Amanda - Irmtraud Morgner - E-Book

Amanda E-Book

Irmtraud Morgner

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Beschreibung

Trobadora Beatriz ist wieder auferstanden – als Sirene. Obwohl auf diese Geburt niemand hoffen konnte, ist sie doch dringend erwünscht. Denn nur sirenischer Gesang hat bei dem desolaten Weltzustand, der allenthalben herrscht, eine Chance, gehört zu werden. Aber Laura macht noch eine weitere Entdeckung: Sie lernt ihre bessere hexische Hälfte kennen und feiert eine Wiedervereinigung als Frau von der viel abhängen wird …

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Irmtraud Morgner

Amanda

Ein Hexenroman

TROBADORA BEATRIZ ist wieder auferstanden – als Sirene. Obwohl auf diese Geburt niemand hoffen konnte, ist sie doch dringend erwünscht. Denn nur sirenischer Gesang hat bei dem desolaten Weltzustand, der allenthalben herrscht, eine Chance, gehört zu werden. Aber Laura macht noch eine weitere Entdeckung: Sie lernt ihre bessere hexische Hälfte kennen und feiert eine Wiedervereinigung als Frau, von der viel abhängen wird …Ein Klassiker der Frauenliteratur!

IRMTRAUD MORGNER wurde 1933 in Chemnitz geboren, studierte Germanistik in Leipzig und war Redakteurin bei der Zeitschrift »Neue deutsche Literatur« in Berlin. Seit 1958 lebte sie als freie Schriftstellerin. 1975 erhielt sie den Heinrich-Mann-Preis, 1985 den Roswitha-von-Gandersheim-Literaturpreis und 1989 den Literaturpreis für grotesken Humor. Am 6. Mai 1990 starb Irmtraud Morgner in Berlin.

1. Auflage

Genehmigte Taschenbuchausgabe September 2011, btb Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH, MünchenCopyright dieser Ausgabe © 2011 btb Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH, MünchenUmschlaggestaltung: semper smileunter Verwendung eines Motivs © Anna Bryant/Corbis (Bild Nr. 42 – 23102852Satz: Uhl + Massopust, AalenKS · Herstellung: BBISBN 978-3-641-06507-2

www.btb-verlag.de

Verzeichnis von Hauptfiguren des Romans

Amanda

hexische Hälfte von Laura Amanda Salman

Laura

andere Hälfte von Laura Amanda Salman, Triebwagenfahrerin

Wesselin

Lauras Sohn

Dr. Konrad Tenner

Archivar, geschiedener Ehemann von Laura Amanda

Vilma Tenner-Gommert    

Sekretärin, Ehefrau von Konrad Tenner

Dr. Heinrich Fakal

Wissenschaftswissenschaftler, Schulfreund von Laura Amanda

Johann Salman

Lokführer i. R., Lauras Vater

Benno Pakulat

Zimmermann, Lauras verunglückter Ehemann

Sirene Beatriz

vormals Trobadora Beatriz

Arke

Tochter von Erdmutter Gaja, für den Blocksberg und sein Einzugsgebiet zuständig

Kolbuk

Oberteufel vom Blocksberg

Zacharias

Oberengel vom Blocksberg

Griechisches Vorspiel

Natürlich drehen sich nicht alle Verstorbenen im Grabe um.

Selbst der gegenwärtige Weltzustand läßt viele Tote unbewegt. Ich konnte unter der Erde keine Ruhe finden.

Seit 1973 da aufgehoben in bewegtem Stoff. Er trieb mich um und um und schließlich aus. Jäh wurde ich aus diesem Stoff in einen anderen gerissen.

Den anderen durchflog ich. Trieb ich mich durch die Lüfte? Wurde ich getrieben?

Dunkelheit lag auf der Erde. Der Sturm heulte aus Norden, die Wolken verhüllten den Mond, die Natur war in Aufruhr.

Eine Nacht, die empörte Einbildungskraft zu verwildern.

Ich fühlte mich aus Kälte fort in ein Gefild gerissen, das Lebenszeichen gab. Kreischen und Krächzen hörte ich. Dann Flügelsausen. Ferne Geräusche in lauer Luft.

Sie näherten sich, schwollen an, umlärmten mich.

In der Finsternis konnte ich nichts erkennen. Ich vermutete mich in einem Schwarm Aras.

Kreischstimme von oben: »Wo willst du hin?«

Krächzstimme von unten: »Nach Delphi.«

Gemischter Chor ringsum: »Nach Delphi zsam zsam fliegen wir dann.«

Deutsche, französische, russische, englische, italienische und griechische Menschenworte, tierisch verlautet. Dressierte Aras?

Ich versuchte, dem Lärm zu entkommen. Es gelang mir nicht. Hing er mir an? Oder ich ihm?

Plötzlich Meeresrauschen. Meine Ohren lauschten süchtig und steuerten mich draufzu. Auch glomm ein Licht in der Richtung.

Ich schließlich im Sturzflug auf das Licht nieder. Trockne Landung. Das Licht drang aus einer Erdspalte. Es beleuchtete eine Frau und einen Stein. Die Frau scharrte Lorbeerlaub zusammen, bestäubte es mit Mehl und entzündete den Haufen. Rauch wölkte auf. Die Erdspalte begann zu dampfen. Die Frau setzte sich daneben auf einen Dreifuß, kaute Lorbeerlaub und fächelte sich Dampf zu. Die Bewegungen der vermummten Gestalt erinnerten mich an meine Freundin Chariklia.

Plötzlich brachen seltsame Wesen durch die Rauchwolke. Und sie gingen neben mir nieder wie gewaltige Früchte, die von einem gewaltigen Baum geschüttelt wurden. Die Wesen scharten sich um den Dreifuß und starrten aus Menschengesichtern auf die kauende Frau. Ein Dutzend Menschengesichter zählte ich um mich. Ein Dutzend Beweise dafür, daß ich wirklich und wahrhaftig auferstanden war. Zum zweiten Mal.

Die Menschenköpfe waren Tierleibern angewachsen. Schlangenähnlichen und vogelähnlichen.

Erschrocken griff ich nach der Herzgegend: Federn. Ich sah an mir herab: gefedert. Oder gefiedert?

Die vogelähnlichen Wesen um mich trugen dichtere Federkleider als ich. Die Schlangen, auch geflügelt, waren nackt.

Auf dem Dreifuß die Frau warf ihr Gewand mit Händen, die an auffliegende Spatzen erinnerten. Meine Freundin Chariklia aus Athen hatte solche Hände zum Theaterspielen, Inszenieren, Tanzen und Autofahren benutzt.

Die Schlangen begleiteten die Beschwörungsgesten der Frau mit Krächzen. Die Vogelwesen gaben keinen Laut. Als die Frau die gekauten Blätter ausgespuckt hatte, verstummten die Schlangen. Die Frau beugte sich über den Stein.

Stille.

Dann Gemurmel. Stoßweis aus der Vermummung drang es. Monoton. Keine Rede. Kein Gesang. Nichts, was den Geist oder die Sinne erfreuen konnte. Doch die Schlangengesellschft lauschte gebannt. Zwei Schuppentiere krochen zum Stein. Die Vogelwesen ordneten ihr Federkleid, scharrten im Karst, schliefen ein. Ihre Körperform erinnerte an die Schneeule. Im Gegensatz zu dieser Tierart waren sie jedoch wie der Uhu mit zwei Kopfbüscheln versehen. Die Federohren wuchsen aber nicht wie beim bubo bubo über den Augen und auch nicht zwischen Schläfen und Hinterkopf, wo die Menschenohren sitzen, sondern am Haaransatz. Dort, wo Männer die Geheimratsecken erleiden. Ich schätzte die Flügelspannweite auf zweieinhalb Meter, die Körperhöhe auf einen und tastete meinen Kopf ab. Ich spürte kaum Federohren, aber Krallen. Im Flackerlicht, das aus der Erdspalte drang, mußte ich erkennen, daß ich mit Krallenhänden und Krallenfüßen auferstanden war. Einziger Trost: die Schwungfedern. Ich spreizte die Armschwingen und genoß den Auftrieb, der schon von zwei Schlägen baumhoch geriet. Hinter mir am Berghang nämlich Ölbäume.

Die Schuppentiere am Stein, ein weißes und ein blaues, lagerten geringelt wie auf der Lauer. Das weiße wiederholte das Gemurmel der Frau. Das blaue übersetzte. Auch in Französisch und Deutsch, die Sprachen meines zweiten Lebens. Ich hörte Worte und Satzfetzen, aus denen ich keinen Sinn gewinnen konnte.

Die blaue Flügelschlange setzte die Brocken zusammen und ergänzte dazwischen. Ergebnis: ein Vexierspruch. Deutsche Fassung: »In der Büchse die Hoffnung Prometheus muß holen Pandora gewinnen ihre Wiederkehr dringlich serpentische Töchter ziehen Gesang.«

Sobald der Spruch verkündet war, begann das Palaver der Auslegung. Es hinderte mich am Einschlafen. Als ich Ruhe fordern wollte, merkte ich, daß ich ohne Stimme war. Stumm wie die anderen Vogelwesen auch: schreckliche Entdeckung. Da ich zwei Leben als Trobadora durchgemacht hatte und gewöhnt gewesen war, über ein wohlklingendes Organ verfügen zu können, traf mich der Verlust noch schmerzlicher als die körperliche Wandlung. Ich weinte meine Federn naß.

