließlich würde ihr Leben fortan nicht mehr dasselbe sein.

Nach dem Weckerklingeln habe ich es gemacht wie immer. Ich habe mir das Gesicht gewaschen und den Kaffee aufgesetzt. Ich sah mich in der Küche um und wusste, in Zukunft würde es mich beruhigen, mich an ihre Einzelheiten zu erinnern. Nach einiger Zeit würde ich mich fragen: Wie sahen die Türen der Schränke aus? Aus welchem Material waren die Griffe? Welche Farbtöne hatten die Bodenfliesen? Ich habe mir alles genau eingeprägt, um diesen engen, lang gezogenen Raum für immer im Gedächtnis zu behalten. Die vergilbten Möbel, die billigen Oberflächen, die Arbeitsplatte, um die Spüle herum abgeblättert. Der Kühlschrank gleich daneben, auch gelblich geworden mit der Zeit. Es ist die Farbe der Küche, die Farbe des Hauses, die Farbe meines Lebens hier: ein schlaffes Gelb ohne Seele und Leidenschaft, ohne jede interessante Nuance, ein fades Gelb. Ich schaute mir alles an und fühlte mich ein wenig wie die Evelyn in James Joyces Dubliners, bloß dass mich niemand misshandelte.

Ich habe die italienische Espressokanne auf den Herd gesetzt, die Mumna auf dem Markt günstig erstanden hatte und eines Tages mitbrachte, weil sie wusste, dass meine Mutter sich so sehr eine wünschte. Mir kam der Gedanke, dass ich sie ja doch nicht ganz allein zurücklassen werde. Auch wenn wir hier nur zu zweit gewesen sind, sie und ich, kennt sie doch viele Leute, die sie mögen und sich um sie kümmern werden.

Ich habe die Milch angewärmt, als ich hörte, wie meine Mutter im Bad ihre Waschungen vornahm. Ich habe mir vorgestellt, wie sie ihre Arme benetzt, bis zu den Ellenbogen, mit Gesten, die seit ihrer Kindheit dieselben sind, nicht bloß flink und routiniert, sondern ein fester Bestandteil von ihr. Als die Milch zu schäumen begann, habe ich sie vom Feuer genommen und den Topf mit dem Wasser fürs Brot auf den Herd gestellt. Ich ließ das Wasser warm werden und schüttete Mehl in die Teigschüssel, wie immer nach Augenmaß, einen Hügel, dessen Proportionen ich nun fast so präzise beherrsche, wie meine Mutter es verlangt. Natürlich kriege ich das Brot nie so hin wie sie, doch immerhin beschwert sie sich nicht mehr so oft über meinen Mangel an Übung. Ich bohre ein Loch in die Mitte des Hügels, streue das Salz hinein und die Hefe, die ich mit einer gewissen Lust zerkrümelt habe. Das kühlschrankfrische Ferment, wie es sich beim Durchkneten bindet, ruft ein eigenartig angenehmes Gefühl in meinen Fingerspitzen hervor. Ich spüre genau, wie von diesen winzigen Stellen meiner Haut aus die Empfindungen in einen ganz speziellen Bereich meines Gehirns geleitet und von dort aus dann überallhin ausgestrahlt werden. So bin ich, so funktioniere ich, aber ich habe nicht vor, das irgendwem zu erklären. Lust zu empfinden bei Dingen, die eigentlich keine Lust hervorrufen sollten, diese Augenblicke des Wohlgefühls auch noch exponentiell zu steigern und sie in jeden Winkel meiner selbst auszuweiten, das muss verdächtig wirken, das ist ja nicht üblich. Ich weiß nicht, ob andere das auch kennen, ich werde es nicht riskieren, zu fragen.

Wenn schon die Hefe solches Kribbeln bei mir auslöst, dann erst recht das Gießen des lauwarmen Wassers in die Mehlgrube, der Zerfall des kleinen Hügels, das Gefühl, wie der Teig sich bindet und mir an den Handflächen kleben bleibt, in jeder kleinen Falte und an den Häutchen zwischen den Fingern. Was meine Hände spüren, dringt in jeden Winkel meines Körpers vor, auch in Zonen, deren Namen ich nicht kenne und deren Anatomie ich mir nicht vorstellen kann, ich erbebe ganz und gar, auf eine Weise, die niemand sieht oder mitbekommt – und danach fühlt es sich an, als würde ich mich in alle Winde zerstreuen. Es ist wohl eine Art Einssein mit der Welt, eine intime und geheime Seligkeit. Mir diese Lust nicht anmerken zu lassen, hat mich immer enorme Anstrengung gekostet. Wenn ich könnte, würde ich mich ändern, um die Dinge weniger intensiv zu spüren.

