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Mutig faßt die junge Hebamme Hillevi Klarin den Entschluß, ihrem heimlichen Verlobten Edvard nach Nordschweden zu folgen, wo er eine Pfarrstelle in einer kleinen Gemeinde antreten soll. In der kargen Landschaft der schwarzen Seen und dunklen Wälder scheint die Zeit stehengeblieben: Die alten Mythen und der Aberglaube der Menschen sind noch lebendig. Und wird Edvard sie überhaupt zur Frau nehmen, wie Hillevi es sich erträumt? Eine spannungsreiche Erzählung von Schuld und Vergebung und vom Kampf zwischen Vernunft und Leidenschaft. »Kerstin Ekman brilliert mit ihrem Roman einmal mehr wegen der authentischen Atmosphäre. Ihre Sprache erweckt eine archaische Welt der Sprachlosigkeit und Wortgewalt. Nordische (Familien-)Dramen über Männer, Frauen, Ausgestoßene, die Kraft des Gesanges und des Geheimnisses. Über die großen Themen: Geburt, Leben, Tod. Eine wunderbare Lektüre.« (Frankfurter Rundschau)
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Veröffentlichungsjahr: 2012
Mehr über unsere Autoren und Bücher:www.piper.de Übersetzung aus dem Schwedischen von Hedwig M. Binder Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Taschenbuchausgabe 1. Auflage 2002 ISBN 978-3-492-95766-3 © 1999 Kerstin Ekman Titel der schwedischen Originalausgabe: »Guds barmhärtighet«, Albert Bonniers Förlag, Stockholm 1999 Deutschsprachige Ausgabe: © 2000 Piper Verlag GmbH, München Umschlaggestaltung: Büro Hamburg Isabel Bünermann, Julia Martinez, Charlotte Wippermann Umschlagfoto: Christine Cody / Getty Images / Stone Datenkonvertierung: CPI – Clausen & Bosse, Leck
Als ich sechs Jahre alt war, ging ich eines Winterabends allein aus Richtung Storflon auf das Dorf zu. Es herrschte strenge Kälte, und die Sterne waren hoch und spitz. Der Tannenwald beiderseits der Straße machte mir angst. Der Schnee drückte die Äste nieder, und unter den Bäumen war es schwarz. Noch mehr Angst bekam ich, als auf der Brücke ein Schatten auftauchte. Er näherte sich und wurde immer größer. Die Zollstation war die einzige menschliche Behausung am Weg, aber dort war es dunkel. Der alte Grenzwächter war ja auch schon lange tot. Man konnte nirgendwohin ausweichen, und der Fluß toste schauerlich. Mir blieb nichts anderes übrig, als demjenigen, der da auf mich zukam, gegenüberzutreten, und sollte es der Flußgeist höchstpersönlich sein. Als er vor mir stand, wagte ich mich nicht zu rühren. Er sagte etwas, was ich nicht verstand. Trotzdem meinte ich es schon einmal gehört zu haben. Da faßte er mich an, unters Kinn faßte er mich. Es war, als wollte er mein Gesicht ins Sternenlicht heben. Ich hatte meine eigene Sprache vergessen, verstand jetzt aber, daß er wissen wollte, zu wem ich gehörte und wie ich hieße. Da sagte ich, daß ich die Ziehtochter vom Händler sei und Kristin heiße.
»Risten«, sagte er. »Risten, onne maana. Onne maana!«
Als er das sagte, wurde in meinem Inneren unsere Sprache wieder lebendig. Er sprach so, daß es sich wie Gesang anhörte. Er fragte, ob ich mich an ihn erinnerte, aber das konnte ich nicht behaupten. Das machte ihn traurig, merkte ich, obwohl es so kalt und dunkel war. Da fing er für mich zu singen an: nanana … onne maana …
na na nananaaa
kleine Wange, kleine Risten
kleines Kind
Ich erinnerte mich nun, daß er früher schon für mich gesungen hatte. Da hatte ich keine Angst mehr. Er erzählte, daß er mein Onkel sei, der Bruder meiner Mutter, den ich immer Laula Anut genannt hätte. Dann sang er weiter, und ich erinnerte mich sogar an die Worte, es waren dieselben.
voia voia kleines Mädchen
in der Tanne knappt der Auer
na na nanaaa weiße Wange
wird gebissen von der Kälte
voia voia kleine Daune
weh nicht fort ins Fjäll, das hohe
wenn gellend bellt der schwarze Hund
nana nanaa naaa
Nachdem er dies gesungen hatte, berührte er meine Wangen und merkte, daß sie kalt waren. Da sagte er, ich solle geschwind zum Händler heimgehen. Als ich nach Hause kam, erzählte ich nichts davon, daß ich Laula Anut auf der Brücke begegnet war und er für mich gesungen hatte. Ich wollte nicht, daß sie meinten, mein Onkel sei blau gewesen. Hillevi sagte, die Lappen seien blau, wenn sie joikten, und die Lappen, die sie ordentlich nannte, hielten es auch für eine Schande.
Vier Sprachen spreche ich jetzt, und für meine Geschichte wähle ich diejenige, die ich auf der Fachschule in Katrineholm gelernt habe. Laula Anut konnte drei dieser vier Sprachen.
Hillevi kam am fünften März 1916 mit dem Zug nach Östersund. Damals waren die Straßen geschottert, und es gab elektrisches Bogenlicht. Das Centralpalais in der Prästgatan hatte Türme mit Spitzen. Weiter unten in der Straße liefen auf einem großen Bild an Erik Johanssons Haus seltsame Tiere in einem Wald umher. Es war auf den Putz gemalt. Das Staverfeltsche Haus hatte schmiedeeiserne Balkone, verzierte Giebel und Gewölbebogen. Die Markthalle gleich daneben hatte einen prächtigen Treppengiebel. Und das Mårtenssonsche Haus in der Storgatan gleich mehrere. Hillevi kam also nicht gerade in die Wildnis.
Als sie nach Lomsjö kam, wurde es schon schlimmer. Das war am siebten März.
Am Nachmittag befanden sich in der Schankstube des Gasthofs nur zwei Leute. Zum einen ein alter Lappe, der auf dem Fußboden saß. Zum anderen Hillevi, die auf der Bank an der Wand saß und gleich ihre Pelzmütze verlieren würde. Ihr war der Kopf nach vorn gekippt. Sie schlief.
Draußen war es still. Der Schnee rieselte auf Schlittenspuren und Pferdeäpfel. Der alte Lappe hatte sein Messer hervorgeholt und schnitt an einem Tabakstrang. Als die Gastwirtin hereinkam, schimpfte sie mit ihm, weil er auf dem Fußboden hockte. Der Alte entgegnete, seine Hose sei hinten dreckig. Hillevi wachte von dem Palaver nicht auf. Erst als die Wirtin sie am Arm faßte und »Fräulein!« rief, zuckte sie zusammen.
»Sollet es doch hier nicht sitzen.«
Fügsam erhob sie sich und ging mit. In der Tür zum Speisesaal blieb sie stehen und schaute zurück in die Schankstube, als hätte sie diese noch gar nicht gesehen oder im Schlaf vergessen. Auf dem langen, bloßen Holztisch stand eine Laterne. Ein Paar verfilzter Handschuhe lag daneben, gelbbraun am Spickel. Auf der Bank dort hatte es nach Pferdestall gerochen. Der Alte auf dem Fußboden trug eine ausgebleichte blaue Mütze. Seine fast schwarzen Stiefel hatten nach oben gebogene Spitzen. Hundertmal mit Talg eingeschmiert.
Im Speisesaal war es etwas kühler als in der Schankstube, doch hinter den Glimmerscheiben eines eisernen Ofens glühte es. Auf dem Tisch lag ein recht grobes weißes Linnen. Hier gab es eine Petroleumlampe mit weißem Porzellanschirm, der den Schein der Flamme abmilderte. An der Wand über dem Büfett hingen große Porträts von einem Mann und einer Frau. Die Frau trug einen Turban wie eine Negerin. Es waren jedoch Bauersleute. Er hatte auf Ohrenhöhe geschnittenes Haar und einen schütteren Bart bis weit unters Kinn. Am schwarzen Kleid der Frau steckte vorn in der Mitte eine Emaillebrosche. Ihre Gesichter waren hölzern wie die Gesichter von Leichen.
Hillevi hatte schon Leichen gesehen. Als die Gastwirtin mitten in ihren bewußtlosen Traum hinein »Fräulein!« gerufen hatte, war ihr das eingefallen. Als ob sie wieder dort gewesen wäre. Kalte, durchgeweichte Stiefel. Der Saum in der Nässe, als sie den Rock losließ. Aus Angst vor einer anderen Stimme, einer rauhen, unbeherrschten aus der Dunkelheit: »Fräulein!«
Sie war jetzt sehr müde. Sie ließ den Blick die braun und golden tapezierten Wände entlangschweifen. Sie sah Gemälde, Wandbehänge, Rengeweihe und ausgestopfte Vögel. Auf dem Büfett, das einen Aufsatz mit ovalem Spiegel hatte, standen Kristallvasen und Kabinettbilder. Das Tablett unter dem Salzstreuer und dem Pfeffergefäß war aus Neusilber. In dem Saal roch es nach erkalteten Küchendünsten.
Sie dachte: Sobald ich in meinem eigenen Reich bin, komme ich wieder zu mir. Ich werde nie wieder an diese rauhe Stimme denken. Dies hier ist der letzte Vorposten des Muffigen und Rauhen. Der alte Lappe auf dem Fußboden. Saß da und schnitt Tabak. Lullte ein bißchen in seiner Sprache. Ja, er war betrunken. Draußen im Schein der Laterne hing ein abgebalgtes Ren, als ich kam. Blut darunter. Er warte auf Geld, meinte die Wirtin. Folglich hatte wohl er dieses Ren an der Hausecke geschlachtet. Denn es war doch wohl ein Ren.
Jetzt brachte die Gastwirtin die Suppe. Es dampfte, als sie sie auftat, und ziemlich große Klößchen plumpsten in eine graue, fast farblose Brühe. Sie schmeckte fad.
»Elchbrühe ist’s«, sagte sie. »Tut ihm gut, dem Fräulein.«
Wäre es Renbrühe gewesen, hätte sie sie weggeschoben. Sie dachte an das Blut, das dem Ren aus dem Maul geflossen war. Ein gelber Fleck war auch im Schnee. Schwarze Losungskügelchen. Aber so mußte es ja sein. Unfreiwilliger Abgang.