Die Frau warf ein Tuch von sich und verschwand in der Erdspalte. Es flog über den disputierenden Schlangenhaufen auf einen Olivenast. Ich schleppte mich den Hang hinauf, holte es. Ich und nicht tot und kein Mensch und kein Tier und keine Pflanze – wer war weniger? Ich hüllte mich in das Tuch. In Schlaf.

Gezänk weckte mich. Im Flackerlicht unter mir Rauferei. Neun Schlangenwesen stritten um drei Vogelwesen. Auch wurden die drei umworben. Da sie sich nicht entschließen konnten, wurden sie schließlich verteilt. Die Gewinner entführten sie in die Schwärze der Nacht. Sechs Verlierer blieben zurück und schlängelten noch eine Weile. Dann flogen auch sie auf und davon.

Ich grub meine Fußkrallen in den Karst und schlief weiter.

Aber vor Morgengrauen noch wurde ich aus dem Schlummer in Winde gerissen. Salzige zuerst. Dann ungewürzte, kältere. Eine geflügelte Schlange stieß und dirigierte mich vorwärts. Deutsche Befehle.

Ich folgte widerwillig.

Aber ich folgte – warum? Ich, eine Tochter des Südens. Als Trobadora hatte ich niemandem gehorcht außer mir. Seltsame Unwiderstehlichkeit. Ich krallte dagegen an.

Meine Entgegnung erregte Freude. Krächzend wurde mir erklärt, daß im Norden auch Sirenen gebraucht würden und überhaupt am besten dort, wo sie auferstanden wären.

Aus mein Traum vom Mittelmeer. Mir wurde die Spree als Gewässer verheißen.

Ein mir wohlbekannter Fluß. In seinem Schmutzwasser hatte ich während meines zweiten Lebens gebadet. Mit meiner Freundin und Spielfrau Laura Salman.

Gekreischtes Bekenntnis: Ich wäre mehr als eine Überraschung, weshalb ich mir den Spreeort aussuchen dürfte.

Und da entschied ich mich natürlich für die Hauptstadt Berlin.

Wir landeten am Werderschen Ufer. Immer noch Nacht, aber von Lampen gebrochen. Ich hörte Wasserglucksen. Dann den Befehl: »Sing«. Nicht gekreischt; schrill gesprochen. Sehr hoch und schrill und leise und wieder unwiderstehlich. Singbefehl an eine Stumme. Aber der Zwang zu befolgen war so groß, daß ich mich dennoch bemühte. Und nach vielen vergeblichen Versuchen brachte ich tatsächlich eine Nachahmung hervor. »Kann nicht«, sagte ich so hoch und schrill und leise wie die Schlange eben.

Sie spreizte die Flügel. Triumph? Imponiergehabe? Drohgebärde? Schwingen, die an die Flossen von Schleierfischen erinnerten. Das Licht der Straßenlaterne hinter uns schien durch die Flughäute. Das Menschengesicht erinnerte mich an Koren. »Kann nicht«, wiederholte ich, um mich der Stimme zu versichern, die erbärmlich war, aber besser als stumm.

»Dann lern es«, sagte die Schlange.

»Von wem?« fragte ich verstört.

»Von dir«, sagte die Schlange. Ihr blauer Körper pendelte jetzt von einer Eiche. Der Kopf war kleiner als der eines Menschensäuglings. Autogeräusche. Klimpern von Absätzen.

»Hab noch nie eine so kleine Frauenbirne gesehen«, sagte ich vor Angst, entdeckt zu werden.

»Sieh in den Spiegel«, befahl die Schlange und wies auf den Tümpel, der neben der Eiche stand. Ich folgte erneut und erkannte im Wasser das Gesicht von Beatriz de Dia und einen Vogelkörper. Dieses Wiedersehen mit mir entsetzte mich derart, daß ich einen Lachkrampf erlitt.

»Und wer bist du?« fragte ich, nachdem ich mich erweibt hatte. »Ich bin Arke«, antwortete die Schlange. »Manche nennen mich auch Horsel, weil ich im Hörselberg gefangengesetzt war.«

»Warum?« fragte ich.

»Das ist eine lange Geschichte«, sagte die Schlange und bat um Beeilung. Denn Singen wäre die Muttersprache der Sirenen.

Ich dachte nach. Aber ich konnte mich nur der Sprachen erinnern, die mir als Trobadora Beatriz geläufig gewesen waren: Altprovenzalisch, Französisch, Deutsch. Und Lebensereignisse wollten mir auch nicht einfallen.

»Donner diese Vergeßlichkeit«, sagte ich.

»Sie ist natürlich«, belehrte die Schlange, »weil Schlachtenlärm Sirenen verdummt.« Diese Empfindlichkeit hätten sie mit manchen Menschen gemein, die von Zwistigkeiten geistig gelähmt würden. Im Allgemeinen aber hätten sich die Menschen im Gegensatz zu den Sirenen anpassen können. Kriegslieder hätten gegen den Gesang der Sirenen nie angekonnt. Aber Kriege …

»Und Odysseus«, ergänzte ich.

Doch die Schlange behauptete, daß die Sirenen zu Odysseus’ Zeiten bereits stumm gewesen wären. Beweis: die Ohrstopfen. Ein derart lächerliches Mittel gegen den überwältigenden Sirenengesang strafe die Überlieferung Lügen. Daß Odysseus die Ohren seiner Gefährten dennoch verkleben und sich an den Mast fesseln ließ, als sein Schiff nach der Zerstörung Trojas an der Insel Aiaia oder Ogygia vorbeisegelte, bezweifelte die Schlange jedoch nicht. Die Sage von den ursprünglichen Fähigkeiten der Sirenen müsse damals offenbar noch derart lebendig gewesen sein, daß der Kriegsheld der Realität nicht gänzlich zu vertrauen wagte. Vorsicht und Angst wären geboten gewesen, da nicht der Tod wie gewöhnlich hätte befürchtet werden müssen, sondern mehr. Schlachtenmut, Eroberungswille, Siegesgier: Dieser Tugendsockel, worauf Odysseus’ Leben gründete, würde unterm Gesang von Sirenen zerstieben. Derart beraubt würde so ein Held den Glauben an sich verlieren: sich selber. Und wiederfinden würde er sich unter den Raubtieren und von ihnen verachtet: Denn Raubtiere töten nur, wenn sie hungrig sind …

Das Gesicht der Schlange warf keine Sprechfalten. Es blieb starr, als ob Schönheitsoperationen die Haut überspannt hätten, und erinnerte mich an den Trobador Raimbaut d’Aurenga, der 1167 meine Liebe verschmähte.

Die Schlangenflügel wehten im Wind wie Gardinen. Die Nacht war kühl. Da mir Geselligkeit angenehm ist, erkundigte ich mich, wo sich meinesgleichen hier aufhielte.

»Ich war seit meiner Befreiung erst zweimal in Delphi am Fuße des Parnaß«, sagte Arke. »Ich habe am Nabel der Welt zum ersten Mal Sirenen gesehen. Der Nabelstein Omphalos zieht Geister der Erdgöttin Gaja ab und zu magisch nach Delphi, wo das Orakel verlautet. «

»Orakel – wahrlich ja«, sprach ich, »mußte ich auferstehen, um Unsinn anzuhören?«

Empörtes Krächzen von der Eiche. Flughäute vor meinen Augen. Ich schrillte dagegen.

Nach der Attacke der Spruch: »Pythische Wahrheit erwächst.« Wieder ein Rätsel. Dunkler Stil war mir schon bei den provenzalischen Trobadoren unangenehm gewesen. Und nun? War ich nun selber dunkel? Selber ein Rätsel?

»Ein Zeichen vielleicht«, hörte ich.

»Ein gutes?« fragte ich.

»Möchts gern glauben«, sagte Arke.

»Ein böses etwa?«

»Wills nicht glauben«, sagte Arke und schilderte, wie ihr und ihren Schwestern gleichzeitig die Ahnung aufgegangen wäre, daß mit dem Orakelwort »Gesang« Sirenen gemeint sein könnten. Nachfolgendes Haschen nach den schlafenden Vogelwesen wie ein Ausbruch von Habgier. Keine Schlange, die freiwillig auf ein Medium hätte verzichten wollen. Feilschen um die als Rettungsmittel Verdächtigen … »Und ich hätte bestimmt kein Sprachrohr abgekriegt, wenn mir nicht der Zufall zu Hilfe gekommen wäre«, sagte Arke. »Das Tuch. Ein unverhoffter Fund unter der Decke, als die Geister schon abgeflogen waren. Meine Schwestern wissen noch nichts von meinem Glück …«

Das Wort »Sprachrohr« empörte mich, und ich versicherte, daß ich meine zweite Auferstehung im Gegensatz zu meiner ersten weder gewollt noch betrieben hätte, weshalb der Begriff »Befreiung« für meine Wiederkehr jedenfalls unzutreffend wäre.

Arke grübelte.