Nachdem ich die Zutaten vermengt hatte, stellte ich die Schüssel aus Ton auf den Boden, um mit ganzer Kraft weiter zu kneten. Auf den Knien, die Zehen gegen die Fliesen gestemmt – ich kann mir nichts Sinnlicheres vorstellen. Erfunden habe ich es nicht, meine Mutter hat immer auf diese Weise Brot gemacht. Und auch alle anderen Frauen von dort, ob sie einen großen Küchentisch haben oder nicht.

Als der Kaffee auf dem Herd zu brodeln begann, erschreckte mich die Stimme meiner Mutter mit ihrem üblichen Guten Morgen. Blitzschnell musste ich aus meinem inneren Tumult auftauchen. Wir küssen uns nicht, das ist bei uns nicht üblich. Wenn ich daran denke, wie sie damals in unserem Dorf, bei den Großeltern, alle Frauen mit ein paar Küsschen auf die Wange – oder auf den Kopf, die Großmutter, oder auf den Handrücken, den Großvater – begrüßte, wird mir unbehaglich zumute. Vor allem, weil sie auch mich küssten, diese anderen Frauen. Aber wir unter uns, einfach so, nein: Meine Mutter und ich, wir küssen uns nie. Auch heute nicht, nichts ist heute anders als sonst.

Sie hat die Herdflamme abgestellt und die beiden heißen Flüssigkeiten in der Kaffee-Teekanne gemischt. Die nenne ich so, weil weder Teekanne noch Kaffeekanne das passende Wort für sie ist. Für ein paar Augenblicke bleibe ich an dieser Frage hängen: Wie würde man das Gefäß richtig bezeichnen? Thaglacht, Abarrad, in unserer-ihrer Sprache so sauber unterschieden, aber ich bin nicht imstande, eine Entsprechung zu finden. Und diese kleine, banale Abschweifung in Vokabelfragen erinnert mich daran, wie weit entfernt ich von ihr bin, von ihrer Welt, von ihrer Art zu leben und die Dinge zu betrachten. So viel ich auch übersetze, so sehr ich mich auch bemühe, die Wörter von einer Sprache in die andere umzuschütten: Es wird mir nie wirklich gelingen, immer bleiben Unterschiede. Dennoch ist das Übersetzen ein süßer Zeitvertreib, ein zumindest fassbares Zeichen des Willens, unsere Wirklichkeiten einander anzunähern; und es ist mir immer nützlich gewesen, seit wir hierhergekommen sind.

Ich dachte über diese Dinge nach, um nicht an Mutter zu denken, um sie nicht mit einem Lebewohl-Blick anzusehen, meine Absichten nicht durchblicken zu lassen. Sie sollte nicht merken, dass ich mich gerade von ihr verabschiedete. Allerdings wunderte es mich, dass sie meine Pläne nicht erriet, sie, die sonst alles weiß, sie, die Krankheiten und Todesfälle im Traum vorhersieht und auch das Geschlecht der ungeborenen Kinder.

Mein Blick streifte sie, als sie den Zucker in den Milchkaffee streute. Noch hatte sie nicht gebetet, ihr Gesicht war weich, ihr Kopf entblößt. Ich wollte mir ihren Wust winziger Locken einprägen, der nie verschwunden ist, obwohl sie ihn schon ihr Leben lang mit dem Kamm aus Schildpatt und mit Olivenöl traktiert hat. Den Mittelscheitel, der ihre stattliche Stirn betont. Die Stirn einer Frau aus dem Rifgebirge, das Gesicht einer würdevollen Amazigh, einer Dame von Kopf bis Fuß. Bewundernswert und in der Tat stets bewundert, ihr Äußeres wie ihr Inneres. Um ihre Ehrbarkeit wissen alle Frauen der Stadt, will sagen: alle Marokkanerinnen. Den anderen ist es ja egal, welches Ansehen eine Immigrantin mit Kopftuch genießt. Ein Ansehen, das Kontinente umspannt, wenn eine der Klatschbasen beim sonntäglichen Telefonat mit ihrer Familie darüber spricht. Immer wieder rufe ich mir dieses Bild auf, weil ich es so lustig finde: Die Stimmen der Frauen aus winzigen Dörfern, mit winzigen Leben, durchqueren ganze Erdteile mittels der Telefonkabel. So viel Technologie, um sich Nichtigkeiten an einem Sonntagnachmittag zu erzählen.

