Am Schattenufer (eBook) - Killen McNeill - E-Book

Am Schattenufer (eBook) E-Book

Killen McNeill

4,8

Beschreibung

September 1973: John Dalzell und Teresa Cassidy haben Nordirland für ein Auslandssemester in Deutschland den Rücken gekehrt. Fernab ihrer von Gewalt gebeutelten Heimat kann sich eine Liebe zwischen den beiden entfalten, wie sie zu Hause unmöglich gewesen wäre, denn John ist Protestant und Teresa Katholikin. Doch dann bricht unerwartet und hart der nordirische Konflikt in ihr gemeinsames Leben ein …

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KILLEN McNEILL

 

AM SCHATTENUFER

 

 

ROMAN

 

 

Aus dem Englischen von Gottfried Röckelein

 

 

 

 

 

ARS VIVENDI

 

 

 

Für Anna McNeill McNeill

1919–2001

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Vollständige E-Book-Ausgabe der im ars vivendi verlag erschienenen Originalausgabe (1. Auflage April 2013)

© 2013 by ars vivendi verlag

GmbH & Co. KG, Cadolzburg

Alle Rechte vorbehalten

www.arsvivendi.com

 

Lektorat: Dr. Felicitas Igel

Korrektorat: Eva Elisabeth Wagner, Margit Schwab

Umschlaggestaltung: Philipp Starke, Hamburg

unter Verwendung eines Fotos von © plainpicture/Gallery Stock/Jeremy Browne

Datenkonvertierung eBook: ars vivendi verlag

 

eISBN 978-3-86913-252-5

 

Teil 1

September 1973

 

 

 

1

Ihr haltet Ausschau nach einem Auto mit zwei Männern, das den Eindruck erweckt, als wäre es auf Erkundungsfahrt. Geringe Geschwindigkeit, die Männer schauen sich um. Wenn sie glauben, die Luft ist rein, fahren sie weg und kommen später wieder. Dann mit zwei Autos. Aber da ist es schon zu spät, denn im zweiten Wagen wird sich die Bombe befinden.

Der Diamond, der Platz in der Mitte unseres Ortes, liegt verlassen im gelben Laternenlicht. Weggeworfene Chipstüten und Zeitungen wirbeln im leichten Wind um den Monolithen des Kriegerdenkmals. Eine leere Flasche Tennant’s rollt immer wieder gegen den Bordstein. Die üblichen nächtlichen Geräusche von Mitchellstown, die mich im Schlaf begleiten, Geräusche, die ich gar nicht mehr wahrnehme, und erst, wenn ich woanders übernachte, fehlen sie mir, und dann kann ich wegen der Stille nicht einschlafen.

Euer Job besteht darin, die anderen wissen zu lassen, dass die Luft nicht rein ist. Nichts weiter. Markiert nicht die Helden. Zwei von euch in jedem Wagen, ein Katholik, ein Protestant, eine Stunde Wachdienst pro Team.

Der Vorname meines Partners ist eigentlich alles, was ich von ihm weiß. »John und Seamus von vier bis fünf«, las Sergeant Hamilton bei der Besprechung unten in der Kaserne von seinem Zettel ab, nachdem er uns unsere Instruktionen gegeben hatte. Seamus kommt mir mit diesen langen dunklen Wimpern, seinen Sommersprossen und blauen Augen irgendwie bekannt vor, aber ich kann ihn nicht richtig einordnen; er müsste einer aus dem Schulbus gewesen sein, aber das war vor drei Jahren, bevor ich auf die Universität ging. Da war er wohl so fünfzehn oder sechzehn, und jetzt ist er ein Mann. Außerdem wird er sowieso oben bei den anderen katholischen Jungs von St. Columb’s gesessen haben.

Über mich wird Seamus mehr wissen; schließlich parken wir gerade vor unserem Geschäft, dem größten in Mitchellstown: Dalzell’s Emporium. Wir sitzen in meinem Auto, einem zerbeulten alten Ford Prefect. Unsere Wache dauert nur noch zwölf Minuten. Meine 8-Spur-Kassette mit Sticky Fingers hat gerade ausgeleiert. Worüber könnte man reden? Worüber man nicht reden kann, ist einfacher. Über die Unruhen, die Politik, die Bomben in Mitchellstown. Diese Themen hängen im Wageninnern wie ungebetene Gäste, wie der Rauch der drei Zigaretten, die jeder von uns geraucht hat. Über Mädchen? Ich kenne die nicht, die er kennt, und er kennt die nicht, die ich kenne. Außerdem scheint er ein wenig schüchtern zu sein.