»Und wer hat dich befreit?« fragte ich in das Wirrsal.

»Das ist eine lange Geschichte«, sagte die Schlange, »nicht weniger wunderlich als deine. Wenn du in deinem zwölften Jahrhundert als Gattin des Guilhelm de Poitiers normal verstorben wärst, hättest du dich sicher nicht verwandelt erhoben. Obgleich du eine Dichterin warst, eine weise Frau. In alten Zeiten lebten alle weisen Frauen ein zweites Leben in Sirenengestalt. Damals gab es viele Sirenen. Dann übernahmen die Männer die Herrschaft und führten ein, was die Menschen heute Geschichte nennen: Privateigentum, Klassentrennung, Ausbeutung, Staatsgewalt, Kriege. Kriegslieder konnten die Sirenen mühelos niedersingen. In Kriegen verstummten die Wesen. Danach erinnerten sie sich wieder und gewannen ihre Sprache zurück. Als jedoch die Zeiträume zwischen den Kriegen kürzer und kürzer wurden, blieb den Sirenen keine Zeit mehr zum Erinnern. Auch wurden die weisen Frauen immer seltener. In Küchen können keine wachsen. Und in Kriegen können keine auferstehen …

»Oho«, schrie ich und fühlte den kalten Schweiß unter meinem schütteren Federkleid sich erwärmen, »aha«, schrie ich wie besoffen vor Erleichterung und schloß kurz, daß folglich trotz dieser unerträglichen Bewegung des geplünderten Planeten, die viele Tote umtrieb und mich aus, noch immer Friedlichkeit …

»Hier«, sagte die Schlange. Aber seit Ende des zweiten Weltkriegs wären auf dem Planeten einhundertsechzehn lokale Kriege geführt worden. Tote fünfundzwanzig bis dreißig Millionen. Weltweite Friedenstage in fünfunddreißig Jahren: achtundzwanzig. Nur mit dem arroganten Trick, Europa als Welt zu setzen, könnte von Friedenszeiten geredet werden. Atomkriegen aber wäre mit solcher Arroganz nicht zu begegnen. Außerdem führten die Menschen nicht nur Kriege gegeneinander, sondern auch welche gegen den Planeten. »Eile!«

»Wohin«, fragte ich.

»In dich«, sagte die Schlange. »Lerne durch Verlernen. Trainiere!« Bestimmte Weisung aus unbestimmtem Gesicht. Ambivalentes Lächeln, das mir bisher nur an den Koren- und Kuros-Standbildern im Akropolismuseum zu Athen begegnet war. Anziehende und distanzgebietende Züge, abstrakt, der Würde polyphoner Musik ähnlich. »Und Sie«, sagte ich unwillkürlich, »und du«, zwang ich mir aber gleich darauf ab und blähte meine Federn, »was machst du derweil und überhaupt außer befehlen?«

»Orakeln über das Orakel wie alle serpentischen Töchter Gajas, die Gründe für die Wiederkehr der Sirenen ergründen, umgehen«, sagte die Schlange. Dann führte sie mich vor ein Abrißhaus und entflog. Ich hüllte mich in das Tuch, das ich vom Parnaß mitgebracht hatte, und verkroch mich im Keller.

Am Abend kehrte die Schlange zurück. In Eile wie zuvor. Und sie gestand auch rundheraus, daß sie zum Erzählen vorläufig keine Zeit erübrigen könnte. Deshalb und um mir das Training zu erleichtern, hätte sie Papiere und ein Buch mitgebracht. Materialien aus dem Blocksberg-Archiv, mit deren Hilfe ich trainieren sollte, meine Lebensereignisse als Trobadora in meine Erinnerung zurückzuholen. Ohne trobadorische Erinnerung wäre auf sirenische nicht zu hoffen.

Das Paket wurde auf einem fliegenden Besen in meinen Keller befördert. Als ich es aufschnürte und die Papiere zu lesen begann, begegnete mir der Name meiner Freundin Laura Salman, die mir zwei Jahre bis zu meinem Tode 1973 treu gedient hat. Von Freude erschüttert, hetzte ich über die Seiten. Was ich erfuhr, trieb noch mehr an. Das beiliegende Buch hieß »Leben und Abenteuer der Trobadora Beatriz nach Zeugnissen ihrer Spielfrau Laura«. Als ich alles durchgeschwartet hatte, erfaßte mein trobadorischer Instinkt, daß mitunter nicht mal achthundertdreiundvierzig Lebensjahre für eine weibliche Berufung reichen.

Und ich vergaß alle Befehle und Trainingsratschläge und folgte meinem poetischen Trieb, der offenbar im Gegensatz zu allem anderen an mir unverändert erhalten geblieben war. Also versammelte ich sämtliche gelesenen Nachrichten in meinem Kopf und begann sieben Jahre nach meinem Tod mit meinem Lebenswerk.

1. KAPITEL

Hölle und Himmel

In alten Zeiten, als das Wünschen noch geholfen hat, gab es überhaupt keine halbierten Frauen.

Dann kam der Fortschritt mit seinen Kriegen. Die großen Kriege waren eine Fortsetzung der kleinen Kriege mit anderen Mitteln. In den alltäglichen kleinen Kriegen zwischen Mann und Frau siegte gewöhnlich der Mann. In den großen Kriegen hatten beide die Chance zu verrecken.

Als in der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts der zweite Weltkrieg zu Ende war, glaubten viele Überlebende: Das war der letzte auf Erden. Besonders junge Überlebende glaubten es. Das Wunder, dem Inferno heil entronnen zu sein, begünstigte Wunderglauben. Zudem verschafft die Pubertät jedem Menschen die schöne Illusion, der zu sein, mit dem die Welt erst wirklich anfängt.

Laura Salman, Tochter des Lokführers Johann Salman und seiner Hausfrau Olga, war zwölf Jahre, als der zweite Weltkrieg zu Ende kam. Der Anfang nach dem Ende muß ihr als Ereignis natürlicher Zauberei erschienen sein, weshalb ihr Gedanken an künstliche zunächst überflüssig erschienen.

Ich eröffne mein Lebenswerk mit einer Erinnerung aus dem Jahre 1971. »Das Ende war der Anfang meiner größten Illusion«, gestand mir Laura damals frank auf freier Straße.

Ich hatte die Frau eben als Spielfrau angestellt. Die Straße führte auf den Platz der Akademie, vormals Gendarmenmarkt. »Komischer Anfang«, sagte Laura lachend. Sie lachte nur bei ernsten Gelegenheiten, das hatte ich bald heraus. Aber vom Geheimnis ihres Lebens habe ich bis zu meiner Beerdigung nichts erfahren. Erst der Roman dieser Morgner hat geplaudert. Aus Dummheit? Aus Naivität?

Das Geständnis Lauras fand jedenfalls in Berlin statt. Am Abend eines Herbstäquinoktiums. Wir bevorzugten Berlin-Mitte für intime Gespräche, da die City zu abendlicher Stunde Qualitäten einer abgelegenen Gegend erreicht. Während solcher Gespräche wurde reichlich spaziert und knapp geredet. »Die ersten Tage nach dem 8. Mai – schlaraffig«, behauptete Laura. »Rundweg schlaraffig – natürlich nicht fürn Bauch. Der knurrte. Aber der Kopf und die anderen Schamteile der Art. Wer sich die in seinem Leben mal hat wirklich füllen können, bleibt für Dressuren ungeeignet. Weil ich nämlich eine Pause erlebte: Die Welt stand dir sage und schreibe ein Weilchen auf dem Kopf. Kennstudas?«

Ich kannte die Äquinoktien als Zeitpunkte, da für alle Orte der Erde Tag und Nacht gleich sind. Ich wußte, daß die Straße, durch die wir spazierten, Charlottenstraße hieß. Und da Laura nicht lachte, vermutete ich einen Witz und sagte das. Laura sagte »Kamuff« und ähnliche Schroffheiten, die sich ihres Wohlgefallens und ihrer Sammelinteressen erfreuten. Später erkundigte sie sich, ob meine Phantasie für die Vorstellung von einer schönen Art Himmelreich hinlänglich wäre, »jaodernein?«

Da ich zauderte, mich festzulegen, gab mir Laura Hilfestellung und verlangte geometrische Kenntnisse. Am schnellsten käme ich nämlich auf den Trichter, wenn ich mir eine Pyramide vorstellte, dreiseitig, vierseitig, n-seitig, auf die Zahl der Seiten käme es nicht an. Aber auf Spitze und Grundfläche. Die Spitze müßte ich mir von Paukern gebildet vorstellen. Nicht zu verwechseln mit Trommlern. Und bitte keine Beschränktheit auf Schulpauker. Großzügig müßte gedacht werden, an alle Sorten also, auch an gewisse Mitbewohner des Hauses, in dem Lauras Eltern seit 1934 in C. gemietet hatten, auch an gewisse Nachbarschaften sowie den Pfarrer, den lieben Gott, den Teufel und je nach dem prompt Lauras Vater Johann. Die Grundfläche der Pyramide: alle Kinder des sächsischen GroßstadtVororts, Laura mittendrin. Die Füllung zwischen Spitze und Grundfläche: Frauen. Dideldudelknölle-fertig-istihölle.

