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Die Künstlerin Anna Luise Bach hat sich mit ihren Häuserbildern einen Namen in der Kunstwelt gemacht. Nach einer Lebenskrise zieht sie sich auf ihren Bauernhof zurück und führt die Töpferei Ihrer Mutter weiter. Da der Verdienst zum Leben nicht reicht, lässt sie sich von ihrer Cousine überreden, einen Mal- und Töpferkurs anzubieten. Es finden sich sieben Teilnehmer ein, die etwas gemeinsam haben: Sie sind NICHT zum Malen und Töpfern gekommen ...
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Seitenzahl: 560
Veröffentlichungsjahr: 2017
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Für alle, die aus dem Schattenreich ins Licht der Kreativität treten möchten.
„Wenn die Menschen als Mitglieder welcher Gemeinschaft auch immer indes begreifen, dass die Kunst ein lebendiger Bestandteil ihres Lebens werden kann, werden sie ein intensiveres und mehr noch, ein neues Sehen und ein neues Hören gewinnen – und der Künstler wird nur zu gern aus seinem Elfenbeinturm herauskommen, um wieder ein Teil des Ganzen zu werden, und alle werden diese und ähnliche Entwicklungen als die Manifestation eines höheren menschlichen Bewusstseinsgrades erkennen – die Vision des Ganzen.“
(Mark Tobey)
Erster Teil
Die Idee
Ein neuer Auftrag
Das Leben auf dem Bauernhof
Auf der Suche nach Anna
Die Nachbarn
Kleine Schritte
Von der Idee zur Planung
Die Kramers
Sechs Berufe
Katja Franke, Mona Ellenburg
Thomas Baumgarten
Markus und Isabel Vollmer
Susanne Schubert
Die Entdeckung
Der Start
Zweiter Teil
Die Anreise
Sonntag
Montag
Dienstag
Mittwoch
Donnerstag
Freitag
Samstag-Abreisetag
Dritter Teil
Sechs Wochen später
Die Eröffnung
Zukunftspläne
Nachwort
Anna Wagenbach saß in ihrer altmodischen, aber gemütlichen Wohnküche und trank aus ihrer Lieblingstasse Pfefferminztee. Ihre Mutter, Katharina Wagenbach, hatte sie nicht nur selbst getöpfert, sondern auch mit weißen Schmetterlingen bemalt; ein Geschenk zum zehnten Geburtstag.
Anna umklammerte die Tasse mit beiden Händen, um sich aufzuwärmen.
Wenn es finanziell noch enger wird, dachte sie, kann ich einen Handel mit Bio-Pfefferminztee betreiben. In der hinteren Ecke ihres Gartens wucherten verschiedene Sorten Minze.
Was für ein Tag! Sie hatte auf dem Markt lediglich zwei Stücke ihrer Töpferware verkauft. Es war ein Tag mit Dauerregen und eisigem Wind, ein Tag, der für Geschäfte unter freiem Himmel so wenig geeignet war, wie ein Freibad im Winter. Wenn sie den Wetterbericht am Morgen gehört hätte, wäre sie gar nicht erst losgefahren.
Der Tee tat ihr gut, wärmte und nahm etwas von ihrer Frustration.
„Die Leute haben kein Geld für Keramikartikel“, hatte die Frau vom Gemüsestand mitleidig gesagt. Anna fragte sich, wie ihre Mutter nach dem Tode ihres Vaters von der Töpferei leben konnte. Über Geldangelegenheiten hatten ihre Eltern nie offen mit ihr gesprochen. Anna war auf Märkten aufgewachsen. Entweder stand ihr Vater dort und verkaufte Gemüse oder ihre Mutter Keramikartikel. Sie liebte eigentlich dieses Leben, das bunte Treiben, die Gespräche der Händler, ihre freundschaftlichen Gesten. Es war eine Erinnerung an eine schöne Kindheit. Ihr Vater war nach schwerer Krankheit vor acht Jahren gestorben, ihre Mutter ganz plötzlich vor drei Jahren. Anna hatte mit ihren dreiunddreißig Jahren schon einige Schicksalsschläge hinnehmen müssen.
Nach ihrer Lehre als Keramikerin studierte sie an der Kunsthochschule Berlin-Weißensee Malerei. Schon während des Studiums erregte sie mit ihren Bildern Aufmerksamkeit. Der Erfolg wurde beschleunigt, als sie Leonard Kaltwasser, einen aufstrebenden Architekten, kennen und lieben lernte. Er versorgte sie mit Aufträgen, stellte Verbindungen zu Galerien und Kunden her und nahm ihr die leidigen Preisverhandlungen ab. Anna und Leonard wurden von den Journalisten immer wieder als erfolgreiches Traumpaar bezeichnet. „Zu einem Traumpaar gehört ein Traumhaus“, hatte Leonard gesagt, eine hundertjährige Stadtvilla gekauft und für ihre Ansprüche umbauen lassen.
Das gesamte Dachgeschoss wurde Annas Atelier: geräumig, lichtdurchflutet, der Traum eines jeden Malers. Annas Aufgabe war es lediglich, die Aufträge, die Leonard besorgte, abzuarbeiten. Eine individuelle Spachteltechnik, besondere Farbmischungen und ihre Liebe zu stimmungsvollen Häusern und Städteansichten öffneten ihr eine Tür in die Kunstwelt. Das Problem: Man wollte nur diese Bilder, Häuserbilder von Anna Luise. Auf Leonards Rat hin hatte Anna sich den Künstlernamen Anna Luise Bach zugelegt.
„Den Namen Bach kann man sich leichter merken. Er erinnert an den Komponisten“, war seine Begründung gewesen.
Leonard hatte ein Gespür für erfolgreiche Geschäfte. In kurzer Zeit häuften sich die Nachfragen.
Anna konnte sich bis heute nicht erklären, warum die Leute so verrückt nach diesen Bildern waren. Drei Jahre arbeitete sie wie eine Maschine. Dann merkte sie, dass sie morgens widerstrebend aufstand, herumtrödelte und nicht mehr in ihr perfektes Atelier wollte. Die Abneigung wurde von Tag zu Tag größer und damit auch die Wut auf Leonard, der das nicht nachvollziehen konnte. „Ich zeichne auch nur Häuser.
Hab dich nicht so. Was willst du eigentlich? Andere Künstler wären froh, wenn sie deine Aufträge bekämen“, sagte er, wenn sie versuchte, ihm zu erklären, dass sie nicht mehr malen könne. Aus ihrer Sicht verloren die Bilder nach und nach an Qualität. Man sah ihnen den Widerwillen der Malerin an. Die letzten beiden Bilder zerstörte Anna aus diesem Grund, obwohl sie fertig und bereits angezahlt waren. Leonard war außer sich gewesen.
Um etwas zur Ruhe zu kommen, beschloss Anna, endlich mal wieder nach Hause zu fahren. Während sie die Tasche packte, erhielt sie einen Anruf von ihrer Tante Elli. Ihre Mutter war mit einem Herzinfarkt ins Krankenhaus eingeliefert worden. Anna fuhr sofort nach Brandenburg in die Klinik, doch es war zu spät. Ihre Mutter war an den Folgen des Infarktes eine halbe Stunde zuvor verstorben.
Danach sank Anna in eine tiefe Krise. Der Hausarzt diagnostizierte einen Burnout und empfahl eine stationäre Aufnahme in eine psychiatrische Klinik. Doch Anna sehnte sich nur nach Ruhe, und die fand sie in dem nun leeren Elternhaus. Sie meldete das Telefon ab, verschenkte ihren Laptop und den Fernseher. Leonard hatte kein Verständnis für ihr Ruhebedürfnis. Als er sie nach vier Wochen besuchte, beendete Anna die Beziehung. Es war nur noch eine Formsache. Leonard konnte mit einer Frau, die nicht mehr nach Erfolg strebte, nichts anfangen.
Ihrer Tante Elli, die nebenan wohnte, verdankte sie, dass sie in dieser schweren Zeit nicht verhungerte. Der Hund Frieder war dafür verantwortlich, dass sie zweimal am Tag spazieren gehen musste. Der Garten, die Hühner und die Katze Liese sorgten für einen Lebensrhythmus, so dass sie nicht nur herumliegen konnte. Eine Besserung ihres Zustandes erfolgte erst nach einem halben Jahr. Ihre ersten kreativen Handgriffe galten den Blumenbeeten. Nach einem Jahr war sie bereit, Gemüse für den Eigenbedarf anzubauen, die Werkstatt ihrer Mutter aufzuräumen und ein paar Gefäße zu töpfern.
Auch das zweite Jahr verging und Anna hatte immer noch nicht gemalt. Für sie stand fest, dass sie nie wieder Pinsel und Spachtel in die Hand nehmen würde. Bereits beim Gedanken daran rebellierte ihr Magen.
Im dritten Jahr begann sie, die Arbeit ihrer Mutter fortzusetzen. Obwohl sie einige Stücke verkaufte, genügte es nicht für den Lebensunterhalt. Ihr Auto musste in die Werkstatt. Die Reparatur verschluckte eintausend Euro. Die Waschmaschine ging kaputt. Für eine neue reichte das Geld nicht. Zum Leben selbst benötigte Anna nicht viel. Den größten Teil ihrer Nahrung deckte der Garten. Für den Winter legte sie sich einen Gemüsevorrat im Gefrierschrank an.
Auch hatte sie keinen großen Anspruch an Kleidung. Aber Heizung und Strom waren nötig und die Kosten für das Grundstück und das Material für ihre Arbeit mussten ebenfalls bezahlt werden.
Der Regen hatte aufgehört. Anna blickte aus dem Fenster.
Die grüne Insel mitten auf dem Hof, die in Kopfsteinpflaster eingefasst war, wurde in warmes Sonnenlicht getaucht.