Zeit für eine letzte Zigarette, und dann ab ins Bett. Ich bin dran. Ich halte Seamus die Packung hin.

»Danke.«

Wir zünden unsere Kippen an. Ein rechteckiger, gelber Lichtschein taucht uns gegenüber auf der Zufahrt zum Platz auf. Zwei Schatten schlüpfen in die Nacht hinaus.

»Das sind bloß Spätheimkehrer aus dem McAtamney’s«, sagt Seamus.

»Dort soll’s ganz nett sein«, sage ich. Das McAtamney’s ist ein katholisches Pub, ich gehe da nicht hin.

»In welches gehst du?«, fragt er.

»Ins Fountain.«

»Aha.« Seamus wird da wohl nicht hingehen. Er betrachtet mich aufmerksam.

Möchte er über diese Sache mit den getrennten Pubs reden? Über getrennte Schulen? Getrennte Leben? Ich wende mich ihm zu. Er schaut nicht mehr mich an, sondern an mir vorbei. »Kannst du mal dein Seitenfenster ein bisschen abwischen?«, fragt er.

Mache ich. Nichts.

»Da kam ein Auto die Church Street herauf«, sagt er. »Ich habe die Lichter gesehen.«

Aus dieser Richtung sollten wir sie laut Polizei erwarten. Sie würden auf Nebenstraßen von Swatragh herüberkommen, einer Hochburg der Irish Republican Army etwa zehn Meilen entfernt.

»Keine Lichter zu sehen.«

»Es hat angehalten. Es parkt direkt um die Ecke.«

»Vielleicht bloß ein Liebespaar.«

»Doch nicht mitten in Mitchellstown.«

Der Diamond wird von Scheinwerfern beleuchtet.

»Da kommen sie«, sagt Seamus.

Ein Auto tastet sich vor, beginnt den Diamond zu umrunden, hält an, stößt zurück und parkt vor Toner’s Schuhgeschäft mit dem Kühler zu uns. Die Lichter gehen aus.

»Kennst du das Auto?«, frage ich.

»Nein. Aber es ist ein Cortina.«

»Scheiße.«

»Genau.«

Die IRA benutzt immer Cortinas. Leicht zu klauen, schwer zurückzuverfolgen.

»Was jetzt?«, frage ich.

»Was die Polizei sagte. Lassen wir sie wissen, dass wir da sind. Dass die Luft nicht rein ist.«

»Rübergehen und ans Fenster klopfen?«

»Fahr langsam an ihnen vorbei.«

Ich starte den Motor und schalte die Scheinwerfer ein. Sie leuchten direkt durch die Windschutzscheibe des Cortina. Zwei Arme werden gehoben, um zwei Gesichter zu verdecken. »Hoppela«, sage ich. »Sorry, Jungs.«

Wir fahren um den Diamond herum. Seamus wirft im Vorbeifahren einen Blick in das andere Auto. »Niemand aus der Gegend«, sagt er.

Ich parke den Wagen, und wir stehen wieder dem Cortina gegenüber.

»Du rufst besser die Polizei an«, sagt er.

Ich steige aus. Dabei höre ich, wie sie im Cortina den Motor anlassen. Ich gehe rasch zu unserer Haustür. Plötzlich erscheint mein Schatten auf unserer Hauswand in einer Korona aus Scheinwerferlicht. Verdammt. Ich hätte die Schlüssel bereithalten sollen. Ich fummele sie aus der Tasche, sperre die Tür auf, husche hinein und schließe sie wieder. Den Flur entlang zum Telefon unter der Treppe, während die Lichter des Cortina durch das Oberlicht an der Decke scheinen. Ich wähle 999. Ich höre, wie der Cortina über den Platz auf unser Haus zufährt, und das Scheinwerferlicht an der Decke zieht sich zurück und verschwindet, je näher er kommt. Ich kann den Motor im Leerlauf hören. Sie halten direkt vor unserem Haus. Direkt neben meinem Wagen. »Ja?«, sagt eine Stimme am Telefon.