»Schönes Himmelreich«, bestätigte ich, »aber für so was brauch ich keine Hilfestellung. Die Art jät ich dir zu jeder Tages- und Nachtzeit aus meinem Schädel.« Ich legte einen Schritt zu. Laura mir nach. Murrend. Vorm verfallenen Eckhaus, in dem einst der Dichter Ernst Theodor Amadeus Hoffmann gewohnt hatte, holte mich Laura ein und stellte die Pyramide auf den Kopf. Ich glotzte. Laura: »Dideldudelkimmelseich-fertigistashimmelreich.«

Übrigens auch so eine wunderliche Angewohnheit von ihr, diese Sprüche. Hätten mir eigentlich zu denken geben müssen. Aber wahrscheinlich reichen für den Menschen nicht mal achthundertdreiundvierzig Lebensjahre, um durchzusehen.

Laura half also wieder. Und ich sah zunächst wieder nur das Nächstliegende: Zaun. Der Platz der Akademie war damals eingezäunt. Hinter den Latten, von Goldruten umwuchert, gemauerte Baracken, Baubuden auf Rädern, Zinkblechteile, Schalholz, Ziegel, Steinplatten, liegende, in durchsichtige Plastfolie gehüllte Statuen und die teilweise eingerüstete Front des ehemaligen Schauspielhauses. Die Freitreppe vorm Säulenportikus war abgedeckt als Schuttrutsche in Gebrauch. Die Reliefs im rechten Giebelfeld fehlten noch. Auf den Treppenpodesten vollständige Bronzegenien, auf Panther beziehungsweise Löwin reitend. Die Goldrute war frostschwarz.

»Närrische Sprüche«, sagte ich. »Närrische Zeiten im Ernst«, sagte Laura. »Aber eben kurz. Leider nur ganz kurz wie jeder lichte Augenblick. Ich erlebte ihn auf dem Bleichplan und im Hof.« Laura sah sich mehrmals um. Der Platz lag still unter Baustellenbeleuchtung. Das Licht hob die Domruinen flächig aus der Dunkelheit. Beide Dome waren von Rasenanlagen umgeben. Die Luftschachtgitter in der Rasenanlage des Deutschen Doms ließen Stickluft fahren und in Abständen Schienenstöße. Um die Zeit verkehrten die U-Bahnzüge zwischen Pankow und Thälmannplatz alle zwanzig Minuten.

Plötzlich unflätiges Gelächter rein in die Stille. Der Hieb von Laura.

Sie hatte sich auf die Rasenanlage des Französischen Doms gepflanzt und kam erst wieder etwas zu Anstand, nachdem ich ihrem Beispiel gefolgt war.

Ich folgte widerwillig. Laura wälzte sich. Um mir zu zeigen, wie sie sich damals gewälzt hätte. Auf dem Bleichplan so und so von einem Zaun zum anderen. Hinter den Hofzäunen Ruinenfassaden, auf die unter anderem mit Kreide geschrieben gewesen wäre: »Olga, Laura, lebt ihr?« Als Lauras Kleider rundum grasgrün gewesen wären, hätte sie mit einem Ziegelbrocken daneben gekratzt: »Gewaltig«. Das geschah mittags nach der bedingungslosen Kapitulation. Und dann lebten Laura und ihre Freundin so weiter. Immer so weiter vierzehn Tage lang auf einem Kriegsschauplatz. Der Bleichplan wäre nämlich der Ersatzkriegsschauplatz für die Hauspauker gewesen. Wobei der Bleichplan verglichen mit dem Hof noch wenig Brisanz hergegeben hätte. Das Betreten des Plans war Kindern nämlich glatt verboten, das heißt mit Vorhängeschloß. Da der Hausbesitzer das Gatter und die anderen Zaunlatten zudem mit Nägeln hatte spicken lassen, konnten die Herren Schreibart, Broker und Klotz Bleichplandelikte fast nur an Untererwachsenen ahnden. Ulanen, Steuerrevisoren, Volkssturmmänner, Feldwebel und Hausverwalter gehörten zu den Obererwachsenen. Eine Sorte, die sich selbstverständlich wieder in sich gliederte. Die Gliederung war aus der Reihenfolge der Aufzählung zu ersehen. Klarer Fall, daß Ulanenfeldwebel a. D., Steuerrevisor und Volkssturmmann Schreibart dreimal soviel zählte wie der gemeine Unteroffizier a. D. Broker und Broker wiederum mindestens dreimal soviel wie der Scheißzivilist Klotz, auch wenn der als Hausverwalter mit Hausbesitzers verkehrte. Die Obererwachsenen hätten untereinander auf Abstand geachtet und auf Ordnung. Nach der Devise: getrennt wohnen, vereint zwiebeln. »Hinterm Mond sein ist schon schlimm«, sagte Laura. »Aber immer und ewig hinter der Sonne … wo war sie eigentlich heute?«

Ich erklärte, daß die Sonne zur Zeit der Tag- und Nachtgleiche in ihrer scheinbaren Bahn im Schnittpunkt der Ekliptik mit dem Himmelsäquator stünde. Der Schnittpunkt, in dem die Sonne vom Südzum Nordhimmel überwechselte, hieße Frühlings- oder Widderpunkt, der Gegenpunkt Herbstpunkt.

»Widderpunkt«, grölte Laura und verteilte wieder Gelächterhiebe in die Stille. »Widder, haha, Böcke, gehörnt hab ich die Stinktiere, von Ehefrauen gehörnte Kerle sind fad dagegen, und ich war ein Kind, wir waren Kinder und plötzlich ganz groß in der Sonne und die Hornviecher plötzlich ganz klein mit Hut hahaha, mit Butter auf dem Kopf, so was von Sonne hast du nicht erlebt …«

Ich saß steif. Bemüht, die Auflagefläche so klein wie möglich zu halten. Denn ich wußte, daß Grasflecken indanthren sind. Außerdem sah der Rasen gepflegt aus.

Laura beobachtete meine Bemühungen mit verächtlichen Blicken. Sie war nicht halb so zahm wie im Roman beschrieben. Das Buch der Morgner stinkt nach innerer Zensur. Und trotzdem steht noch zu viel drin. Fürn Teufel zu viel, für Menschen zu wenig.

Auf dem Rasen des Deutschen Doms nannte Laura den Teufel und den lieben Gott Paukerpopanze. Im Gegensatz zu den anderen Paukersorten würde die Popanzsorte an die Wand gemalt. Wenn Kinder beim Malen von Ballzielkreisen auf die Hofwand erwischt worden wären, hätte der Hausverwalter Klotz Kopfnüsse verteilt und gebrüllt »geht aus der Sonne«, was so viel hieß wie »verschwindet«. Laura beschrieb seine Inbrunst beim Verteilen. Dann beschrieb sie inbrünstig den Aufstand in Schutt und Asche. Rundum Ruinen, die ganze Stadt ein Trümmerhaufen und Maisonne nach dem Kalender. Aber tatsächlich himmelweit von diesem Frühlingsoder Widderpunkt entfernt; tatsächlich hochsommerlich und schamlos und krachend. Aber nur für Laura und deren Freundin Inge. Die Erwachsenen wären weiter im Gemäuer rumgekrochen. Auch die Untererwachsenen. Obgleich gerade die nicht schlechter vom Kellerrheuma gezwackt gewesen wären als die Kinder. Und gegen Rheuma hülfe bekanntlich Sonne besser als Rotlicht.