Ich bin ausgebildet, ich weiß viel über derlei Dinge. Das hilft gegen Übelkeit. Wissen hilft. Da mag die Tante ruhig ihre Litaneien herbeten. Es hilft auf jeden Fall.
»Aber Fräulein, liebes, sitzet es da und greinet?«
»Nur müde«, murmelte sie in ihr Taschentuch. Sie hatte keine Serviette bekommen.
»Ja, freilich. Armes Ding. So jung. Und so dünn. Ja, liebe Zeit, was soll’s bloß werden? Es werdet jetzt Pfannkuchen mit Multgrütze kriegen, das Fräulein. Mag es Milch dazu? Ist nichtens verkehrt mit der Milch, sage ich. Abgeseihen und fein.«
Hillevi lehnte dankend ab, sagte aber nicht, daß ihr übel war.
»Wann kommt das Fuhrwerk?«
»Ja, wüßte man’s. Dauern kann das. Daß es gar so garstig werden hat müssen. Verwehet ist er geworden, der Schnee, auf dem See. Dürfte also noch ausbleiben, der Halvorsen, ein bis zwei Tage. Das arme Fräulein werdet schon sich gedulden müssen. Es werdet aber mein bestes Zimmer kriegen. Wir feuern da ein schon. Und dann krieget es noch Felldecken, das Fräulein.«
Sie brachte etwas Gelbes und leicht grau Gewordenes auf einem Teller, als sie wiederkam.
»Nehmet das Fräulein doch ein bißchen von der Multgrütze. Und hier wär das Buch.«
Hillevi trug sich mit einer Feder, die sich ständig spreizen wollte, ein: Hillevi Klarin.
»Schreibet das Fräulein: Hebamme«, sagte die Wirtin in dem Moment, als Hillevi gerade Fräulein schreiben wollte und schon mit dem F begonnen hatte. »Ist’s als ein Andenken.«
Da verstand sie, daß ihr Kommen eine großartige Sache war.
»Barmendes Ding«, sagte die Wirtin ein Weilchen später zu dem alten Lappen. Die beiden vertrugen sich jetzt wieder und sprachen über sie. Ihre Stimmen drangen durch die Tür zur Schankstube. Der Alte summte. Dreimal während Hillevi dasaß und darauf wartete, daß oben das Bett gemacht würde, ging die Außentür und stiefelte jemand durch den Raum. Dreimal steckte jemand den Kopf herein und besah sie sich.
In der Nacht begann der Wind durch das Rohr des Kachelofens zu streichen. Bald pfiff er gellend, und es rappelte im ganzen Haus. Als es am Morgen hell wurde, sah sie den Schnee dahinfegen, grau und waagrecht. Der Sturm atmete brüllend. Bisweilen legte sich der Wind. Es dauerte ein paar Stunden, dann erhob er sich erneut. Einmal rund um die Uhr. Es zog durch Ritzen und undichte Fenster, und es wurde kühl im Haus.
Sie saß die meiste Zeit unter zwei Decken aus schwerer und grober grauer Wolle im Bett. Die Decke mit den bunten Streifen hatte sie beiseite gelegt. Sie befürchtete Ungeziefer in der Wolle des schmutzigen Schaffells, mußte sie aber dann, als die Kälte über den Fußboden gekrochen kam, doch hernehmen. An diesem ersten Tag fror sie, daß es schmerzte. Der Kachelofen, der wohl schon lange nicht mehr eingeheizt worden war, wurde nur langsam warm.
Eine alte Frau kam mit einem Korb Brennholz herauf und heizte erneut ein, noch ehe Hillevi richtig wach war. Es war ein guter Kachelofen. Langsam siegte er über die Rauheit und Kälte. Sie fand ihn menschlicher als die alte Magd, die, egal, was sie zu ihr sagte, schwieg.
Als es im Zimmer endlich erträglicher war, wurde ihr langweilig. Ein Geruch nach Hering und Speck breitete sich im Haus nach oben aus. Sie ging in den Speisesaal hinunter und aß schließlich Pfannkuchen. Sonst nichts. Sie erkundigte sich erneut nach Halvorsen und dem Fuhrwerk.
»Dürfte schon noch dauern«, meinte die Wirtin.
Und es dauerte. Hillevi öffnete ihre Taschen, die man ihr heraufgebracht hatte. Der Schrankkoffer stand noch unten. Sie nahm alle ihre Sachen heraus und packte sie noch säuberlicher. Besondere Sorgfalt verwendete sie auf die Instrumente in der Hebammentasche. Die lagen zwischen sauberen Leinenhandtüchern.
Mitten in der Nacht wachte sie auf und dachte an ihre Instrumente. Sie meinte, jemand sei durch den Schneesturm gefahren gekommen. Irgendwo dort draußen sei eine Frau, die nicht entbinden könne. Es war jedoch sie selbst, die geschrien hatte. Da begriff sie, daß sie geträumt hatte.
Sie zündete unbeholfen den Lampendocht an, es loderte und rußte gewaltig, bevor sie ihn endlich heruntergeschraubt hatte. An der Wand zeichnete sich groß ihr Schatten ab, und draußen brüllte der Wind. Tante Eugénie fiel ihr ein:
Liebes Kind, ist das ein weiser Entschluß?
Als es hell wurde und die schweigende alte Frau dagewesen war, zuerst mit dem Brennholzkorb, dann mit Kaffee und schließlich mit warmem Wasser zum Waschen, fiel ihr abermals die Tante ein, aber da mußte sie fast lachen. Niemand konnte derart verboten märtyrerhaft aussehen. Doch im Grunde war sie ja erleichtert.
Zu ihrem fünfundzwanzigsten Geburtstag hatte Hillevi von Onkel und Tante ein Tagebuch bekommen. Es war ein schweres Buch mit einem Einband aus gepreßtem weinrotem Samt. Und in dem Samt zeichnete sich, wie bei einem Damasttuch dunkel abgesetzt, ein Muster ab. Man konnte Lilien samt ihrem Blattwerk unterscheiden. Das Buch hatte ein Schloß mit einem kleinen Schlüssel, doch hatte die Tante betont, daß es sich nicht um ein Mädchentagebuch handle. Es müsse vielleicht nicht einmal jeden Tag benutzt werden. Sie hätten sich gedacht, daß Hillevi die wichtigsten Ereignisse ihres Lebens in diesem Buch festhalten solle.
Noch hatte sie nichts hineingeschrieben. Sie hatte es beim Umpacken hervorgeholt und saß jetzt mit dem Buch auf dem Schoß im Bett. Auf dem Nachttisch hatte sie ein Tintenfaß, eine Stahlfeder und ein ausgedientes Fließblatt. Die Wirtin hatte vorsorglich darauf hingewiesen, daß alles wiedergeholt werde, wenn jemand eingetragen werden müsse.
Sie zögerte. War die Ankunft im Gasthof in Lomsjö eine große und wichtige Begebenheit in ihrem Leben?
Den Ausschlag gab, daß die Feder abgenutzt war und klecksen konnte. Hillevi schrieb nichts. Sie brachte statt dessen das Schreibzeug hinunter und blieb dann in der warmen Küche. Die alte, schweigsame Magd hatte etwas Klebriges in Händen, das sie zu Kugeln formte.
»Tut man gerade Klümper machen«, sagte sie plötzlich. Sie schnitt Schweinefleisch und Speckwürfel. Die grauen Klumpen aus Gerstenmehl, geriebenen Kartoffeln und Wasser platschten in einen Topf mit kochendem Wasser. Die Küche war voller Dampf.
Am zweiten Tag war das Wetter wieder still und grau. Die schwarze Wand des Waldes jenseits der Äcker war gesprenkelt, und die Tannenzweige hingen, vom Schnee niedergedrückt, fast senkrecht. Am Vormittag sah sie einen Fuchs. Ansonsten nichts. Die Hunde schwiegen. Vorher, meinte sie, hatten sie rund um die Uhr gebellt. Es waren grauzottige Spitze mit Gesichtern, die schwarzweißen Masken glichen, aus denen Augen guckten.
War das ein weiser Entschluß?
Die Stimme der Tante war das eher nicht mehr. Was da in ihrem Inneren unentwegt leierte, glich ihrer eigenen Stimme.
Lange Tage. Untätigkeit war ihr ebenso zuwider wie Unentschlossenheit. Ohne jemanden um Rat zu fragen, hatte sie sich um die Stelle beworben und sich zu der Reise entschlossen. Jetzt saß sie da und wußte nicht, wohin mit ihren Händen. Ihre Handarbeiten lagen im Schrankkoffer, und den wollte sie nicht auspacken.
Einer der Söhne des Gastwirts räumte draußen Schnee. Er fuhr mit einem kleinen schwarzen Pferd vor dem Pflug im Kreis. Das ergab ein Rondell und querdurch einen Weg.
Am dritten Tag trafen endlich Leute ein. Einige auf Skiern, einer mit einem Schlitten. Es war aber nicht Halvorsen. Sie ging vor acht Uhr abends in einem Nebel aus Unruhe und Überdruß zu Bett und glitt allmählich in einen schweren Schlaf hinüber.
Ein schneidender Ruf weckte sie. Sie vernahm Hundegebell und mehrere Männerstimmen. Zuerst dachte sie, es habe ein Unglück gegeben oder eine Schlägerei. Sehen konnte sie nichts, denn ihr Zimmer lag zu einem ebenen Schneefeld hin, das die Wirtin Lehde nannte. Zu der Fläche hinter dem Pferdestall sagte sie Einhegung.
Hillevi schlüpfte in Socken und schlug sich ein Tuch um, bevor sie in die Diele hinaustrat. Das Giebelfenster ging zum Pferdestall hin. Dort unten sah sie eine Menge Männer, und der Schein der Laterne fiel auf den Körper eines Tieres.
Sie dachte, es sei ein großer Hund. Sie hatten das Tier an die Stelle gehängt, an der das Ren gehangen hatte. Sie lärmten und lachten. Hillevi sah den alten Lappen und einen Mann mit einer schwarzen Pelzmütze, den Wirt, wie sie inzwischen wußte. Seine Söhne, die den ganzen Tag Schnee geräumt hatten, waren ebenfalls da. Und ein kleiner, geschmeidiger Kerl, der um das aufgehängte Tier schier tanzte.