»Rote Segel im Sonnenuntergang«, sage ich, der Code für diese Nacht. »Hier spricht John Dalzell, auf Beobachtungsposten am Diamond. Ich telefoniere von unserem Haus aus. Vor Toner’s hat ein verdächtiges Auto gehalten. Ein Ford Cortina. Jetzt kommt es her.«

»Ist Seamus Cassidy bei dir?«

Jetzt höre ich zum ersten Mal seinen Namen. Cassidy. Natürlich. Teresas Bruder.

»Er sitzt noch draußen im Wagen.«

»Wir sind gleich da.« Er legt auf.

Steht der Cortina noch draußen? Was ist mit Seamus? Ich gehe ins vordere Zimmer und ziehe den Vorhang ein wenig zurück. Mein Prefect steht da. Ich kann Seamus’ Rücken erkennen. Kein weiteres Auto in Sicht. Ich gehe hinaus und steige ein. »Sind sie weg?«

»Sie sind die Church Street zurückgefahren.«

»Haben sie nicht neben dir gehalten?«

»Nein. Sie sind gleich weitergefahren.«

»Ich dachte, ich hätte sie herfahren und hier halten hören.«

Er schüttelt den Kopf.

»Die Polizei ist gleich da.« Und schon fährt der graue Landrover der Royal Ulster Constabulary um den Diamond herum, hält direkt neben uns, das Seitenfenster wird heruntergekurbelt. Seamus lässt das unsrige herunter.

»Alles okay, Jungs?«

»Klar.«

»Habt ihr ein Kennzeichen?«

»Nein, leider nicht, war zu dunkel«, sagt Seamus.

»Welche Richtung hat der Wagen eingeschlagen?«

»Wieder durch die Church Street.«

»Gute Arbeit, Jungs, ihr könnt jetzt heimgehen. Wir übernehmen das.« Sie setzen zurück, wenden und parken erneut neben meinem Auto, diesmal mit der Front zum Platz.

»Wie kommst du nach Hause?«, frage ich Seamus. »Soll ich dich fahren?«

»Nein, ich bin mit dem Rad da.«

»Das könnten wir in den Kofferraum tun.«

»Nee, nee, bloß keine Umstände.« Er macht Anstalten auszusteigen.

»Wie geht’s Teresa?«, frage ich, als er schon halb zur Tür draußen ist.

»Gut.«

»Ich seh sie hier gar nicht mehr. Was macht sie?«

»Sie ist drüben in England. In Canterbury. Studiert.«

»Was?«

»Deutsch, glaube ich. Also dann, gute Nacht. Oder besser: guten Morgen.«

»Was glaubst du, haben wir die Stadt vor einer Bombe gerettet?«

Er zuckt die Achseln und ist weg.

Ich fahre mit meinem Prefect los, um den Diamond herum, durch die Church Street und die Auffahrt zum Fair Hill hinauf. Teresa Cassidys Bruder. So was. Ich war mal in sie verliebt. Na gut, eigentlich war’s wohl eher eine Schwärmerei. Nicht, dass sie je davon erfahren hätte. Ich habe sie immer nur im Bus zur Schule nach Coleraine gesehen. Wir hätten uns nirgendwo sonst begegnen können, weil sie katholisch ist. Andere Schulen, andere Jugendclubs, andere Sportarten. Sogar andere Abteile im Bus; sie waren oben und wir waren unten, ohne dass das jemand so geplant hätte; es hat sich einfach so ergeben; und klar haben wir den Katholiken an der Bushaltestelle zugenickt und so, aber man saß immer mit seinesgleichen zusammen.