Zu den Untererwachsenen zählten die Frauen – auch gegliedert selbstverständlich. Wenn die Frau vom Frontgefreiten erster Stock links die Wäsche dampfend auf den Plan gebreitet hätte, so daß auf vergilbte Rasenflächen zu hoffen war, hätten die Pauker lediglich von den Balkonen gehustet oder sich gegenseitig Vögel auf ihren Stirnen gezeigt. Wenn jedoch die Wäsche vom alten Fräulein Röhr gegen Abend noch nicht vom Rasen gewesen wäre, hätten sich die Pauker »Nachtbleiche« zugerufen, von ihren Balkonen gespuckt und einander versichert, daß Nachtbleicher Volksverräter wären, die Feindbomber anlockten. Da Lauras Mutter nicht genau gewußt hätte, in welche Kategorie der Gliederung sie als Lokführersfrau gezählt worden wäre, hätte sie sich die Rasenbleiche versagt und Leinenbleiche betrieben. Trotzdem hätte sich auch Olga Salman wie alle anderen Frauen der Mietparteien im fünfundvierziger Mai nur bis in den Hausflur getraut. »Höchstens bis hinter die Haustür, wo ein Topf stand«, sagte Laura. »Und die Restmänner, die vom Krieg altershalber im Haus belassen worden waren, haben vierzehn Tage ihre Wohnungen überhaupt nicht verlassen. Sie haben ihre Eheweiber geschickt. Vor allem hinter die Haustür. Manche beauftragten sogar ihre Eheweiber, die bisher nichts zu sagen hatten, zu reden. Jetzt erst verstand ich die Pauker-Losung; ›Genießt den Krieg, denn der Frieden wird furchtbar‹. Die Haustür wurde von einem Stein einen Spalt offengehalten. Sobald Frau Schreibart durch den Spalt einen Soldaten ausmachen konnte, rief sie und schenkte mit einer Kelle Brombeertee aus dem Einwecktopf. Die Soldaten wollten in amerikanische Kriegsgefangenschaft fliehen. Die amerikanischen Truppen hielten an der westlichen Stadtgrenze, die sowjetischen an der östlichen. Frau Schreibart sagte: ›Wennch wüßte, daß die Amis kämen, tätch mein Mann seine schoine Ulanenuniform nich verbrenn.‹ Die Schreibarten hatte die Uniform dreißig Jahre mit Pfeffer vor Mottenfraß bewahren können. ›Stoff brennt noch schlechter als Papier« sagte die Brokern. Und die Klotzen behauptete, daß ihr Mann noch lange nach dreiunddreißig und eigentlich schon immer Vegetarier gewesen wäre. ›Und christlich« ergänzte die Brokern, ›mein Mann war auch schon immer christlich.‹ Das konnte ich bestätigen. Denn beide Männer pflegten bei jeder Gelegenheit zu drohen, sie und Gott sähen alles und würden schon dafür sorgen, daß Gesindel ins Loch käme. ›Raus aus der Sonne und rin ins schwarze Loch« sagte Klotz und zeigte dabei mit Vorliebe auf die Kläranlagendeckel im Hof. Und Broker sagte mit Vorliebe: ›Der Teufel ist gründlich.‹ Und ich zweifelte nicht daran, weil ich Broker hatte erzählen hören, wie er Juden in einer Jauchengrube ertränkt hatte. Kein Wunder also, daß während der märchenhaften Tage die rührigsten Frauen fast ebenso ungefährlich waren wie die Männer. Aber auch die anderen Frauen haben sich nicht getraut, uns Kinder ernstlich anzumeckern. Auch meine Mutter Olga nicht, die trotz Vaters Verbot regelmäßig den Londoner Rundfunk gehört hatte. Alle Erwachsenen hatten Nazidreck am Stecken, mehr oder weniger, alle hatten Butter auf dem Kopf. Außer uns Kindern alle. Kennst du die Redensart: ›Butter auf dem Kopf‹?«

Ich kannte sie von Laura und fand die Redensart für die sonnige Situation auch passender als »Hosen voll«. Die Vorstellung von zerlaufender Butter auf den Köpfen der Pyramidenspitze empfand ich entspannend.

Laura aber war noch immer schleierhaft, wieso zwei Mädchen plötzlich gleichzeitig zu wittern vermochten, daß sie jetzt klettern konnten, jetzt oder nie.

»Instinktsicherheit«, sagte ich. Und Laura war eine Weile zufrieden mit mir. Zumal ich meinen Mantel inzwischen aufgegeben hatte und ebenfalls lag. Über mir so gut wie keine Sterne. Links Laura. Rechts ein Kaninchen. Als ich die Abnahme der Instinktsicherheit bei zunehmendem Alter bedauerte, wechselte das Kaninchen den Futterplatz. Es fraß nun mindestens drei Meter von mir entfernt.

Laura aber warnte vor nachträglichem Heroisieren. Denn ihre Freundin Inge und sie wären damals selbstverständlich nicht nur sicher gewesen, sondern auch unsicher. Und nachts ganz und gar unsicher und immer noch lieber im schaurig-dunklen, stinkigen, feuchten Keller. Die Erwachsenen schliefen seit Ende April bereits wieder angezogen in den Wohnungen. Die Mädchen schliefen bis Mitte Mai auf einer Matratze, die über Salmans Brikettvorrat gebreitet war – wem die Bomberangst mal in den Knochen sitzt, mein lieber Mann. Außer den beiden Mädchen keine Kinder im Haus. Und auf die Nachbarkinder und die übrige Grundfläche der Pyramide griff der Aufstand nicht über. Er begann, als die beiden Mädchen den nagelgespickten Zaun überkletterten und ihre Kellerschlafdecken auf den Bleichplan breiteten. Dann nahmen sie vorrichtig Platz und blinzelten vorsichtig in den Himmel. In ihm taumelten verkohlte und halbverkohlte Papierschnitzel. Als sich ein Flugzeug zeigte, versicherten sich Laura und Inge leise, daß es nichts mehr runterwerfen dürfte. Als der alte Lehrer Vörkel im letzten Fenster der rechten Trümmerhalde erschien, versicherten sie sich laut, daß sie den noch vor einer Woche mit einer Panzerfaust hätten rumrennen sehen. Vörkel war der gefürchtetste Lehrer der Schule gewesen, und die Mädchen glaubten ihn schon verschwunden nach der Devise: Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß. Aber er verschwand nicht. Und auch die anderen erhaltengebliebenen Fensterhöhlen ringsum füllten sich. Zum Entsetzen der Mädchen waren bald alle Balkone mit Zuschauern besetzt. Inge und Laura starrten auf die stumme Kulisse und erwarteten die Entladung. Als die Folter der Erwartung unerträglich wurde, blieb den Kindern nur die Flucht nach vorn.

Laura sprang auf, zerrte auch mich hoch und rannte zur Ruine des Deutschen Dorns. Als sie das Luftschachtgitter betreten hatten, forderte sie mich auf, mir den Hof in gleicher Größe vorzustellen. Ein Klärgrubendeckel am anderen. Aber der Hof wäre den Kindern wie gesagt nicht nur nicht verboten gewesen, sondern als einziger Spielplatz geradezu erlaubt. Betreten erlaubt – mit Ausnahme der eisernen Klärgrubendeckel. Eine Erlaubnis, die den Bedürfnissen jedes ordentlichen Sadisten genügt hätte. Der Pfarrer mit seinen detaillierten Teufels- und Höllenschilderungen anläßlich der Kindergottesdienste wäre auch ein Sadist gewesen. Und Sadisten erzögen Sadisten. »Der Mensch wird von Zufällen geprägt«, sagte Laura, »Schwein gehabt, daß ich fünfundvierzig nicht älter als zwölf gewesen bin und auch nicht jünger, Dusel gehabt, unbeschreibliches Glück. Denn älter wäre ich so oder so schon in die Scheiße reingetreten, und jünger hätte ich sie noch nicht begriffen und meine Chance folglich auch nicht. Einmalige Chance: Uns war der Ornat der Unschuld zugefallen, der kostbarste damals, unerschwinglich für die Erwachsenen ringsum, größer als unschuldig war keiner, uns konnte niemand das Wasser reichen, ›die Bettler werden die Könige sein‹, hatte der Pfarrer vom Himmelreich im Himmel behauptet und natürlich nicht für möglich gehalten, daß so was mal auf Erden ausbrechen könnte und er geduckt drinrum tappen müßte – Ornate aber verhelfen zu aufrechtem Gang.«

Laura stellte sich vor das Luftschachtgitter, hob die Arme, federte sie zurück, bis Hohlkreuz erreicht war, bog sich nach vorn, bis die Fingerspitzen die Fußspitzen berührten, zwiefache Berührung im Zweiertakt, vor zwei, zurück zwei, vor zwei, zurück zwei und so weiter und so fort, die anschließende Schilderung der Flucht nach vorn folglich keuchend.

Denn diese Flucht nach vorn wäre die Probe aufs Exempel gewesen. Und so eine Probe hätte nur auf den eisernen Klärgrubendeckeln stattfinden können.

Laura tänzelte auf dem Luftschachtgitter. Schienenstöße von fern, näher, nahe, Rauschen, Verrauschen. Lauras Rock wurde gebläht. Sie sah auf ihn herab, dann aufwärts zur Ruine. Klassizistischer Zentralbau. Die Mauerkronen mit Birken und geköpften Statuen bestanden. Laura zählte die Statuen und sagte, daß sie zur Probe mehr Zuschauer gehabt hätte. Zwickprobe als natürliche Reaktion. »Erst zwickten wir uns gegenseitig in die Arme und stellten fest: kein Traum«, sprach Laura. »Dann zwickten wir die Ohren der Folterer, indem wir auf die Deckel sprangen. In normalen Zeiten hatte ein einziger Fehltritt genügt, um Geschnauze von Klofenstern und Balkonen herab in Gang zu setzen. Aber jetzt: Eiserne Kläranlagendeckel und Holzschuhe, das gibt Klänge. Das klirrt. Das dröhnt. Das trieb selbst die schuldbeladensten Feiglinge aus ihren Löchern. Aber nicht weiter. Kein Befehl, aus der Sonne zu gehen. Keine Drohung mit dem lieben Gott oder dem Teufel. Nicht mal Spucken oder Vogelzeigen.«

Laura sah sich mehrmals um, bevor sie praktisch vorführte, wie die Echtheit des Schweigens geprüft worden war. Dann Trampeln, Springen, wechselbeinig, beidbeinig, ein Eisengitter klingt schlechter als ein Eisendeckel, es war auch schnell gedellt. Laura korrigierte die Klangfarbe stimmlich, sie hieb mit Füßen und Kreischen wie besessen auf das abendliche Schweigen ein, sie tobte vielleicht drei Minuten.