Sie hätte in ihr Zimmer gehen und die Tür schließen sollen. Aber sie blieb stehen und sah, wie er den Körper vom Brustbein bis zu den Hinterläufen aufschlitzte. Der Lichtschein fiel hart auf das graue Zottelhaar und die Hände des Mannes. Es war vermutlich eine Karbidlampe, doch durch das vernagelte Fenster konnte sie es nicht zischen hören. Es war absolut still geworden dort unten. Ein graues Darmpaket quoll aus der Bauchhöhle, und der Mann steckte die Hände hinein und wühlte noch mehr daraus hervor. Blutkuchen quollen ihm über die Hände und näßten die Bündchen seiner Pulloverärmel ein. Der alte Lappe gab in die Stille hinein einen Ton von sich. Es war ein einziges langes Huuuuu. In diesem Augenblick wurde ihr klar, daß es sich um den Körper eines Wolfes handelte.
Dann fingen sie alle wieder zu schreien und zu lachen an. Der Inhalt des Bauches lag jetzt auf der Erde. Der Kerl mit dem Messer beugte sich nieder und zerrte aus dem matschigen Schnee dort unten etwas hervor. Was er dann hochhielt, war groß und glänzte im Licht; die Häute schimmerten blau, und es tropfte Blut. Er machte einen Schnitt. Dann zog er einen kleinen Klumpen heraus und warf ihn auf den Boden. Noch einen. Und noch einen. Fünfmal machte er das. Und jedesmal heulte der Alte seinen einen Ton.
Da begriff sie, daß es sich um eine Wölfin handelte, die trächtig gewesen war. Fünf Föten hatte er hervorgeholt. Hillevi sah im Licht der Lampe das Messer blitzen.
In ihren großen Socken stolperte sie ins Zimmer zurück. Sie nahm den Schlüssel aus dem Kastenschloß und machte die Tür hinter sich zu. Dann setzte sie sich aufs Bett, wagte sich aber nicht hinzulegen, obwohl ihr Kälteschauer durch den Körper liefen. Säuerlicher Brechreiz erfüllte ihren Mund. Er wurde wäßrig, und sie schluckte und schluckte. Sie versuchte ihn zurückzuhalten, mußte sich aber schnell unters Bett beugen und den Nachttopf hervorholen. Da kam es. Zum Teil über die Socken.
Und wie sie kotzte! In Gedanken benutzte sie dieses Wort. Ansonsten nannte sie es: sich übergeben. Im Krankenhaus hatten sie erbrechen gesagt. Ihre Tante sagte vomieren.
Aber das hier war Kotzen. Es wurde aus ihr herausgeschleudert. Lange riß und zerrte es im Magen, obwohl er sich leer anfühlte. Als letztes kam gallenfarbener Schleim hoch. Mit tränenden Augen und heißem Gesicht kauerte sie sich auf dem Bett zusammen und wartete darauf, daß die Nachbeben verebbten.
Dann war sie so gedankenlos, mit dem Wasser, das sie noch hatte, ihre Socken zu säubern. Sie machte das Handtuch naß und rieb sie damit. Da der üble Geruch immer noch da war, goß sie über dem Eimer Wasser darüber. Den Rest benutzte sie für ihr verquollenes Gesicht.
Jetzt polterte es im Haus, doch es interessierte sie nicht, was dort unten vorging. Sie kroch unter die Felldecke und versuchte, warm zu werden. Trockene Schauer durchliefen sie.
Leer wie sie war, bekam sie natürlich irgendwann Durst. Sie konnte nicht fassen, daß sie so dumm gewesen war, das Wasser für die Socken zu benutzen. Kein Tropfen war mehr in der Kanne. Aus dem Nachttopf, fand sie, verbreitete sich der Geruch nach Erbrochenem. Obwohl sie doch das Handtuch darübergelegt hatte. Schließlich konnte sie an nichts anderes mehr denken als daran, Wasser trinken und den Nachttopf ausleeren zu können, um den Geruch loszuwerden.
Sie ging in die Diele hinaus und horchte. Dort unten war gerade ein mächtiges Stiefelgetrampel. Eine Handharmonika jaulte, und Stimmen juchhuten. Ein gewaltiges Gelächter brach aus. Es klang, als käme es aus der Schankstube. Sicherheitshalber zog sie sich ihr Kleid übers Nachthemd. Sie glaubte auf die Vortreppe hinausschleichen und den Nachttopf an der Hausecke in den Schnee kippen zu können. Als sie jedoch die Treppe hinuntergegangen war, trat sich draußen jemand die Füße ab. Rasch verdrückte sie sich in den Speisesaal, um mit dem Nachttopf, den sie vor sich hertrug, nicht entdeckt zu werden.
Der Saal war jetzt ziemlich ausgekühlt. Es brannte keine Lampe, aber durch das Fenster fiel etwas Licht. Es war der Widerschein der Lampen in der Schankstube, deren Licht auf den Schnee geworfen wurde. Sie machte den Tisch und das hohe Büfett aus. Auf dem Tisch glänzte etwas. Als sie über die Tischdecke tastete, stieß sie nur auf die Menage mit den Essigflaschen. Hier drinnen schien es nichts zu trinken zu geben. Sie zog sich einen Stuhl heran und setzte sich direkt neben einen der braunen Vorhänge.
In der Schankstube donnerten Stiefelabsätze und Stoßplatten über den Fußboden. Männerstimmen sangen, doch sie verstand kein Wort. Die Harmonika trillerte unter tapsigen Fingern. Hillevi fror wahnsinnig, fast so wie in der ersten Nacht. Sie hatte vor Kälte Schmerzen zwischen den Schulterblättern. Immer wieder jedoch schepperte die Haustür. Ständig gingen die Männer aus und ein, vielleicht um sich zu erleichtern. Sie mußte hier sitzen bleiben.
Jetzt kam ihr der Anblick der Wolfsföten wieder in den Sinn. Aber er verursachte ihr keinen Brechreiz mehr. Sie war innerlich kalt. So wie damals, als sie auf der Trädgårdsgatan vor der Anatomie stand und den Karbolgeruch noch in der Nase hatte.
Sie wartete darauf, daß die Wirtin auftauchen und ihr helfen würde. Als diese aber in den Raum stürmte und sich einen Brotkorb schnappte, gelang es Hillevi nicht, sie aufzuhalten. Jetzt stand die Tür zur Schankstube offen. Hillevi kroch noch näher an den Vorhang heran und hätte sich am liebsten darin versteckt. Er roch jedoch nach Staub und alten Küchendünsten.
Sie sah zwei Kerle vorüberstampfen, die einander umarmt hielten. Noch zwei. Ein Kopf wackelte. Zähne bleckten, braun vom Tabaksaft. Die Ziehharmonika kreischte vergeblich. Sie tanzten wohl vor allem nach dem Gestampf und nach einer singenden Stimme. Da wirbelte ein Kerl allein mitten in den Raum. Er war leichtgewichtiger als die anderen. Seine Lodenhose hing ihm wie ein faltiger Beutel um das Hinterteil, denn er hatte eine schmale Taille, und sein Leibriemen war fest zugezogen. An seiner Hüfte baumelte ein krummes Messer. Er bewegte heftig den Kopf und schüttelte seine dunklen Locken. Er war ein bißchen zu langhaarig, um ordentlich zu sein, fand sie. Als er das Gesicht der Tür zuwandte, erkannte sie das Blitzen der Zähne wieder, und da wußte sie, was für ein Messer das war.
»Filledrattan didelittan fidelí … fidelittan filledrattan fidelí …«
Nicht eben ein großartiger Gesang. Es war vor allem Säufergegröl. Mit dem Tabakrauch wallte Wärme herein, und jetzt kam auch die Wirtin wieder und schloß diesmal die Tür hinter sich. Da machte sich Hillevi bemerkbar. Den Nachttopf schob sie hinter den Vorhang. Sie dachte, sie werde schon noch dazu kommen, ihn an der Hausecke auszukippen. Es gab immer so viel überflüssiges Gerede, wenn junge Frauen sich übergaben.
Sie sagte, sie hätte gern Wasser zu trinken und frisches Wasser, das sie mit nach oben nehmen könne. Und sie wolle sich erkundigen, ob Halvorsen gekommen sei. Und ob er das, verknasemadukelt, sei, sagte die Wirtin. Was immer das bedeuten mochte.
»Ich hätte gern gewußt, wann wir fahren werden«, sagte Hillevi.
Dann bekam sie ein Glas Wasser, blieb sitzen und wartete auf eine Karaffe, die sie mit nach oben nehmen konnte. Als die Tür jedoch das nächste Mal aufgerissen wurde, war es nicht die Wirtin, sondern der Kerl mit dem Messer und dem ungeschnittenen Haar. Das Licht fiel genau auf sie. Er starrte sie an. Er mußte aber vorher gewußt haben, daß sie dort saß. Sonst wäre er nicht hereingekommen. Trotzdem starrte er sie groß an. Sein Mund stand halb offen, seine Zähne glänzten vor braunem Speichel. Dann trat er einen Schritt zurück und schloß, ohne sich umzudrehen, die Tür hinter sich. Es wurde wieder dunkel.
Sie bekam natürlich Angst. Aber sie sagte nichts. Sie spannte all ihre Kräfte an, als er durch den Saal ging. Jetzt konnte sie sein Gesicht nicht mehr sehen. Er blieb am Tisch stehen, und ein Zündholz ratschte über etwas Rauhes. Vielleicht eine Sohle, denn er stand jetzt gebeugt. Er entfernte mit der einen Hand unsanft die weiße Lampenglocke, so daß sie wackelte und gegen den Lampenfuß aus Messing klirrte. Dann hob er den Lampenzylinder hoch und hielt die Zündholzflamme an den Docht. Dieser war nicht heruntergedreht, sondern flammte auf und rußte fürchterlich. Er fluchte leise, während er an der Schraube herumfummelte. Als er die Glocke wieder auf ihren Platz setzen wollte, ging es beinahe daneben. Er ließ sie schließlich auf dem Tisch stehen. Hillevi holte endlich Luft.
»Man ward begrüßet«, sagte er.
Er roch nach Schnaps, und seine Augen glänzten. Sein Gesicht, vom Bart dunkel beschattet, war erhitzt.
»Gefahren wird morgen«, sagte er.