Ich erinnere mich noch an den Augenblick, in dem ich mich in sie verguckte. Es passierte, als ich ihr Lächeln von der Seite sah, es war die Art, wie ihre Mundwinkel unter den Wangenknochen Kringel und Grübchen bildeten. Ganz in sich versunken war sie, lächelte nur für sich selbst. Weil ich unten keinen Sitzplatz gefunden hatte, war ich nach oben gegangen, was genauso wenig ein Problem darstellte, wie wenn Katholiken mal unten saßen; man hat sich nur nicht groß unterhalten. Es war ein Mittwochnachmittag im November, was bedeutete, dass es um vier schon dunkel war, und ich sah aus dem Fenster und konnte Teresas Spiegelbild klar und deutlich in der Scheibe erkennen, da sie mir gegenüber auf der anderen Seite des Ganges saß. Ich habe ihr nicht hinterherspioniert oder so was, aber ich konnte sie auf diese Weise unbeobachtet betrachten. Sie hielt den Kopf über ein Buch gebeugt und las, ab und zu strich sie sich die Haare zurück über die Schulter, und dann fielen sie wieder nach vorn, und ich konnte nur ihren Mund sehen, der sich plötzlich zu einem umwerfenden Lächeln verzog, und dann hörte ich sie laut auflachen. Schnell fuhr ihre Hand vor den geöffneten Mund, und sie lachte leise weiter. Ich drehte mich in ihre Richtung und sah sie an, und sie hob den Blick und sah zu mir her, noch immer kichernd und mit strahlenden Augen. Etwas Wunderschönes aus ihrem Innern wollte einen Ausflug machen.

»Gutes Buch?«, fragte ich.

»Toll«, sagte sie und zeigte mir den Einband. Es war The Country Girls.

Damit war unsere Unterhaltung beendet. Sie widmete sich wieder ihrer Lektüre, und ich drehte mich wieder zum Fenster. Ich habe nicht weiter darüber nachgedacht, aber spätabends, als ich gerade einschlafen wollte, hörte ich erneut ihr kehliges Lachen, und es packte mich mit der gleichen Macht, mit der es auch sie überrascht hatte, und warf mich im Bett herum.

Der Himmel hat graue Strähnen, als ich das Auto parke, abschließe und heimwärts gehe. Ich glaube, dass »Gutes Buch?« für lange Zeit die letzten normalen Worte waren, die ich an sie richtete. Ich war fünfzehn, wurde schnell rot und schaffte es nicht, mich in ihre Nähe zu begeben, ohne wie ein Leuchtfeuer zu glühen. Mir fiel rein gar nichts ein, was ich zu ihr hätte sagen können. Das ging monatelang so. Ich kaufte mir dieses Buch, und es gefiel mir auch ganz gut, denn es ließ sich zunächst leicht lesen, und später dann musste man plötzlich über irgendetwas daraus nachdenken. Ich versuchte herauszufinden, über welche Stelle sie gelacht hatte, und da gab es einige, die infrage kamen. Ich fing an, zu ihrer Farm hinauszuradeln, die gleich auf der anderen Seite der Raine-Brücke lag, und vor der Einfahrt hin- und herzufahren, als hätte ich dort etwas verloren. Ich denke, diese Phase hielt ungefähr eine Woche an, bis mir eines Abends, als es schon dunkel war, jemand mit einer Taschenlampe ins Gesicht leuchtete, ein Stock auf den Vorderreifen knallte, zwei Hände die Lenkstange packten und zwei andere meine Arme, und eine Stimme, die mir vage aus dem oberen Stock des Busses bekannt vorkam, sagte: »Das ist jetzt noch mal eine freundliche Warnung. Lass Teresa in Ruhe. Sollten wir mitkriegen, dass du dich wieder hier herumtreibst, gerben wir dir das Fell. Das solltest du eigentlich wissen. Treib dich bei deinen eigenen Leuten herum.« Und das war es dann.