Ihre Mutter hatte Wert darauf gelegt, dass dort zu jeder Jahreszeit etwas blühte. Zu Zeiten ihrer Großeltern befand sich auf diesem Platz ein Misthaufen. Jetzt verblühten die letzten Tulpen und Narzissen. Die Pfingstrosen bereiteten sich auf ihren Auftritt vor.
Es klopfte. Charlotte, ihre Cousine, trat mit einem Teller voll Kuchen ein. „Mutter hat gerade gebacken. Du hast den ganzen Vormittag bei diesem Wetter auf dem Markt gestanden. Sie meint, du brauchst eine Stärkung.“
„Danke, Lotte. Komm, setz dich!“ Ungefragt goss Anna ihrer Cousine Pfefferminztee ein.
„Hat es sich wenigstens gelohnt?“, erkundigte sich Lotte einfühlsam.
„Sechsundvierzig Euro“, antwortete Anna und unterdrückte einen Seufzer. „Ich hatte gehofft, dass meine neuen Stücke in Türkis ankommen würden. Einige fanden sie schön, aber zu speziell.“ Anna zuckte mit den Schultern. „Vielleicht sollte ich Pfefferminztee verkaufen.“
Lotte sagte nachdenklich: „Ausgefallene Stücke gehören in eine Galerie und nicht auf den Markt. Das hat deine Mutter immer gesagt. Und die würden dort auch einen anderen Preis erzielen.“
Anna nickte schweigend und nahm sich ein Stück Kuchen.
„Mutti war sehr verständnisvoll: ,Die Menschen hier wollen einen Steinkrug zum Gurkeneinlegen und brauchen kein Teil, das nur herumsteht‘“, erinnerte sie sich. „Trotzdem frage ich mich, wie sie nach Vaters Tod von der Töpferei leben konnte.“
„Sie war sehr genügsam. Außerdem bekam sie da schon eine kleine Rente“, antwortete Lotte.
Anna meinte versunken: „Es gab mal eine Zeit, da habe ich sehr gut verdient und bin gar nicht auf den Gedanken gekommen, meine Mutter zu unterstützen.“
„Das hätte sie auch nicht gewollt. Sie war sehr stolz auf deinen Erfolg.“
„Ja, ich weiß. Zum Glück musste sie nicht mehr meinen Absturz erleben.“
„Sag nicht Absturz“, protestierte Lotte heftig. „Du warst erschöpft. Das passiert, wenn Menschen zu viel arbeiten.“
„Egal wie man es nennt, es bleibt ein Absturz, von dem ich mich immer noch nicht erholt habe.“ Lotte schwieg dazu.
Sie wusste, wie mühsam sich ihre Cousine ins Leben zurückgekämpft hatte. Anna nahm sich noch ein Stück Kuchen. „Ich muss mir jetzt überlegen, wie ich die Heizkosten für den nächsten Winter auftreibe. Meine Reserven sind aufgebraucht.“
„Du hättest Leonard nicht alles überlassen sollen. Er hat die Einnahmen aus dem Verkauf deiner Bilder mit ins Haus gesteckt und bewohnt es jetzt mit einer anderen Frau“, sagte Lotte vorwurfsvoll.
„Ich habe ihm genug Ärger gemacht. Er hat Aufträge angenommen, die ich nicht erfüllen konnte. Das nimmt er mir wahrscheinlich heute noch übel. Außerdem hat ihn mein Absturz einen Großauftrag gekostet. Soll ich da jetzt hingehen und sagen: Hallo Leonard, ich bekomme noch Geld von dir. Ich weiß sonst nicht, wie ich meine Heizkosten bezahlen soll.
Nein, das geht gar nicht. Lieber sitze ich in einer kalten Wohnung oder gehe Holz sammeln und mache den Herd in der Küche an.“
Leonard hatte sie als undankbar, egozentrisch und launisch bezeichnet. Anna hörte ihn noch wütend schreien: „Weißt du eigentlich, wie viele Künstler gerne dein Glück hätten? Die müssen jahrelang strampeln, bis sie mal ein Bild verkaufen.“ Anna wusste das, sie wusste aber auch, dass genau diese Künstler keine Fließbandarbeit abliefern würden. Leonard verstand einfach nicht den Unterschied.
Lotte berührte ihren Arm und holte sie in die Gegenwart zurück. „Es fehlt jemand, der dir bei der Vermarktung deiner Gefäße hilft“, sagte sie sanft.
Anna lachte schrill auf. „Ein Leonard Kaltwasser, der mir morgens einen Zettel übergibt mit Aufträgen und sie abends abholt. Und wehe, ich bin nicht fertig. Nein danke, einen Kaltwasser wird es nie wieder geben.“ Anna betrachtete ihre Cousine. Obwohl Lotte etwas größer und fülliger war, wurden sie öfter für Schwestern gehalten. Das lag an der Lockenpracht auf ihren Köpfen. Es war das Erbe ihrer Großmutter, die stolz darauf war, nie eine Dauerwelle gebraucht zu haben. Nur war Lottes Haar dunkelblond und kurz und Annas braun und lang.
Für Lotte waren die Lebensträume in Erfüllung gegangen, ein Mann, der sie liebt, ein Häuschen im Grünen und drei Kinder. Sie arbeitete halbtags in einem Reisebüro. Manchmal beneidete Anna sie um dieses Leben, manchmal fand sie auch, dass Lotte für sich zu wenig Zeit hatte.
„Du hast doch ein paar Möglichkeiten, Geld zu verdienen: die Gärtnerei, die Werkstatt …“ Lotte stockte, sprach dann aber aus, was endlich einmal ausgesprochen werden musste: „Nach so einer langen Pause kannst du vielleicht wieder malen. Es müssen ja keine Häuserbilder sein. Aber deinen Namen hat die Kunstwelt noch in Erinnerung und es dürfte nicht schwer sein, eine Galerie …“
„Ich male nicht mehr“, unterbrach Anna scharf.
Lotte kannte diesen Satz, hatte ihn in den letzen drei Jahren oft genug gehört. „Dann biete Malkurse an.“
„Tolle Idee, Malunterricht anzubieten, wenn man selbst keinen Pinsel in die Hand nehmen kann.“
„Vielleicht gibt es Leute, die hierher kommen, um deine Technik zu erlernen. Und dafür müssen sie bezahlen.“
„Nein, die Technik ist mit Anna Luise Bach gestorben“, entgegnete Anna laut und überdeutlich. Nach kurzem Schweigen setzte sie ruhiger fort: „Bevor ich Leonard kennenlernte, hatte ich schon einmal die Idee, eine Kunstschule zu gründen.“
Lotte horchte auf. „Na dann, was hält dich davon ab, deine Idee umzusetzen. Oben hast du drei leere Zimmer, die du den Teilnehmern zur Verfügung stellen kannst. Meine Mutter hätte auch noch ein Gästezimmer. Das große Wohnzimmer wäre ein idealer Aufenthaltsraum. Der Esstisch bietet Platz für zehn Personen. Malen kann man dort oder draußen, oder in den Gewächshäusern.“
Anna zögerte. „Dann habe ich einen Haufen Menschen im Haus. Ich brauche meine Ruhe.“
„Es wäre ja nur für eine Woche. Wenn du pro Person siebenhundert Euro bekommst, hast du bei zehn Leuten siebentausend Euro verdient. Damit können Unkosten, Steuern, Krankenkasse und Heizkosten bezahlt werden.“
„Für siebenhundert Euro wollen die Leute Luxus und nicht ein primitives Bad mit Fliesen aus der Vorkriegszeit“, wandte Anna bissig ein.
„Die Leute wollen vor allem etwas anderes als sonst. Was glaubst du, was alles gebucht wird. Neulich hat sich jemand nach einem Abenteuerurlaub in der Mongolei erkundigt. Da waren keine heiße Dusche und keine Toilette dabei. Du musst das richtig verkaufen, Leben aus dem Garten, Bio-Gemüse, Bio-Eier, Bio-Honig, Bio-Quark. Was du nicht hast, haben die Nachbarn oder du kaufst es auf dem Wochenmarkt. Mutter könnte Mittagessen kochen. Du kannst mit deinen Gästen morgens Brot und Brötchen backen. Und abends kann jeder seinen Salat selbst pflücken und zubereiten. Wenn du Glück hast, nehmen sie ein paar Pfund ab.
Das wollen die meisten. Nebenbei holst du ihre verborgenen Talente ans Licht, gibst ihnen ein gewisses Handwerkzeug, Farbenkunde und schickst sie mit eigenen Bildern nach Hause. Mir wäre das auf jeden Fall siebenhundert Euro wert.“
„Und du glaubst, dass der Malunterricht funktioniert, wenn ich selbst nicht male?“, fragte Anna skeptisch.
„Oben stehen etwa hundert Bilder von dir herum. Die solltest du endlich mal aufhängen. Dann wird aus diesem renovierungsbedürftigen Bauernhaus ein Künstlerhaus, in dem jeder Gast genug Anregungen findet.“
Anna schwieg. Lotte nahm es als gutes Zeichen. Sie sagte schnell: „Ich habe schon eine Idee, wie wir das Angebot nennen können: Urlaub mit Kunst und Natur – Entdecke deine Kreativität! Dazu brauchst du dann eine richtige Werbung: Anzeigen, Zeitungsartikel, Website.“ Lottes Begeisterung wuchs, als sie merkte, dass Annas Widerstand brach. Ihre größte Hoffnung war allerdings, dass ihre Cousine über diese Schiene wieder zum Malen finden würde.
„Ich helfe dir natürlich bei der Organisation und bei den Zimmern.“
„Die müssen alle renoviert werden.“
„Können wir machen. Ich helfe beim Streichen.“
„Schaffe ich allein.“ Lotte nickte und verkniff sich ein Lächeln. Anna war ganz bestimmt nicht bewusst, dass sie zum Renovieren einen Pinsel in die Hand nehmen musste oder wenigstens eine Rolle. Das war der erste Schritt.
