Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Nora Steinfeld arbeitet in einem Seminarhotel und soll ihre Chefin für vier Wochen vertreten. Kurz nachdem sie die Herausforderung angenommen hat, erhält sie die Diagnose Hirntumor, inoperabel. Und nun? Sie beschließt vorerst niemandem davon zu erzählen. Unbeabsichtigt betritt sie einen der Seminarräume. Ein Professor der Psychologie hält gerade einen Vortrag über die Seele des Menschen. Was sie da hört, ist völlig neu, rüttelt sie auf und führt sie schließlich zu einem ungewöhnlichen Plan.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 582
Veröffentlichungsjahr: 2020
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Für meine große Familie, in Liebe
Die Geheimnisse, die der Mensch in dieser irdischen Welt nicht beachtet, wird er in der himmlischen Welt entdecken, und dort wird ihm das Geheimnis der Wahrheit kund. (‘Abdu’l-Bahá)
VERTRAUENSSACHE
DIE NACHRICHT
NEUES WISSEN
VERWIRRUNG
PROFESSOR SAHAR
WAS MAN ÜBER DIE SEELE WISSEN SOLLTE
ABREISE
NORAS VATER
NORAS BRUDER
DIE NEUE VERANTWORTUNG
VORBEREITUNGEN
DIE FAMILIE TRIFFT EIN
DER SCHOCK
DAS FAMILIENESSEN
SAMSTAG
SONNTAG
MONTAG
DIENSTAG
MITTWOCH
DONNERSTAG
FREITAG
SAMSTAG
SONNTAG
MONTAG
DIENSTAG
MITTWOCH
DONNERSTAG
FREITAG
SAMSTAG
SONNTAG
DIE 2. DIAGNOSE
EINE WOCHE SPÄTER
NACHWORT
ZITATE
Seit einer Viertelstunde warte ich ungeduldig auf meine Chefin. Frau Steger hat mich aufgefordert, alles stehen und liegen zu lassen und ins Büro zu gehen. Sicher wird sie, wie so oft, von einem Hotelgast aufgehalten.
Ich rutsche auf dem braunen Polsterstuhl vor dem antiken Schreibtisch hin und her und muss daran denken, wie ich vor etwa drei Jahren zum ersten Mal diesen Raum betreten habe.
Alles fing mit einer Annonce in der Tageszeitung an, die ich bei einem Besuch meiner Freundin in Thüringen entdeckte: Ein Ausbildungsplatz zur Hotelfachfrau ist noch frei.
Ich hatte gerade mein Wirtschaftsstudium abgebrochen und spontan beschlossen, eine Lehre zu machen. Hotelfachfrau klang gut. Die Gegend gefiel mir. Zudem hatte ich eine Vorliebe für Wanderungen entdeckt.
Beim Vorstellungsgespräch ging Frau Steger nicht auf meine drei abgebrochenen Studiengänge ein.
Sie stellte nur sachlich fest: „Sie haben sich wohl für einen praktischen Beruf entschieden.“ Ich erhielt die Lehrstelle.
Von Anfang an machte mir die Arbeit Freude. Ich merkte, dass ich gut mit Menschen und ihren Befindlichkeiten umgehen konnte. Meine Eltern waren über die Entscheidung zur Lehre zunächst sehr ärgerlich gewesen. Sie bedauerten, dass ihre intelligente Tochter nicht mehr aus ihrem Leben machen wollte. Doch sie gaben sich zufrieden, als ich nach drei Jahren meinen Abschluss mit Auszeichnung bestand und ohne Wenn und Aber übernommen wurde.
„Nora Steinfeld, du hast deine Berufung gefunden“, sage ich halblaut. „Nun musst du noch lernen, dich in Gegenwart deiner hoch gebildeten Familie nicht als Versager zu fühlen.“
Als mir bewusst wird, dass ich Selbstgespräche führe, sehe ich mich erschrocken um und lege mir die Hand auf den Mund.
Beim Blick durch den Raum entdecke ich seitlich zwischen den Pflanzen mein Spiegelbild. Ich sehe blass und kränklich aus. Daran kann selbst meine neue Frisur nichts ändern. Der Bob steht mir eigentlich gut, wie mir mehrere Kolleginnen bestätigt haben. Auch die hellen Strähnen in meinen dunkelblonden Haaren waren eine gute Entscheidung. Doch jetzt bin ich mit meinem Spiegelbild gar nicht zufrieden.
Meine großen blauen Augen, um die mich meine Schwester Lena immer beneidet hat, sehen müde aus. Die weiße Bluse, die zu meiner Berufskleidung gehört, macht mich noch blasser. Wenn ich hier etwas zu sagen hätte, würde ich die schwarz-weiße Kleidung abschaffen und farbenfrohe Dirndl einführen.
Frau Steger betritt den Raum. Ich spüre die Energie, die von dieser Frau ausgeht. Man sieht ihr das Alter von dreiundsechzig Jahren nicht an. Sie ist eine zeitlose Schönheit, groß und schlank und trägt ihre dunklen langen Haare immer hochgesteckt. Das gibt ihr eine gewisse Vornehmheit und Eleganz. Ihre Bewegungen sind schnell, aber nicht hektisch. Sie ist die Seele des Hauses. Manche Gäste kommen nur ihretwegen jedes Jahr wieder. Die älteren Angestellten behaupten, Frau Steger hat das Talent, den Gästen ihre Wünsche von den Augen abzulesen. Jetzt, kurz vor Mittag, wirkt sie etwas erschöpft, als sie sich in ihren Sessel hinter dem Schreibtisch niederlässt. Sie nimmt einen Schluck aus dem Wasserglas, das vor ihr steht. „Möchtest du einen Kaffee, Nora?“
„Nein, danke.“
„Dann nimm wenigstens ein Glas Wasser.“
Ich sehe zu, wie sie ein Glas aus dem Schrank holt und Wasser hineingießt.
Jetzt spüre ich eine gewisse Aufregung. Was hat Frau Steger mir so Dringendes mitzuteilen? Etwa eine Kündigung?
Bei diesem Gedanken wird mir ganz mulmig.
„Nora, ich muss mit dir etwas besprechen“, beginnt sie förmlich. „Frau Sommer ist krank geworden, eine längere Sache. Sie sollte in meiner Abwesenheit das Hotel leiten.
Du weißt ja, dass ich am Donnerstag zu meiner Tochter nach Australien fliegen werde.“ Sie holt tief Luft. „Ich glaube, es ist das erste Mal, dass ich mein Hotel vier Wochen allein lasse. Nora, ich möchte dich bitten, die Leitung des Hotels zu übernehmen.“
Meine Augen weiten sich vor Überraschung. „Das trauen Sie mir zu?“
„Absolut. Das würde aber bedeuten, dass du den Urlaub nicht nehmen kannst, den du eingetragen hast. Du wolltest Mark in London besuchen. Das müsstest du dann verschieben.“
Ich nicke und Frau Steger setzt fort: „Ich werde dir alles noch genauer erklären. Mir ist es wichtig, dass jemand in diesen vier Wochen den Überblick behält, jemand, der immer da ist und das Hotel in meinem Sinne führt. Ich habe den November für meine Reise gewählt, weil es in dem Monat nur wenige Buchungen gibt. Erst habe ich mich geärgert, dass dieses große Seminar mit vierzig Leuten von der Konkurrenz einkassiert wurde, obwohl ich denen ein mehr als großzügiges Angebot gemacht habe. Aber wir haben eben keinen modernen Fitnessraum, keine Sauna und keinen Pool. Ich muss mir etwas überlegen. Wir brauchen Angebote für die Seminarteilnehmer, Angebote zur Entspannung, die aber für uns nicht mit hohen Investitionen verbunden sind.“
„Geführte Wanderungen“, werfe ich ein.
„Dafür haben die Semiarteilnehmer keine Zeit. Aber wir dürfen nicht abschweifen. Im Grunde bin ich jetzt froh, dass der Auftrag nicht an uns ging, denn ein ausgebuchtes Hotel hätte ich dir nicht zumuten können. Was glaubst du, wie schnell der gute Ruf dahin ist. Wenn die Leute wegen Personalmangels eine Viertelstunde länger auf das Essen warten müssen, heißt es schon: Die packen es nicht.“
Frau Steger blättert in ihrem Kalender. „Was haben wir bis jetzt? Das Seminar mit Professor Sahar geht am Freitag zu Ende. Am Sonntagabend rücken die Leute von der Modekette an, die Bezirksleiter, du weißt schon. Zwanzig Gäste.