Ich komme auf der Main Street gegenüber von Jones’ Café heraus. Beziehungsweise dem, was früher mal Jones’ Café war. Taffy Jones stammte, wie alle Taffys, aus Wales, war während des Krieges beim Militär gewesen, lernte seine Frau Myrtle aus Mitchellstown in Indien kennen und zog nach dem Krieg hierher, wo sie ihr Café eröffneten. An der Vorderfront brachten sie ein Schild mit der Aufschrift JONES’ CAFÉ an. Sie hatten Fish and Chips im Angebot mit guten, selbst gemachten Fritten, hatten Vorhänge aus Plastikperlen auf der Innenseite der Türen, die beim Hindurchgehen klackerten, Linoleum auf dem Boden, verschiedene Ebenen, kleine Nischen und die Porträts kornischer Fischer an den Wänden. Mir gefiel es dort. Es wurde vor zwei Jahren in die Luft gesprengt, die erste Bombe in Mitchellstown, und jetzt ist da nur noch ein Loch in der Straße, in das man hineinsehen und auf leere Keller blicken kann. Schon komisch, wie schnell an so einer Stelle das Unkraut wächst. Mrs. Jones ist inzwischen gestorben, und Taffy ist im Altersheim.

Ich marschiere die Main Street entlang zum Diamond. Jetzt geht die Sonne auf, und das Licht fällt schräg auf das nächste Loch in der Straße, wo früher das Star Cinema stand. Es flog als Zweites in die Luft. Ich bin da jeden Samstag hingegangen, egal, was lief. Wenn man Glück hatte, war es ein James-Bond-Film oder ein Spaghetti-Western, oder ein Monumentalschinken mit Charlton Heston, aber das andere Zeug haben wir uns auch angeschaut. Doris Day und Rock Hudson, Carry-On-Komödien. Das Kino selbst war nichts Besonderes, eher wie eine Scheune mit einem Wellblechdach, keine Ränge oder so was, aber es war ein Ort, wo man hingehen konnte. Manchmal, als ich noch jünger war und wenn ein nicht jugendfreier Film lief, ging ich ums Gebäude herum und hörte von hinten zu. Die Dracula-Filme klangen super. Die Musik und die Schreie. Eigentlich war der Sound besser als die Bilder, wie ich feststellte, nachdem ich mir endlich die ganzen Filme ansehen durfte.

Ich sprach nur noch einmal mit Teresa. Es war der Tag meines Deutschabiturs vor zwei Jahren. Ich nahm einen späteren Bus nach Ballyraine, weil die Prüfung erst am Nachmittag stattfand. Der einzige Mensch, der ebenfalls auf den Bus wartete, war Teresa. Was bedeutete, dass auch sie die Prüfung ablegen würde.

»Guten Tag«, sagte ich scherzhaft auf Deutsch. In der Zwischenzeit hatte ich die Gabe der normalen Rede wiedererlangt; außerdem machte mich die Tatsache, dass ich mit Molly ging, ein bisschen lockerer in der Gesellschaft von Mädchen.

»Oh ja«, sagte sie. »Sprechen wir Deutsch. Das ist gut für die Abschlussprüfung.«

»Gut für die was?«, fragte ich.

»Für die Abschlussprüfung. Du weißt schon, das Schlussexamen.«

Auf der ganzen Fahrt redeten wir Deutsch, so gut es ging beziehungsweise so gut ich konnte. Selbstverständlich war ihr Deutsch dem meinen haushoch überlegen. Sie war ja nicht stundenlang mit dem Fahrrad auf dem Weg vor ihrem Haus umhergefahren oder hatte ewig zum Fenster hinausgestarrt und an mich gedacht wie ich an sie, sondern hatte in der Zeit ihre Hausaufgaben gemacht.

Während der Prüfung freute ich mich schon darauf, sie auf dem Rückweg im Bus für mich allein zu haben. Und da war sie dann auch, saß auf dem Sitz zum Gang hin und rutschte zum Fenster, als sie mich sah. Sie hatte den Platz für mich frei gehalten! Wir hatten beide dasselbe Aufsatzthema gewählt, irgendetwas darüber, wie wir uns die Zukunft vorstellten, was uns jetzt Gesprächsstoff lieferte. Ich erinnere mich, dass sie echte Pläne hatte, im Gegensatz zu mir, der ich damals noch nicht wusste, was ich studieren sollte. Später stellte sich heraus, dass Germanistik das einzige Fach war, für das ich an irgendeiner Uni eine Zulassung bekam, was ich aber erst Ende August erfuhr. Sie habe Angebote von mehreren Unis für ein Germanistikstudium, weil ihre Vorzensuren so gut gewesen seien, dass sie mehr oder weniger bloß zu bestehen brauchte, erzählte sie mir einfach so und ohne eine Spur von Angeberei. Alle diese Universitäten lagen in England oder Schottland, was für sie das Wichtigste war, denn sie wollte um jeden Preis aus Nordirland weg. Wir unterhielten uns locker und ungezwungen, wie wir es die ganzen Jahre schon hätten tun können, wäre ich nicht ein solcher Trottel gewesen. Sie wollte nicht unterrichten, sie wollte übersetzen, und zwar die neueste und beste deutsche Literatur. Sie erwähnte ein paar Namen von Leuten, von denen ich noch nie gehört hatte. Ich hatte damals keine Lust, über meine Zukunft nachzudenken, und habe auch jetzt keine, weil ich mich in ein paar Wochen zu einem Auslandsjahr nach Deutschland aufmache, und zu guter Letzt werde ich wohl doch als Deutschlehrer in einer Schule von der Sorte enden, wie ich sie selbst besuchte und hasste.