„Gut, dann übernehme ich Anmeldung, Werbung und Korrespondenz.“
„Warte, nicht so schnell. Ich muss mir das überlegen“, stoppte Anna die Begeisterung ihrer Cousine.
Lotte seufzte. „Gut, dann denke erst in Ruhe darüber nach. Aber warte nicht zu lange. Die meisten Leute haben schon ihren Urlaub gebucht.“ Sie erhob sich. „So, ich muss jetzt meine Mannschaft einsammeln.“ Sie legte den restlichen Kuchen auf ein Holzbrett und klemmte sich den Teller unter den Arm.
„Danke für den Kuchen, liebe Grüße an Elli“, sagte Anna beim Verabschieden.
„Wir sehen uns Sonntag beim Mittagessen. Es gibt Biofleisch.“ Lotte zog das Wort in die Länge und grinste.
„Ich wollte gerade sagen, wir können ja telefonieren, aber das können wir ja nicht. Willst du dir nicht endlich mal ein Handy zulegen?“
„Nein, will ich nicht, brauche ich nicht. Wenn ich etwas Dringendes habe, rufe ich von deiner Mutter aus an.“
Lotte seufzte. „Wie immer.“
Ben Lukas Kramer war ein Mann, der die Kunst liebte und sich zur Aufgabe gemacht hatte, sie zu vermarkten. Er saß in seinem kleinen Büro neben der Galerie in Berlin Charlottenburg und wartete auf einen Kunden, der es offensichtlich mit der Pünktlichkeit nicht so genau nahm. Ben nutzte die Zeit, um sich die Mappe eines jungen unbekannten Künstlers anzusehen. Es war immer dieselbe Frage, die er sich beim Betrachten der Fotos stellte: Hatte der Künstler eine Chance verdient? Bens Großvater hatte ihn einst gelehrt: „Die Kunst braucht Diener, um ihre Bestimmung zu erfüllen.“ Und mit Dienern meinte er: Schöpfer, Darsteller und Manager. Ben zählte sich zur letzten Gruppe. Das zu erkennen, war ein langer Prozess gewesen. Sein Vater, ein Pianist und seine Mutter, eine Opernsängerin, hatten sich beide abgemüht, ihm die Musik nahe zu bringen. Er hatte als Kind Klavier- und Gesangunterricht erhalten, brachte es aber nur zu mittelmäßigen Erfolgen. Entmutigt vom hohen Anspruch seiner Eltern verabschiedete er sich als Zwölfjähriger aus dem aktiven Musikgeschehen und beschränkte sich auf das Musikhören. Sein Interesse galt von da an der Kunstgeschichte. Er verbrachte viel Zeit mit seinem Großvater, der ein erfolgreicher Kunsthändler war und der ihn mit seiner Begeisterung für Kunst prägte. Ben begann zu malen, nahm Unterricht und besuchte so oft er konnte Ausstellungen, Museen und Galerien, erst mit seinen Großeltern und später allein. Nach dem Abitur entschied er sich für ein Kunststudium, bestand die Aufnahmeprüfung und studierte an der Universität der Künste in Berlin. Die beiden Mitbewohner seiner Wohngemeinschaft waren ebenfalls Kunststudenten, die aus seiner Sicht begabter waren als er. Ein weiterer Unterschied war, dass die beiden den Drang hatten zu malen. Sie wurden von ihren Bildern getrieben und konnten Nächte lang durcharbeiten. Diese Leidenschaft fehlte Ben. Er war derjenige, der den Haushalt in der WG organisierte und immer dafür sorgte, dass etwas Essbares im Kühlschrank war. Seine Freunde waren ihm dafür sehr dankbar.
Nach sechs Semestern rutschte er in eine Krise. Hatte es Sinn weiterzumachen? Es war ähnlich wie in der Musik.
Ich bin nur Durchschnitt. Und Durchschnitt hat keine Zukunft. Das waren die Worte seines Vaters. Was ist meine Berufung? In dieser Zeit erkannte er, dass viele Künstler gut waren, es aber nicht verstanden, ihre Werke an den Mann zu bringen.
Ein klärendes Gespräch mit seinem damals schon sehr kranken Großvater brachte die Entscheidung. Die eindringlichen Worte eines sterbenden alten Mannes brannten sich tief in sein Gedächtnis ein: „Du bist ein Diener der Kunst.
Auch wenn du nicht ihr Schöpfer bist oder sein willst, das Studium ist deine berufliche Grundlage. Du wirst dadurch ein Gespür für Kunstwerke und für begabte Künstler erhalten und Kunstsammler in ihrer Auswahl unterstützen können.“
So entschied sich Ben, das Kunst-Studium zu beenden und drei Jahre Betriebswirtschaft anzuhängen. Er wollte Kunst vermarkten, eigene Galerien aufbauen und junge Künstler fördern. Neun Jahre später konnte er mit Stolz sagen, dass er die richtige Entscheidung getroffen hatte.
Zunächst begann er seine berufliche Laufbahn als freier Kurator, bis er ein Angebot von einem Galeristen erhielt, der einen Nachfolger suchte. Dank der Erbschaft seines Großvaters konnte er dem Galeristen die Galerie abkaufen, als dieser in Rente ging. So hatte sein Großvater ihn zweifach unterstützt, mit dem richtigen Ratschlag und mit den nötigen finanziellen Mitteln.
Ben übernahm den Künstler- und Kundenstamm seines Vorgängers und erweiterte ihn Jahr für Jahr. Seine Stärke lag darin, das Bewusstsein für Kunst zu wecken und den Stein des Vorurteils bei manchem Kunden zu beseitigen. Er konnte kühl kalkulieren, gut verkaufen und dabei nicht nur die Künstler, sondern auch die schwierigen Kunden lange und geduldig begleiten. Er schaffte es, seine Künstler in strategisch wichtigen Ausstellungen unterzubringen.
Auf seinem Schreibtisch türmten sich Angebote von unbekannten Malern.
Nun war eine zweite Galerie in Planung, eine Galerie, die nicht nur Bilder, sondern auch Glaskunst, Skulpturen und Keramik mit aufnehmen würde. Das Objekt befand sich im Umbau. Er hatte bis zur Eröffnung noch gut vier Monate Zeit, Zeit genug, um ausgefallene Stücke zu finden, sie in Szene zu setzen und eine Einweihungsfeier vorzubereiten.
Er sah bereits die neue Galerie vor sich. KUNSTOASE sollte sie heißen.
Seine Assistentin, Edda Schal, eine schlanke, adrette Frau in den Fünfzigern, stand in der Tür und holte ihn in die Gegenwart zurück.
„Dr. Wiesbach verspätet sich um eine halbe Stunde“, teilte sie ihm mit. Ben zuckte leicht zusammen, fing sich aber sofort. Edda betrachtete den Stapel Bewerbungen auf seinem Schreibtisch. „Schon etwas Brauchbares gefunden?“
Er hob zwei Mappen an. „Diese sind in der engeren Wahl, muss ich mir im Original ansehen. Sie können Termine machen, Edda.“
Die Assistentin war mit drei Schritten am Schreibtisch und griff nach den Mappen.
Er zeigte auf einen weiteren Stapel. „Die hier würde ich eher unter Handwerk verbuchen, Gebrauchsware. Das muss es auch geben, gehört aber nicht in die KUNSTOASE.“
Edda seufzte. „Ich habe in all den Jahren noch nicht verstanden, wann ein Werk ein Kunstwerk ist und wann nicht.“
„Wenn es mehrere konzentrische Bedeutungen entdecken lässt bei einem minimalen Aufwand an Worten, Noten, Pinselstrichen und so weiter.“ Er sagte es monoton, weil er diese Definition schon oft gesagt hatte.
„Und Handwerk löst das nicht aus?“
„Nein“, entgegnete er mit Sicherheit. „Kunst kann mehr.“
Ben klopfte nachdenklich mit dem Kugelschreiber auf die Schreibtischunterlage. „Früher dachte ich, es würde genügen, Kunst richtig zu vermarkten. Jetzt weiß ich, dass Vermarktung nur gelingen kann, wenn Menschen einen Zugang zur Kunst finden. Da sehe ich heute einen Mangel.“
„Woran liegt das?“
Ben lehnte sich in seinem Schreibtischstuhl zurück. „Die Ursache liegt in der Schnelllebigkeit. Der moderne Mensch hat sich von seiner Kreativität abgekoppelt. Dadurch hat er auch keinen Zugang zur Kunst.“
„Da ist was dran, aber wie wollen Sie das ändern?“
„Künstlerische Betätigung, vielleicht sollte ich einen Malkurs anbieten.“
„Ich würde kommen“, sagte Edda und ihre blauen Augen leuchteten. „Erst als ich selbst angefangen habe zu malen, habe ich mich für die Bilder von Künstlern interessiert, haben sie mir etwas gegeben. Und dann erst war ich bereit, für ein Bild ein paar hundert Euro auszugeben. Früher hing eine Reproduktion von Picasso über unserer Couch. Heute ist da eine Bildergalerie mit meinen eigenen Bildern. Die Atmosphäre im ganzen Raum hat sich verändert. Selbst mein Mann fragt öfter, wann ich die anderen Räume auch so gestalte.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Mir fehlt leider die Zeit und die Ruhe zum Malen.“
„Wir haben hier eine Galerie, Edda“, erinnerte er sie schmunzelnd.
„Eine sehr schöne und teure. Die meisten Bilder, die Sie ausstellen, gefallen mir, aber sie liegen über meinem finanziellen Rahmen.“
Ben lachte. „Mir geht’s genauso. Darum habe ich ja eine Galerie, damit ich immer in Kunst baden kann. Kunst ist mein Lebenselixier.“
Edda legte den Kopf schief und lächelte nachsichtig. „Das würde ich nicht so eng sehen an Ihrer Stelle, Chef. Ich denke, dass Ihnen etwas Wesentliches im Leben fehlt.“
Ben grinste. „Jetzt kommt wieder die Mutter in Ihnen durch, die ihren Sohn unter die Haube bringen will.“
Edda verschränkte die Arme und reckte ihr Kinn, eine Haltung, die sie einnahm, wenn sie in die Mutterrolle schlüpfte.