Ich weiß nicht, worüber meine Mutter beim Frühstück gesprochen hat, zu sehr war ich darauf konzentriert, sie mir so zu merken, wie sie ist, um mich dann immer an sie erinnern zu können. Ich wollte mir genau einprägen, wie sie sich mit drei spitzen Fingern Stücke vom Brot pflückt, die beiden anderen Finger auf den nachgiebigen Laib in der Pfanne gestützt. Es ist keine Pfanne, ich weiß, es ist eine Imsacha oder Imsachar, das R am Ende ist stumm, aber egal. Wir müssen uns jetzt nicht mit Wörtern für Haushaltsgegenstände beschäftigen.

Es fiel mir schwer, die Irqqusen zu schlucken, die Brotbröckchen mit Öl, ich hatte in der Kehle dieses unerträgliche Gefühl, wenn man weinen muss, aber nicht darf. Sie hat sich erhoben, mir die Teller zum Abspülen überlassen und ist im Dunkel des Flurs verschwunden. Ich habe gedacht: Lebe wohl, Mutter, danke für alles, aber ich habe es in dieser Sprache gedacht, nicht in ihrer. Das kam mir plötzlich falsch vor. Es gibt Gedanken, die ich nur in der anderen, nicht in ihrer Sprache habe oder mir vergegenwärtigen kann.

Es war noch kühl, als ich auf die Baixada de l’Eraime trat. Ich hätte den Carrer del Cloquer entlanggehen können, am Bischöflichen Museum vorbei und durch den Carrer de la Ramada bis zur Rambla, von dort aus den Carrer Morgades hinauf, das Postamt und das Gerichtsgebäude passieren, bis zum Denkmal für Jacint Verdaguer. Doch ich wollte noch einmal die engen Altstadtgassen erleben und bin ein wenig herumgeschlendert, habe ihren Duft eingesogen, der seit vielen Jahren der Geruch meines Lebens ist. Gerade deshalb widert er mich jetzt an. Ich habe mir diesen Geruch so sehr zu eigen gemacht, dass er ein Teil von mir geworden ist. Doch die Gassen zeigen sich gleichgültig: Meine Anwesenheit, überhaupt unsere Gegenwart lässt sie völlig kalt.

Ich war schon im Begriff, rechts abzubiegen, auf die Plaça Don Miquel de la Clariana, um noch einen Blick auf den Bojons-Palast zu werfen, wo bis vor kurzem die Bibliothek untergebracht war, meine Zuflucht in so vielen Stunden. Doch die Aussicht, dort auf verschlossene Tore zu blicken, stimmte mich traurig, also ging ich stattdessen durch den Carrer de Corretgers.

Ich bin vor dem Kloster der Sakramentinerinnen stehengeblieben, der Ewigen Anbeterinnen der Heiligen Eucharistie, die mich mein Leben lang neugierig gemacht haben und mir weiterhin ein Rätsel sind. Nein, natürlich nicht mein Leben lang, anfangs hatte ich keine Ahnung, was überhaupt ein Kloster ist oder eine Nonne oder gar eine Ordensschwester in Klausur. Was sollte ein Mädchen mit lockigem Haar, das aus dem Staub der nordafrikanischen Felder kam, von derart exotischen Dingen wissen? Jahrelang sagte das Gebäude mir nichts, es war eins dieser großen alten Steinhäuser in der Stadt, die dem Lauf der Zeit trotzten.

Von seinem Innern kannte ich nur den Oblatenverkauf, aus einer geheimnisvollen Hand, die aus einem rötlichen Ärmel hervorlugte und uns die gelöcherten Hostien überreichte. Anfangs fragte ich mich nie, warum diese Frau nicht aus ihrem Versteck herauskam und was sich hinter den fest verschlossenen Türen befand. Doch irgendwann, ich weiß nicht, ob im Religionsunterricht, oder weil jemand davon redete, erfuhr ich von der Existenz solcher Klostergemeinschaften. Frauen, die nie oder fast nie das Haus verließen, in dem sie lebten. Das beschäftigt mich nach wie vor, und schon lange juckt es mich jedes Mal, wenn ich bei den Sakramentinerinnen vorbeikomme, da hineinzugehen und ihnen tausend Fragen über ihr Leben zu stellen. Doch ich habe es nie versucht. So wie jetzt; ich stehe wie angewurzelt vor dem Bau, auf den schiefen Pflastersteinen, und blicke auf das kleine, mit Schreibmaschine beschriftete Schild: Pforte geöffnet von … bis …

Im Stillen verabschiede ich mich auch von ihnen, von den unbekannten Eingeschlossenen.