Draußen vor dem Haus am Diamond steht noch immer der RUC-Landrover, und der Himmel über der Bridge Street wird heller. Dort hinten wohnt Teresa. Teresa Cassidy. So was. Diese Schwärmereien. Wenn du jung bist, denkst du, du kommst nie darüber hinweg, und dann schaffst du es doch.

2

Als ich am nächsten Tag aus dem Bett komme und mich auf Erkundung in den Laden begebe, ist es schon früher Nachmittag. Keine Kundschaft weit und breit. Ich sehe Dads Silhouette durch die Schaufensterscheibe über den goldenen Lettern von Dalzell’s Emporium; er steht bestimmt vor dem Laden und unterhält sich wie üblich mit jemandem auf der Straße; Tilly wird hinten in ihrem Reich sein, zwischen Stoffballen und den Schubladen mit Kurzwaren, vertieft in Geschäftskorrespondenz oder in ein Telefongespräch mit irgendeinem obskuren Knopfhersteller. Matts Kopf ragt gerade noch über den Verkaufstisch beim Fenster, in dem die Handschuhe ausliegen. Er wühlt herum, sortiert wahrscheinlich, aber ich registriere die Neigung seines gepflegten Hauptes, als er verstohlen auf seine Uhr blickt. »Ich war die ganze Nacht auf und habe die Stadt vor einer Bombe gerettet, falls das jemand nicht mitbekommen haben sollte«, rufe ich zu seinem Schädeldach hinüber. Ich kann seine Augen nicht sehen, und er sagt nichts, aber seine Stirn legt sich in Falten. »Ich brauche ein Hemd für heute Abend«, fahre ich fort für den Fall, dass er glaubt, ich sei zum Arbeiten gekommen, und marschiere schnurstracks zum Mahagonitresen, der sich über die gesamte Länge des Ladens erstreckt. Dahinter befinden sich verglaste Schubladen mit Hemden, nur von der Rückseite des Tresens zugänglich. Dass die Kundschaft womöglich selbst an den Artikeln herumfummelt, kommt in Dalzell’s Emporium nicht infrage. Gott bewahre. Ich ziehe eins nach dem anderen heraus. Keine Chance. Nichts als Van Heusen, Peter England oder Brutus Slimline in Cellophanschachteln. Ganz unten liegen sogar, du lieber Himmel, einige weiße Imperia-Nylonhemden. Schon leicht vergilbt. »Gibt’s hier überhaupt irgendetwas neueren Datums?«, frage ich. »Zum Beispiel was von nach 1970?«

Keine Antwort.

»Mein Gott, dieses Zeug ist ja antik. Schon mal was von Ben Sherman gehört? Oder von Falmer?«

Matt richtet sich auf, seine Kniegelenke knacken. Er trägt Anzug, Brille und einen Fassonschnitt, wie immer.

»Die Nachfrage nach Hippieklamotten ist in Mitchellstown nicht gerade groß«, sagt er.

Oho. Einer dieser Tage. Bloß weil er im Laden arbeiten muss und ich nicht. Ist doch nicht meine Schuld, dass er die Schule frühzeitig verlassen hat. Und ich habe jetzt Ferien. Student zu sein ist eine Arbeit wie jede andere auch, und wenn nicht, braucht er es nicht zu wissen.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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