„Sie haben kaum noch Verabredungen, dabei sind Sie im besten Alter mit sechsunddreißig. Sie sind schlank, ein sportlicher Typ und sehen gut aus. Sie sind einfühlsam, verständnisvoll, geduldig, großzügig, kurz, der Traumschwiegersohn aller Mütter.“
Ben lachte laut. „Wenn Sie mich so anpreisen, werden alle nach dem Haar in der Suppe suchen.“
„Es dürfte kein Problem für Sie sein, eine Frau zu finden.“
„Sollte ich das? Wozu?“, fragte er verträumt. Seine Mutter pflegte auch solche Sprüche von sich zu geben. „Ben, wann stellst du mir endlich meine Schwiegertochter vor. Ich möchte noch meine Enkelkinder aufwachsen sehen.“ Dabei konnte sich seine Mutter über einen Mangel an Enkelkindern nicht beklagen. Ben hatte eine drei Jahre ältere und eine zwei Jahre jüngere Schwester. Die ältere war verheiratet und hatte zwei Kinder, die jüngere war in festen Händen und erwartete ein Kind. Das Wort Hochzeit war nun öfter im Gespräch. Ben hatte noch nie an Heirat gedacht. Vielleicht lag es daran, dass die meisten Frauen, die er kannte, nicht nach seinem Geschmack waren. Sie waren ihm zu künstlich, zu sprunghaft, zu oberflächlich, zu launisch. Er hatte eine Vorliebe für natürliche Eleganz. Das traf für Frauen genau so zu, wie für die Kunst. In beiden Fällen war sie selten.
Edda wollte gerade zu einem Vortrag über die Vorteile von Ehe und Familie ansetzen, als sie die Türglocke hörte. Empört über die Störung runzelte sie die Stirn, besann sich dann aber und ging dem Besucher entgegen. Ben war die Unterbrechung sehr recht, denn er mochte nicht über das Thema reden. Die letzte unangenehme Erfahrung mit Partnerschaft war ihm noch deutlich im Gedächtnis.
Die Assistentin brachte Dr. Wiesbach ins Büro. Der Mann war mittelgroß, Anfang fünfzig mit Halbglatze. Er trug Jeans, ein kariertes Hemd und ein sportliches Jackett. Ben kam um den Schreibtisch herum und gab seinem Gast die Hand. „Bitte nehmen Sie Platz, Dr. Wiesbach“, sagte er freundlich und zeigte auf die Sitzecke am Fenster. Edda schenkte dem Gast Kaffee und ihrem Chef Pfefferminztee ein.
„Ich trinke keinen Kaffee“, erklärte Ben seinem Gegenüber, der etwas irritiert in die Tasse sah.
„Sollte ich auch machen. Als Arzt müsste man Vorbild sein.“
Beide setzten sich. „Was kann ich für Sie tun, Dr. Wiesbach?“, begann Ben.
„Ich bin auf der Suche nach einer Malerin oder besser nach ihren Bildern, Anna Luise Bach.“
Ben lächelte. „Haben Sie sich auch in ihre Häuserbilder verliebt?“
„Ich besitze sogar eins, habe es gleich am Anfang ihrer Laufbahn erworben. Ihr Freund, Leonard Kaltwasser, hat damals mein Haus geplant und mir ihre Bilder gezeigt. Ich habe mir eins ausgesucht und habe dafür fünftausend Euro bezahlt. Das Bild hängt im Wohnzimmer über dem Kamin und ich möchte noch eins in dem Stil haben. Über der Couch wäre ein guter Platz. Die Künstlerin ist wie vom Erboden verschluckt. Ich weiß, dass die Bilder inzwischen mehr als das zehnfache wert sind. Und bevor sie für mich unerschwinglich sind, würde ich mir gerne noch eins kaufen. Ich habe andere Gemälde im Haus, aber die strahlen nicht diesen Frieden aus. Es ist die Stimmung, die mich von Hundert auf Null runter bringt, wenn ich das Bild betrachte.
Manche Leute schaffen das mit vierzehn Tagen Mallorca oder nach einem längeren Wellnes-Programm. Ich brauche nur fünf Minuten Anna Luise Bach. Die Frau ist eine Zauberin.“ Er lächelte und sagte dann ernst: „Haben Sie eine Ahnung, wo sie steckt oder was es auf dem Markt von ihr gibt?“
Ben faltete die Hände und lehnte sich zurück. „Ich habe sie nie persönlich kennengelernt, nur ein Bild von ihr in einer Ausstellung gesehen. Das hat mich sehr beeindruckt. Aber in letzter Zeit habe ich ihren Namen gar nicht gehört. Über Ausstellungen sind wir gut informiert. Wir verfolgen die Presse dazu sehr gründlich, und ich sehe mir viele persönlich an. Bilder von Anna Luise Bach waren nicht dabei.
Haben Sie keine Verbindung mehr zu Leonard Kaltwasser?“
Dr. Wiesbach winkte ab. „Der gibt keine Auskunft. Scheint immer noch stinksauer auf seine ehemalige Freundin zu sein. Sobald der Name fällt, läuft er vor Wut rot an.“
Ben zögerte. Recherchen kosten viel Zeit, aber er hatte ja auch Kontakte. „Wenn Sie wollen, kann ich mich mal umhören, was es auf dem Markt gibt, ob Bilder von ihr zum Verkauf stehen und zu welchem Preis.“
„Was bekommen Sie?“, fragte Dr. Wiesbach.
„Ein Galerist bekommt üblicherweise zwischen zwanzig und fünfzig Prozent vom Bild. Das hängt vom Aufwand und von dem Preis des Bildes ab. Bei einem Van Gogh würden mir zwanzig Prozent genügen“, sagte er grinsend.
Dr. Wiesbach lachte kurz auf und sagte dann ernst: „Ich bin bereit, bis zu fünfzigtausend Euro auszugeben. Aber das ist die Schmerzgrenze. Es ist mir egal, wie viel Sie für sich dabei herausholen. Da ich selbst schon eine Weile recherchiert habe, weiß ich, wie aufwendig die Suche ist.“
Ben nickte. „Geben Sie mir Ihre Telefonnummer, ich will sehen, was ich tun kann. Ich müsste mir ihr Bild zu Hause einmal ansehen, wegen der Größe und der Farben.“
„Sie können jederzeit vorbeikommen“, sagte der Gast und legte seine Visitenkarte auf den Tisch.
Edda brachte Dr. Wiesbach zur Tür.
Als sie zurückkehrte, sagte sie: „Ich habe gehört, dass Anna Luise Bach ein Burnout hatte und irgendwo auf einem Bauernhof ohne Telefon und Internet leben soll. Sie malt nicht mehr.“
„Das würde ihre Bilder noch wertvoller machen“, meinte Ben nachdenklich. „Fünfzigtausend. Das lohnt sich auf jeden Fall. Edda, finden Sie mal heraus, welches Objekt gerade von Leonard Kaltwasser geplant wird. Wie heißt seine derzeitige Freundin? Hat Kaltwasser Verwandte, die vielleicht mehr über Anna Luise wissen? Schauen Sie in früheren Artikeln nach, ob erwähnt wird, wo Anna geboren ist und wer ihre Eltern sind.“
„Ja, ich fange gleich an.“ Sie schmunzelte. „Eigentlich könnten wir auch eine Privatdetektei eröffnen.“
„Wir sind eine Detektei im Auftrag der Kunst“, bestätigte er siegessicher. „Wissen Sie, Edda, was mir an Dr. Wiesbach gefallen hat? Der Mann hat den Zugang zur Kunst. Er hat gesagt, er braucht nur fünf Minuten das Bild anzusehen und ist regeneriert. Das möchte ich auch mal sagen können: Ich brauche nur fünf Minuten Anna Luise Bach.“
Edda zwinkerte ihm zu. „Vielleicht sollten Sie Anna mal näher kennenlernen, persönlich.“
Ben lächelte. „Persönlich will ich keine Künstlerin mehr kennenlernen, das wissen Sie doch, Edda. Künstlerinnen sind kompliziert, launisch und nicht berechenbar.“ Er atmete schwer. „Ich bin in einer Künstlerfamilie aufgewachsen.
Und obwohl ich um die Eigenarten eines Künstlers weiß, habe ich mich auf eine Künstlerin eingelassen. Das war sehr anstrengend und hat Nerven gekostet.“ Ben seufzte schwer bei der Vorstellung. „Ich liebe die Kunst, ich bin gerne im Dienste der Kunst tätig, aber in meiner Freizeit will ich es ruhig und unkompliziert haben.“ Ben sah aus dem Fenster. Nach einer Weile sagte er: „Anna Luise Bach.
Sie wäre das ideale Zugpferd für die neue Galerie. Genau das hat mir noch gefehlt. Wenn ich Anna dazu bringen könnte, ihre Bilder bei uns auszustellen, dann wäre der Erfolg garantiert.“
„Aber dazu müssten Sie sie erst einmal finden und sie dann zum Malen bewegen. Und wenn das gelungen ist, dann muss sie noch bereit sein, ihre Bilder in unserer Galerie auszustellen“, fasste Edda zusammen. „Es gibt sicher noch andere Galeristen, die sich um Annas Bilder reißen, bei diesen Preisen.“
„Ja, könnte ein langer, schwerer Weg werden. Wer weiß, was aus ihr geworden ist? Alles ist möglich. Vielleicht hat sie Mann und Kinder. Vielleicht ist sie abgerutscht und hängt an der Flasche“, sinnierte Ben.