Später lugte sie sachlich durchs Gitter und in die Runde. Der unterirdische Verkehr lief fahrplanmäßig. Die Stille der City kehrte in gewohnter Weise zurück. »Keine besonderen Vorkommnisse«, sagte Laura. Auch versicherte sie, nicht machtbewußt gewesen zu sein. »Uns sättigte, daß keine Macht uns zwiebeln konnte«, sagte Laura.

2. KAPITEL

Wie Laura erstmals den Aufstand probte

1945 wurde Lauras Welt durch den Sieg der sowjetischen Armee und ihrer Verbündeten auf den Kopf gestellt. 1937 hatte Laura diese Welt selbst auf den Kopf gestellt. Zwar für eine Stunde nur, aber auch natürlich.

Die Papiere des Blocksberg-Archivs berichten von dieser Tat der Vierjährigen präludierend. Ich ordnete anders. Auch konnte ich nicht vorhaben, mich der Rechthaberei gegenüber der Romanschreiberin Morgner zu befleißigen und deren wissentlichen oder unterlaufenen Unwahrheiten zu widersprechen. Die Ereignisse meiner letzten Lebenszeit waren zwar schon deutlich in meine Erinnerung zurückgekehrt. Aber die Fähigkeit zu Eiferei geht mit dem Tod verloren. Jenseits von ihm läßt selbst die Gesellschaft sumsender Fliegen gelassen. Sie umflogen mich schwarmweis. Nur das Rumoren über mir störte mich. Der Lärm der Ausschlachter, die das Abrißhaus heimsuchten. Wenn er sich dem Keller näherte, in dem ich saß, verkroch ich mich unter aufgeschlitzten Matratzen. Sonst hockte ich auf Werg und benutzte eine umgestürzte Kartoffelhorde als Schreibtisch.

Die Verfasserin des Romans »Leben und Abenteuer der Trobadora Beatriz nach Zeugnissen ihrer Spielfrau Laura« hat Laura Salman zum Sinnbild der durchschnittlichen berufstätigen Frau mit dem Tugendsortiment fleißig – genügsam – willig – unauffällig – verzichtgeneigt – aufopferungsgemut hinabstilisiert. Aus Unkenntnis, unterstellte ich und schrieb auf die Rückseiten des Archivmaterials. Mit der rechten Zeigefingerkralle, die ich in Schmutzwasser tunkte. Es hatte sich in einer Kellerecke angesammelt. Alle meine Fingernägel waren krallenförmig zugespitzt.

Als mich die Schlange Arke bei meiner Tätigkeit ertappte, entrüstete sie sich. Auch meine Mimik schien Arkes Erwartungen nicht zu entsprechen – ein in bestimmter Konzentration befangenes Wesen kann nicht plötzlich ein unbestimmtes, das heißt äußeren Anforderungen angepaßtes Gesicht machen. Arke begann zu schelten.

»Verdammte Gängelei – ein Wesen meiner Vergangenheit erinnert sich am besten, wenn es schreibt«, keifte ich zurück. Ich hatte meine hohe Stimme nur wenig zu heben, schon war der Keifton erzeugt. Kein schöner Laut. Doch Arke war er angenehm. Erfolgserlebnis. Beweis, richtig »gezogen« zu haben. Das Orakelwort »ziehen« könnte »erziehen« bedeuten, behauptete die Schlange, oder auch »fortziehen«: aus der Stummheit nämlich Stufe um Stufe. Erste Stufe: Fisteln. Zweite: Erinnern … Erst wären die Gesänge der Sirenen verlorengegangen, dann ihre Namen in alle Sprachen außer der griechischen, dann die Wesen selbst. Abstieg Stufe um Stufe. Die letzten Sirenen hätte damals Herakles erschlagen. »Und was schaffte jetzt die ersten«, grübelte Arke laut, »diese vier auf unterster Stufe und zu welchem Aufstieg? Sind Prometheus und Pandora Losungsworte? Sind es Fahnen?«

Ich brauchte Zeit, um von der Tätigkeit des Erzählens zu der des Argumentierens hinüberzuwechseln. Ein weiter Weg. Verdrießlich kam ich an und maulte: »Erinnern, Erinnerungstraining, Singen – möcht wissen, was der Singsang von Sirenen ausrichten soll? Singsang gegen Militärmaschinerien und ökologischen Raubbau …«

»Wenn plötzlich Sirenen auftauchen, haben sie die Pflicht, zu singen«, behauptete Arke.

»Als Sprachrohr«, höhnte ich, »die schlimmste Zumutung, die einer geborenen Trobadora widerfahren kann …«

»Die beste unter den gegebenen Umständen«, entgegnete Arke, »neben dem Plan, dieses Land und andere totzurüsten, gibts gewiß auch einen anderen, der mundtot rüsten soll. Dichtern kann Schrecken die Sprache verschlagen. So, daß Sirenen vielleicht wiederkehren müssen: letzte Chance. Kassandra hat wohl auch Troja mehr geliebt als sich selbst, als sie wagte, den Untergang der Stadt zu prophezeien. Sie wurde eingesperrt von Priamus und ihre Wärterin beauftragt, ihn über weitere Prophezeiungen zu unterrichten: immerhin. Ungebrochener Zukunftsglaube ist jetzt kein Mutbeweis. Er zeugt von Unkenntnis; Mut setzt die Kenntnis von Gefahr voraus.« Arke lächelte bös und machte sich startbereit fürs Umgehen. Ich erkundigte mich, ob sie mit dem Orakeln über das Orakel fertig wäre.

»Damit ist nie fertigwerden«, antwortete sie, »die griechische Mythologie ist mir auch weniger geläufig. Ich bin in nordischer zu Hause. Und für wen schreibst du?«

Die Frage verstörte mich. Als ich mich wieder gefaßt hatte, begann ich zu überlegen. Und nach einer Weile fiel mir jemand ein. Wesselin fiel mir ein. Wesselin Salman, Lauras Sohn, der inzwischen zehn Jahre alt sein mußte. Laura hatte mir einst erzählt, daß es in ihrer Schule Mode gewesen wäre, mit dreizehn außerschulisch den »Faust« zu lesen. Komische Moden, hörte ich Wesselin aus der Zukunft sagen.

Deshalb beschloß ich, ihm für den außerschulischen Gebrauch die »Amanda« zu schreiben.

Ich teilte den Entschluß Arke mit. Sie schlängelte eine Weile murrend im Abrißkeller, bevor sie entflog.

Lauras Tat aus dem Jahre 1937 beschrieb ich in Gesellschaft von Asseln und Mäusen. Nach Vorlage wie erwähnt. Wörtlich so: Lauras Großeltern Selma und Clemens hatten einen Schrebergarten. Bis 1938, dann wurde das Gelände der Gartenkolonie »Wohlfahrt« für einen Exerzierplatz gebraucht. Dem Großvater erschien der Garten als ein Ort der Plackerei, der Großmutter als Lebensinhalt. Sie bewirtschaftete den Garten wie eine Plantage. Da wenig Boden zur Verfügung stand, wurde er in drei Etagen genutzt. Die untere war dem Gemüse vorbehalten, die mittlere Sträuchern, Klettergurken, Kürbissen und Stangenbohnen, die obere den Obstbäumen. Selma Uhlig hatte nur hochstämmige Obstbäume in ihrem Garten. Nützlichkeit erschien Selma als höchste Tugend. Für Blumen war da kein Platz. »Blume«, pflegte sie in einem Ton zu sagen, als ob sie von Unkraut spräche, »Blume tun bloß die Stub ausstänkern.« Clemens hatte Selma zum Geburtstag nur Seife zu schenken. Laura schenkte Müffel. Großmutter Selma brauchte verschiedene Müffel für verschiedene Gelegenheiten: Küchenmüffel, Pilzmüffel, Reisigmüffel, Bettmüffel, Sonntagsmüffel und natürlich Gartenmüffel. Denn Selma arbeitete auch im Garten, wenn Rheuma ihre Hände plagte. Gerade. Sie schien sich eigentlich nur wohl zu fühlen, wenn sie sich tüchtig plagen konnte und dazu schimpfen. Ihre Gemütslage gründete auf Unzufriedenheit. Selma Uhlig gehörte nicht zu den wetterwendischen Frauen, die von ihr als »Gewitterziegen« bezeichnet wurden. Auf Selmas schlechte Laune war Verlaß. Deshalb besuchte Laura ihre Großmutter gern. Das Kind fühlte sich sicher vor Stimmungswechseln, die bei Salmans üblich waren. Großmutter Selmas Charakter ermutigte Laura zu Streichen, da die Folgen geringfügig waren. Ein Wechsel von Schimpfen in heftiges Schimpfen ist geringfügig.