Sie bleiben eine Woche. Am nächsten Samstag ist eine Geburtstagsfeier mit dreißig Personen. In jeder Woche gibt es kleine Seminare und ein paar Familienfeiern. Es steht alles hier drin. Der größte Teil der Mitarbeiter nimmt Urlaub. Du hast also nur eine kleine Besetzung zur Verfügung. Und am kommenden Wochenende ist hier gar nichts los. Da kann auch dein kleines Team Überstunden abbummeln. Es ist überschaubar und trotzdem, Nora, du bist die einzige von den jungen Mitarbeitern, der ich diese Aufgabe zutraue.“
„Danke“, sage ich leicht beschämt. „Ich werde mich bemühen, dass ich alles zu Ihrer Zufriedenheit ausführe.“
„Eigentlich könntest du mich endlich mal duzen. Ich bin Marks Tante und ich gehe davon aus, dass ihr zusammenbleibt und irgendwann heiraten werdet. Also, ich heiße Sonja.“ Sie nickt mir zu und fährt fort: „Ich habe neulich mit meiner Tochter darüber gesprochen. Mark studiert Wirtschaft, du bist vom Hotelfach. Ihr wärt meine idealen Nachfolger. Natürlich müssen beide Brüder meines Mannes zustimmen. Winfried hat drei Kinder, die ebenfalls Interesse an dem Hotel zeigen. Aber ich bin mir nicht sicher, ob sie das Hotel in meinem Sinne und im Sinne meines verstorbenen Mannes weiterführen würden.“
Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll. Ich habe zwar mit Mark schon einmal darüber gesprochen, was aus dem Hotel werden soll, wenn Sonja in Rente geht. Aber Mark meinte damals: „Onkel Winfried steht schon im Startloch. Er ist zehn Jahre jünger als sein Bruder und die Kinder sind auch ganz scharf darauf.“
„Was sagst du, Nora?“, fragt Frau Steger ungeduldig.
Ich blinzele. „Das hört sich gut an. Ich muss das mit Mark besprechen.“
„Alles ganz in Ruhe. Jetzt bin ich erst einmal vier Wochen weg. Du bekommst in dieser Zeit eine Vorstellung davon, was es heißt, ein Hotel zu leiten. Danach werden wir uns an einen Tisch setzen und Zukunftspläne schmieden.“
Ich nicke nur. Die heftigen Kopfschmerzen, die ich in letzter Zeit habe, kündigen sich wieder an. Hoffentlich ist es nichts Ernstes. Die Ergebnisse der Untersuchungen, die ich auf Anraten meines Hausarztes habe machen lassen, müssten morgen vorliegen, fällt mir ein. Niemand weiß, dass ich in der Klinik in Erfurt war. Und das ist gut so.
Erst am Abend komme ich dazu, Mark in London anzurufen. Ich mache es mir gemütlich zwischen den Kissen auf meinem Bett, wähle seine Nummer und plappere los: „Stell dir vor, Mark, ich werde in den nächsten Wochen das Hotel leiten. Deine Tante hat sogar davon gesprochen, dass du und ich das Hotel übernehmen könnten. Das Problem ist, ich muss meinen Besuch noch mal verschie…“
„Wir sollen was?“, unterbricht Mark in einem scharfen Ton.
„Das Hotel übernehmen“, wiederhole ich vorsichtig.
„Ich weiß gar nicht, ob ich das will, wieder zurück nach Thüringen. Wenn du London erlebst, kommt dir das Leben in einer Kleinstadt öde und langweilig vor. So ein Hotel ist doch ein Klotz am Bein. Du bist immer gebunden und es ist ein finanzielles Risiko. Ich kann mir das im Moment gar nicht vorstellen.“
„Ich dachte, du freust dich. Wir haben doch schon einmal darüber gesprochen.“
„Das war doch nur so eine Idee. Außerdem bin ich davon ausgegangen, dass Onkel Winfried den Laden übernimmt.
Ich studiere doch nicht fünf Jahre Wirtschaft, um dann ein drittklassiges Hotel am Ende der Welt zu leiten.“
Für einen Moment stockt mir der Atem. Ich habe eindeutig andere Vorstellungen von der Zukunft als Mark.
„Was willst du dann?“, frage ich und kann meine Enttäuschung nicht verbergen.
„Eine große Firma leiten, zum Beispiel. Aber dazu muss ich erst einmal mein Studium beenden und das ist im Moment alles andere als einfach.“
„Dann passt es wohl ganz gut, dass ich meinen Besuch verschieben muss.“
Er zögert bevor er sagt: „Ich würde kaum Zeit für dich haben.“
Ich höre eine Stimme im Hintergrund. „Hast du Besuch?“, frage ich nach.
„Nein, ja. Ich muss noch einiges vorbereiten für morgen.
Da hilft mir jemand. Ich muss jetzt auch Schluss machen, Nora.“
„Gut, dann telefonieren wir eben ein andermal“, sage ich bewusst locker und beende das Gespräch.
Ich stehe auf und laufe im Zimmer hin und her. Mark ist seit fast drei Monaten in London. Er ruft mich nur selten an, weil er angeblich keine Zeit hat. Und wenn ich ihn anrufe, störe ich nur. Das wird mir jetzt bewusst. Und diese Stimme im Hintergrund gehörte eindeutig zu einer Frau. Ist er wirklich so beschäftigt oder gibt es eine andere Frau in seinem Leben? Ich fühle mich bei dem Gedanken ganz elend.
Mark und ich haben uns vor knapp drei Jahren hier im Hotel kennengelernt, als er seine Tante besuchte. Seine lässige Art, seine lockeren Sprüche und sein gutes Aussehen waren dafür verantwortlich, dass ich mich sofort in ihn verliebt habe. Es brauchte noch zwei weitere Besuche, bis Mark meine Gefühle erwiderte. Wir sahen uns nur an den Wochenenden, nutzten jede freie Minute, auch wenn ich arbeiten musste. „Man kann sich mit dir so gut unterhalten, Nora“, hat Mark öfter gesagt.
Doch seit London ist es damit vorbei. Ist das jetzt das Ende unserer Beziehung?, frage ich mich und setze mich auf die Bettkante. Eine Welle von Traurigkeit überrollt mich. Ohne Mark werde ich das Hotel nicht übernehmen können. Und ohne Mark werde ich mir auch vorläufig keine eigene Wohnung leisten können. Ich sehe mich im Zimmer um. Es ist ein heller, großer Raum, der praktisch eingerichtet ist.
Ein dreitüriger Kleiderschrank teilt die Schlafecke vom Wohnbereich ab. Neben Couch, Sessel und Fernsehschrank findet sogar noch ein Schreibtisch Platz. Vom Balkon aus hat man einen herrlichen Blick ins Tal.
Conny hat nebenan ein ähnliches Zimmer. Wir teilen uns gerne diese Zweizimmerwohnung mit der großen gemütlichen Wohnküche und dem geräumigen Bad. Die Wohnung befindet sich in einem Nebengebäude des Hotels. Die Miete ist günstig und es ist vor allem praktisch, morgens aus der Tür zu fallen und gleich im Hotel zu sein. Und in Momenten der Einsamkeit ist jemand zum Reden da.
Ich gehe in die Küche. Conny steht am Herd und schlägt Eier in die Pfanne. Sie trägt eine Jogginghose und ein lockeres T-Shirt, ihre Lieblingskleidung, die sie sofort anzieht, wenn sie in die Wohnung kommt. Conny mag die schwarz-weiße Dienstkleidung auch nicht.
Ich setze mich auf den Stuhl und betrachte meine Freundin, wie sie da am Herd mit Pfanne und Kochlöffel hantiert.
Conny hat lange braune Haare, die sie bei der Arbeit zusammengebunden trägt und in der Freizeit immer offen. So wie sie jetzt aussieht, dürfte sie nie die Rezeption betreten.
Conny ist vierundzwanzig, vier Jahre jünger als ich und im zweiten Lehrjahr. Es ist ihre zweite Lehre. Als Chemie-Laborantin hat sie es nur ein Jahr in ihrem Beruf ausgehalten. „Ich muss Menschen um mich haben und keine Reagenzgläser“, hat sie gesagt, als wir uns zum ersten Mal im Hotel begegnet sind.
„Willst du auch Spiegeleier?“, fragt Conny und angelt im Küchenschrank nach einem Teller.
„Nein, danke, ich habe keinen Hunger.“
Conny mustert mich kurz. „Zieh dich endlich um. Das Weiß steht dir gar nicht.“
„Ich weiß, hatte noch keine Zeit.“
„Was ist los? Du siehst nicht gerade glücklich aus.“
„Habe gerade mit Mark telefoniert. Er benimmt sich eigenartig.“
Conny setzt sich zu mir, stellt den Teller ab und sieht mich fragend an. „Er hat mich wieder abgewimmelt, keine Zeit und so. Und im Hintergrund war eine Frauenstimme zu hören. Ob er vielleicht …“
„Da wäre er schön blöd. So was wie dich bekommt er nicht noch einmal“, unterbricht sie mich, bevor sie sich den ersten Bissen in den Mund schiebt.
„Und so ein Angebot auch nicht“, füge ich nachdenklich hinzu.
„Was meinst du?“
„Frau Steger hat angedeutet, dass sie das Hotel schon früher abgeben würde, wenn es ihr in Australien gefällt. Sie kann sich vorstellen, dass Mark und ich es übernehmen. Soll in der Familie bleiben und in ihrem Sinne weitergeführt werden.“
„Wow, dann wirst du hier die Chefin und ich werde deine rechte Hand.“
Ich lache kurz. „Aber nur als Freundin von Mark.“
„Dann musst du alles daransetzen, Mark zu halten. Du wirst ihn doch in einer Woche besuchen.“
„Nein, daraus wird nichts. Ich soll das Hotel für vier Wochen leiten, ich kann hier nicht weg.“
Conny lässt die Gabel fallen. „Und das sagst du so nebenbei. Dann sind doch die Dinge schon klar. Du hast deinen ersten Probelauf, Nora.“
Mein Magen beginnt zu rebellieren. Ich laufe zur Toilette und muss mich übergeben. Was ist das schon wieder? Ich darf jetzt nicht ausfallen, denke ich panisch. Mal sehen, was Dr. Zimmermann morgen sagt, wenn der Befund vorliegt.
Wahrscheinlich muss ich endlich mal eine Diät halten.