Da begriff sie, daß dies Halvorsen war. Sie sollte mit einem Betrunkenen allein durch den Wald fahren.
»Habet es einen Kutschpelz, das Fräulein?«
Sie schüttelte den Kopf. Das einzige, was sie an Pelz besaß, war ein Nutriakragen.
Da heulte er auf. Es klang, als wäre es vor Freude. Er war ihr ein Rätsel. Wie er mit diesen großen Stiefelfüßen so leicht herumtanzen konnte! Gleichsam eine Pirouette drehen. Und völlig im Gleichgewicht, kein Gran Rausch jetzt.
Er verschwand nach draußen und warf die Tür hinter sich zu. Hillevi atmete auf. Er war jedoch nicht in die Schankstube zurückgekehrt, sondern in den Flur hinausgegangen. Sie hörte, wie er mit der Haustür knallte. Großer Lärm. Und wieder dieses Heulen. Dieses Freudenjuchhu.
Da erhob sie sich und blies die Lampe aus. Besser einen Moment im Dunkeln sitzen, falls noch mehr kämen. Mit etwas Glück entdeckten sie sie nicht. Sobald sie Halvorsen wieder in die Schankstube poltern und zu johlen anfangen hörte, würde sie in ihr Zimmer hinaufschleichen. Nachttopf hin, Nachttopf her. Sie wollte, weiß Gott, proper sein, doch das hier ging zu weit.
Da kam er wieder. Krachte in den dunklen Saal herein, stand da, schwankte. Auf seinen Zähnen sah sie einen schwachen Lichtreflex glänzen. Er hielt etwas im Arm.
»Den hier sollet es haben. Als seinen Kutschpelz. Wenn es dann beliebet«, sagte er. »Dem schönen Fräulein.«
Und er machte eine ausladende Verbeugung, als er die Last zu seinen Füßen ablegte. Dann wollte er zur Schankstubentür, stolperte aber über das, was er abgelegt hatte. Mit einem Sprung fing er sich und rief: »Juchhu!« Dann stürzte er sich in die von Tabakrauch und dem sauren Qualm aus dem Kamin vernebelte Schankstube, und sie hörte ihn jubeln.
Sie lief zur Tür, stolperte nun aber ihrerseits über das Bündel. Es war nämlich etwas halb Weiches. Sie wagte es nicht anzufassen. Ihre Hand zitterte ein wenig, als sie auf dem Büfett eine Zündholzschachtel ertastete und ein Streichholz anzündete. Sie machte sich nicht die Mühe, die Lampe anzustecken, denn sie sah auch so. Sogar die Augenhöhlen sah sie, das graue Zottelhaar und die Blutstreifen auf der feuchten Innenseite.
Am Morgen war Halvorsen nicht mehr blau. Er zurrte das Gepäck auf den Schlitten, vor den ein kleines schwarzes Pferd gespannt war. Die Wirtin sagte, daß der Schrankkoffer keinen Platz mehr habe. Ein gewisser Pålsa werde ihn mitnehmen, wenn er aus der Stadt komme.
»Wann wird das sein?« fragte Hillevi.
Das könne man nicht so genau sagen, weil in Östersund bald Gregorimarkt sei, darum könne Pålsa noch ausbleiben.
Sie fuhren, nebeneinander eingepackt, ab. Hillevi hatte Halvorsens Pelz geliehen bekommen. Es war grau, doch hinter dem Schneedunst blendete das Märzlicht. Nachdem sie den Schrankkoffer zurückgelassen hatte, überkam sie das Gefühl, es werde alles in die Binsen gehen. Sie glaubte umkehren zu müssen.
Sie war erst gut fünfundzwanzig Jahre alt, als sie sich nach Röbäck aufmachte, und sie war heimlich mit einem gewissen Edvard Nolin verlobt. Sie kehrte nie zurück.
Den Kragen und die Mütze aus Nutria hatte sie, als sie Uppsala verließ, von der Tante bekommen. Sie hatten sich beide vorgestellt, daß man dort oben etwas Pelzartiges benötige. Die Mütze hatte sie auf, doch den kleinen Kragen hatte sie in die Reisetasche gepackt, als Halvorsen ihr den Pelz für die Fahrt lieh.
Schön fand sie sich nicht. Aber er tat es also.
Der Fahrtwind trieb ihnen spitze Schneekörner entgegen. Hillevi und Halvorsen saßen dicht nebeneinander, doch er kümmerte sich nicht mehr um sie. Die Mütze aus dichtem Fuchspelz reichte ihm bis zu den Augenbrauen. Er interessierte sich mehr für das Pferd als für Hillevi. Meile um Meile würden sie nun dasitzen und sich aneinander reiben. Der Wald war vom Schnee gestreift, die zottigen Tannen standen wie ein gefrorener Pelz in die Höhe.
Das Schneetreiben wurde immer stärker, und Halvorsen brummelte etwas zu der Mähre, wie er das Pferd nannte. Hillevi wäre nicht erstaunt gewesen, wenn das Pferd geantwortet hätte. Sie fühlte sich ausgeschlossen. Gleichwohl rieb im Fußsack ihr Bein an dem seinen. Aber da ist eine Lodenhose, und sicherlich sind da dicke Strümpfe und noch wollene Unterhosen, dachte sie. Und außerdem meine Röcke. Da ist vieles dazwischen.
Sie fuhren direkt in den Schneedunst hinein, in die grauen Wirbel. Beiderseits des Wegs, der mit Birkenstangen abgesteckt war, ragte der Tannenpelz auf.
Sie sollte ihn niemals anders als Halvorsen nennen, wenn es jemand hörte. Er und sein Vater verschwedischten irgendwann ihren Namen und nannten sich Halvarsson. Es hieß, daß der Vater, dessen Vorname Morten lautete, mit seinem Warenkoffer auf einer Handkarre übers Fjäll gewandert sei. Wie es ihm dann ergangen war, dem Norweger, der nicht einmal ein Pferd besaß, als er kam, und danach dem Sohn und den Töchtern Jonetta und Aagot, das wußte Hillevi ja nicht. Gar nichts wußte sie.
Halvorsen rief »brrr!« und zog an den Seilzügeln, so daß die Mähre stehenblieb. Er wand sich aus dem Fußsack, ging nach vorn und versuchte die Hand unter das Kummet zu schieben. Es saß jedoch zu straff; er löste die Schnalle am Bauchgurt und versuchte es noch einmal, nachdem er sie wieder geschlossen hatte. Als er zufrieden war, kam er zurück und drückte sein Bein gegen das von Hillevi. Dann knallte er mit der Peitsche, und die Mähre setzte sich Schritt für Schritt in Gang, während er unverwandt auf ihren wiegenden Rücken blickte. Er streckte die Zungenspitze heraus. Heute war er nicht unrasiert, und er hatte blutige Hautfitzel auf der Wange, die er Hillevi zuwandte. Die Rasur war schnell vonstatten gegangen.
Ihre Gedanken behagten ihr nicht. Rasur und Unterhosen und solche Dinge. Sie saßen zu nahe beieinander. Da kamen solche Gedanken, die sonst nie gedacht worden wären.
Sie dachte an Tante Eugénie und daran, wie sie das gesehen hätte: meilenweit und stundenlang dicht neben einem Mann zu sitzen. Ich werde nicht mit ihm sprechen, dachte sie. Nicht sehr viel. Er ist Kutscher und sonst nichts. Die Tante hätte ihr nie erlaubt, so zu reisen. So dicht. Allein mit einem Mann, der noch am Abend vorher ziemlich beschwipst gewesen war.
Aber die Tante wußte von nichts.
Jetzt war Halvorsen mit dem Gang der Mähre zufrieden und knallte leicht mit der Peitsche, so daß sie in Trab fiel, und dann wandte er sich Hillevi zu und fing einen munteren Schwatz an, den Hillevi nicht begriff. Das bekümmerte ihn nicht groß; er redete einfach weiter, und sie verstand das eine oder andere. Daß er fand, sie sei recht alleinig auf einer so weiten Reise, und all das, was sie bereits im Gasthaus gehört hatte: daß sie jung sei und daß sie dünn sei. Was sollte sie sagen? Daß sie sechsundzwanzig werde? Damit hatte er nichts zu schaffen.
»Das Fräulein sitzet im Gedacht«, sagte er leise, und sie dachte zuerst, dies sei ein Name für den kleinen Schlitten. Aber Gedacht waren die Gedanken.
Die Uppsalagedanken: der Fluß mit seinen schwarzen Strudeln über dem Wasserfall, der Karbolgeruch und ihre eigene schrille Stimme, als Berta Fors mit grauem Gesicht auf der Bahre lag.
Halvorsen sprach eine wunderliche Sprache. Sie hatte Doppelvokale, die er so präzis aussprach, als würden sie auch so geschrieben. Seine Redseligkeit spann sich nun um Hillevis Reise, Schicksal und Leben. Es war unangenehm.
Wahrscheinlich schätzte er ab, wie fein sie wohl war. Er schien zu ahnen, daß sie ein Wesen mit einer feinen und einer groben Seite war. Das Feine an ihr sitze außen, meinte Tante Eugénie und fürchtete insgeheim, es werde noch etwas Grobes zutage treten. Sie fand, daß Hillevi zu ihrem Ursprung hingezogen werde, und das sagte sie auch. Aber nur ganz leise und wenn sie glaubte, daß allein der Onkel es höre.
Sie waren liebevoll gewesen. Als Hillevi jedoch mit dem bißchen, das ihr Vater hinterlassen hatte, eine Ausbildung zur Hebamme machen wollte, sprach die Tante ihre düsteren und geheimnisvollen Worte: Sie werde nach unten gezogen.
Kapitän Claes Hegger hatte heftig gesoffen und war dadurch verroht. Seinem Bruder Carl war er nur vom Aussehen her ähnlich gewesen. Krumme Beine, massiger Rumpf, langer Zinken. Wie Lissen aussah, hatte niemand erzählt, aber es mußte wohl in der Art von Hillevi gewesen sein, denn woher sollte es sonst kommen? Du hast ein niedliches Aussehen, sagte die Tante.
Auf den Fotografien sah man Hillevis kleine, gerade Nase und ihr Kinn, das sie gern erhoben hielt. Ihr Blick war weder groß noch tief. Er war sehr geradeheraus. Ihr Haar hatte jedoch ganz und gar nicht die Aschfarbe, die die Kabinettbilder oder die Gruppenfotos von den Festen zeigten. Als sie sich nach vielen Jahren die Haare schneiden ließ und den Zopf in eine Freja-Pralinenschachtel legte, war er noch immer rotschimmernd blond.