Ich habe eine Weile über diesen Orden nachgedacht, über das, was ich gelesen habe, nachdem ich von ihm erfahren hatte, von seiner Gründerin, und diese Gedanken haben mich von meiner Mutter abgelenkt. Was, wenn sie früher als sonst aus dem Haus gegangen ist und mich nun hier stehen sieht? Was, wenn sie sehen will, was ich in meiner Tasche habe, und feststellt, dass es zwar dieselbe Tasche ist, mit der ich sonst zum Gymnasium gehe, diesmal aber nicht mit Büchern darin, sondern mit Kleidung für mehrere Tage, Zahnbürste, meinem Pass, meiner Aufenthaltserlaubnis und der Kladde, in die ich hineinschreibe, was mir so durch den Kopf geht? In meiner Vorstellung durchwühlt meine Mutter die Tasche und findet auch noch das Zugticket. Und sie macht mir eine Szene mitten auf der Straße, wird fast ohnmächtig, verlangt Erklärungen, fleht mich an, nicht fortzugehen.

Doch nichts davon ist passiert.

Ich bin weitergegangen bis zur Plaça Major und habe sie überquert, in Richtung des Carrer Verdaguer. Für einen Moment habe ich den leeren, staubigen Vorplatz betrachtet und an meine zielstrebigen Gänge über den Markt gedacht, fast jeden Samstag. Immer samstags während des Schuljahrs und zusätzlich dienstags, wenn Ferien waren. Das unmelodische Geschrei der Verkäufer, die wechselnden Farben der Kleidung, die sie feilbieten, das allgemeine Chaos. Deshalb mein Drang, den Markt nach einem festen System abzulaufen, in s-förmigen Bahnen durch die Gänge, damit mir nichts entgeht.

Nun bin ich aber schon auf dem Carrer Verdaguer unterwegs und kann mir einen gewissen Groll nicht verkneifen – den Groll der Armen, die an den Häusern der Reichen vorbeiläuft oder den Häusern jener, die zumindest im Vergleich mit unseren bescheidenen Mitteln reich wirken. Eine Mischung aus Groll und Faszination für das ganz andere Leben meiner Mitschülerinnen, die Markenjeans tragen und je nach Trend die Frisur wechseln, die im Winter Skifahren gehen und im Sommer Urlaub machen, denen die Eltern Geld geben, damit sie am Wochenende feiern können, und ihnen auch den Führerschein bezahlen; Mädchen, die keine anderen Pflichten haben, als zu lernen.

Was wundert dich daran? Das ist das normale Leben, du bist es, die da nicht hineinpasst, du bist der Eindringling. Du hast eine Mutter, die bei diesen Leuten Hausarbeiten verrichtet und noch dankbar dafür sein sollte, dass sie solche Jobs bekommt, mit ihrem Mittelscheitel, mit der stattlichen Stirn einer Frau aus dem Rifgebirge, mit dem Kopftuch. Sie sind doch wahrhaft großzügig zu euch gewesen, haben euch freundlich aufgenommen. Du hast keinen Grund, dich zu beschweren. Da du ihre Sprache genauso gut sprichst wie sie oder sogar besser, fragen sie dich fast gar nicht mehr, woher du kommst, fast.

Ich habe ihnen allen Lebewohl gesagt, ehe ich auf dem Bahnhofsplatz ankam und in das Gebäude mit den roten Lettern an der verblassten lachsfarbenen Fassade getreten bin.

Mit klopfendem Herzen habe ich am Bahnsteig gewartet. Der Geruch nach Jauche stieg mir plötzlich in die Nase und hat sich nicht wieder verzogen. Ich fragte mich, ob es eine Rache dieser Stadt war, mir die Nase mit ihrem charakteristischen Gestank zu füllen, und ob ich vielleicht nie wirklich von hier fortgehen könnte: Selbst wenn ich weit weg von hier ein ganz anderes Leben hätte, würde immer dieser penetrante Mief an mir haften. Doch dann sah ich, wie ein gelockter Kopf sich durch die Tür schob, und hatte Angst, gesehen zu werden. Ein Marokkaner, einer von denen, die wissen, wer ich bin und was ich wann tue, die mich beobachten und einander dann erzählen, sie hätten mich an diesem oder jenem Ort gesehen; sie berichten es ihren Frauen, und die Frauen sagen es untereinander weiter, bis eine von ihnen bei uns zu Hause vorbeischaut und es ganz beiläufig meiner Mutter mitteilt: Es gibt kein braveres Mädchen als deins, niemals sehen wir sie irgendwelchen Unfug treiben, sie redet mit keinem. Mit keinem soll heißen, mit keinem Mann, denn auch wenn sie mich auf der Straße ansprechen oder mir hinterherlaufen, ich reagiere nie. Mein Ruf ist makellos. Mein Ansehen ist das meiner Mutter.