Wieder muss ich warten. Diesmal auf den Arzt. Ich sitze seit zwanzig Minuten im Behandlungsraum, nachdem ich vorher schon eine halbe Stunde im Warteraum verbracht habe. Ich bin doch nur zur Auswertung gekommen. Weshalb dauert das so lange? Am Telefon hat die Arzthelferin keine Auskunft gegeben. „Kommen Sie bitte in die Sprechstunde.“ Es klang dringend. Aber vielleicht bilde ich mir das auch nur ein. Conny muss deshalb die Rezeption übernehmen. Sie hat heute ihren freien Tag und will zum Friseur. Ich kann nicht mehr stillsitzen, stehe auf und gehe im Zimmer auf und ab. Die Aquarelle an den Wänden lenken mich ab. Die Thüringer Landschaft in Pastellfarben. Ein Künstler aus der Gegend hat sie gemalt. Im Hotel hängen auch Bilder von ihm. Wenn ich sie betrachte, bekomme ich Lust zum Wandern. Endlich geht die Tür auf und Dr. Zimmermann, ein korpulenter Mann mit Halbglatze in den Sechzigern, tritt ein. Er begrüßt mich ernst, bittet mich Platz zu nehmen und widmet sich zunächst seinem Computer. Anscheinend öffnet er meine Akte.
Dann wendet er sich mir zu und sagt zögerlich: „Nora, ich habe leider keine guten Nachrichten für Sie.“
„Muss ich etwa sterben?“, frage ich lächelnd. Es soll ein Scherz sein. Der Mann runzelt die Stirn. Ich habe ein klares Nein oder wenigstens ein Kopfschütteln erwartet. Doch da ich das nicht erhalte, wird mir der Ernst der Lage klar.
„Ihre Kopfschmerzen, wir haben die Ursache.“ Er zögert wieder. „Ein Hirntumor.“
Dr. Zimmermann wartet, bis die Nachricht bei mir angekommen ist. Ich schnappe nach Luft. „Aber das kann doch gar nicht sein. Ich fühle mich doch gut, na bis auf die gelegentlichen Kopfschmerzen und die Übelkeit… Da kann man doch bestimmt etwas machen? Es haben doch viele Menschen Tumore … Krebs … oder so etwas“, rede ich aufgeregt. Ich sehe den Arzt hilfesuchend an.
Schließlich sagt er leise: „Es handelt sich um einen schnell wachsenden Hirntumor. Das Problem ist, der Tumor sitzt an einem lebenswichtigen Bereich des Gehirns, dem Atemzentrum und ist deshalb inoperabel.“
Ich fühle mich einen Moment wie versteinert, dann presse ich heraus: „Dann muss ich also wirklich ster…?“
Der Arzt nickt ein wenig.
„Wie lange habe ich noch?“
Dr. Zimmermann zögert. „Ich gebe keine Prognosen ab.“
„Ungefähr. Wochen, Monate, Jahre?“ Der Mann druckst herum. „Na sagen Sie schon. Sind es Monate oder Wochen?“, schreie ich ihn an.
„Nicht mehr lange“, flüstert er.
Mir wird übel. Ich gebe einen erstickten Laut von mir und stürze aus dem Behandlungszimmer, aus dem Warteraum, aus der Praxis. Das kann alles nur ein Irrtum sein. Ich fühle mich doch gut. Die Übelkeit in letzter Zeit und die Kopfschmerzen deuten höchsten auf eine Magenverstimmung hin, aber nicht auf einen inoperablen Hirntumor. Ich laufe den Weg zum Hotel im Dauerlauf. Der Weg ist stellenweise vereist. Mehrmals rutsche ich fast aus. Doch das alles nehme ich kaum wahr. Ich klammere mich an den Gedanken: Conny muss zum Friseur und ich muss die Rezeption übernehmen. Völlig erschöpft komme ich im Hotel an und lehne mich einen Augenblick an die Hauswand, um durchzuatmen. Ich betrete das Hotel durch den Seiteneingang, um nicht an der Rezeption bei Conny vorbeizugehen. Vom breiten Flur gehen mehrere Türen ab und die Treppen nach oben und in den Keller. Ein Blick in den goldumrandeten Spiegel zeigt mir, dass ich trotz der Kälte leichenblass bin.
Bloß jetzt nicht der Chefin begegnen. Ich muss erst in meine Wohnung und mein Gesicht herrichten, bevor ich Conny ablösen kann. Niemand darf etwas merken, niemand darf etwas erfahren, schon gar nicht Frau Steger. Sie hat seit Monaten die Reise nach Australien zu ihrer Tochter geplant. Sie will endlich ihr Enkelkind in den Armen halten.
Ich sehe mich im Flur um, achte auf die Tür zum Büro. Ich höre Stimmen, hoffe, dass die Chefin telefoniert und ich mich vorbei schleichen kann. Gerade als ich aus meiner verborgenen Ecke hervortrete, wird die Tür geöffnet. Ich höre Frau Steger sagen: „Wo bleibt denn Nora? Sie können ruhig gehen, Conny. Ich übernehme, muss bloß noch mal kurz in die Küche.“
Vor Schreck ergreife ich die nächste Klinke und schiebe mich in den Raum.
Erst als ich drin bin, wird mir bewusst, dass ich die Tür zum großen Seminarraum geöffnet habe. Zum Glück hat es niemand von den vierzig Teilnehmern bemerkt. Ich lasse mich auf den Stuhl neben der Tür fallen. Eine gefühlte Ewigkeit sitze ich nur da. Ich weigere mich nachzudenken.
Die Nachricht kommt mir so unwirklich vor, wie die Nachricht damals, als meine Schwester tödlich verunglückt war.
Ich habe das Gefühl, auf dem Stuhl festzukleben. Jeder Versuch, mich zu erheben, misslingt. Ich gebe mir den Befehl: Reiß dich zusammen und geh nach oben! Ich starte einen weiteren Versuch. Doch da höre ich den Seminarleiter, Professor Sahar, sagen: „Ein Therapeut, der die Seele des Menschen nicht anerkennt, ist selbst Patient.“ Der Satz trifft mich wie ein Schlag in den Magen und zieht mich wieder auf den Stuhl zurück. Auf einmal bin ich hellwach.
Habe ich richtig gehört? Ein Therapeut, der die Seele des Menschen nicht anerkennt, ist selbst Patient. Das hätten jetzt meine Eltern hören müssen. Mein Vater, ein Professor der Psychologie und meine Mutter, eine Psychotherapeutin, beide bekennende Atheisten, was hätten sie wohl darauf geantwortet?
Ich erinnere mich an die Worte meines Vaters: „Dieses ganze Geschwätz von der Seele ist nicht zu beweisen. Wir haben es hier mit der Psyche eines Menschen zu tun, mit seinem Bewusstsein und seinem Unterbewusstsein. Der Begriff Seele ist unwissenschaftlich.“
Ich habe ihn damals gefragt: „Ist das Herz nicht mit der Seele gleichzusetzen?“ Mein Vater hat nachsichtig gelächelt und geantwortet: „Stell dir vor, man kann heute ein Herz durch eine Transplantation auswechseln. Bekommt der Mensch dadurch einen anderen Charakter? Wird er dadurch ein anderer Mensch?“ Ich habe verneint. Aber was ist die Seele?
Als hätte Professor Sahar meine Gedanken gelesen, gibt er mir eine Antwort auf die Frage: „Die Seele ist ein Zeichen Gottes, ein Geheimnis. Die gelehrtesten Menschen können dieses Geheimnis nicht enträtseln. Die Seele ist das erste von allen erschaffenen Dingen, das die Vollkommenheit des Schöpfers verkündet, Seine Herrlichkeit anerkennt und ihn anbetet.“
Was waren das für seltsame Worte.
„Wenn sie Gott treu ist, wird sie Sein Licht widerstrahlen und schließlich zu Ihm zurückkehren.“
Zurückkehren … Licht widerstrahlen. Die Worte hallen in mir nach. Eine Frage schießt mir in den Kopf: Wo ist denn die Seele? Und im nächsten Moment höre ich die Antwort von dem kleinen untersetzen Mann da vorn, der auch ein Professor der Psychologie ist und schon zum vierten Mal in diesem Hotel ein Seminar gibt: „Die Seele ist nicht im Körper. Man kann die Verbindung zwischen Körper und Seele vergleichen mit der Verbindung zwischen Spiegel und Sonne. Der Spiegel reflektiert die Sonne, aber die Sonne steigt nicht in den Spiegel. Wenn der Spiegel zerbricht, bleibt die Sonne unbeschädigt. So verhält es sich auch mit dem Körper und der Seele. Wenn der Körper zerfällt, bleibt die Seele unberührt. Sie lebt weiter in ewigen Welten.“
Eben noch im apathischen Zustand, werde ich jetzt von einer unerklärlichen Neugier gepackt. Was hat der Professor gesagt? Die Seele lebt weiter in ewigen Welten? Wie kann es sein, dass ich gerade jetzt, zu einem Zeitpunkt, wo der Arzt mir mein nahes Ende verkündet hat, diese Worte höre? Gibt es etwa doch einen Gott, der mich führt, auch wenn man ihn wissenschaftlich nicht beweisen kann?