Es gibt keine Fotografie von Elisabeth Klarin, die man Lissen genannt hatte und die bei dem Junggesellen Claes Hegger Dienstmädchen gewesen war. Haushälterin, sagte die Tante taktvoll. Die eigentliche Hausdame hatte Truhe und Koffer gepackt und war abgereist, als die Umstände des Dienstmädchens offenbar wurden.
Hillevis Mutter starb im Kindbett. Und dieser alkoholisierte alte Kapitän an Land wollte seine Tochter partout nicht weggeben. Er erkannte sie an, aber sie erhielt natürlich den Namen der Mutter. Eine neue Hausdame wurde eingestellt. Von ihr hatte Hillevi ein vages Bild in Erinnerung. Aber an ihren Vater konnte sie sich nicht erinnern, obwohl er so in sie verschossen gewesen war. Sie ist das Licht meiner Augen, hatte er zu Bruder und Schwägerin gesagt, die das lästerlich fanden. Aber er wußte ja selbst nicht, woher er das hatte. Sein Leben hatte einen Sinn bekommen, und er wollte nun nicht mehr saufen. Er legte sich mächtig ins Zeug, halb nüchtern und ziemlich sentimental, laut Carl. Ein wenig grotesk war das schon. Bei seinem Aussehen: Gorilla und Tapir. Überdies war er neunundsechzig Jahre alt, als Hillevi geboren wurde. Sie war drei, als er starb.
Sie mußten in Kloven übernachten. »Die Mähre brauchet zu ruhen«, sagte Halvorsen. Bauersleute boten ein Bett in einer ausgekühlten Kammer an oder einen Platz auf einem Ausziehbett neben der Tochter des Hauses. Hillevi setzte sich auf einen Stuhl und schlief. Es war also eine Reise, die zwei Tage in Anspruch nehmen würde. Wie viele Tage und Wochen würde sie diese in Gedanken wiederkäuen? Im Gedacht.
Nicht deren Schönheit. Nicht die großen weißen Seen, zu denen Halvorsen das Pferd vorsichtig die Abhänge hinabsteigen ließ, so daß sie dann in der Ebene fahren konnten, den Waldpelz lange Zeit erhoben und zu den welligen Kämmen hinaufgezogen. Wenn die Wolkenbänke forttrieben, zeigten sich die Berge. Sie waren weiß und blank. Der Himmel wurde für einige Augenblicke scharf blau.
Auch nicht die Befürchtungen, der Gedanke, daß sie gezwungen wäre, zurückzukehren. Sondern die Tatsache, daß Halvorsen ihr entlockte, daß sie Edvard kannte.
Wie immer das zuging.
Es war strengstens verboten, das verlauten zu lassen. Edvard hatte gesagt, seine Stellung wäre gleich von Anfang an unterminiert, wenn ruchbar würde, daß sie einander schon kannten. Wolle er die geringste Möglichkeit haben, als Pastor die zweite Pfarrstelle zu erobern, müsse er tadelfrei sein.
Ein tadelfreier Pfarrer schickte seine heimliche Verlobte nicht voraus. Das hatte Edvard auch nicht getan. Im Gegenteil, er hatte einen straffen Zug um die Nase bekommen, als er hörte, daß sie sich um die Hebammenstelle in Röbäck beworben hatte.
Halvorsen hatte sie mit Fragen umgarnt, ob sie in der Gegend Verwandte habe, ob sie überhaupt jemanden kenne. In Röbäck? In Lomsjö vielleicht? Oder in Östersund? Er hatte nicht lockergelassen. Und sie hatte gemerkt, daß sie sich in seinen Augen wie eine Wahnsinnige ausnehmen mußte. Eine, die geradewegs ins Ungewisse fuhr. Ohne die Sprache zu verstehen. Die nicht einmal die richtige Kleidung für eine Schlittenfahrt besaß.
Da hatte sie gemurmelt, sie kenne Edvard Nolin, den neuen Pfarrer, der demnächst antreten werde. Und im selben Moment hätten drei Hähne krähen können. Sie versuchte es zu verwischen. Zurücknehmen ging ja nicht. Sie kenne ihn ein klein wenig, sagte sie. Sei flüchtig mit ihm bekannt.
Halvorsen hatte nichts gesagt. Er hatte sie nur von der Seite angesehen. Lange.
Der zweite See, auf den sie hinabfuhren, war noch ausgedehnter. Sie sah nirgendwo Häuser an den Ufern. Nur die zottigen Tannen. Die Landzungen reckten weißgesprenkelte, blauschimmernde Zipfel in das Weiß, in dem der Blick keinen Halt fand. Als sie auf dem Eis waren, hielt Halvorsen an und prüfte erneut das Geschirr der Mähre. Das war jedoch nicht sein eigentliches Anliegen. Er löste ein am Gepäck befestigtes Gewehr und lud es. Grinsend verkeilte er es quer über ihren Knien.
Da fiel ihr das widerwärtige Fell ein. Sie hoffte, daß er sich nicht mehr daran erinnerte, wie er sich im Rausch benommen hatte. Sie fuhren gut und gern eine Stunde, ohne etwas zu sagen. Dann wies er auf eine Landzunge.
»Haben dorten gestanden«, sagte er. »Zu vieren im Rudel sind sie gewesen. Die Wölfin hab ich gekrieget. Getragen hat sie. Fünf Welpen hätte sie zu haben gehabt.«
Er hatte natürlich keine Ahnung, daß Hillevi die Wolfsföten gesehen hatte, und das war gut so. Er ist nicht aus dem Pfarrdorf, versuchte sie sich zu trösten. Was er weiß oder nicht weiß, spielt keine Rolle. Die Wirtin hatte gesagt, er sei aus Fagerli. Der Himmel wußte, wo das lag. Sie hoffte, daß es weit weg war. Am besten in Norwegen.
In dem Weiß zu ruhen. Das würde sie lernen. Wenn die Schneeflocken herabrieseln und durch das kahle Astwerk der Espen fallen. Wenn die Luft eindickt. Das Weiß grau wird und sich zu blauer Dämmerung verdichtet. Dann sitzt man im Gedacht. Im Uppsalagedacht.
»Fräulein!«
Es war eine rauhe Stimme. Das hörte man, obwohl sie nur dieses eine Wort gesagt hatte. Sie klang heiser. Hillevi war vom Krankenhaus zu einem Hausbesuch in der Bäverns Gränd unterwegs gewesen. Sie hatte die Stimme gehört, als sie über die Islandsbron ging. Es war dunkel und diesig, und Hillevi sah nicht weit, als sie sich umblickte. Der Wasserfall rauschte laut, und sie beschleunigte ihren Schritt.
»Fräulein! Fräulein!«
Hinter sich hörte sie Absätze über das Holz der Brücke klappern. Unter ihr strudelte das Wasser des Flusses. Es erschreckte sie.
Als sie den Hauseingang erreicht hatte und die Holztreppe hinaufgerannt war, verstand sie gar nicht mehr, weshalb sie derart Angst bekommen hatte. Es war immerhin eine Frauenstimme gewesen. Doch jetzt, ein halbes Jahr später, ja, mehr noch, dachte sie, daß sie irgendwie gewußt habe, was diese Frau wollte. Es hatte mit dem Wort Fräulein zu tun gehabt.
»Das Fräulein wird schon geholt«, sagte man. »Nun kommt das Fräulein mit seiner Tasche.« Sie war jetzt das Fräulein, und das war etwas ganz anderes, als Fräulein Klarin zu sein.
Das Scheußliche war, daß zwei Tage später, als sie noch einmal in die Bäverns Gränd gegangen war, um nach der Wöchnerin zu sehen, und sich dann zu Onkel und Tante aufmachte, um dort ihren fünfundzwanzigsten Geburtstag zu feiern, die Frau in der Dunkelheit auf sie wartete. Es war immer noch diesig, und als Hillevi merkte, daß die schwere Luft Nieselregen ausfällte, blieb sie auf der Vortreppe stehen und legte sich ihr Tuch um den Hut. Da rief die Stimme wieder.
Die Frau mußte beim Schuppen mit den Abfalltonnen gestanden haben. Hillevi ging rasch über das Kopfsteinpflaster der Gasse, doch das Frauenzimmer holte sie ein und legte ihr die Hand auf den Arm.
»Fräulein, haben Sie die Güte! Ich muß mit Ihnen reden!«
Eigentlich sah sie sie erst richtig, als sie bei der Brücke waren. Da hatte die Frau gesagt, was sie wollte. Ohne Umschweife. Es war so roh. Genau wie die Umstände. Hillevi schüttelte unablässig den Kopf. Unter ihrem Tuch wippte der Hut.
»Gute Frau, gehen Sie jetzt. Es ist unmöglich.«
Da faßte die Frau sie erneut am Arm und zwang sie stehenzubleiben.
»Es ist doch nicht meine Schuld! Ich hab es nicht gewollt!«
Jetzt sah sie das Gesicht im Licht der Straßenlaterne. Ein kleines spitzes Kinn. Es war noch ein Mädchen. Der Haarwulst, der ihr unter dem Hut hervorquoll, war blond. Es gibt viele, die sich solches Haar wünschen, schoß es Hillevi durch den Kopf. Die Augen waren groß und hatten einen tiefen blauen Blick. Waren sie der Spiegel der Seele? Sie hatte eine Wunde unter der Nase. Ihr Mund wirkte schlabbrig, wenn sie sprach. Sie schleuderte die Worte aus sich heraus. Hillevi wollte die Hand von ihrem Mantelärmel entfernen, doch sie krallte sich fest.
Da fielen ihr die Worte der Vorsteherin Fräulein Elisif ein. Es war im letzten Jahr des Lehrgangs gewesen, als sie reif genug waren, zu hören, welchen Anmutungen sie ausgesetzt sein konnten.
Denen fällt alles mögliche ein.
Sie ergriff die Hand des Mädchens und versuchte diese von ihrem Arm zu entfernen.