Ich habe mir vorgestellt, dass einer dieser Lockenköpfe mit Schnurrbart mich auf den Zug warten sieht und wie die Kunde davon ans Ohr meiner Mutter gelangt. Aber das wird nichts mehr bedeuten, ich werde schon weit weg sein, und die Schwätzer sind mir so gleichgültig wie der Eindruck, den ich bei den Marokkanern hinterlasse. Oder bei wem auch immer. Ich werde dann schon eine andere sein, an einem Ort, wo sich niemand darum schert, was ich tue. Und ich werde glücklich sein.

Ich muss nicht noch einmal Erich Fromms Die Furcht vor der Freiheit lesen, ich muss mein Verhalten nicht analysieren. Es ist mir gelungen, in den Zug zu steigen, zittrig, ich habe mich an dem verschmutzten Sitz festgeklammert. Ich habe den Muff des schlecht belüfteten Waggons ertragen und mir die ganze Zeit ausgemalt, ich sei eine Romanfigur, nämlich Laura in der Stadt der Heiligen, in dem Moment, da sie die verschlossene Stadt hinter sich lässt. Ich sagte mir, es sei schon geschafft, ich sei der Hochebene entronnen. Wäre der Zug schneller gefahren, hätte er nicht auf der Brücke abgebremst und hätte ich mich nicht schon in der Tiefe des steilen Tals voller Bäume gesehen, dann hätte ich mich vielleicht nicht umgedreht.

Dort auf der Brücke, über die keine zwei Züge gleichzeitig fahren können, verfing sich mein Kopf in einer dieser endlosen Spiralen, in die er manchmal hineinrutscht. Ein Gedanke, bloß einer, der sich wiederholt und wiederholt wie ein unablässiger Hammerschlag, und jede Wiederholung fügt ihm ein Detail hinzu, das ihn noch schwerer erträglich macht. Die Spirale lähmt mich und führt mich zugleich zum Abgrund hin. Dass ich ihren Lauf erkenne, mir völlig bewusst bin, wie sie funktioniert, und sie betrachten kann, als stünde ich außen, bedeutet nicht, dass ich etwas gegen sie tun kann. Eher wird sie dadurch noch beklemmender.

Auf der Brücke also sprang mich die dumme Sorge an, dass ich bei meinem Plan, von zu Hause, von meiner Mutter fortzugehen, einen unverzeihlichen Fehler begangen hatte: Ich hatte die gleiche Menge Hefe wie immer in den Brotteig gemischt, anstatt weniger zu nehmen, weil ich doch nicht nach Hause zurückkehren würde. Wenn wir wissen, dass wir längere Zeit weg sind, geben wir weniger Hefe hinzu, damit der Teig langsamer aufgeht, doch heute Morgen habe ich es gemacht wie immer, als wäre ich mittags zurück.

In der Spirale habe ich mir diese Unachtsamkeit vorgeworfen – eine Dummheit von mir, die dazu führen wird, dass meine Mutter, wenn sie am frühen Abend heimkommt, einen aus der Schüssel quellenden Teig vorfindet. Und mit jeder Drehung in meinem Kopf machte ein zweiter Gedanke sich deutlicher bemerkbar: Sollte ich in dieser, der hiesigen Sprache den vollständigen Vorgang des Brotmachens erklären, könnte ich es nicht. Die Worte würden mich im Stich lassen, verdrängt von lauter Wörtern aus der Sprache meiner Mutter, die niemand sonst versteht. Nur mit jemandem, der wäre wie ich, der auch so eine Mutter hätte und diese fremde Sprache beherrschte, sie ebenso verinnerlicht hätte wie ich, so sehr, dass sie zur Hauptsprache seiner Gedanken geworden wäre – nur mit einem solchen Menschen könnte ich reden wie mit mir selbst manchmal, in einem Gemisch aus beiden Sprachen. Und auch wenn ich seit Jahren problemlos mit den Menschen aus dieser Gegend sprechen kann, war ich plötzlich überzeugt, dass mich in der Stadt, in der ich von nun an leben und ich selbst sein wollte, ohne erklären zu müssen, wer ich war, niemand verstehen würde. Nur deshalb, wegen der absurden Spirale in meinem Kopf, beschloss ich, beim nächsten Halt wieder aus dem Zug zu steigen, den Bahnsteig zu wechseln und auf einen anderen Zug zu warten. Um nach Hause zurückzukehren, was in der Sprache meiner Mutter auch ein Wort für sterben ist.