„Vielleicht wartet sie auf einen Galeristen, der ihr hilft, ihre Karriere wieder aufzubauen“, warf Edda ein.
„Das wäre natürlich optimal.“
„Aber es geht nicht nur ums Geschäft. Meine Neugier ist geweckt. Interessant, dass ich ihr nie begegnet bin. Mein Geschäft begann aufzublühen, als sie von der Bildfläche verschwand.“
„Anna hat Sie nicht gebraucht, weil Kaltwasser ihre Bilder vermarktet hat“, wandte Edda ein.
„Er hat sie erfolgreich vermittelt, aber nebenbei verheizt, weil er von Kunst nichts versteht“, murmelte Ben und spürte einen Anflug von Wut aufsteigen. Diese Wut wurde von einem Wunsch abgelöst. Falls Anna in einer Blockade steckte, würde er ihr gerne helfen, sie zu beseitigen.
Auch am Samstag stand Anna um sechs Uhr auf. Als Erstes setzte sie den Hefeteig für das Brot an. Brotbacken gehörte zu ihren Lieblingsbeschäftigungen und hatte eine Tradition in ihrer Familie. Früher wurde das Brot einmal wöchentlich im hofeigenen Backofen gebacken. Das halbe Dorf nutzte einst diesen Ofen. Heute backte Anna ihr Brot im elektrischen Backofen und versorgte nur noch ihre Tante damit.
Zunächst wurde das Korn gemahlen. Dann gab sie das frische Mehl in eine große Schüssel, drückte in die Mitte eine Mulde hinein und zerbröckelte Hefe darin. Sie gab lauwarme Milch und etwas Honig hinzu und vermischte das Ganze mit einem Teil des Mehls. Die Schüssel wurde mit Klarsichtfolie und einem Tuch abgedeckt und auf den Herd gestellt. Der Hefeansatz musste jetzt zwei Stunden gehen.
Anna schlüpfte in ihre Gartenschuhe und öffnete die Haustür.
Draußen wurde sie von einer laut miauenden Liese erwartet. In der Waschküche füllte sie Katzen- und Hundefutter in Näpfe. Frieder wurde aus der Hütte gelassen und stürzte sich auf sein Futter. Anna ging durch die Scheune zum Hühnerstall und öffnete die Klappe. Fröhlich gackernde Hühner eilten ins Freie. Auch der Gang durch den Garten und die Betrachtung der Blumen gehörte zu den Ritualen am Morgen, die sie seit drei Jahren praktizierte. Rituale gaben Beständigkeit, gaben dem Tag ein Gerüst, an dem man sich festhalten konnte, wenn man auf wackligen Beinen durchs Leben ging.
Frieder wartete am Tor, hatte seine Hundeleine im Maul und drängte Anna zum Spaziergang. Sie brauchte die tägliche Runde ebenfalls, fast noch dringender als Frieder.
Die Sonne schob sich durch die Wolkendecke, deutete einen Wetterwechsel und wärmere Temperaturen an. Mit der Sonne kam die Hoffnung. Anna hatte in der Nacht nicht gut geschlafen. Lottes Vorschlag wollte ihr nicht aus dem Kopf gehen. Es klang so einfach: Biete einen Malkurs an, nimm zehn Leute auf und verdiene innerhalb einer Woche siebentausend Euro. Woher sollten die Leute kommen? Waren siebenhundert Euro pro Person nicht zu viel? Will ich das überhaupt, anderen Menschen das Malen beibringen? Ich müsste Farben besorgen, Staffeleien, Leinwände. Ich müsste wieder ein Geschäft mit Malutensilien betreten. Schaffe ich das überhaupt? Es würde unangenehme Gefühle auslösen, Erinnerungen wecken, da war sie sich sicher. Und vor allem würde es Geld kosten, das sie gar nicht hatte. Sie überschlug die Preise. Es müssten ja nicht die teuersten Farben sein. Das große Esszimmer wäre ein geeignetes Atelier. Meine Güte, wozu ein Atelier einrichten, wenn man selbst nicht mehr malt.
Als Anna nach einer knappen Stunde zurückkehrte, hatte sie noch keine Entscheidung getroffen. Sie ging in den Garten, um frische Pfefferminzblätter für den Tee zu pflücken.
Von ihren fünf Sorten wählte sie heute marokkanische Minze aus. Sie ließ den Blick über ihr grünes Paradies schweifen. Viertausend Quadratmeter. Sie hatte viel Zeit und Liebe in die Gestaltung gesteckt, neue Blumenbeete angelegt, kleine Gartenzimmer eingerichtet; einen Rosengarten, einen Kräutergarten, einen Gemüsegarten, einen Hügel mit Hortensien und einen Staudengarten. Ihr Traum war ein Seerosenteich mit einem Holzdeck. Aber das musste noch warten. Auf der linken Seite gab es zwei Gewächshäuser. Früher schlossen sich noch drei Folienzelte an, die immer abwechselnd mit Gurken, Tomaten und Paprika gefüllt waren. Das erste Gewächshaus war leer. Im zweiten waren ein paar Tomaten- und Gurkenpflanzen für den Eigenbedarf gepflanzt. Vielleicht sollte sie doch eher den Gemüseanbau in Erwägung ziehen, als diesen Malunterricht. Hier im Garten hätte sie ihre Ruhe und keine fremden Leute um sich. Doch ein Risiko gab es in beiden Fällen.
Pflanzen konnten krank werden, Menschen auch. Dann würde der Ertrag ausbleiben. Außerdem müsste sie erheblich mehr Zeit für die Pflanzen aufbringen als für die Menschen. Anna pflückte außer Pfefferminzblätter noch einen Strauß Petersilie und ging damit zurück ins Haus.
Der Brotteig war gegangen und wurde jetzt mit dem restlichen Mehl, Salz und Butter vermengt und so lange geknetet bis sich der Teig von der Schüssel löste. Dann formte sie mit bemehlten Händen vier runde Brote und legte sie auf zwei Bleche. Die Teiglinge mussten noch einmal gehen. Sie bereitete ihr Frühstück zu, wusch das Grünzeug, hackte die Petersilie klein und kochte Tee. Das letzte alte Stück Brot wurde mit Butter bestrichen und mit Petersilie bestreut. Sie setzte sich an den Holztisch, der mitten in der Küche stand, und rutschte gedanklich wieder in das Malprojekt.
Normalerweise ging sie nach dem Frühstück in den Garten und nach dem Mittagessen in die Töpferwerkstatt. Doch samstags wurde zunächst geputzt. Mitten in der Arbeit, hielt sie inne, legte den Lappen zur Seite und ging nach oben. Ihre Bilder waren in der schrägen Kammer abgestellt.
Dort befanden sich auch ihre alten Malutensilien. Sie hatte den Raum schon lange nicht mehr betreten. Nach Lottes Vorschlag sollte sie die Zimmer renovieren und die Bilder aufhängen. Waren die Bilder gut genug als Aushängeschild für eine Malerin, die nicht mehr malte, aber unterrichten wollte? Sie betrachtete ein Bild, dem sie den Titel Sommergruß gegeben hatte. „Okay, du gefällst mir noch“, sagte sie leise.
Einen Moment verstrickte sie sich in Erinnerungen an Sommerferien. Sie sah sich und Lotte durch die Felder waten, Kornblumen pflücken und Kamille sammeln. Dann stellte sie das Bild zur Seite und betrachtete die anderen: Mohnblumen, Rosen und Orchideen. Anna musste lächeln, als sie ein sehr altes Bild entdeckte, ihren ersten Baum. Den hatte sie mit acht Jahren gemalt. Er ähnelte eher einem Besenstiel. Ihre Mutter mochte dieses Bild sehr. Es hing lange im kleinen Wohnzimmer. Anna erinnerte sich, dass sie es ausgetauscht hatte gegen einen richtigen Baum. Ihr Vater hatte nachsichtig gesagt: „Richtige Bäume sind draußen.
Und dieser hier ist nicht besser oder schlechter als der erste.“ Ihr fiel ein, dass ihre Eltern sie immer ermutigt hatten und jedem ihrer Werke mit Achtung begegnet waren. Warum habt ihr mich so früh schon allein gelassen?, schrie sie innerlich. Um diesen plötzlichen Schmerz des Verlustes zu verjagen, zwang sie sich zum Betrachten der nächsten Bilder. Da waren Tiere, Häuser, Landschaften festgehalten. Es gab eine Reihe von Stillleben und abstrakte Bilder. Sie hatte in ihrer Studienzeit alles gemalt, was sie zu Gesicht bekam. Ohne noch länger nachzudenken, ordnete sie zwei Stapel, einen, den sie aufhängen könnte und einen, der weiter zum Dauerschlaf verurteilt war. Sie stellte die ausgewählten Bilder im Flur ab und betrat das Schlafzimmer ihrer Eltern. Wie auf Knopfdruck wurden Erinnerungen lebendig. „Es wird Sturm heute Nacht geben“, hörte sie ihre Mutter sagen. „Wenn du Angst bekommst, Anna, dann darfst du hier schlafen.“
„Ich habe jetzt schon Angst“, hatte sie geantwortet. Ihre Mutter hatte gelacht und dann das Bettzeug aus ihrem Zimmer geholt. Alle weiteren aufsteigenden Gedanken an Krankheit und Albträume schüttelte sie ab. „Konzentriere dich auf deine Aufgaben!“, ermahnte sie sich.
Wenn dieses Zimmer ein Gästezimmer werden soll, dann könnte ich auch die Betten auseinanderrücken. Sie stellte in Gedanken die Möbel um. Der Raum war in Grün gehalten.
Hier würde sie als Farbe blaugrau wählen und ein paar Landschaftsbilder unterbringen.