Meine Eltern glauben nicht an Gott. Ich habe keine religiöse Erziehung gehabt. Wieder lenke ich meine Aufmerksamkeit auf die Ausführungen des Professors und höre ihn sagen:
„Der wahre Mensch ist eben nicht Körper, sondern Seele oder anders gesagt. Der Mensch ist eine Seele, die für die Zeit auf Erden einen Körper hat.“
Und meine Zeit hier auf Erden soll zu Ende gehen? Das kann doch nur ein Irrtum sein.
„Die materielle Welt ist die primitivste Welt im Vergleich zu den unendlichen geistigen Welten. Sie ist der Mutterleib, in dem sich die vernunftbegabte Seele eine Zeit lang entwickelt und ihre geistigen Organe für das Leben im Jenseits bildet“, sagt Professor Sahar.
Geistige Organe in der materiellen Welt ausbilden, die eine Art Mutterleib für die Seele ist, wiederhole ich für mich.
Was waren das für seltsame Ansichten? Noch nie habe ich so etwas gehört. Es klingt unwirklich. Trotzdem bin ich von der Sicherheit des Professors beeindruckt. Und noch etwas fällt mir auf. Die Aussagen geben Trost, schwächen die Schärfe der Mitteilung ab, die ich gerade erhalten habe.
Jemand fragt: „Wie muss ich mir die nächste Welt vorstellen?“
Der Professor antwortet: „Vorstellen können wir uns diese Welt nicht, denn sie ist so verschieden, wie die Welt hier von der Welt des Kindes im Mutterleib. Aber einige Informationen kann ich Ihnen geben. Wir behalten unser Bewusstsein und unsere Individualität. Beides gehört zum Diesseits und zum Jenseits. Die Seele kennt sich selbst, ihre Vergangenheit und steht in engem Kontakt mit Verwandten und Freunden.“
In meinem Kopf wirbeln Fragen durcheinander. Wie soll das gehen, dass ich ohne Körper mein Bewusstsein behalte?
Und wie erkenne ich Verwandte, die auch keinen Körper mehr haben? Ein eigenartiges Gefühl breitet sich in mir aus, das Gefühl, dass ich etwas Grundsätzliches in meinem Leben verpasst habe. Langsam dringt es in mein Bewusstsein, dass ich wohl auch kaum die Gelegenheit haben werde, es nachzuholen.
Der nächste Gedanke trifft mich wie ein Blitz. Plötzlich wird mir bewusst, was mein Tod für meine Eltern bedeuten muss. Sie haben schließlich schon eine Tochter verloren.
Der alte Schmerz taucht wieder auf. Lena ist vor drei Jahren bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Danach haben sich meine Eltern gegenseitig die Schuld an ihrem Tod gegeben. Die Ehe ist daran zerbrochen. Seither leben sie getrennt und sind nicht einmal in der Lage, miteinander zu reden. Das trifft ausgerechnet sie, die beide in der Psychologie zu Hause sind. Mutti ist eine gute Therapeutin, hilft den Menschen mit Trauer und Verlust fertig zu werden.
Vati behandelt das Thema Abschied, Trauer, Verlust in seinen Seminaren. Beide können anderen helfen, nur sich selbst nicht. Vati hat den Verlust von Lena verdrängt, indem er sich eine jüngere Frau gesucht und viele Reisen unternommen hat. Mutti hat sich in die Arbeit geflüchtet.
Sie schaffen es nicht, die Scheidung einzureichen und einen Schlussstrich zu ziehen. Und jetzt komme ich mit einem weiteren Problem. Diesmal handelt es sich nicht um ein abgebrochenes Studium, um ein überzogenes Konto, um eine Grippe, nein diesmal ist es etwas, das man nicht einfach korrigieren kann. Es ist mein Tod. Ich kann gerade noch einen Aufschrei unterdrücken.
Der Professor verkündet eine Pause. Ich springe auf und verlasse den Raum, bevor es die Teilnehmer tun.
Draußen stoße ich mit meiner Chefin zusammen. „Wo warst du denn, Nora? Kannst du jetzt die Rezeption übernehmen? Ich muss dringend weg. Conny ist beim Friseur.“
Ich nicke nur und senke beschämt den Kopf. Sonja Steger hat mir gerade die Leitung des Hotels anvertraut. Jetzt macht es den Eindruck, als wäre ich unzuverlässig. Ich suche krampfhaft nach einer Ausrede. Doch zum Glück hat meine Chefin keine Zeit.
„Ich muss los“, ruft sie und eilt davon. Ich atme tief durch.
Sollte ich ihr vielleicht doch sagen, was mit mir los ist?
Nein, es ist niemand da, der das Hotel in ihrer Abwesenheit leiten kann. Frau Steger soll ihren Urlaub haben und wenn es mit mir sowieso vorbei ist, dann habe ich wenigstens noch eine gute Tat vollbracht.
Ich eile durch die Glastür in die Rezeption. Gerade bildet sich eine Schlange vor dem Tresen. Einige Gäste wollen bezahlen, andere haben noch nicht ihr Mittagessen gewählt und sich in die Liste eingetragen. Das Telefon klingelt zwischendurch. Ich bin gefordert, spule die geübten Begrüßungsworte ab und notiere die Bestellungen.
Sonja kommt noch einmal zurück und ruft mir zu: „Ach, Dr. Zimmermann hat angerufen. Du hast dein Rezept vergessen, sollst noch mal vorbeikommen.“
Ich nicke und werde zum Glück wieder durch das Klingeln des Telefons abgelenkt. Die nächste Stunde bin ich sehr beschäftigt, komme nicht mehr zum Nachdenken. Die Routine hilft mir, zur Ruhe zu kommen.
Während die Gäste zu Mittag essen, gehe ich noch einmal zur Arztpraxis. Die kühle Luft tut mir gut. Der Weg ist nicht mehr vereist. Aber ich gehe trotzdem bewusst langsam. Seltsam, wie sich das Leben von einem Moment auf den nächsten ändern kann. Einige Aussagen des Professors gehen mir durch den Kopf. Ein Therapeut, der die Seele nicht anerkennt, ist selbst Patient. Wie würde mein Vater auf diese Worte reagieren? Wahrscheinlich wäre er hochgegangen wie eine Rakete. Religion ist ein rotes Tuch für ihn. Seine Oma hat da wohl viel Schaden angerichtet.
Wieder kommt mir eine Aussage aus dem Seminar in den Sinn: In der nächsten Welt werden meine Individualität und mein Bewusstsein vorhanden sein und ich werde Verwandte und Freunde, die schon verstorben sind, wiedersehen. Wie mache ich das ohne Körper? Auch bei dieser Aussage würde Vati protestieren. Und trotzdem. Professor Sahar hat hier schon vier Seminare gegeben. Sie waren immer ausgebucht.
Die Seminarteilnehmer sind höfliche, freundliche Menschen. Soweit ich mich erinnere, hat sich nie jemand beschwert. Die Leute geben doch kein Geld für Unsinn aus.
Plötzlich stehe ich vor der Tür der Praxis und wundere mich, dass ich schon da bin. Ich klingele. Kurz darauf öffnet die Arzthelferin die Tür und sagt einfühlsam: „Der Doktor hat auf Sie gewartet. Kommen Sie, Frau Steinfeld.“ Sie begleitet mich in den Behandlungsraum.
Der Arzt sitzt immer noch oder schon wieder hinter seinem Schreibtisch. „Setzen Sie sich, Nora.“ Auch seine Stimme klingt besonders sanft. Er wartet bis ich Platz genommen habe. „Ich weiß, dass die Nachricht ein harter Schlag ist. Es gibt auch keine Worte, die diese Botschaft leichter oder erträglicher machen. Sie sind noch so jung. Da denkt man noch nicht ans Sterben. Sie müssen wissen, dass es Behandlungsmöglichkeiten gibt. Ich möchte Sie zu einem Onkologen überweisen.“
„Was kann der machen?“
„Man könnte es mit einer Kombitherapie versuchen, Strahlen- und Chemotherapie in der Kombination.“
„Habe ich damit eine Heilungschance?“
„Es wäre eine lebensverlängernde Maßnahme.“
„Nein, ich lasse mir keine Chemo verpassen, wenn es sowieso vorbei ist“, sage ich trotzig.
„Nora, Sie müssen die Nachricht erst verdauen. Denken Sie in Ruhe darüber nach, aber warten Sie nicht zu lange. Ich habe Ihnen etwas gegen die Kopfschmerzen aufgeschrieben und empfehle Ihnen, Selen und Vitamindrinks zu nehmen, um das Immunsystem zu stärken. Und hier ist der Krankenschein.“
Ich schüttele heftig den Kopf und spüre sofort einen stechenden Schmerz. „Auf den Tod warten, nein. Ich wohne, lebe und arbeite im Hotel. Meine Chefin freut sich seit Wochen auf ihre Reise nach Australien. Ich soll das Hotel in dieser Zeit leiten. Eigentlich soll ich ihre Nachfolgerin …“ Ich schlage die Hände vors Gesicht. „Oh nein, das wird ja alles nichts mehr. Kann ich denn wenigstens …?“
Dr. Zimmermann legt seine Hand auf meinen Arm. „Wie lange bleibt denn Ihre Chefin weg?“
„Vier Wochen.“
„Das könnte gehen. Aber Sie dürfen sich nicht übernehmen.
Ich bin da, wenn Sie mich brauchen.“
„Bitte erzählen Sie niemandem …“ „Ich bin der ärztlichen Schweigepflicht unterworfen“, unterbricht er mich.
„Was macht man zuerst, wenn man erfährt, dass man in ein paar Wochen sterben wird? Mir fehlt die Erfahrung mit dieser Situation.“ Mein hysterisches Lachen geht in ein Schluchzen über.