»Ich kann Ihnen nicht helfen, ich darf das nicht. Und ich möchte es auch nicht. Sie müssen jetzt gehen. Ich verstehe überhaupt nicht, weshalb Sie zu mir kommen.«
»Sie haben gesagt, daß es eine Schande ist! Wenn eine Frau so fertig ist wie sie. Daß sie dann darum herumkommen sollte!«
»Wer?«
»Berta Fors. Sie ist ins Krankenhaus gekommen, weil sie Blutungen gekriegt hat. Es sollte ihr zehntes sein. Sie hat es ja auch nicht geschafft. Jetzt ist sie tot.«
Denen fällt alles mögliche ein. Es gibt keine Grenzen für das, was sie Sie glauben machen wollen.
»Sie müssen jetzt gehen. Sie sind jung und stark. Es geht bestimmt gut. Suchen Sie mich in der Entbindungsstation auf, dann werde ich zusehen, daß Sie gut betreut werden. Ich werde Ihnen dann mit Kleidung helfen. Wir werden schon etwas zusammenbekommen für das Kleine. Sie dürfen den Mut nicht verlieren! Es findet sich immer ein Ausweg.«
Dann sagte Hillevi etwas vom Regen. Es regnete nämlich tatsächlich jetzt. Die Brückenbohlen glänzten.
»Igitt, ich hätte meinen Schirm mitnehmen sollen«, sagte sie.
Und da, erst da ließ das Mädchen ihren Mantelärmel los. Hillevi ging rasch über die Brücke. Auf der Västra Ågatan wandte sie so unmerklich wie möglich den Kopf und sah, daß das Mädchen noch immer dort stand. Das Gesicht erschien ihr wie ein weißgrauer Fleck unter dem Hut.
Das Schlimmste war, daß ihr mitten in der Feier bei Onkel Carl und Tante Eugénie das Bild einer früh gealterten Frau auf einer Bahre vor Augen stand. Deren Gesichtshaut war grau und feucht. Hillevi war der Meinung, das Mädchen habe es ihr heraufbeschworen. Es gibt keine Grenzen.
Aber dann fiel ihr ein, wer Berta Fors war. Die Erinnerung kam ihr, als Onkel Carl sprach. Es war in gewisser Hinsicht gut, daß sie ihr in diesem Moment kam, denn die Tränen schossen ihr in die Augen, und sie hörte kaum, was er sagte. »An Mutters und Vaters Statt. Alles Gute. Ein kleiner, aber aufrichtiger Beweis. Das Wenige, was wir haben tun können, haben wir aus Liebe getan. Und unsere Verantwortung. Unsere Sorge, liebes Kind. Aber dein Entschluß stand ja fest.« Die Tante überreichte ihr das Päckchen, in dem das Tagebuch war.
Berta Fors hatte auf einer Bahre gelegen. Sie hatte geblutet, als sie kam, wurde aber nicht von der Leibesfrucht erlöst. Ja, dieses Wort hatte Hillevi benutzt. Sie hatte keinen Abgang, wie jene selbst es gesagt hätte. Und erhielt auch keine andere Erlösung. Das sei nicht möglich, sagte der Stationsarzt.
Natürlich nicht. Aber als er fort war, hatte Hillevi geweint, und ihre Stimme war schrill geworden, als sie zu der alten Hebamme sagte, sie finde, man hätte Berta Fors helfen sollen.
»Helfen?«
Der Gesichtsausdruck der Hebamme hätte sie warnen müssen. Aber sie schrie, daß diese Frau diesmal darum herumkommen solle. Sie habe nach den letzten drei Entbindungen schwere Nachblutungen gehabt.
»Das steht hier!« sagte Hillevi. »Jetzt blutet sie schon zu Beginn, und sehen Sie. Sehen Sie!«
Sie legte den Zeigefinger in das Aufnahmejournal, wo sie selbst über Berta Fors geschrieben hatte:
Vierzehntgebärende, 47 Jahre. Fehlgeburten: 3 x, neun Kinder leben. Lebensgefährliche Nachblutungen: 4 x, lt. Angabe so stark, daß sie 2–3 Stunden bewußtlos war. Sie sieht der Entbindung mit Furcht und Schaudern entgegen, dieweil sie glaubt, daß sie bei selbiger verbluten werde.
Das ist unmenschlich!
Ja, zu guter Letzt hatte sie gesagt, daß es eine Schande sei. Sie hatte es gesagt. Daß eine Frau, wenn sie so fertig sei, darum herumkommen solle!
Hinter dem Wandschirm oder draußen auf dem Korridor lag Berta Fors und hörte zu. Trotz ihrer Erschöpfung. Sie war also nicht bewußtlos, sondern bekam jedes Wort mit. Später mußte sie von Hillevi erzählt haben. Wahrscheinlich sprach man in Dragarbrunn unten jetzt des langen und breiten über sie. Ein Fräulein, das menschlich war. Denn so hatte das Mädchen vorn an der Brücke angehoben:
»Fräulein, Sie sind doch menschlich!«
Die Gesichtszüge der alten Hebamme hatten sich gestrafft, und sie erwiderte kein Wort, doch am Nachmittag wurde Hillevi ins Büro der Oberschwester zitiert.
»Ich habe Hebammen erliegen sehen«, sagte Schwester Elsa. »Während meiner langen Zeit in der Krankenpflege habe ich dies zu meinem großen Bedauern so manches Mal gesehen.«
Hillevi wagte nicht zu fragen, wie sie erlegen seien. Sie wagte überhaupt nichts zu sagen, war nur starr vor Furcht, daß auf der Schürze ein Fleck, auf dem gestärkten Kragen Schmutz sein könne oder ein Härchen sich aus dem geflochtenen Knoten im Nacken gelöst habe.
»Ich habe sie den Bitten darum erliegen sehen, was sie Hilfe nennen. Schlichtweg der Hilfe, sie der Leibesfrucht zu entledigen. Die gesamte geachtete Hebammenschaft hat sich dadurch von Schmach und Schande getroffen gefühlt«, erklärte Schwester Elsa. Dem Blick ihrer grauen Augen war nicht zu entkommen, eine ganze Ewigkeit lang nicht. Erst als sie in den Kalender sah, der aufgeschlagen vor ihr lag, und sie ein einziges Mal, und zwar deutlich, mit dem Stift auf den Schreibtisch klopfte, wagte Hillevi den Blick zu senken, zu knicksen und rückwärts den Raum zu verlassen.
Erst hinterher hatte sie wieder zu weinen begonnen. Und ihr kamen erneut Tränen, wenn sie sich daran erinnerte, Tränen der Scham und, um die Wahrheit zu sagen, Tränen der Wut. Denn Berta Fors starb sechs Monate später nach ihrer fünfzehnten Entbindung. Sie verblutete, obwohl sie Einspritzungen mit Cacornin und jede denkbare Hilfe erhalten hatte.
Beim Essen sahen die Tante und der Onkel Hillevis Tränen, und sie dachten, es seien Tränen der Rührung. Sie stießen mit ihr an und wünschten ihr viele bedeutsame und glückliche Begebenheiten, die sie in das Buch schreiben könne. Ihr war klar, auf welche Art Begebenheiten sie anspielten, doch sie dachte überhaupt nicht an ihre Zukunft und an Edvard, sondern nur an das, was sie etwa eine Stunde zuvor am Islandsfall unten erlebt hatte. Es war nämlich das Scheußlichste gewesen, was ihr je widerfahren war.
Ihr Cousin Tobias prostete ihr zu. Er war schon leicht beschwipst. Mit raschen Seitenblicken verfolgte die Tante fortwährend die Stadien seiner zunehmenden Trunkenheit. Hillevi schoß durch den Kopf, daß sie wußte, weshalb er derzeit oft zuviel trank. Tobias war kein Zechbruder. Er hatte aber auch nicht so recht das Zeug zu einem guten Arzt.
Zwei Tage später kam er in den Waschraum, während sie gerade Urin in ein Glas abmaß.
»Wo hast du den Alkohol, Hillevi?« fragte er.
Trotz ihrer kurzen Überlegungen beim Essen hegte sie keinen Argwohn, was er tatsächlich wollte. Sie glaubte wirklich, er wolle etwas abwaschen.
Er folgte ihr in das Behandlungszimmer und stand still und ergeben wie ein Schuljunge da, während sie siebzig Milliliter aus der Flasche mit spir. conc. abmaß. Das war die Menge, die er angegeben hatte. Mit einem Lachen, das nicht eben gutgelaunt klang, nahm er dann das Meßglas entgegen. Er goß noch Wasser aus der Karaffe dazu.
»Tobias!«
Er hatte es bereits hinuntergeschüttet.
»So geht das doch nicht«, sagte sie mit ziemlicher Schärfe.
»Meine liebe kleine Cousine, ich werde dir erzählen, wie es wirklich geht. Ich habe soeben Fräulein Ebba Karlsson an ihrem vorletzten Lager besucht. Sie empfing mich in ziemlich aufgelöstem Zustand. Ich habe Fräulein Karlsson obduziert. Sie enthielt einen Fötus. So geht das. Und das sollte es nicht.«
Er hielt ihr das Meßglas noch einmal hin, doch sie tat so, als bemerkte sie es nicht, und stellte sich ans Fenster. Sie hörte, daß Tobias sich noch etwas eingoß, sagte aber nichts. Er schämte sich wahrscheinlich dafür. Deshalb versuchte er zu scherzen.
»Auf ihr schönes goldenes Haar!« sagte er und erhob sein Glas.
»Tobias! Nun ist es genug.«
Mit einem Mal sehr verlegen, verließ er rückwärts den Raum.
Es gibt viele Mädchen. Sie heißen Berta und Ebba und Alma. Karlsson und Pettersson und Fors. Oft genug leben sie in Dragarbrunn unten. Viele haben blondes Haar. Man kann es natürlich golden nennen. Viele haben eine blonde Mähne, um die alle möglichen sie beneiden könnten.
Sie wußte, daß sie niemals davon frei würde, wenn sie nicht herausfände, wer die Tote war. Sie hatte jedoch nicht vor, Cousin Tobias in die Sache hineinzuziehen.
Wenn ich mit eigenen Augen gesehen habe, daß es nicht sie ist, werde ich nach ihr suchen. Ich werde ihr in jeder Hinsicht helfen. Ich werde Geld sammeln. Ich werde zusehen, daß sie nicht mehr ängstlich und ratlos sein muß. Es kann nicht völlig unmöglich sein, sie wiederzufinden. Vielleicht kommt sie ja auch noch einmal.