Nebenan befand sich ein Gästezimmer mit Schräge, etwas kleiner, aber ausreichend für zwei Personen. Das Zimmer war dunkler als das Elternschlafzimmer. Sie würde es gelb streichen und Blumenbilder aufhängen. Anna ging zurück in die Kammer, die schmal und lang war, aber über zwei Dachfenster verfügte. Auch hier könnte man ein Bett aufstellen. Die Schräge war mit Holz verkleidet, der Fußboden bestand aus dunklen Dielen, die man abschleifen müsste.
Die Renovierung würde aufwändiger werden als in den anderen Räumen.
In ihrem Schlafzimmer stand ein Doppelbett. Wenn es tatsächlich zehn Personen werden würden, hätte sie hier die Möglichkeit noch zwei Gäste unterzubringen. Sie könnte unten im kleinen Wohnzimmer schlafen. Dann dachte sie mit Schrecken an das winzige Bad mit Dusche und Toilette, das sich auf dieser Etage befand. Im nächsten Moment beruhigte sie sich, denn es gab unten noch ein Bad mit Wanne. Das musste genügen.
Sie griff nach den Tierbildern und trug sie nach unten. Im großen Esszimmer kamen ihr wieder Zweifel. War das wirklich ein Aufenthaltsraum für zehn Personen? So lange Anna denken konnte, befanden sich in diesem Zimmer ein Buffet aus dem Jahre 1910 und der ausziehbare Tisch mit zehn lederbezogenen Stühlen, das Erbe ihrer Großmutter.
Der hintere Teil war moderner eingerichtet, mit einem Klavier, einem Bücherregal und einer Couchgarnitur. Früher waren es einmal zwei Räume gewesen. Nach dem Tod ihrer Großeltern hatten ihre Eltern die Wand herausnehmen lassen. In der Weihnachtszeit hatte ihre Mutter den Raum für den Verkauf der Keramikware genutzt. Anna erinnerte sich an Glühwein und Plätzchen und an viele Menschen, die mit Päckchen unter dem Arm nach Hause gingen. Aktuell nutzte Anna diesen Raum selten. Fünfzig Quadratmeter Wohnzimmer waren für eine Person eindeutig zu groß. Sie verbrachte ihre Abende mit Lesen und Musikhören im kleinen Wohnzimmer. Annas Blick fiel auf den Esstisch. Die Tischdecken hatte ihre Mutter immer selbst genäht, weil es in dieser Größe keine passenden zu kaufen gab. Sie öffnete den Schrank, nahm eine blaugraue Decke heraus und legte sie auf den Tisch. Die Farbe passte besonders gut zur Keramik. Schale und Vase enthielten den gleichen Farbton.
Nun fehlte nur noch ein Strauß Wiesenblumen.
An der langen Wand über dem Sideboard hing ihr erstes Häuserbild. Sie hatte so viele von diesen Bildern produziert und alle gut verkauft. Aber das erste war das wichtigste.
Darum war es auch unverkäuflich. Anna erinnerte sich noch, wie Leonard staunend davor gestanden und gesagt hatte: „Das wird der Renner.“ Anna fragte sich heute noch, woher er diese Sicherheit genommen hatte.
Der Raum konnte noch ein paar Gemälde vertragen. Sie hielt die Tierbilder über die Couch und über das Klavier, probierte es mit Stillleben, doch konnte sie sich nicht entscheiden. Anna hatte das Gefühl, dass jedes andere Bild im Schatten des Häuserbildes verblasste. Vielleicht doch lieber Naturbilder und die Tierbilder in den Flur, überlegte sie.
Dann wurde ihr bewusst, was sie tat. Du spinnst ja, schalt sie sich. Zehn Leute im Haus, die an diesem Tisch malen und essen sollen. Das ist unmöglich. Das will ich doch gar nicht. Und überhaupt, wo sollen die Leute herkommen? Und wenn, wer weiß, was das für Menschen sind? Sie ließ die Bilder an Ort und Stelle stehen und rannte in den Garten.
Ben wohnte in einer typischen Berliner Altbauwohnung mit hohen Decken, Kassettentüren, Stuck an der Decke und glattgeschliffenem Dielenboden.
Die Einrichtung bestand zum größten Teil aus alten Möbeln, die er selbst in der Werkstatt seines Schulfreundes Mario aufgearbeitet hatte. Schon während des Studiums hatte Ben zusammen mit ihm einen Handel mit alten Möbeln begonnen. Bens Aufgabe war es, die Möbel zu kaufen und zu verkaufen. Sein Freund kümmerte sich um die Restaurierung. Wenn es seine Zeit erlaubte, half Ben auch dabei mit.
Da er außerdem die Werke junger Künstler vermarktete, bestand seine eigene Bildersammlung vorwiegend aus moderner Kunst. Er war sich sicher, dass einige dieser Gemälde in den nächsten Jahren eine erhebliche Wertsteigerung erfahren würden. Somit waren in seiner Wohnung nicht nur Gegenwart und Vergangenheit vereint, sondern auch die Weichen für die Zukunft gestellt.
Kunst war sein Leben. Neben Möbeln und Bildern besaß er eine Sammlung von klassischer Musik, darunter auch Aufnahmen seiner Eltern. Er legte ein Cellokonzert von Brahms auf und setzte sich an den kleinen runden Tisch vor dem Fenster, um zu frühstücken. Da er in der letzten Zeit kein Wochenende zu Hause verbracht hatte, freute er sich über die Möglichkeit, endlich einmal auszuspannen, ins Fitnessstudio zu gehen und ein Buch zu lesen, das er sich vor Monaten gekauft hatte.
Seine Vorfreude wurde gedämpft, als das Telefon klingelte.
Es ist Samstag, ein freier Tag, mein freier Tag, dachte er leicht verärgert. Widerwillig blickte er auf die Anzeige und erkannte die Nummer seiner Assistentin.
„Haben Sie nichts anderes zu tun, als Ihren Chef am Samstagmorgen zu stören, Edda?“, brummte er ins Telefon.
„Ja, hab ich, aber das hier ist wichtig. Lese gerade die Zeitung. Heute Abend gibt es eine Einweihungsfeier. Es handelt sich um ein Gebäude, das Leonard Kaltwasser geplant hat. Die Innenarchitektin war Martina Morgenstern. Sie ist doch eine Bekannte von Ihnen. Vielleicht könnte sie heute Abend die Fühler ausstrecken und etwas über Anna Luise erfahren.“
„Edda, Sie sind unbezahlbar. Danke, dass Sie mich gestört haben. Mal sehen, ob es zurzeit einen Mann in Martinas Leben gibt. Ich würde gerne persönlich die Bekanntschaft mit Leonard Kaltwasser machen.“
Edda seufzte. „Hoffentlich wirft Frau Morgenstern kein Auge auf Sie, Chef.“
Er lachte. „Die Dame gefällt Ihnen wohl nicht?“
„Sie ist mir zu launisch und sie ist zu alt für sie. Sie haben etwas Besseres verdient.“
„Und mir ist sie zu künstlich.“
Lachend verabschiedeten sie sich.
Der Traum vom ruhigen Wochenende war ausgeträumt.
Ben wählte ohne lange Überlegung Martinas Nummer. Erst als es schon dreimal geklingelt hatte, wurde ihm bewusst, dass es kurz nach halb acht war. Er wollte gerade wieder auflegen. Da gab eine müde Frauenstimme ein paar Geräusche von sich.
„Entschuldige Martina, hier ist Ben, ich weiß, dass ich zu früh bin. Habe es gerade erst gemerkt.“
„Oh, was verschafft mir die Ehre, von dem erfolgreichsten Galeristen Berlins geweckt zu werden?“, fragte sie gähnend.
Ben kam gleich zum Anliegen. „Weißt du etwas über die Exfreundin von Leonard Kaltwasser, Anna Luise Bach? Wo lebt sie jetzt, wie heißt sie mit bürgerlichem Namen?“
„Deshalb weckst du mich mitten in der Nacht. Keine Ahnung. Ich kenne Leonard erst seit zwei Jahren und man hat mir gesagt, dass ich den Namen Anna Luise Bach in seiner Gegenwart nicht erwähnen soll, wenn mir an einer zukünftigen Zusammenarbeit läge.“
„Aha, gehst du heute Abend zu dieser Einweihungsparty?“
„Ja, hatte ich vor, wenn ich das mit dem Schlafdefizit packe. Woher weißt du?“
„Aus der Zeitung. Edda hat mich darauf aufmerksam gemacht. Hast du einen Begleiter?“
„Nein, ich habe mich vor einer Woche von Oliver getrennt.“
„Das trifft sich gut, ich meine, es tut mir natürlich leid, dass ihr euch getrennt habt, aber dadurch kann ich dich fragen, ob du mich mitnehmen würdest.“
„Willst du an seine Stelle treten?“, fragte sie süß.
„Ach, liebe Martina, ich werde doch nicht unsere Freundschaft und unsere Geschäftsbeziehung aufs Spiel setzen.“
Sie seufzte. „Du brauchst mich nur, um mit irgendjemand wieder Kontakt aufzunehmen, wegen Bildern.“ Sie zog das letzte Wort in die Länge und klang enttäuscht.
„Richtig, meine Liebe.“
„Das ist nicht sehr schmeichelhaft für eine Dame. Hast du auch mal etwas anderes im Kopf als Bilder?“
„Im Moment nicht.“
„Schade. Du kannst mich trotzdem um sieben abholen. Zieh einen vernünftigen Anzug an und ein Hemd, bitte.“
„Muss es unbedingt ein Hemd sein?“
„Ja, ich bestehe darauf. Im T-Shirt siehst du zu jung aus.
Dann würde man den Altersunterschied von zehn Jahren noch deutlicher sehen.“
Ben dachte über die glückliche Fügung nach. Edda hatte ihm schon ein paar Zeitungsartikel herausgesucht. Er würde sich jetzt mit Leonard Kaltwasser und Anna Luise Bach beschäftigen, damit er für die Begegnung vorbereitet war.