„Ich habe auch keine persönlichen Erfahrungen damit“, sagt er leise. „Sie können Dinge erledigen, die Ihnen wichtig sind. Was würden Sie denn gerne in Ihrem Leben noch tun?“
Ohne zu überlegen sage ich: „Frieden in meiner Familie stiften. Meine Eltern leben seit dem Tod meiner Schwester getrennt. Sie sprechen nicht einmal miteinander. Sie geben sich nämlich gegenseitig die Schuld an ihrem Tod. Und mein Stiefbruder spricht nicht mit seinem Vater, weil er ihn für den Selbstmord seiner Mutter verantwortlich macht.
Und meine Oma spricht auch nicht mit meinem Vater, weil er meine Mutter im Stich gelassen hat.“
„Da ist ja ganz schön was los in Ihrer Familie. Woran ist denn Ihre Schwester verstorben?“
„Ein Autounfall vor knapp drei Jahren.“
„Ihre Eltern müssen sich professionelle Hilfe holen.“
Ich lache kurz auf. „Das ist nicht so einfach. Mein Vater ist Psychologe und meine Mutter Psychotherapeutin. Sie sind nur in der Lage anderen zu helfen.“ Die Bemerkung klingt bitter. „Sie dürfen auf keinen Fall etwas von meiner … Sache … Krankheit erfahren. Ich habe schon so viel Mist gebaut in meinem Leben, aber …“ Plötzlich wird mir bewusst, was ich da für einen Unsinn rede. Als ob man den Tod verheimlichen könnte.
„Nora, Sie müssen mit Ihren Eltern reden, je früher desto besser. Es ist wichtig, dass sie Abschied nehmen können.
Das plötzliche, unerwartete Ableben ist härter für die Hinterbliebenen. Das ist jedenfalls meine Erfahrung.“
Ich starre ihn an. Was er sagt, klingt vernünftig und doch scheint es so, als hätte es nichts mit mir zu tun. „Ich weiß nicht, wie ich es ihnen sagen soll: Hallo ihr beiden, habe schlechte Nachrichten. Wollte euch eigentlich keine Probleme mehr bereiten. Aber nun, ich werde demnächst sterben. Das klingt doch wie ein schlechter Witz.“
Wir reden noch eine Weile. Dr. Zimmermann versucht, mich noch einmal von der Kombitherapie zu überzeugen und überreicht mir den Umschlag mit dem Befund. Dann begleitet er mich zur Tür.
Ich gehe in einem langsamen Tempo zurück. Diesmal sehe ich mir Straßen und Häuser genau an, so als würde ich sie zum letzten Mal betrachten.
Ich möchte jetzt niemandem begegnen, hoffe, dass die Mitarbeiter inzwischen gegessen haben. Ich habe absolut keinen Hunger und will lästigen Fragen aus dem Weg gehen.
Bewusst nehme ich den Hintereingang. Links befindet sich die Tür zur Küche, rechts ein Eingang ins Restaurant. Ich gehe davon aus, dass die Gäste ebenfalls mit dem Mittagessen fertig sind und der Raum leer ist. Zögerlich ergreife ich die Türklinke. Da kommt Hannes Becker, unser neuer Koch, aus der Küche und sagt: „Nora, dein Essen steht in der Mikrowelle. Ich mache es dir warm.“
„Danke“, sage ich mit einem gequälten Lächeln. Essen ist das Letzte, was ich jetzt will. Für die Angestellten ist es üblich, im kleinen Speiseraum zu essen. Ich hänge meine Jacke an die Garderobe und gehe mir die Hände waschen.
Als ich zurückkomme, stellt Hannes gerade den Teller auf den Tisch. Er hat seine Kochmütze abgesetzt. Genauso aufmerksam, wie ich die Häuser und Straßen auf dem Rückweg vom Arzt betrachtet habe, sehe ich mir jetzt Hannes an. Seine Haare sind länger als sonst, kräuseln sich am Hals. Er hat braune Haare, ich habe immer gedacht, sie wären dunkelblond. Hannes ist groß, breitschultrig und schlank, fast zu schlank für einen Koch. Ich kenne ansonsten nur Köche mit Übergewicht. Als ich merke, dass auch er mich mit seinen braungrünen Augen mustert, drehe ich mich um und blicke in den großen Speiseraum. Dort ist doch noch jemand. Einige Gäste sitzen in der hinteren Ecke und unterhalten sich mit dem Professor.
Hannes leistet mir Gesellschaft. Das überrascht mich. Er geht normalerweise gleich nach dem Essen nach Hause und kommt erst um sechzehn Uhr wieder. Ich suche nach Worten. Es fällt mir absolut nichts ein, worüber ich mit ihm reden könnte. Hannes ist im Allgemeinen sehr still, aber wenn er etwas sagt, bringt er die Dinge auf den Punkt. Das ist mir manchmal unheimlich und gibt mir das Gefühl, er würde in mich hineinsehen können. Was weiß ich eigentlich von ihm? Er stammt aus der Gegend, hat seine Lehre in Erfurt in einem Sterne-Restaurant gemacht und hat ein paar Jahre auf einem Kreuzfahrtschiff als Koch gearbeitet. Er ist vier Jahre älter als ich. Hannes ist nach Hause zurückgekehrt wegen seiner Mutter, die einen Schlaganfall erlitten hat.
Als ich den ersten Bissen im Mund habe, fragt Hannes, wie es mir schmeckt. Ich fühle mich beobachtet. „Es schmeckt gut. Rosenkohl, Schweinebraten und Kartoffelbrei esse ich eigentlich gern, habe nur leider keinen großen Hunger.“
Sein Blick wandert an mir herunter und wieder hinauf. „Du musst aber essen. Du hast abgenommen und siehst blass aus.“
Seine Besorgnis ist echt und das macht mich noch nervöser.
„Es geht dir nicht gut. Was hast du denn?“
Ich schlucke das Essen herunter und gleichzeitig die aufsteigenden Tränen. Ich ringe um Fassung und sage steif:
„Ich habe heute Nacht schlecht geschlafen.“ Wenigstens das stimmt.
Sonja Steger kommt von der anderen Seite in den Raum gewirbelt. „Nora, warst du beim Arzt? Ich meine, hast du das Rezept abgeholt, ansonsten kann ich es nachher mitbringen.“
„Ja, ja, ich hab es schon.“
„Magenschleimhautentzündung, stimmt’s? Du hast zu viele Süßigkeiten gegessen.“ Sie lächelt mich an.
„Genau“, sage ich und drehe den Kopf zur Seite, damit Sonja nicht merkt, dass ich rot werde.
„Du musst auf deine Ernährung achten. Hannes, Nora bekommt nur Diätkost.“
„Warum sagst du mir das nicht? In dem Fall sind Rosenkohl und Schweinebraten keine gute Idee. Dann iss nur den Kartoffelbrei. Ich kann dir noch welchen holen.“
„Oh nicht nötig, das hier ist genug.“
„Haben Sie schon die Küche fertig, Hannes?“
„Noch nicht ganz.“
Er erhebt sich sofort und geht zurück in die Küche. Sonja sieht ihm nach. „Der Junge hat es nicht einfach. Er kümmert sich um seine kranke Mutter. Sein Vater konnte mit einer kranken Frau nichts anfangen und hat sich aus dem Staub gemacht. Hannes kocht sogar für seine Mutter eine bestimmte Diät. Ich habe ihm angeboten, dass er von hier das Essen für sie mitnehmen kann, aber das hat er abgelehnt. Es war seltsam, wie er auf meinen Vorschlag reagiert hat. Er war richtig aufgebracht, als würde ich anbieten, seiner Mutter Gift zu geben. Keine Ahnung, was er da kocht.
Ist ja auch egal. Für unser Hotel ist er jedenfalls ein richtiger Glücksgriff. Die Küche war noch nie so gut organisiert.
Und das Essen hat auch noch nie so gut geschmeckt. Ich habe ihm für die Dauer meiner Reise die Leitung des Restaurants übertragen. Ihr kommt doch miteinander klar?“
„Ja, ja. Hannes ist still.“
„Das heißt aber nicht, dass er nach deiner Pfeife tanzen muss. Er weiß genau, was er will, hat mich schon von manchen Änderungen im Ablauf überzeugt. So, und jetzt besetze ich die Rezeption. Nora, du kannst dich um den neuen Blumenschmuck kümmern. Aber iss erst in Ruhe zu Mittag.“ Sonja geht und ich fühle so etwas wie Erleichterung.
Im Nebenraum löst sich die Gruppe auf. Einige gehen nach draußen. Der Professor kommt mit einem Seminarteilnehmer in den kleinen Speiseraum, der auch als Durchgang zum Treppenhaus genutzt wird. „Werde ein Mittagsschläfchen halten“, sagt der andere Mann zum Professor.
Ich hoffe inständig, dass mich keiner in meiner Ecke bemerkt. Als Kind habe ich beim Versteckenspielen den Kopf an die Wand gelegt, die Augen geschlossen und geglaubt, dass man mich nicht sieht. Meine Eltern haben das Spiel mitgespielt. Leider funktioniert es nicht mehr in der Erwachsenenwelt.