Sobald ich an A dachte, spürte ich einen dumpfen Schmerz in der Brust, eine Last auf meinem Rumpf, unter der ich mich klein fühlte, zu schrumpfen begann, immer weniger wurde. Ich dachte oft an ihn, bloß um mir selbst weh zu tun, um mir etwas aus dem Kopf zu schlagen.

Ich hatte mich sperrangelweit geöffnet, war vor ihm aufgeplatzt. Dabei schien meine Haut doch immer fest verschlossen in der Mitte meines Körpers, in einer gedachten Linie, die sich von der Stirn bis zur Scheide zieht, ohne Unterbrechung, und die, wie der Fluss hinter dem Haus meiner Großeltern in ihrem Dorf da unten, an bestimmten Stellen zum Vorschein kommt – etwa vom Bauchnabel abwärts, wo ich ihr folgen kann, kastanienbraun, klar konturiert, bebend.

Es ist die Linie, die unsere Frauen (unsere? Sprichst du jetzt wie sie? Als wärst du eine von ihnen?) sich in die Mitte der Stirn und in die Mitte des Kinns tätowieren ließen, die Kühnsten hinab bis zum Brustansatz. Sie ließen sich tätowieren, als sie glückliche und analphabetische Musliminnen waren, die sich auf die Religion des Propheten ihren eigenen Reim machten, eine Mischung aus heidnischen und islamischen Riten. Heute tätowieren sie sich nicht mehr, weil die Experten im Fernsehen ihnen gesagt haben, das sei ein sündhafter, verbotener Brauch, haram. Und nicht nur hörten sie auf, sich die letzten Reste einer Sprache einzustechen, die seit Jahrhunderten nur noch auf ihrer Haut geschrieben wurde, sondern manche von ihnen haben sich schmerzhaften Prozeduren unterzogen, um die Zeichnungen zu tilgen, mit denen sie sich in jungen Jahren schmückten.

Meine Mutter war nie tätowiert, ich schon gar nicht, doch die Linie, die ich mir vorstelle, sehe ich deutlich, sie überzieht mich von oben bis unten. Wie eine Narbe, die sich irgendwann auf mir schloss, um mich so zu machen, wie ich bin, mit vielen Dingen in mir, die nur noch unter besonderen Umständen nach außen dringen.

Ich glaube, dass es früher einmal, vor vielen Jahren, umgekehrt war: Da begleitete mich meine Haut, sie beschirmte mich, umhüllte mich angenehm, gab mir Kraft und Schwung, um bis ans Ende der Welt zu gehen, als wäre alles für mich erreichbar, als könnte ich überall hin. Doch in einem Moment, an den ich mich nicht erinnern kann, hat diese Haut mich eingeschlossen, zu meinem Schutz.

Nur ein einziges Mal habe ich sie an der Linie entlang aufgerissen und sie mir abgestreift, um A alles zu zeigen, was unter ihr verborgen lag. Nimm, schau, das ist, was ich habe, was ich bin, was ich gerne wäre, was mir Angst und was mich glücklich macht, was ich beweine und was ich vermisse und was ich ersehne. Alles ist hier drin, so, wie du es siehst.

Und er, der mich wollte, wollte mich nicht so, nicht in dieser unerträglichen Intensität. Und ich, als sei nichts gewesen, habe meine Haut wieder verschlossen. Das einzige, was mir von all dem geblieben ist, ist ein anderes Bild von meinem Körper – dass ich mich, neben der Narbe als meiner Mittellinie, nie mehr ohne eine tiefe Wunde oben im Kopf sehe. Manchmal taste ich danach, erwarte sie zu finden, angefüllt mit dickflüssigem Blut.

Davon hat A selbstverständlich nie erfahren, und beim letzten Mal, als wir uns sahen, verabschiedeten wir uns wie immer, nachdem wir uns stundenlang über Minnedichtung unterhalten hatten. A und ich sind Fachleute der Liebe, will sagen: in der Theorie. Nun ja, ich bin die Theoretikerin, er hat noch sein anderes Leben, ein glückliches, wohlgeordnetes Leben, über das wir nie sprechen.

Wenn ich mir wehtun wollte, rief ich diese Gedanken auf. Nicht, um mich selbst zu bemitleiden, sondern um mir einen Schmerz gegenwärtig zu machen, der mir als Strafe diente für alles, was ich getan, und für alles, was ich nicht getan hatte.

Ich stand still vor dem Spiegel und gab mich diesen Gedanken hin, um meine Tatenlosigkeit zu rechtfertigen angesichts dessen, was um mich herum geschah: wie über mich entschieden wurde und ich so tat, als ginge es um jemand anders. Du wirst nie mutig sein, sagte ich mir, im Bad eingeschlossen, denn er wollte dich nicht. Und der Spiegel zeigte mir das Gesicht einer hageren Unbekannten, mit hervorstehenden Wangenknochen und dunklen Lippen.