Eines Tages sperrte Laura ihre Großmutter also in der Laube ein. Der Entschluß war nicht vorsätzlich gefaßt. Er überkam Laura plötzlich, herausgefordert durch die Ermahnungen, die die Großmutter ständig vor sich hinredete wie Gebete. Sie konnte nicht wirtschaften, ohne laut vor sich hinzudenken. Gleichgültig ob sie allein war oder nicht. Beim Abschmecken von Speisen beispielsweise pflegte sie der Welt oder niemandem mitzuteilen, daß noch etwas fehle, fragte was, zählte verschiedene Gewürze auf, zog einige in die engere Wahl, entschied sich schließlich – nie zu ihrer Zufriedenheit. An jenem Tage im August suchte Selma in der Laube nach einem bestimmten Rechen, schimpfte darüber, daß sie ihn nicht sofort fand, »Sauwirtschaft«, schimpfte sie, »Stinkbud«, denn der Abort war von Großvater Clemens als Innenklosett gebaut worden. Selma beschuldigte den Großvater in seiner Abwesenheit, den Rechen verlegt zu haben, »verkrancht«, sagte Selma und flocht zwischen dieses Thema Ermahnungen an Laura: »Reiß keine Bohnenblüten ab; paß auf, daß sich keine Wesp auf deine Bemm setzt; laß die Strünk liegen, da wird Äppelbrei draus gekocht; mach kein Sums mit so ner alten Salatschneck; die kleinen Gurken werden nicht weggefressen, die wern eingelegt; reiß dich nicht an den Stachelbeerstöcken; runter vom Zaun, du Saubatzen; latsch mir nicht die Kürbisranken ab; fall nicht ins Wasserloch.«

Wahrscheinlich hatten Laura die Ermahnungen wegen der Kürbisranken und dem Wasserloch herausgefordert: dieser immerwiederkehrende Refrain. Mitten im Refrain schlug Laura die Tür zu. Als die Großmutter gebeugt über den Gartengeräten stand. Laura konnte nur den weiten Rock sehen und die Waden und die Holzpantoffeln. Offenbar nahm die Großmutter zunächst an, der Wind hätte die Tür zugeschlagen. Jedenfalls hörte Laura nur ein Rumpeln und deutliche Flüche auf die »alte Tür«. Erst als das Gesicht der Großmutter im Türfenster erschien und der Befehl »willst du gleich aufsperren, Sauleder, eebsches« dumpf aus der Bude drang, hängte Laura das Schloß vor. Schnell. Sicher. Laura war vier Jahre alt, sie mußte sich auf die Zehen stellen, um das Schloß vorzuhängen, aber es ging mühelos. Wie in Träumen, wo geschwebt wird oder geflogen. Plötzlich war Druck weg, diese Last, die am Aufsteigen hindert. Laura mußte einen Luftsprung machen, als das Schloß hing. Und als die Großmutter mit dem Zeigefingerknöchel gegen die Scheibe zu trommeln begann, mußte sie noch höher springen. Einen Sprungtanz führte sie auf vor der Tür und sang dazu nach eigener Melodie. »Ich, ich«, sang sie. Das schönste Wort, seit die Tür verschlossen war. »Ich lebe«, sang sie, »ich lebe, ich lehehehehebe«, sprang über Beete und Kürbisranken, balancierte auf dem Zaun, hieb eine Gurke in die Stachelbeersträucher, biß einen Strunk an und hüpfte Takt auf dem Brett, mit dem das Wasserloch abgedeckt war. Da begann die Großmutter mit den Fäusten gegen die Tür zu trommeln. Laura sprang zurück zur Laube und sah die Großmutter wüten wie eine gefangene Hummel. Laura ergötzte der Anblick. Die dumpfen Drohungen und Flüche steigerten ihren Rausch. Als sie sich sattgesehen und -gehört hatte, schwebte sie wieder fort. Der Garten erschien jetzt schon riesig. Laura konnte fliegen und fliegen und kam doch an kein Ende. Die Kürbisse, für die der Großvater hochbeinige Liegen gebaut hatte, waren die Monde der Unendlichkeit. In solchem Licht konnte Laura sogar auf den großen Birnbaum klettern. Und sie blieb auch später, als die schöne Stunde vorüber war, dabei, daß sie im Wipfel des großen Birnbaums gesessen hätte. Keine Schelte konnte sie zum Widerruf bewegen, keine Ohrfeige.

Die ersten Ohrfeigen in dieser Angelegenheit erhielt Laura von ihrem Onkel Artur. Er kam zufällig vorbei und befreite die Großmutter. Erschöpft vor Angst trat sie aus der Abortluft. Der Garten schrumpfte. Als Selma sah, daß die Enkelin nicht im Wasserloch ertrunken war, kehrten ihre Kräfte zurück. Sie verbrauchte etliche zur Vergeltung. Laura aber blieb ungerührt. Eine Stunde ohne Obrigkeit – das war eine Tracht Prügel wert.

3. KAPITEL

Letzte Instanz

Arke las alles nach, was ich schrieb: Trainingskontrolle.

Ich fragte, welche Landstriche sie inzwischen besichtigt hätte: Umgehkontrolle.

»Der Mensch schenkt der künstlichen Welt, die er sich geschaffen hat, mehr Beachtung als der natürlichen Welt, die ihn geschaffen hat«, sagte Arke.

Ihre äußere archaische Erscheinung erschien mir zu ihrer geistigen unpassend. Ich sagte es. Mir wurde erklärt, daß Erdgeister zu allen Zeiten den gegebenen Erdumständen entsprochen hätten. Erdhaft mit ungeistig gleichzusetzen, wäre eine Erfindung des gegenwärtig noch immer herrschenden Erfinderstils. Ein Vorurteil also, dessen Folgen sich wie erwähnt als verheerend erwiesen. Und dennoch hinge auch ich ihm an? Ich, eine Sirene? Ein Medium in solchem Zustand wäre für eine Gajatochter unbrauchbar.

Das Urteil deprimierte mich. Arke sah auch nicht gut aus. Ihre Flügel waren zerkratzt. Am Leib fehlten Schuppen. Verschorftes Gesicht, rätselhaft lächelnd wie immer. Trüber Blick.

»Warum mußte ausgerechnet ich eine Sirene werden?« klagte ich. »Zufall?«

»Der Zufall ist zwar längst als wissenschaftliche Kategorie anerkannt, aber die Menschen wehren sich nach wie vor, ihn als Mitformer von Lebens- und Weltläufen anzuerkennen«, sagte Arke. »In diesem Punkte sind Theisten und Atheisten einig. Ihr Gefühl verlangt auf Schritt und Tritt und durch und durch Gesetz. Gottheit mithin. Ich als serpentische Tochter der Muttergottheit Erde beobachte das begreiflicherweise mit Schmunzeln.«

Natürlich keine Spur von Schmunzeln in Arkes Gesicht. Solche mimischen Kleinlichkeiten paßten nicht in seine Großzügigkeit.

Später behauptete Arke, daß Keller für Sirenen ungeeignet wären. Mein Abrißhaus stand in Berlin-Mitte. »Ein natürlicher Ort, der Pflanzen, Tiere, Menschen einträchtig vereint, könnte deinen Zustand vielleicht bessern und wäre dem Erinnern wohl auch günstiger«, sprach Arke.

Wir überlegten lange. Doch uns fiel nur der Tierpark Friedrichsfelde ein: ein künstlicher Ort.

In Ermangelung eines besseren siedelte ich bei Einbruch der Dunkelheit dahin um. Aber alle hohlen Bäume waren dort besetzt. Ich mußte mit einem Erdloch vorliebnehmen, das Tiefbauarbeiter zu einem Zweck gegraben haben mochten, der unwichtig geworden oder in Vergessenheit geraten war. Arke schickte Papier und Buch mit dem fliegenden Besen nach.

Nun schrieb ich in Gesellschaft von Würmern und Mäusen.

Das angenehmste Training war, mir Laura Salman zu vergegenwärtigen: ihre Gestalt, ihren Charakter, unsere gemeinsamen Erlebnisse und die Taten der Freundin, die im Blocksberg-Material beschrieben waren. Es berichtete auch vom Rufmord, mit dem alles begonnen hätte. Der Roman »Leben und Abenteuer der Trobadora Beatriz nach Zeugnissen ihrer Spielfrau Laura« wäre nämlich eitel Rufmord gewesen, weshalb sich Laura bei der Verfasserin beschwert hätte.

Ja, hätte die Verfasserin geantwortet, ich hab doch nur ihr Bestes gewollt …

»Als ob die Frau nicht wüßte, daß das Beste damals für mich und dergleichen nicht das Klügste, sondern das Dümmste ist«, soll Laura Salman laut Blocksberg-Quelle entgegnet haben.

»Aber«, hätte die Autorin geantwortet, »weshalb denn, ich hab doch nur geschrieben, was ohnehin früher oder später rausgekommen wäre …«

»Als ob die Dame nicht wüßte, daß es die verdammte Pflicht der Schriftsteller ist – von den Schriftstellerinnen ganz zu schweigen – den Leuten gegebenenfalls so lange wie möglich ein X für ein U vorzumachen«, soll Laura gesagt haben.

»Oh«, hätte die Erzählerin geantwortet, »in meinem Roman steht die Wahrheit und nichts als die reine Wahrheit …«

»Als ob das Weib nicht wüßte, daß Wahrheit unter Umständen tödlich sein kann«, soll Laura gesagt haben. Außerdem wäre die Verlautbarung, Laura sei die Dichterin vieler beatrizischer Texte, natürlich sowieso nicht die ganze Wahrheit, sondern nur die halbe. Weil Laura bekanntlich damals nur als halbes Wesen in Berlin gelebt hätte. Ihre andere Hälfte hätte unter dem Namen Amanda im Hörselberg vegetiert.