„Ich wünsche Ihnen einen guten Appetit“, höre ich den Professor sagen und drehe mich langsam um. Höflich bedanke ich mich. Er bleibt stehen und bemerkt: „Das Essen ist hervorragend. Es war immer schon gut, aber mit Ihrem neuen Koch …“
„Ja, ja, Hannes ist Spitze, aber ich habe keinen Hunger“, versuche ich meinen vollen Teller zu erklären.
„Geht es Ihnen wieder besser? Sie sahen vorhin sehr blass aus“, sagt der Professor mitfühlend.
„Ja, ja.“
„Sie sollten Ihrem Körper etwas Ruhe gönnen“, fügt er freundlich hinzu.
Es rutscht mir einfach so heraus: „Und der Seele nicht?“
Er lächelt und zieht überrascht die Augenbraun hoch. „Die Seele ruht sich nicht aus wie der Körper. Sie findet Ruhe im Frieden.“
Ungefragt setzt er sich zu mir an den Tisch. Der andere Mann winkt ihm zu und geht.
Ich bekomme ein beklemmendes Gefühl. War es möglich, dass der Mann mir den Schock angesehen hat? „Dann finden die Seelen meiner Eltern seit drei Jahren keine Ruhe“, sage ich, ohne zu überlegen.
„Weil kein Frieden herrscht, wollen Sie das damit sagen?“
„Ja.“
„Gibt es dafür einen Grund?“
„Meine Schwester ist vor drei Jahren tödlich verunglückt.
Meine Eltern geben sich gegenseitig die Schuld. Mein Vater meint, wenn meine Mutter den Fahrlehrer nicht gekannt hätte, dann wäre Lena nicht mit den paar Fahrstunden davongekommen. Ihr fehlte einfach die Sicherheit. Und meine Mutter ist der Meinung, dass mein Vater ihr nicht diese alte Schrottkarre hätte kaufen dürfen.“
Ich wundere mich über mich selbst, dass ich so offen über das Thema spreche.
„Schuldgefühle, verstehe“, sagt der Professor ernst.
„Ich bin unabsichtlich in Ihr Seminar gestolpert. Was Sie da heute gesagt haben, habe ich noch nie gehört. Meine Eltern sind Psychologen und Atheisten und meiden den Begriff Seele. Das klingt ganz schön hart. Ein Therapeut, der die Seele nicht anerkennt, ist selbst Patient.“
„Und was denken Sie? Trifft das auf Ihre Eltern zu?“
„Auf alle Fälle müssten sie sich professionelle Hilfe holen, um mit Lenas Tod klarzukommen. Ich frage mich gerade, ob es leichter wäre, wenn sie dieses Wissen über die Seele hätten?“
„Ich denke schon“, sagt Professor Sahar mit absoluter Sicherheit. „Nach meiner Überzeugung ist es ein großer Mangel der Wissenschaft, dass der Mensch nur aus der Sicht des Körpers gesehen wird. Die Psychologie steckt in den Kinderschuhen, besser in den Babyschuhen, weil man zu wenig über die Seele weiß. Der Schmerz um den Verlust eines Menschen lässt sich nur ertragen, wenn man weiß, dass es ein Leben nach diesem Leben gibt und dass man sich in den geistigen Welten wiedersieht. Ich kenne keinen anderen Trost für die Betroffenen. Wenn ihre Eltern als Therapeuten arbeiten, aber diesen Trost selbst nicht kennen, was können sie dann ihren Patienten geben?“
„Meine Eltern sind gut“, sage ich verteidigend, aber es klingt nicht überzeugend. „Wo findet man das Wissen über die Seele?“
„In den Religionen.“
„Aber die Psychologie ist eine Wissenschaft.“
„Und sie sollte mit der Religion Hand in Hand gehen.“
„Warum?“
„Wie hat Albert Einstein gesagt: Wissenschaft ohne Religion ist wie ein Lahmer, Religion ohne Wissenschaft ist blind.
Religion und Wissenschaft kann man mit zwei Flügeln vergleichen, auf denen sich die menschliche Geisteskraft zur Höhe erheben kann. Würde man nur mit dem Flügel der Religion fliegen, würde man im Aberglauben landen. Benutzt man nur den Flügel der Wissenschaft, landet man im Sumpf des Materialismus.“
„Das wäre ein heißes Thema für meinen Vater. Er ist der Meinung, dass Religion nur aus abergläubischen Bräuchen besteht.“
Der Professor nickt. „Und da muss ich ihm Recht geben.
Leider stimmen die meisten Religionen nicht mehr mit den wahren Grundsätzen ihrer ursprünglichen Lehre überein.“
Frau Steger kommt an den Tisch. „Nora, wie weit bist du?“
Der Professor erhebt sich sofort. „Oh, Entschuldigung, Frau Steger. Ich habe Ihre Mitarbeiterin vom Essen abgehalten.“
Er schaut mich an. „Wir können unser Gespräch gerne fortsetzen, oder Sie kommen einfach ins Seminar, wenn es Ihre Zeit erlaubt.“ Er wünscht uns einen schönen Tag.
„Nora, du musst mehr essen“, sagt Frau Steger besorgt, als sie den vollen Teller sieht. Dann wechselt sie wieder in einen geschäftsmäßigen Ton: „Wenn du soweit bist, gehst du zum Blumenladen. Sie haben keine gelben Gerbera.
Schau dir mal ein paar alternative Gestecke an und entscheide dann.“
„Ich … und wenn …“
„Ich verlass mich auf dich“, sagt sie schnell und geht wieder.
Sie verlässt sich auf mich. Ich kann ihr unmöglich sagen, dass ich ausfalle. Ich muss die nächsten vier Wochen durchhalten, irgendwie. Und irgendwie muss ich meine Eltern informieren, aber am Telefon geht das nicht.
Ich schaffe es, noch ein paar Bissen vom Kartoffelbrei herunterzuschlucken. Dann bringe ich den Teller in die Küche und werfe die Reste in den Mülleimer. Zum Glück ist Hannes nicht mehr da.
Ich nehme meine Jacke und gehe den Weg zum Blumenladen. Es ist nur ein kurzer Weg von zehn Minuten. Das dritte Mal bin ich heute zu Fuß unterwegs. Das Laufen tut mir gut.
Du musst in Bewegung bleiben, nur nicht stillsitzen und grübeln. Konzentriere dich auf das, was dran ist, schärfe ich mir ein.
Im Blumenladen stehen drei Gestecke auf einem kleinen Tisch. „Das sind unsere alternativen Vorschläge für das Hotel“, erklärt die junge Verkäuferin, als ich eintrete. Ich betrachte die Gestecke aus rotgelben Rosen, rosa Nelken und roten und weißen Gerbera. Aber ich kann mich nicht entscheiden. Die Verkäuferin bemerkt meine Unentschlossenheit und sagt: „Das nächste Mal klappt es mit den gelben Gerbera wieder.“ In diesem Moment geht die Tür auf und Hannes tritt ein. Er grüßt knapp und kommt zu mir rüber. „Sollst du die Blumen aussuchen?“
„Ja, ich kann mich aber nicht entscheiden.“
„Ich würde die Rosen nehmen“, sagt er ohne lange zu überlegen. Dann geht er zum Tresen und fragt die Verkäuferin: „Ist mein Strauß fertig?“
„Aber sicher, Hannes. Wie immer: Rosen für die wichtigste Frau in deinem Leben. So einen Mann möchte ich auch mal kennenlernen, der mir jede Woche einen so tollen Strauß schenkt.“
Meine Neugier ist geweckt. Sind es rote Rosen? Ich drehe mich um. Nein, es ist ein bunter Strauß, der pure Lebensfreude ausstrahlt. Er steht so völlig im Kontrast zu meinen düsteren Gedanken.
„Der ist aber hübsch“, sage ich und trete näher. Hannes bezahlt und die Verkäuferin wickelt den Strauß in Papier ein. „Meinst du wirklich, ich soll die Rosen nehmen? Die bunten Gerbera sehen auch hübsch aus.“
„Egal was du nimmst, es ist auf jeden Fall eine Abwechslung.“
„Unsere Chefin hat eine Vorliebe für Gelb, besonders im November“, erkläre ich der Verkäuferin. „Das soll die Sonne ersetzen.“
Die Tür zum Lager wird geöffnet und eine Mitarbeiterin tritt mit zwei Kränzen im Arm aus der Tür.
„Da kommen deine Blumen“, sagt Hannes. Ich reiße die Augen auf und muss mich am Tresen festhalten, weil sich alles um mich zu drehen beginnt. „Meine“, flüstere ich.
„Ich meine die gelben Gerbera“, erklärt Hannes und sieht mich prüfend von der Seite an.
Die Verkäuferin seufzt. „Traurige Geschichte. Der Mann war noch keine vierzig und ist an einem Herzinfarkt gestorben. Er hat drei Kinder. Vierzig ist doch wirklich kein Alter zum Sterben, die arme Familie. Wie soll man das verkraften, wenn jemand von Jetzt auf Gleich nicht mehr da ist?“
Hannes sagt nachdenklich: „Herzinfarkte müssten überhaupt nicht sein, wenn sich die Menschen vernünftig ernähren würden.“ Dann bemerkt er, dass ich neben ihm nach Luft schnappe. „Was hast du denn?“
Ich starre auf die Kränze, die zum Lieferwagen getragen werden. Die Panikattacke rollt wie eine Lawine über mich hinweg. Meine Knie werden weich. Ich kann mich nicht mehr auf den Beinen halten. Hannes fängt mich gerade noch auf. Er schiebt mich auf den nächsten Stuhl. „Hast du ein Glas Wasser, Sabine“, sagt er zur Verkäuferin, die sofort nach hinten läuft. „Tief atmen“, befiehlt er.