Ich kämmte mir die Haare glatt. Endlich waren sie gezähmt. Hätte mich jemand damals kennengelernt, er hätte nicht geglaubt, dass ich unbändige Locken hatte, die mein Gesicht umrahmten wie ein Haufen Feuerholz. Nun nicht mehr – nach all der Chemie, den Weichmachern und den Cremes, dem Dauereinsatz von Föhn und Glätteisen, hatte ich glattes Haar, ohne Probleme. Süß und brav. So wie es meine Mutter immer für mich erträumt hatte, unser geteiltes Ideal, unser gemeinsamer Kampf gegen das krause Erbe.

Ich hörte auf, mich anzusehen, und setzte mich wieder auf die Toilette, nahm das Buch Also sprach Zarathustra zur Hand. Ich lachte über mich selbst, sehr passend, deine Lektüre. Meine Situation kommt mir wie eine Schlagzeile vor: Marokkanisches (?) Mädchen liest Nietzsche auf dem Klo und unternimmt absolut nichts, um selbst über ihr Leben zu entscheiden.

Ich lege das Buch weg, es kommt mir vor wie das Werk eines Irren – eher ein eigentümliches und krankhaftes Delirium als ein nachvollziehbarer Ansatz, die menschliche Natur zu begreifen –, und folge einmal mehr mit dem Finger der Linie in der Mitte meines Körpers. Da ich immer am Kinn beginne, endet es fast jedes Mal damit, dass ich mich zum Orgasmus bringe. Die Idee verlockt mich. Als säßen keine Gäste im Wohnzimmer.

Gegen viertel nach vier am Nachmittag hatte es an der Tür geklingelt, und meine Mutter war aus dem Bett gesprungen wie eine kaputte Feder. Ihre Mittagsruhe ist heilig. Egal, was passiert, ob in guten oder schlimmen Zeiten, ob es heiß ist oder kalt, ob wir alle Baraka der Welt haben oder ein elendes Dasein fristen. Gleich, ob zufrieden oder traurig, müde oder übermütig: Eine Weile nach dem Mittagessen, wenn sie sich zum Gebet gewaschen, ein bisschen Geschirr abgeräumt hatte und mich den Rest erledigen ließ, begab sich meine Mutter in ihr Bett, legte sich auf die Seite, mit angezogenen Knien, und schob eine Hand unter ihr Kopfkissen. Sie schloss die Augen, und schon war sie weg; sie schlief sofort ein, und ihr Atem nahm einen langsamen, friedlichen Takt an.

Als es geklingelt hatte, malte ich mir aus, wie sie aufsprang und das Wichtigste zuerst tat – die Hände zum Kopf zu führen und zu prüfen, wo das Tuch gelandet war in der Phase ohne Kontrolle, die der Schlaf bedeutete. Gewiss hatte sie schnell und geschickt den Knoten im Nacken gelöst und den Stoff wieder über ihr Haar gezogen, nur zwei Finger breit frei gelassen, als Hinweis auf die Pracht ihres Hauptes.

Ehe sie die Tür öffnete, hatte sie mir noch zugerufen, ich solle Wasser aufsetzen, und ich, auf die Mtarbath im Wohnzimmer gefläzt, in die Lektüre des Romans Ramona, adéu vertieft, tastete mit den Füßen nach meinen Hausschuhen, die, wenn ich die Beine auf den warmen Schaumstoffpolstern ausstreckte, die Gewohnheit hatten, sich auf dem Boden in zwei verschiedene Richtungen zu drehen. Ich griff nach keinem Kopftuch, das würde nie meine Geste sein. Ich rückte die großen, samtigen Kissen an der Wand zurecht, deren Stickereien so marokkanisch waren wie die Muster auf dem Geschirr made in China.