Er las die Artikel langsam, um einen Hinweis auf Annas Verbleiben zu entdecken. Vorwiegend erschienen sie und Kaltwasser gemeinsam bei Ausstellungseröffnungen, hier und da auch bei Einweihungsfeiern der Gebäude, die er geplant hatte. Er strotzte vor Selbstbewusstsein, wusste sich vor der Kamera richtig zu positionieren. Anna wirkte eher ernst und schüchtern, als würde sie sich im Trubel der Massen nicht wohlfühlen. Auch wenn die Presse die beiden mehrmals als erfolgreiches Traumpaar bezeichnet hatte, konnte sich Ben die beiden privat nicht als Traumpaar vorstellen.
Er brannte vor Neugier, als er am frühen Abend widerwillig ein weißes Hemd vom Bügel zog. Ben hasste Hemden.
Normalerweise trug er nur T-Shirt und Jackett. Er entschied sich für einen grauen Anzug und nahm vorsichtshalber eine rotgraue Krawatte mit. Die würde er nur im äußersten Notfall umbinden.
Martina wohnte in einem Loft, wie es sich für eine Innenarchitektin ihres Formates gehörte. Sie hatte in Bens Galerie ein paar abstrakte Bilder von einer unbekannten Malerin gekauft, groß und schrill. Es waren die einzigen Farbakzente zu den weißen Möbeln und dem vielen Glas. Ben wartete im Wohnbereich auf Martina, die noch nicht fertig war, als er klingelte. „Hilf mir bitte mal beim Schmuck!“, rief sie ungeduldig und trat aus dem Schlafzimmer. Ben erhob sich und ging ihr entgegen. Sie trug ein dunkelblaues Kleid, das ihre hart erarbeitete Figur perfekt zur Geltung brachte. Ihre blondgefärbten Haare hatte sie hochgesteckt. Die hohen Absätze sorgten dafür, dass sie gleichgroß waren und Ben sich nicht bücken musste, als er die breite Goldkette schloss.
„Du siehst toll aus, Martina“, sagte Ben, weil es stimmte und weil er wusste, dass sie es hören wollte.
„Danke, du auch. Man wird uns für ein Paar halten.“
„Wir werden die Presse ein bisschen ärgern“, verkündete er lässig. „Was ist das überhaupt für ein Gebäude, das heute eröffnet wird?“
„Ein Ärztehaus mit acht Praxen.“
„Hast du das gesamte Haus gestaltet?
„Nein, nur vier Praxen und den Eingangsbereich.“
„Wer ist der Bauherr? Woher stammen die Bilder? Wie heißt die jetzige Freundin von Leonard Kaltwasser?“
Martina stöhnte. „Ich wünschte, du würdest dich auch mal für mich so interessieren.“
Er lachte. „Du gibst wohl nie auf.“
Ben mochte diese Großveranstaltungen nicht, aber sie waren ein notwendiges Übel in seinem Beruf, eine Gelegenheit, Kontakte zu knüpfen und Visitenkarten zu tauschen.
Er hatte sich angewöhnt, gerade lange genug zu bleiben, bis die Gespräche geführt und die Kontakte geknüpft waren.
Martina wurde vom Bauherrn in der großen Eingangshalle begrüßt. Ben nahm kurz die Raumgestaltung wahr: Sitzgruppen aus schwarzem Leder, in der Mitte ein großer, weißglänzender Tresen, hinter dem drei bis vier Leute Platz zum Arbeiten fanden. Vor den bodentiefen Fenstern standen mehrere Grünpflanzen. An den Wänden hingen abstrakte Bilder in knalligen Farben. Martina stellte ihren Begleiter vor: „Ben Lukas Kramer, Kunsthändler und Galeriebesitzer, Reinhard Anders.“
„Ich habe schon viel von Ihnen gehört und wäre auch ganz bestimmt in Ihre Galerie gekommen, wenn ich nicht eine Schwester hätte, die eine begabte Malerin ist. Ich muss sie unbedingt miteinander bekannt machen.“ Reinhard Anders war um die fünfzig, mittelgroß und schlank und strahlte eine gewisse Autorität aus. Ben fragte nach dem Namen der Schwester. „Christine Rudolf, Sie haben sicher von ihr gehört. Sie hat mehrere Gebäude mit Bildern ausgestattet.“
Ben überlegte. Er hatte den Namen noch nie gehört. Aber es direkt zu sagen, wäre unklug. Er suchte nach den richtigen Worten: „Da habe ich wohl eine Bildungslücke und ein großes Glück, dass mich Martina als Begleiter gewählt hat.
So kann ich die Künstlerin persönlich kennenlernen.“
Der Mann strahlte ihn an. Neue Gäste rückten nach. Herr Anders wandte sich ihnen zur Begrüßung zu. Ben wollte in der Menge verschwinden, doch der Gastgeber eilte ihnen nach, eine Frau in fließenden Gewändern im Schlepptau.
„Darf ich Ihnen meine Schwester vorstellen. Das ist Ben Lukas Kramer, Christine.
„Oh, wie schön, Sie kennenzulernen“, sagte sie überschwänglich. „Ich würde Ihnen gerne meine Bilder zeigen.“
Ben war sich sicher, dass er die Frau nicht wieder loswerden würde. Er war hergekommen, um von Leonard Kaltwasser etwas über Anna zu erfahren. Hilfesuchend sah er Martina an. Sie konnte solche Situationen besser meistern als er. Er verspürte sofort Erleichterung, als Martina sagte: „Liebe Christine, ich versichere dir, Herr Kramer hat nichts anderes als Bilder im Kopf. Aber er muss seine Neugier noch ein bisschen zügeln, denn ich habe einen Kunden, der seinen fachmännischen Rat benötigt. Erst die Arbeit, dann das Vergnügen.“ Christine, eine Frau Ende vierzig, die wohl mit ihrer locker sitzenden Kleidung ein paar Pfunde Übergewicht zu verstecken versuchte, schwebte zufrieden mit ihrem Bruder davon.
„Danke“, murmelte er leise.
„Du musst dir ihre Bilder trotzdem noch ansehen. Ein paar sind ganz gut und andere sind eben Geschmackssache.“
„Okay.“
„Sie braucht nur Lob. Ihr Bruder vermittelt sie geschickt weiter. Da ist Leonard.“
Es stimmte, was in dem Artikel stand. Der Mann strahlte Macht und Arroganz aus. Dagegen wirkte der Bauherr unscheinbar. Schwarzer Anzug, weißes Hemd und Fliege, schwarze zurückgekämmte Haare und stahlgraue Augen. Er hatte wohl in den letzten Jahren ein paar Kilo zugenommen.
Auf den Fotos sah er schlanker aus. Der Mann war Anfang vierzig, die Frau neben ihm blond, eine Kopie von Martina, allerdings jünger, und mehr als zehn Jahre jünger als Kaltwasser. Sie trug ein schwarzes Kleid mit tiefem Ausschnitt.
„Constanze du siehst reizend aus“, sagte Martina herzlich und schloss die Freundin von Kaltwasser in die Arme.
„Hallo Leonard.“ Sie gab ihm freundlich lächelnd die Hand.
„Hallo, Martina“, antwortete er kühl.
„Darf ich vorstellen, Ben Lukas Kramer, Leonard Kaltwasser und Constanze Weiß.“
„Sie sind Galerist“, erinnerte sich Kaltwasser. „Ich habe schon öfter von Ihnen gehört und einige Bilder gesehen, die aus Ihrer Galerie stammen. Habe es leider noch nicht geschafft, mal persönlich vorbeizukommen.“
„Mir geht es ähnlich. Ich habe von Ihren Bauprojekten gehört und gelesen, sehe aber heute zum ersten Mal eines Ihrer Objekte.“
„Da haben Sie nun nicht gerade das Bedeutendste erwischt, es gibt interessantere Aushängeschilder.“ Er sagte es leise und sah sich diskret um.
Ben wusste nicht, was er nun sagen sollte. Martina eilte ihm wieder zur Hilfe: „Constanze malt auch. Vielleicht schaust du dir mal ihre Bilder an.“
„Constanze ist eine Hobbymalerin, sie malt zur Entspannung“, fuhr Leonard schroff dazwischen. „Sei mir nicht böse, Liebling. Du bist die beste Assistentin, die ich je hatte, aber Kunst ist nicht dein Gebiet.“ Er lachte gönnerhaft und tätschelte ihr die Schulter. Constanze bekam einen roten Kopf und rang um Fassung.
Ben fand sein Verhalten unmöglich, denn genau solche Bemerkungen verhinderten bei Künstlern Entwicklung und führten zu Blockaden. Er sah Constanze an, dass sie jetzt am liebsten im Erdboden versinken würde. Der nächste Satz rutschte ihm einfach heraus: „Jeder Mensch ist ein Künstler. Ich würde mir gerne Ihre Bilder einmal ansehen.“
Kaltwassers Haltung veränderte sich. Man hatte ihm widersprochen. Das gefiel ihm nicht. „Wenn Sie Ihre Zeit mit Hobbymalern verschwenden wollen, bitte“, sagte er in einem eisigen Tonfall. „Ich hatte ein anders Niveau bei Ihnen erwartet.“
Ben schluckte und sog die Luft tief ein. „Ich glaube, ich habe einen guten Blick für Kunstwerke und weiß genau, was meine Kunden wollen. Mein Ziel ist es, gerade unbekannten Künstlern eine Chance zu geben. Und die bekommen sie nur, wenn sie ein gewisses Niveau haben.“
„Dann vertun sie mit Constanze nur Ihre Zeit, Herr Kramer.“
„Das entscheide ich gerne selbst.“
„Kunst ist doch immer eine Geschmacksache“, wandte Martina in einem unechten, fröhlichen Ton ein. Sie spürte die Spannung, die in der Luft lag und sah abwechselnd von einem zum anderen.