Das Glas Wasser kommt und ich trinke es in einem Zug aus. „Danke“, flüstere ich und will mich erheben. „Es geht wieder, wir nehmen die Rosen, Tischsträuße wie immer und zwei große Gestecke für den Empfang.“
„Ich bringe sie morgen früh“, sagt die Verkäuferin besorgt.
Ich versuche aufzustehen, falle aber gleich wieder auf den Stuhl zurück.
„Komm, ich bring dich ins Hotel“, entscheidet Hannes. Er hakt mich unter und zieht mich mit sich. Ich atme tief die kalte Luft ein. Hannes öffnet die Autotür, legt seinen Blumenstrauß nach hinten und schiebt mich auf den Beifahrersitz. „Hast du das öfter?“, fragt er, als er den Motor startet.
„Kränze erinnern mich an Beerdigungen. Ich habe meine Schwester vor drei Jahren verloren, durch einen Autounfall.
Da sind wohl Erinnerungen hochgekommen.“
„Scheint so. Ich bin ein Einzelkind, kann mir gar nicht vorstellen, wie es ist, eine Schwester zu verlieren. Aber bei meiner Mutter hätte es fast geklappt. Sie war von den Ärzten schon abgeschrieben und hat sich doch wieder ins Leben zurückgekämpft. Und das ist jede Woche einen Blumenstrauß wert“, sagt er lächelnd.
„Ach der Blumenstrauß ist für deine Mutter?“, frage ich überrascht und wundere mich über die Erleichterung, die ich bei diesem Gedanken verspüre.
„Ja, im Blumenladen habe ich nur gesagt, dass er für die wichtigste Frau in meinem Leben ist. Sie machen sich nun Gedanken und wollen mehr wissen. Sabine ist die Schwester eines Kumpels von mir, daher die Neugier.“
„Verstehe.“
„Nora, du musst dich hinlegen.“
„Nein, nein, ich gehe in die Rezeption, das geht schon, danke fürs Bringen.“ Er scheint gar nicht zu hören, was ich sage, geht um den Wagen herum und öffnet die Autotür, bevor ich mich abgeschnallt habe. Er hakt mich wieder unter und bringt mich direkt ins Nebengebäude zu meiner Wohnung. Ich fühle mich viel zu schwach, um zu protestieren. Hannes nimmt mir den Schlüssel aus der Hand und öffnet die Wohnungstür. Im Flur sieht er sich kurz um. Er war noch nie hier.
„Da ist mein Zimmer“, sage ich und zeige auf die Tür. Er öffnet sie und bringt mich zur Couch. Dann schließt er das Fenster und greift nach der Decke, die auf der Couch liegt.
„Leg dich hin! Eine Stunde Schlaf und dir geht es wieder gut. Ich sage unten Bescheid.“ Es ist, als ob mein Körper seinen Anweisungen bereitwillig folgt, während in meinem Kopf eine Stimme protestiert: „Du musst jetzt arbeiten.
Steh auf und geh rüber!“ Der Körper siegt, die innere Stimme verstummt. Ich lasse mich von Hannes zudecken.
„Warum mache ich eigentlich widerstandslos, was du anordnest?“
„Weil es dir nicht gut geht und weil du weißt, dass das hier das Richtige ist. Kann ich noch etwas für dich tun?“
„Nur unten Bescheid sagen.“
„Gute Besserung“, wünscht er mir und berührt kurz meinen Arm.
„Danke“, flüstere ich und bin im nächsten Moment vor Erschöpfung eingeschlafen.
Als ich aufwache, stelle ich erschrocken fest, dass ich nicht eine, sondern zwei Stunden geschlafen habe. Zum Glück geht es mir besser. Ich erhebe mich vorsichtig und prüfe, ob meine Beine mir gehorchen. Es klappt. Eine Spur schlechten Gewissens, weil ein anderer für mich die Rezeption übernehmen musste, treibt mich zur Eile. Ich mache mich im Bad frisch, schminke mich nach und gehe nach unten.
Frau Steger sitzt selbst in der Rezeption. Sie mustert mich besorgt, als ich eintrete. „Geht es dir besser?“ Ich nicke.
„Dann kannst du jetzt übernehmen. Ich muss noch einiges für die Reise vorbereiten.“
Ich verbringe die nächsten zwei Stunden am Computer und beantworte zwischendurch die Fragen der Gäste.
Beim Abendessen serviere ich die Getränke. Ich erinnere mich, dass es für die Seminarteilnehmer ein Abendprogramm gibt und ringe mit mir, den Professor zu fragen, ob ich teilnehmen darf. Er hat es mir ja angeboten. Anderseits brauche ich auch Zeit zum Nachdenken, über meine Krankheit, über das, was es zu regeln gibt. Doch eine unerklärbare Neugier treibt mich in Richtung Abendprogramm. Bevor ich Feierabend mache, kassiere ich noch die Getränke ab.
Dabei komme ich auch an den Tisch des Professors. „Darf ich an Ihrem Abendprogramm …“ „Aber sicher dürfen Sie teilnehmen. Sie dürfen auch Fragen stellen“, sagt er gelassen und freundlich. Seine Art beruhigt mich auf seltsame Weise.
Punkt acht Uhr sitze ich wieder auf dem Stuhl neben der Tür. Die Gruppe nimmt auch diesmal im Stuhlkreis Platz.
Der Professor sieht sich um, entdeckt mich und winkt mich heran. Eigentlich will ich nicht im Kreis bei den anderen sitzen. Deshalb gehe ich nur zögerlich nach vorn, suche sogar nach einer Ausrede, wieder gehen zu können. Doch bevor sie mir einfällt, habe ich schon auf dem leeren Stuhl zwischen einem älteren Herrn und einer jungen Frau Platz genommen. Die beiden waren schon öfter hier. Aber ihre Namen fallen mir nicht ein.
Ohne Ankündigung wird Musik gespielt. Im Anschluss lesen einige Teilnehmer Texte. Die Sprache ist ungewöhnlich, es könnten Gebete sein. Aber damit kenne ich mich nicht aus. Es fällt mir schwer, mich zu entspannen. Ich schwanke zwischen Gehen und Bleiben. Da ich mich nicht entscheiden kann, füge ich mich dem Programmablauf.
Der Professor übernimmt das Wort: „Es sind viele Fragen offengeblieben. Deshalb sollten wir die Zeit jetzt für Fragen nutzen.“
Die junge Frau neben mir hebt den Arm. „Wie ist die Beziehung zwischen Seele und Verstand?“
Der Professor sammelt sich einen Moment bevor er antwortet: „Der Verstand ist die Kraft des Menschengeistes, also der Seele. Man könnte den Geist mit einer Lampe vergleichen und den Verstand mit dem Licht, das aus ihr strahlt.
Der Verstand ist die größte Gabe des Schöpfers für den Menschen, sofern er sich dem Höheren zuwendet. Diese Gabe kommt nicht zur Geltung, wenn er für den Lebensunterhalt sorgt oder die Natur erforscht, obwohl er sich auch dann vom tierischen Instinkt unterscheidet. Seine Besonderheit kommt erst zur Geltung, wenn er nach den höheren Schöpfungsbereichen strebt, wenn er vom Heiligen Geist erleuchtet wird. Dann weist der Verstand den Weg, das eigentliche Menschentum zu verwirklichen.“
Eine Hand geht nach oben. „Aber die meisten Menschen wissen doch gar nicht von diesen Möglichkeiten. Viele Menschen leisten Gutes, opfern sich für andere auf. Erfüllen sie damit nicht ihr Menschensein?“
„Leider ist es so, wenn dieses Bewusstsein für die Berufung des Menschen fehlt, stehen meistens weltliche Motive im Vordergrund. Das fehlende Bewusstsein über den eigentlichen Sinn des Lebens, ist die Ursache für die Zerrüttung der Welt und der Hohlheit und der Oberflächlichkeit der einzelnen Menschen. Es ist auch der Grund für Ängste, für Hetze und Unzufriedenheit, auch der Grund für die Flucht in Betäubungsmittel. Erst wenn der Verstand sich den himmlischen Einflüssen zuwendet, entwickelt sich Weisheit. Das Studium des Wortes Gottes hilft uns dabei.“
Ich frage mich, warum ich darüber noch nie etwas gehört habe. Weder beim Studium, noch in der Schule war davon die Rede, dass der Mensch auf der Welt ist, um seinen Verstand den himmlischen Dingen zuzuwenden, weil nur da der Sinn des Lebens zu finden ist. Ich habe Schwierigkeiten, mich auf die weiteren Ausführungen des Professors zu konzentrieren.
„Die Seele muss lernen, vom geistigen Reich zu empfangen und das Empfangene im materiellen Bereich zu verwirklichen. Der Körper dient ihr dabei als Werkzeug.“
„Was ist, wenn die Seele nicht vom geistigen Reich empfängt?“, höre ich mich sagen und erschrecke selbst darüber.