Dann erinnerte sie sich jedoch an ihre eigenen Worte über den Schirm und daran, wie das Mädchen unter der Straßenlaterne im Regen stehengeblieben war. In jenem Moment hatte sie aufgegeben.
Sie waren während ihrer Ausbildung in der Anatomie gewesen. Sie hatten starre, graubleiche Körper gesehen. Das war unangenehm, aber nicht unüberwindlich gewesen. Es war ja auch nicht die Tätigkeit als solche, die Tobias so aufgebracht hatte. Es war das Mädchen. Mit aufgelöst mußte er ertrunken gemeint haben.
Tante Eugénie hatte sie gewarnt, als sie ihre Ausbildung begann.
»Du wirst natürlich heiraten, Hillevi«, hatte sie gesagt. »Ein ansprechendes und gesundes junges Mädchen wie du. Und siehst du, ein Mann, der möchte eine reine Frau haben. Eine reine junge Frau mit einem unangegriffenen Sinn, die die Mutter seiner Kinder werden soll. Er möchte nicht, daß ihr Sinn beschmutzt wird.«
Darüber hatte sie mit Sara zusammen gekichert.
Der Wärter ließ sie ein. Er fand nichts Verkehrtes daran, daß sie eine seiner Leichen sehen wollte, da sie im Krankenhaus angestellt war. Sie hatten den Leichnam bereits in eine Holzlade gelegt. Es war nur eine junge Frau da, also konnte es auch kein Vertun geben.
Ein Laken war über sie gebreitet. Als er im Begriff stand, es wegzuziehen, rief Hillevi schnell:
»Nur das Gesicht! Das reicht.«
Es war dieses goldene Haar, das unter der Hutkrempe einen so kräftigen Wulst gebildet hatte. Das Gesicht war aufgequollen, aber kenntlich. Am rechten Ohr und an der Wange war es zerfetzt. Das mußte passiert sein, nachdem sie ertrunken war. Die Haut war schwammig und grau geworden. Stellenweise schwarzblau. Die verquollenen Lider waren geschlossen. Sie sahen wie Porlinge aus, die unter dem Augenbrauenwulst hervorwuchsen. Die Lippen waren aufgesprungen. Man sah die Zähne in dem Spalt.
»Mehr brauche ich nicht zu sehen«, sagte sie und wußte, daß sie diesen Besuch bereuen würde.
Er schloß den Deckel.
»Wissen Sie, wo sie gefunden wurde?«
»Im Fluß natürlich.«
»Wo da? War es bei der Islandsbron?«
»Dort bleiben sie ja meistens hängen«, sagte er.
Sie verabschiedete sich, trat rasch hinaus auf die Trädgårdsgatan und atmete tief durch. Der Karbolgestank saß ihr den ganzen Tag noch in den Nasenlöchern. Physisch gesehen mußte er verschwunden sein, aber sie nahm ihn trotzdem wahr.
Bevor sie zur Anatomie gegangen war, hatte sie sich gesagt, daß Wissen besser sei als nagende Gedanken. Aber das stimmte nicht. Sie konnte niemandem erzählen, was ihr widerfahren war. Ebensowenig konnte sie es in das Tagebuch schreiben.
Nein, Hillevi schrieb kein Wort davon in das Buch mit dem Samteinband. Auch nicht in die schwarzen Wachstuchhefte. Aber in das erste der Hefte, in das sie eigentlich die Entwürfe für ihr Hebammenjournal hatte notieren wollen, schrieb sie auf ihrem Zimmer im Gasthof in Lomsjö:
Lehde
Einhegung
FASTNACHTSKLÜMPER
8–12 Kartoffeln. Kalte gekochte oder rohe. Man kann auch mischen.
2 Kaffeetassen Gerstenmehl oder zerkrümelte Haferflocken
1 l Weizenmehl
2 Teelöffel Salz
7 Kaffeetassen Milch
Hinzu nimmt man noch:
leicht gesalzenen Speck, Molkenkäsesoße oder zerlassene Butter
Das gesiebte Mehl (oder die Haferflocken) wird zusammen mit den geriebenen Kartoffeln in eine Schüssel gegeben. Man gießt Milch dazu, so nach und nach, bis man einen ausreichend festen Teig erhält. Auf einem bemehlten Backtisch zu einer Rolle formen, die in gleich große Stücke geteilt wird. Jeden Klümper mit gewürfeltem gebratenem Speck und Molkenkäse oder nur Butter und Molkenkäse füllen und so zusammenarbeiten, daß er ganz bleibt und nicht reißt.
Die Klümper in leicht gesalzenem Wasser kochen, bis sie an der Oberfläche schwimmen, noch einige Minuten ziehen lassen.
Dazu ißt man gebratenen Speck und Molkenkäsesoße.
Fastnachtsklümper werden nur in der Fastenzeit gegessen.
Ein Mann namens Halvorsen aus dem Kirchspiel Röbäck hat gestern auf dem See Kloven eine Wölfin geschossen.
Sie war sehr müde, als sie Kloven erreichten. Da hatte sie mit Halvorsen einen ganzen Tag lang gesprochen. Oder auch meistens geschwiegen. Sie schrieb jedenfalls zwei Wörter:
gefindet
zählet
Am Nachmittag des zweiten Reisetages fuhren sie über den See Boteln.
»Dorten lieget die Kapelle«, sagte Halvorsen und ließ die Peitsche zur anderen Seite des Sees hin ringeln. Die habe es schon vor der Kirche gegeben, sie sei im achtzehnten Jahrhundert erbaut worden.
»Wollet man Christen machen, aus den Lappen«, feixte er.
Es war ein kleiner roter Holzbau auf einer Landzunge. Es sah so verkehrt herum aus. Es gab keine weiteren Häuser dort. Das Dorf hatte sich zu dem anderen, größeren Wasser zurückgezogen, das Rössjön hieß.
Die Höhenrücken waren jetzt tiefblau. Die weiß gesprenkelten Streifen hatten abgenommen. Die Märzsonne goß großzügig Wärme über das Waldland; sie brannte herunter, und überall rann es. Einer Sturzgeburt gleich wurden die Schindeldächer von den Schneelasten entbunden. Lange schon war der Kirchturm zu sehen. Bis sich jedoch die weißen Kirchenmauern vom Schnee abhoben, dauerte es einige Zeit.
All die Freude, die sie im voraus empfunden hatte und der sie an dem Tag freien Lauf lassen wollte, da sie endlich die Kirche von Röbäck sehen würde, war weggefroren. Sie hatte lediglich das kalte Gefühl, etwas nicht wieder Gutzumachendes getan zu haben. Halvorsen, der durch die Zähne pfiff und seine Peitschenschnur sich ringeln ließ, wußte: Hillevi Klarin kannte den Pastor schon. Sieh einer an.
Er hatte allerdings kein Wort mehr darüber verloren.
Jetzt zeigte er auf das Gemeindehaus und den Pfarrhof. Ein paar graue Häuser duckten sich ungenannt. Auf das Schulhaus aber schmitzte er mit der Peitsche. Dort werde sie wohnen. Unterm Dach gebe es ein Zimmer.
Ein Zimmer.
Sie schwieg wohlweislich.
In den ersten Tagen saß sie viel in Gedanken verloren. Es war unangenehm. Mehr als das: Sie erinnerte sich daran, wie Edvard erfuhr, daß sie sich auf die Hebammenstelle in Röbäck beworben hatte. Sein Zorn zeigte sich als erstes an den Nasenflügeln. Ihr war ganz flau geworden im Magen. Doch sie hatte die Bewerbung nicht zurückgezogen.
Das Quartier im Obergeschoß des Schulhauses erwies sich als etwas mehr als ein Zimmer. Wohnküche mit Bettnische hätte sie das in der Stadt genannt. Die Decke beulte sich in gelben, stockigen Seen aus, deren Ränder beim Trocknen braun geworden waren.
»Der Herd, der ist neu, und tapezieret ist geworden«, sagte die Hausmeistersfrau, Märta mit Namen. Sie hatte Hillevi die steile Holztreppe, die eher einer Leiter glich, hinaufgewiesen. Als sie das Zimmer sah, dachte sie, daß sie es wohnlicher gestalten könne, sobald der Schrankkoffer da sei.
Derjenige, der ihn brachte, hieß Pålsa und hatte zwei Zugtiere vor einem großen Schlitten. Die Pferde glichen Halvorsens Mähre, klein und schwarze Zotteln an den Lenden. Es war schwierig, ihn loszuwerden. Sie hatte bereits genug von den zwei Reisetagen mit Halvorsen und wollte diesen Kerl hinauskomplimentieren. Er blieb jedoch an der Schwelle stehen. Hinterher wußte sie nicht mehr, wie er aussah. Es war, als hätte sie von einer Lodenjacke und einer doppelreihigen groben Arbeitsweste aus Kord Besuch bekommen. Ein freistehender Teil von ihm, eine Mütze aus schwarzem Pelz, lag schon auf dem Stuhl an der Tür, also bot sie ihm Kaffee an. Sie hatte in dem Herd zur Probe gebacken, und es hatte geklappt. Die Nachwärme war gleichmäßig, und es ließ sich darin gut Zwieback trocknen.
Er tunkte sorgfältig ein und bemerkte, daß in den Dörfern des Kirchspiels von Röbäck keine Frau einen Hut besitze. Bis auf die Frau Pastor.
Rätselhafte Worte. Er hatte beim Sprechen den Mund voller Zuckerzwieback. Nun sagte er, daß gerade mal an die zehn Kinder gegen Pocken geimpft seien. Da sei es doch recht gut, daß Hillevi in der Krankenpflege bewandert und im Gebrauch von Instrumenten geschult sei.
»Aber«, sagte er dann und kaute lange Zeit, bevor es weiterging: Die vorige Hebamme habe einen großen Fehler gemacht. Außerdem habe sie einen Hut getragen.
Zeitweise war er nicht zu verstehen, selbst wenn man von dem Zwieback absah.
»Drei sind’s gewesen vorherig, aber alsfort hat das ein Hü und ein Hott gegeben.«
Das Hü und das Hott, das es mit den Hebammen gegeben hatte, schien vor allem der Unterkunft gegolten zu haben. Feuchtigkeit, Schimmelgeruch unter den neuen Tapeten, Zug vom Fußboden her und undichte Fensterrahmen hätte Hillevi bescheinigen können. Doch sie schwieg vorderhand.