„Allerdings“, antwortete Leonard und wollte sich abwenden.
Für Ben war klar, dass er nie eine freundschaftliche Verbindung zu diesem Mann pflegen würde, deshalb wagte er zu sagen: „Man sollte Künstler niemals vergleichen. Das tun sie meistens schon selbst und stehen sich damit im Wege. Schlimm ist es, wenn es ein Außenstehender tut.“
„Was wollen Sie damit sagen, Herr Kramer?“
„Anna Luise Bach und Constanze Weiß kann man nicht vergleichen.“ Ben stellte zufrieden fest, dass der Mann rot wurde und nach Luft schnappte. Er erinnerte sich an Herrn Wiesbachs Worte: „Sobald der Name fällt, läuft er vor Wut rot an.“
„Das tue ich ganz bestimmt nicht“, schoss Leonard mit zusammengekniffenen Augen zurück. „Anna war ein Ausnahmetalent, aber zu dumm, es zu begreifen. Sie hat ihr Talent weggeworfen“, fauchte er.
Martina umklammerte Bens Arm.
„Ist sie denn tot?“, fragte Ben ruhig und sah Kaltwasser fest in die Augen.
„Sie hat sich auf ihren Bauernhof verkrochen, baut Gemüse an und töpfert wie ihre Mutter. Als Mensch lebt sie wohl irgendwie, als Malerin ist sie tot.“ Er spuckte die Worte förmlich aus.
„Dann frage ich mich, wer ihren künstlerischen Tod auf dem Gewissen hat?“, wagte Ben zu sagen. Kaltwasser trat einen Schritt vor. Jetzt klammerte sich Constanze fester an ihren Freund und Martina kniff in Bens Arm, in der Hoffnung ihn so zur Vernunft zu bringen.
„Sie glauben wohl dem Geschwätz der Medien, ich hätte sie verheizt. Das ist völliger Blödsinn. Ich habe sie gefördert, aufgebaut, angepriesen, zu einem Star gemacht. Sie wäre allein nie so weit gekommen. Diese Frau ist undankbar, launisch, egozentrisch und unberechenbar. Sie hat mich fast die Karriere gekostet.“ Er wandte sich seiner Freundin zu. „Vielleicht hast du sogar Talent zum Malen, Liebling, aber ich will keine Malerin mehr an meiner Seite, ich habe genug von den sogenannten Künstlern. Wenn du also eine Karriere als Künstlerin anstrebst, dann kannst du gehen.“
Constanze kämpfte mit den Tränen. Doch das ließ ihn kalt.
Er bebte vor Wut und sah aus wie jemand, der jeden Moment zum Schlag ausholen könnte. „Und Ihnen, Herr Kramer, gebe ich einen guten Rat. Erwähnen Sie nie wieder den Namen Wagenbach in meiner Gegenwart. Die Frau ist für mich erledigt, gestorben.“ Er drehte sich um und zog seine schluchzende Freundin mit sich.
Martina sah ihn verblüfft an. „Bist du verrückt, so mit der Tür ins Haus zu fallen und den Mann bis auf’s Blut zu reizen? Ich habe dir doch gesagt, dass man den Namen Anna Luise in seiner Gegenwart nicht erwähnen soll.“
„Das war das Beste, was ich tun konnte. Er hat Wagenbach gesagt. Der bürgerliche Name von Anna ist Wagenbach und ihre Mutter hat getöpfert. Den Rest müsste ich so herausfinden. Danke, Martina, mehr wollte ich nicht wissen. Du entschuldigst mich bitte. Soll ich dir noch ein Taxi bestellen, für ein Uhr oder so?“
„Du kannst jetzt nicht einfach abhauen, ohne dir Christines Bilder anzusehen.“ Sie zerrte wütend an seinem Arm, als er sich zum Gehen wandte.
„Okay, ich bleibe eine Stunde und du begleitest uns.“
Zu den Ritualen des Alltags gehörte für Anna das Mittagessen am Sonntag bei ihrer Tante Elli. Schon als ihre Mutter noch lebte, hieß es: Sonntagsbraten bei Elli, nie bei Elli und Siegfried. Vielleicht lag es daran, dass ihr Onkel ein stiller, zurückhaltender Mann war. Elli führte das Kommando und das fühlte sich in dieser Familie völlig normal und richtig an.
Früher, als ihre Großeltern noch lebten, fand abwechselnd ein Kaffeetrinken mal hier und mal dort statt. Seit dem Tod ihres Vaters hatte Elli das gemeinsame Mittagessen eingeführt. Lotte rückte auch meistens mit der ganzen Familie an.
Anna betrat kurz vor zwölf den Nachbarhof und ging durch die Veranda ins Haus. Ihre Häuser ähnelten sich in der Aufteilung, nur dass Elli statt eines großen Zimmers zwei kleine hatte, die mit einer Schiebetür verbunden waren. Im vorderen Raum wurde gegessen und im hinteren ferngesehen.
Anna warf einen Blick ins Esszimmer, sah, dass für mehr Leute als sonst eingedeckt war und klopfte dann an die Küchentür. Zwei vertraute Stimmen meldeten sich. Lotte goss gerade die Kartoffeln ab und Elli nahm den Braten aus dem Ofen. „Was kann ich tun?“, fragte Anna nach der Begrüßung.
„Es ist alles fertig. Wir können essen“, antwortete ihre Tante. Sie band sich die Schürze ab und eines ihrer Sonntagskleider, das Rosenkleid, kam zum Vorschein. Elli unterschied zwischen Sonntagskleidern, Alltagskleidern und Festkleidern. Annas Mutter hatte über Ellis Kleidermacke öfter gewitzelt: „Elli, heute trägt kein Mensch mehr Sonntagskleider. Das gab es im letzten Jahrhundert.“ Obwohl die beiden Schwestern sich in ihren Gesichtszügen ähnelten, unterschieden sie sich in ihrer Statur. Elli war immer rundlich und klein gewesen und Katharina schlank und groß.
Auch in ihrer Kleidung gab es Kontraste. Katharina hatte Jeans und Pullover am liebsten getragen, Elli liebte Kleider.
Sie nähte sie selbst und Anna war sich sicher, dass sie immer dasselbe Schnittmuster verwendete.
Anna riss sich aus ihren Gedanken und fragte: „Ist heute Ostern oder hat jemand Geburtstag?“
Elli wusste genau, dass Annas Frage mit ihrem Kleid zu tun hatte, denn sie trug es normaler Weise nur an solchen Tagen. „Ich habe Matthias und Hilde eingeladen“, erklärte Elli möglichst beiläufig. „Hilde hat für mich gebacken. Da wollte ich mich revanchieren.“
„Aha. Wo steckt denn der Rest der Familie?“
„Meine Mannschaft ist hinten im Stall, Pony ansehen“, erklärte Lotte.
Elli musterte Anna von oben bis unten. „Hättest dir ruhig mal ein Kleid anziehen können.“
Anna lachte. „Ich besitze keine Sonntagskleider. Habe aber zur Feier des Tages zur Jeans eine Bluse gewählt. Das mache ich selten.“
Lotte schüttete die Kartoffeln in eine Schüssel. „Könntest dir wenigstens mal einen Rock zulegen, wenn du schon kein Sonntagskleid hast“, sagte sie grinsend und wies mit einer Kopfbewegung auf ihren Jeansrock.
„Ich fühle mich in Hosen am wohlsten.“
„Wie Katharina“, sagte Elli seufzend.
Da klopfte es. Matthias Müller, der Nachbar von gegenüber, trat ein. Er war mit Anna zur Schule gegangen, wirkte aber älter als sie. Dafür waren sein schütteres rötliches Haar und sein leichtes Übergewicht verantwortlich. Er begrüßte Elli mit festem Handschlag und erklärte dabei: „Ich soll Mutter entschuldigen. Sie fühlt sich nicht wohl.“
„Oh, das ist ja schade. Hoffentlich nichts Ernstes?“, fragte Elli besorgt.
„Sie hat zu viel im Garten gearbeitet. Nun hat sie’s wieder im Rücken und liegt mit einem Heizkissen im Bett.“
„Dann nimmst du ihr nachher ein Stück vom Braten mit.“
„Gerne, es riecht sehr gut.“
„Geh doch mal mit Anna zum Stall und hole die anderen.
Dann könnt ihr euch gleich das neue Pony ansehen.“ Elli sagte es wieder beiläufig, aber Anna ahnte bereits, dass diese Veranstaltung so etwas wie eine Familienzusammenführung werden sollte.
Matthias hatte mit fünfundzwanzig geheiratet. Die Ehe hielt sechs Jahre. Seine Frau zog das Stadtleben vor. Der gemeinsame Sohn Christian lebte bei seiner Mutter und kam jedes zweite Wochenende zu seinem Vater. Seit der Scheidung vor zwei Jahren versuchten Elli und Hilde, Matthias und Anna zu verkuppeln. Matthias war schüchtern, gutmütig, hilfsbereit und schweigsam. Er brachte alle Eigenschaften mit, die Anna gut fand. Doch sie konnte sich nicht in ihn verlieben.
Auf dem Weg zum Stall sagte sie: „Matthias, ich würde gerne die Zufahrt zum Garten schließen, damit ich einen abgeschlossenen Hof habe. Dann kann der Hund auch nachts draußen herumlaufen. Ich habe gemessen, eine Tür und zwei Zaunfelder brauche ich dafür. Was würde das kosten?“
„Ein selbstgebackenes Brot“, sagte er und lächelte sie an.
„Nein, das kann ich nicht annehmen.“
„Gut, dann zwei Brote.“ Bevor sie protestieren konnte, fügte er hinzu: „Die Zaunfelder stehen bei mir herum und von Türen habe ich eine ganze Sammlung. Ich komme nachher mal rüber und sehe es mir an.“