„Die Seele sollte den Körper zu ihrem Diener machen, ansonsten dreht der Körper den Spieß um und wird zum Herrn über die Seele. Dann wird die Seele in das Netzwerk der Kräfte des Materiellen verwickelt. Sie büßt ihre eigene Stufe ein und verirrt sich im Labyrinth des Tierreiches. Die Taten, die dann entstehen, beruhen auf den Befehlen der Triebe und dienen im übertriebenen Maße der Erhaltung und der Fortpflanzung des Lebens auf Erden.“
Wie lerne ich vom geistigen Reich zu empfangen?, schießt mir durch den Kopf, aber ich wage nicht, die Frage laut zu stellen. Die weiteren Themen drehen sich um das Weiterleben der Seele nach dem Tod, um Beweise für die Unsterblichkeit des Geistes, um die Rolle der Religion. Manches verstehe ich sofort, andere Dinge sind so neu, dass sie wie ein Schnellzug an mir vorbeiziehen. Doch eines nehme ich aus der Frage- Antwortrunde mit. Der Tod des Körpers ist nicht das Ende des Lebens. Der Tod ist der Übergang in eine geistige Welt. Und noch etwas habe ich verstanden.
Das Leben hier hat einen Sinn, nämlich die Vorbereitung auf das Leben danach. Ich frage mich nun, ob ich noch genügend Zeit habe, um mich auf das nächste Leben vorzubereiten.
Ich muss an die gelben Gerbera im Blumengeschäft denken und an das, was die Verkäuferin gesagt hat: „Der Mann war noch nicht einmal vierzig. Was das für ein Schock für die Familie ist, wenn man von Jetzt auf Gleich aus dem Leben scheidet.“
Wie sollen meine Eltern den Verlust ihrer zweiten Tochter verkraften?
Ich höre den Professor sagen: „In diesen unruhigen und stürmischen Zeiten brauchen die Menschen eine Vorbereitung auf das ewige Leben.“
Wie ein Blitz schlägt dieser Satz ein. Das ist die Antwort!
Plötzlich habe ich eine Idee. Meine Familie muss das wissen. Dann können sie vielleicht mit meinem Tod besser umgehen, den Verlust beider Töchter besser verkraften.
Dann schaffen sie es bestimmt, miteinander zu reden. Aber ich kann es ihnen nicht erklären. Dazu fehlt mir das Wissen. Ob der Professor vielleicht bereit wäre, ein Seminar für meine Familie zu geben? Zunächst erscheint mir der Gedanke verrückt. Doch er lässt mich nicht mehr los. Wenn der Professor bereit wäre, könnte ich meiner Familie sagen, dass ich ein Seminar für sie organisiert habe. Es soll ein Geschenk sein, vielleicht mein Abschiedsgeschenk. Es wird zunächst ein harter Schlag für alle sein, wenn sie aufeinandertreffen. Dann werden sie wissen wollen, was ich ihnen zu sagen habe. Ich werde ihnen den Professor vorstellen und das Seminar ankündigen. Oh Gott und dann? Mein Vater und der Professor, Feuer und Wasser sind dagegen eine Einheit. Trotzdem scheint es der beste Weg zu sein, sie auf mein Ableben vorzubereiten. Ich staune über mich selbst, wie nüchtern ich jetzt über meinen Tod denke. Dabei habe ich erst heute die Nachricht erhalten. Es liegt an den Aussagen des Professors, dass ich jetzt so denke. Es ist, als würde man dadurch einen ganz neuen Blick auf Leben und Tod bekommen, der Tod verliert seinen Schrecken. Seltsam. Ich habe eher das Gefühl, dass ich mich auf eine Reise vorbereite, über die ich meine Familie in Kenntnis setzen möchte. Und ich will mehr über diese Reise erfahren. Ich werde aus meinen Gedanken gerissen, als sich die anderen erheben und alle durcheinanderreden.
„Ich wünsche Ihnen eine gute Nacht“, sagt Professor Sahar, und einer nach dem anderen verlässt den Raum. Ich wage noch nicht, den Professor zu fragen, muss darüber eine Nacht schlafen. Deshalb beeile ich mich, den Raum zu verlassen. Ich gehe direkt in meine Wohnung.
Connys Zimmertür steht offen. Sie sitzt vor dem Fernseher und sieht sich einen Film an. „Nora, na endlich, ich dachte schon, du übernachtest im Seminarraum.“
„Es war sehr interessant und neu und vor allem wichtig.“
„Worum ging es denn?“
„Um die Seele und das Weiterleben nach dem Tod.“
„Oh. Das interessiert dich? Mich nicht. Ich will erstmal leben.“ Conny stellt den Ton leiser.
„Der Tod kann jederzeit kommen. Und er kommt überraschend“, sage ich nachdenklich.
Conny setzt sich aufrecht hin. „Entschuldige, ich habe nicht an deine Schwester gedacht. Du hast schon diese Erfahrung gemacht. Das erklärt natürlich dein Interesse. Hat der Professor tatsächlich sagen können, wie es weitergeht? Wo erfährt man so etwas?“
„Es geht weiter. Der wahre Mensch ist Seele, verstehst du.
Wir denken, dass wir ein Körper sind, aber in Wirklichkeit sind wir eine Seele, die für kurze Zeit einen Körper hat, damit sie sich entwickeln kann. Und die Seele ist auch nicht im Körper, sondern sie ist mit dem Körper verbunden wie die Sonne mit dem Spiegel.“
„Was ist denn das für ein Unsinn? Wo steht denn so etwas?“
„Na in den Religionsschriften.“
„Du und Religion?“
„Ja, ich weiß, das ist völlig neu für mich, aber interessant.“
Conny schweigt eine Weile. „Aber deine Schwester kommt deshalb auch nicht zurück.“
„Das wäre ja auch unnatürlich. Ein Säugling geht auch nicht wieder in den Bauch seiner Mutter, wenn er in diese Welt geboren ist.“
Conny runzelt die Stirn. „Du meinst die Entwicklung geht weiter?“
„Mit anderen Gesetzen, in einer anderen Form, aber sie geht weiter und wir werden uns wiedersehen.“
„Aber wer weiß schon, ob das stimmt.“
„Nur weil uns die Vorstellung fehlt, bedeutet es nicht, dass das nicht stimmt.“
„Hast du auch wieder Recht. Was soll’s. Wenn es dir hilft, den Tod deiner Schwester zu verarbeiten, ist es schon okay, so etwas zu glauben“, sagt Conny einfühlsam.
„Es hilft mir, mich auf meinen eigenen Tod vorzubereiten“, entgegne ich leise und bin nun soweit, Conny von der Diagnose zu erzählen.
Doch dann sagt sie: „Komm, lass uns über etwas anderes reden.“
Damit schlucke ich das Geständnis, das mir auf der Zunge liegt, herunter.
Ich liege die halbe Nacht wach. Schmerzen habe ich nicht.
Mir ist nur etwas übel. Ich bin körperlich erschöpft. Verzweiflung und eine Art Neugier wechseln sich ab und schließlich wächst der Entschluss, meine Familie auf meinen Tod vorzubereiten. Ich spiele immer wieder unterschiedliche Fassungen durch. Doch alles hängt davon ab, ob der Professor bleiben kann. Ohne ihn kann ich den Plan nicht umsetzen.
Frau Steger weicht mir an ihrem letzten Tag nicht von der Seite. Sie erklärt jede Kleinigkeit doppelt und dreifach und schreibt alles Wichtige auf einen großen Zettel. Selbst der freundliche Umgangston wird schriftlich festgehalten. Ich blicke auf die lange Liste im Büro meiner Chefin. Im Grunde steht dort nichts, was ich nicht schon weiß.
Frau Steger sagt: „Sorge dafür, dass nicht zu viel Personal hier ist, wenn das Hotel wenig oder gar keine Gäste hat, so wie am Wochenende. Die Seminargruppe Professor Sahar reist am Freitag ab. Es genügt, wenn du das Telefon auf dein Handy umstellst. Dann können sich alle ab Freitagmittag ein langes Wochenende genehmigen. Für die neue Woche sind zwanzig Seminarteilnehmer angemeldet. Sechs reisen Sonntag nach 20 Uhr an. Kann spät werden.“
Ich setze fort: „Diese Gruppe bleibt bis Freitag und am Samstag ist die Geburtstagsfeier. Da übernachten dann sechs Gäste im Haus.“
„Richtig. Die nächsten zwei Wochen sind auch schwach besetzt. Aber falls noch kurzfristige Anmeldungen kommen, musst du alles erst mit Hannes absprechen, ob er es mit der kleinen Besetzung stemmen kann.“
„Ja, ja“, antworte ich leicht genervt. Ich habe den Satz heute schon wenigstens zwanzigmal gehört und kann ihn singen. „Ich komme klar. Willst du nicht langsam mal packen?“ Im Laufe des Tages habe ich mich an ihren Vornamen und an das Du gewöhnt. Doch nun erschrecke ich mich über meinen Ton. Den würde ich bei meiner Mutter oder bei Conny anschlagen, aber nicht bei meiner Chefin.
Doch Sonja Steger scheint es gar nicht bemerkt zu haben.
Gedankenverloren murmelte sie: „Die zerbrechlichen Sachen müssen noch ins Handgepäck. Das meiste ist schon verstaut. Zwei große Koffer, die ich kaum tragen kann, müssen für vier Wochen genügen.“ Und schon schwenkt sie wieder zu den Aufgaben im Hotel um: „Wenn Reparaturen anfallen, dann musst du dich an eine Fachfirma wenden.
Unser Hausmeister hat auch Urlaub genommen und ist verreist, Kanarische Inseln. Die Telefonnummern der wichtigsten Firmen liegen im ersten Fach. Aber lass dir erst einen Kostenvoranschlag geben, am besten noch ein Vergleichsangebot.“
„Ja, ich weiß Bescheid.“