Ich hatte den Wasserkocher gefüllt und die Minze Zweig für Zweig aus dem Strauß gepflückt, hatte die schwärzlichen Enden der Stiele abgeschnitten, den Bund unters Wasser gehalten und ihn dann kräftig über der Spüle ausgeschüttelt. Im Wohnzimmer hörte ich die Damen schnattern, eine Litanei, die sich jedes Mal wiederholte, wenn sie sich trafen. Sie nahmen einander bei den Händen und hoben sie in Kinnhöhe, während sie sich Küsschen gaben. Eins auf die Wange, eins auf die andere und noch eins und noch eins und alle, die es sein sollten. Die schmatzenden Küsse unserer Frauen, endlos, wenn sie sich lange nicht gesehen hatten, knapper, wenn sie sich oft trafen, aber immer mehrere davon, Lippen, die gegen Wangen schnalzten oder in die Luft, während sich mit jeder Bewegung die Formeln wiederholten, die sie austauschten, ohne einander je ins Wort zu fallen, aber auch ohne dass ein Augenblick der Stille eintrat: Wie geht’s dir? Labas? Milch? Wie geht’s der Familie? Was macht die Gesundheit? Und so weiter und so fort. Nichts als Fragen, nur damit am Ende alle Antworten in einer einzigen Antwort zusammengefasst werden konnten: Gott sei Dank. Lhamdu li-Llah. Alles ist gut, denn alles ist Gottes Wille. Warum aber vergeudet ihr dann die Zeit mit euren Fragen? Wozu all die leere, sinnlose Litanei?

Ich bin in dieser Hinsicht immer eine miserable Begrüßerin gewesen. Ich frage nicht zurück, ich schüttele den Damen die Hand, gebe bloß das Minimum an Küsschen, das ihr energisches Hin-und-Her mir abverlangt, und erkundige mich nur widerwillig, wie es ihnen geht. Das Schlimmste ist, ich bin außerstande, Gott sei Dank zu sagen. Dank wofür denn? Wer ist Gott? Und wo? Woher wisst ihr, dass es ihn gibt? Seht ihr nicht, dass das Ganze nichts weiter ist als eine Erfindung von Leuten, die seit Jahrhunderten erstens einen Sinn in ihrem Dasein finden wollen und zweitens darauf aus sind, euch zu beherrschen, ihr armen verblendeten Analphabetinnen, euch und uns alle, die wir auch nur ein bisschen Angst vor dem Leben haben?

Aber dergleichen sage ich ihnen natürlich nicht, den mit Stoff umwickelten Frauen, die in allem, was sie erzählen, eine moralische Lehre sehen, einen Grund mehr, Gott oder wen auch immer zu fürchten. Ich begnüge mich damit, dass ich mir schon vor einiger Zeit alle Worte in unserer-ihrer Sprache abgewöhnt habe, die auf dieses höhere und höchste und mir vollkommen fremde Wesen Bezug nehmen. Ich sage nicht Bi ismi Allah, im Namen Gottes, ehe ich zu essen beginne, sage nicht Inschallah, wenn ich mir etwas wünsche, nicht Istagfiru Allah, wenn jemand niest. Und schon gar nicht gehen mir irgendwelche Beschwörungen über die Lippen, dass Gott dir etwas geben oder dass er dich strafen möge. Der Reichtum meiner Sprache schrumpfte zusammen, sobald ich aufhörte, an Gott zu glauben. Seither brauche ich nur noch halb so viele Wörter, um etwas zu sagen.

All das denke ich, während meine Mutter und ich die Damen begrüßen, ihnen die Djellabas abnehmen, derer sie sich beim Eintreten entledigen, und sie ins Wohnzimmer begleiten. Tschüs, Ramona, adéu – darf ich vorstellen? Montserrat Roig, große katalanische Schriftstellerin des 20. Jahrhunderts: die Frauen aus meinem Dorf. Ich lache in mich hinein, lege das Buch weg und schaue mir dabei an, wie die Damen schnattern.

Eigentlich höre ich ihnen gerne zu. Wenn ich mit ihnen über manche Dinge nicht reden, geschweige denn streiten kann, und wenn es unmöglich ist, vor ihnen irgendeine der Fragen aufzuwerfen, die mich wirklich bewegen, dann ist das kein Hindernis an sich, denn es ist mein Leben lang so gewesen, es ist die Art des Umgangs mit ihnen, die ich eingeübt habe. Für jede ein paar freundliche Worte, die Namen nicht durcheinanderbringen, und alle sind zufrieden.

Ja, ich höre ihnen gerne zu, ohne wirklich mitzureden; sie sind wie ein Buch, das fertig geschrieben ist und in dem du nichts mehr ändern kannst. Ich mag es, wie sie sich beruhigen, wie sich die anfängliche Aufregung legt und der Rhythmus ihrer Atemzüge, noch beschleunigt vom Gang durch die Straßen, gemächlicher wird.

Iwa? Iwa. Diese Iwas wiederholen sich, bis alle Platz genommen haben, bis Gäste und Gastgeberinnen zusammen ein festes Bild ergeben. Da sind wir nun, sagt eine, Lhamdu li-llah, erwidert die nächste. Das ist mein Stichwort, ich gehe in die Küche und versammle auf dem Tablett mit der Inschrift ahlan wa sahlan