Hinterher dankte sie Gott dafür, mehr oder weniger. Es war Isak Pålsson gewesen, der Gemeindevorsteher. Sie war in allem von ihm abhängig. Und sie wollte die Decke frisch eingezogen und gekalkt bekommen. Hinterher ging sie auf den Boden hinaus und holte den Hut herein, der über dem Kleiderbügel mit ihrem Mantel an einem Nagel hing.
Edvard Nolin war stellvertretender Krankenhauspfarrer, als Hillevi ihn kennenlernte. Es berührte sie, seinen Nacken über dem gestärkten weißen Kragen und dem schwarzen Tuch des Talars zu sehen. Er begleitete sie im Dunkeln nach Hause und legte ihr eines Abends die Hände auf die Schultern. Dann verging eine ganze Woche, bis sie wieder das Zwitschen seiner Galoschen hinter sich hörte. An diesem Abend zog er die Handschuhe aus, und seine Hände tasteten unter dem Mantel nach ihrer Taille. Er wimmerte.
Es war eine große Gewissensfrage für ihn, daß er Hillevi haben wollte. Auf diese Weise, wie er sagte. Für sie war es ebenfalls eine große Sache, aber eine selbstverständlichere. Sie liebte Edvard Nolin nun. Das war eine Bestimmung. Zum Heiraten fehlten ihnen jedoch die Mittel. An manchen Abenden stahlen sie sich die Treppe zu seinem Zimmer hinauf. Auf einem eisernen Ofen mit Kochplatte kochte er Tee.
Nachdem er unter dem Mieder ihres Kleides das Hemd mit der Spitzenkante freigelegt und sich zu einer auf der Oberseite kalten Brust vorgetastet hatte, wimmerte er, als hätte er sich wehgetan. Es wurde auch an diesem Abend nichts.
Als es schließlich geschah, schloß er die Augen. Hinterher saß er in Unterhosen und Unterhemd an seinem Schreibtisch und stützte den Kopf in die Hände. Es brannte keine Lampe, aber vor dem Haus gab es Straßenlaternen. Das Fensterkreuz warf einen Schatten auf den Holzfußboden. Der obere Teil des Kreuzstamms reichte bis zum Bett. Dort lag Hillevi mit Edvards Sperma in einem Taschentuch. Dieses Taschentuch hatte er ihr einen Augenblick kurz vor dem Entscheidenden zugeschmuggelt. Erst als sie etwas Nasses spürte, das an der Innenseite ihres Schenkels kalt wurde, war ihr klar, wozu sie es benutzen sollte.
Die Sache mit dem Taschentuch machte ihn etwas alltäglicher: daß es doch noch etwas Greifbareres wurde als ein Wimmern, etwas, was abgewischt werden mußte. Daran mußte Hillevi denken, wenn er im Versammlungssaal des Krankenhauses Kinder taufte. Recht prompt wischte er dem Täufling mit einer Leinenserviette den Scheitel ab. Er konnte es also.
Nun würde Hillevi Pfarrfrau werden. Sie fragte sich, wie lange es wohl dauern werde, bis sie das Aufgebot bestellen konnten. Edvard war manchmal ein bißchen umständlich. Vielleicht würde sie zum Sommer oder allerspätestens im Herbst in das Pfarrhaus einziehen, auf das Halvorsen mit der Peitschenschnur gezeigt hatte. Merkwürdigerweise waren in den Fenstern Gardinen und Topfpflanzen.
Sie fragte Märta Karlsa, weshalb die Gardinen noch dort hingen und weshalb in dem leeren Pfarrhaus täglich geheizt werde.
»Tun doch der Frau Pastor gehören, die Gardinen und Blumenstöcke«, sagte Märta. »Und leer stehet es auch nichten, das Haus.«
Diese eigentümliche Erklärung versetzte Hillevi einen kalten Stich in der Magengrube.
»Dorten gehet sie«, sagte Märta.
Die Frau Pastor war aus dem Haus gekommen. Sie war kein Gespenst. Sie trug einen altmodischen schwarzen Mantel mit einem Kragen aus drei Volants, die mit Bändern eingefaßt waren und halb zum Ellbogen reichten. Sie verschwand in Richtung Dorf. Ausgezogen! Nein, die waren wahrlich nicht ausgezogen. Den Pastor hatte der Schlag getroffen, und er würde dort liegenbleiben, wo er lag.
»Aber es soll doch ein neuer Pfarrer kommen«, merkte Hillevi vorsichtig an.
»Wird unterm Dach wohnen, der zweite Pastor«, erwiderte Märta.
Da beschloß Hillevi, einen Besuch zu machen. Edvard hatte sich natürlich auf die Sache mit der Dachkammer eingelassen. In alltäglichen und weltlichen Dingen war es nicht weit her mit ihm.
Fünfundzwanzig Jahre alt. Die Hutkrempe lag über dem Haarwulst, der, um die Wahrheit zu sagen, nur wenig Fülle hatte. Die Uppsalagedanken kamen und gingen. Vor allem aber war sie damit beschäftigt, Waschblaublumen auf die Herdmauer zu malen. Immer noch Mädchenzeit: schnelle Entschlüsse, Gefühle, die zuerst in der Magengrube, in den Handflächen, den Achselhöhlen zu spüren waren.
Edvard, ihr Geliebter. Seine Abschiedsworte waren eine letzte Ermahnung gewesen, Stillschweigen zu bewahren. Und sie hatte sich bereits auf der Reise dem Kutscher gegenüber verplappert. Sie war etwas ängstlich, als sie zum ersten Mal an die Tür des Pfarrhauses pochte. Doch dann klopfte sie ordentlich. Faßte sich ein Herz.
Pastor Norfjell lag in dem Zimmer, in welchem er dreißig Jahre lang seine Predigten geschrieben hatte, auf einem Sofa. Einzig die weißen Bartstoppeln deuteten an, daß sein Schädel mit Haut bedeckt war. Sie war vorwiegend gelb.
»So liegt er schon seit Michaeli da«, sagte die Frau Pastor.
Das Bett um ihn herum war hoch aufgebaut, so daß er halb saß. Sein Blick war auf die Wand geheftet. Es war ungewiß, ob er das ausgebleichte Lyrenmuster wahrnahm. Hier muß tapeziert werden, hätte Hillevi beinahe gesagt. Etwas Graugesprenkeltes huschte von der Bettdecke herab und verschwand unter dem Tuch, das vom Traualtar herabhing. Hillevi wußte nicht, ob sie zu dem reglos Daliegenden hingehen und ihn grüßen sollte. Die Frau Pastor erzählte, wie es mit dem Schlaganfall vor sich gegangen sei. Sie meinte, er habe sich angekündigt.
»Ich hatte eine Kiste Äpfel erhalten«, sagte sie. »Aus dem Süden natürlich. Sie wissen sicherlich, daß es hier keine Apfelbäume gibt?«
Das wußte Hillevi nicht.
»Es waren Winterfrüchte. Åkerö. Aber ich wage es nie, mich darauf zu verlassen, daß sie auf dem Dachboden nicht erfrieren, deshalb schneide ich sie in Ringe und dörre sie. Ich sitze also mit der Jungfer in der Küche. Sie schält und ich schneide. Ja, ich nenne sie Jungfer. Hier sagen sie immer nur Magd. Oder Deern. Da ruft er. Er möchte seinen Kaffee haben. Es war etwas früh, aber er hat ihn natürlich bekommen. Ich leistete ihm Gesellschaft. Hier in diesem Zimmer. Er saß am Schreibtisch. Da reichte er mir diesen Zettel.«
Sie watschelte zum Schreibtisch. Hillevi hatte noch nie ein so altmodisches Gewand gesehen. Ein schwarzes Seidenkleid, das an den Nähten graubraun schimmerte. In der Taille waren unzählige Falten. Hinten am Rock war der Stoff zu einer Drapierung zusammengerafft, die eingefallen war. Man ahnte, daß darunter eine Turnüre gesessen hatte. Wahrscheinlich hatte sie dieses Roßhaarpolster in einen Kasten gelegt, als es aus der Mode kam. Niemand hatte das Kleid umgenäht. Auf dem Scheitel trug sie ein paar Spitzenflecke.
»Hier ist er.«
Hillevi las: Plures spes. Una restat.
»Das wolle er auf seinem Grabstein haben, hat er gesagt.«
»Ich weiß nicht, was das heißt«, sagte Hillevi.
»Ich auch nicht.«
Nein, es gab ja niemanden, den man fragen konnte.
»Zwei Wochen später lag er auf seinem Schreibtisch, als ich hereinkam.«
Hillevi sah ihn an. Hörte er? Es deutete nichts darauf hin. Er wirkte streng, aber auch friedlich. Märta Karlsa hatte gesagt, die Frau Pastor sei eine liebenswerte Person. Hillevi fragte sich jedoch, ob seit Michaeli nicht etwas mit ihr geschehen war. Der Winter war lang gewesen, und ihre ganze Gesellschaft hatte aus einer Magd in der Küche und möglicherweise einer Katze bestanden. Und dann diesem reglos auf dem Sofa Liegenden. Die Stimme der Frau Pastor war ein wenig schrill, wie bei einem Menschen, der lange nicht gesprochen hat.
Hier muß die Decke frisch eingezogen werden, dachte Hillevi. Außerdem muß überall tapeziert werden, und die Wände brauchen vermutlich eine neue Füllung. Sie hatte gehört, daß Sägespäne verklumpen, wenn sie feucht werden. Sie hätte gern gefragt, ob das Haus im Winter kalt sei, wußte aber nicht, wie sie das Gespräch darauf lenken sollte. Und wie könnte sie die Küche zu sehen bekommen? Ob ich ihr an einem anderen Tag etwas Selbstgebackenes bringe? Und direkt in die Küche gehe?
»Ja, wir sind 1884 hergekommen«, sagte die Frau Pastor.
Sie sah dabei zu ihm hinüber. Womöglich sprach sie mit ihm. Hillevi war zunehmend davon überzeugt, daß mit dieser liebenswerten Frau Pastor etwas geschehen war.
»Da wurde er zweiter Pfarrer. Wir sollten keineswegs bleiben. Der Bischof hielt große Stücke auf ihn, so jung er auch war. Aber wir sind geblieben. Er hat angefangen, sich sehr für die Lappen zu interessieren, wissen Sie. Und die Lappen waren doch so arm. Sie wollen bestimmt etwas Kaffee haben, Fräulein?«