Das Wort »bekanntlich« ärgerte mich, da sich mein Unwissen zu meinen trobadorischen Lebzeiten durchaus mit dem der beschimpften Schreiberin messen konnte. Das Blocksberg-Material vermeldet ferner, daß Laura lediglich solidarisches Verhalten verlangt hätte, und zitiert dann: »Antwortete diese Urheberin auf meine Minimalforderung doch tatsächlich: ›Ich wollte, daß Sie den Ruhm, der Ihnen gebührt, nicht länger entbehren müssen.‹ Ja, lebte die Frau auf dem Mond oder im zweiundzwanzigsten Jahrhundert oder männlich …?«

Der Bekanntenkreis der Romanschreiberin lebte jedenfalls anders. Den kannte ich nämlich. Ich war sogar mit einer Freundin der Morgner vertraut gewesen und bin also berechtigt zu behaupten, daß das Schicksal dieser Freundin Katja der Autorin geradezu hätte verbieten müssen, noch eine Frau ins Unglück zu stürzen. Direkt. Die indirekten Folgen, die sich die Autorin vielleicht heute ihren Verdiensten zurechnet, konnte sie nicht absehen.

Die erste Begegnung zwischen Katja S. und mir ereignete sich übrigens gegen Ende meiner menschlichen Erdentage. In der Altberliner Gaststätte »Zur letzten Instanz«. In früheren Zeiten pflegten beim nahen Stadtgericht prozessierende Parteien hier Mut aufzugießen oder Ärger runterzuspülen. Hinter der Kneipe die freigelegten Reste der mittelalterlichen Stadtmauer, wo Katja S. mich ohnmächtig gefunden und mit Parfüm wachgezwungen hatte. Ich behauptete damals »Hungerast« und verbat mir ärztliche Hilfe. Als ich auf der Kachelofenbank zwei Bockwürste verzehrt hatte, glaubte Katja S. die Begründung.

Den Lebensgang dieser zeitgenössischen Dichterin hatte ich mir vorbildlich vorgestellt. Die Werke der S. verehrte ich seit meiner Übersiedlung ins gelobte Land DDR.

Da sich die Dichterin außerdem eine Tochter geleistet hatte, die inzwischen erwachsen war, vertraute sich mein verzweifelndes Wesen dem siegreichen ohne größere Umwege an. Ich hoffte, das Geheimnis zu erfahren, das Katja S. befähigt hatte, sich zu verwirklichen.

Katja verbat sich das Wort »verwirklichen« und sagte »durchhalten«. Ich wollte wissen, wie man, von divergierenden Pflichten zu Halbheiten gezwungen und mit einem zur Perfektion neigenden Charakter geschlagen, das Glück des Durchhaltens erreichen könnte.

Katja S. sprach: »Glück oder Annäherndes ist ein Zustand, der bis auf den heutigen Tag nur dichterischen Existenzen männlichen Geschlechts zukommt. Je besser sie werden als Dichter, das heißt, je mehr Schönheit sie hervorbringen, desto größer die Chance, einige Glücksmomente im Leben zu erringen – mehr ist dem Menschen wohl nicht gewinnbar. Die Glückschancen der Dichterinnen und ähnlicher weiblicher Wesen haben bis auf den heutigen Tag umgekehrte Voraussetzungen. Einer Frau meines Alters dürfen Sie diese Verallgemeinerung abnehmen, weil ich den Rest meines Lebens gern geben würde für die Wohltat, den Wirklichkeiten, die zur Verallgemeinerung zwangen, nicht ins Auge sehen zu müssen.«

Ich lauschte verwirrt und gab mich als Arbeiterin aus, was nicht gänzlich gelogen war. Denn ich verdiente mein Geld derzeit, weil meine poetische Stimme verstummt war und ich meiner Spielfrau nicht länger auf der Tasche liegen mochte, im Werk für Signal- und Sicherungstechnik. Freilich nicht als Facharbeiterin, wie ich erzählte, sondern als Bandarbeiterin.

Katja S. zog den Beruf der Facharbeiterin dem der Dichterin entschieden vor, weil eine Facharbeiterin gute Arbeitsergebnisse privat nicht fürchten müßte. Eine Dichterin oder dergleichen hätte bei solchen Ergebnissen nur Niederlagen zu erwarten. »Je besser ich als Dichterin wurde, desto schlechter ging mirs«, sagte Katja. »Am besten ging mirs, als man glaubte, ich wäre eine hübsche Studentin mit durchschnittlichen Interessen und Fähigkeiten für Mode und Geographie. Auch als ich nach Studienabschluß bei der Gesellschaft zur Verbreitung wissenschaftlicher Erkenntnisse ›Urania‹ ab und zu Vorträge hielt, die in U-Bahnhöfen auf Plakaten angekündigt waren, blieb die Liebe meines Mannes ungebrochen. Ich liebte ihn bedingungslos.

Als ich ihm mein erstes Gedicht vorlas, erschrak er. Ich hielt es also für schlecht, konnte aber von nun an nicht mehr unterlassen, nebenbei Gedichte und Erzählungen zu schreiben. Ab und zu erwähnte ich in Gesprächen mit dem geliebten Mann diese Nebenarbeiten. Er verstummte regelmäßig. Ich schrieb fortan sozusagen heimlich. Und ich habe seitdem nie mehr anders geschrieben: Das heißt, ohne ein Wort über die entstehenden Arbeiten zu verlieren. Ein Ausweg? So lange die Arbeiten nicht fertig sind, gewiß. Aber wenn ein Buch gedruckt erscheint, läßt es sich nicht mehr wegschweigen. Jedes meiner erschienenen Bücher war beruflich ein Erfolg und privat eine Niederlage. Meinem ersten Mann haben meine Veröffentlichungen Minderwertigkeitskomplexe versetzt, von denen ich ihn erlösen mußte, indem wir uns freundschaftlich trennten. Mein zweiter Mann las meine Veröffentlichungen nicht. Mein dritter fühlte sich von den literarischen Gestalten meiner Romane verfolgt.

Die Gefährtinnen meiner männlichen Kollegen begleiten entstehende Arbeiten mit steter Anteilnahme oder mehr, ziehen die Kinder auf, fangen Trivialitäten, die den schöpferischen Prozeß stören, ab, und empfinden gelungene Dichtungen als Ereignisse, die Freude machen.

Meine gelungenen Dichtungen haben meinen Gefährten nur Kummer gemacht.

Alle schöpferischen Berufe verlangen ein hohes Maß an Einsamkeit.

Eine Frau, die dichtet oder dergleichen, muß mit gnadenloser Einsamkeit rechnen.«

4. KAPITEL

Sommernachtsalptraum

Klare Sommernächte. Über mir Sternenlichter. Unter mir Straßenlichter. Die Größe meiner Schwingen erlaubte Segelflüge über lange Strecken. Herrlich die Lust am Grenzenlosen.

Eines Nachts, als das Segeln besonders gut gelang, erinnerte ich, was ich einst bei meiner Spielfrau Laura in einem Buch gelesen hatte: »Zu den unheimlichen Phänomenen menschlicher Geistesgeschichte gehört das Ausweichen vor dem Konkreten. Es besteht eine auffallende Tendenz, erst auf das Fernste loszugehen und alles zu übersehen, woran man sich in nächster Nähe unaufhörlich stößt. Der Schwung der ausfahrenden Gesten, das Abenteuerlich-Kühne der Expeditionen ins Ferne täuscht über die Motive zu ihnen hinweg. Nicht selten handelt es sich einfach darum, das Nächste zu vermeiden, weil wir ihm nicht gewachsen sind. Wir spüren seine Gefährlichkeit und ziehen andere Gefahren unbekannter Konsistenz vor. Selbst wenn diese gefunden sind, und sie finden sich immer, haben sie dann erst noch den Glanz des Plötzlichen und Einmaligen für sich. Es würde viel Beschränktheit dazu gehören, die Abenteuerlichkeit des Geistes zu verdammen, obwohl sie zuweilen offenkundiger Schwäche entspringt. Sie hat zu einer Erweiterung unseres Horizonts geführt, auf die wir stolz sind. Aber die Situation der Menschheit heute, wie wir alle wissen, ist so ernst, daß wir uns dem Allernächsten und Konkretesten zuwenden müssen. Wir ahnen nicht einmal, wieviel Zeit uns geblieben ist, das Peinlichste ins Auge zu fassen, und doch könnte es sehr wohl sein, daß unser Schicksal von bestimmten harten Erkenntnissen, die wir noch nicht haben, abhängig ist.« War das Allernächste und Konkreteste, dem ich mich zuwenden mußte, singen? Konnte für Arke dieses Allernächste und Konkreteste umgehen, orakeln über Orakel und mich ziehen sein? Von der vergegenwärtigten Lesefrucht fühlte ich meine Segelflüge und meinen achthundertachtjährigen Schlaf verdächtigt.

Daß Raimbaut d’Aurenga, dem meine Liebe gehört hatte, der Sperling in der Hand lieber war als die Taube in der Hand, war nur der konkrete Anlaß für meinen Entschluß gewesen, die mittelalterliche Welt der Männer zu verlassen. Auf unnatürlichem Wege. Die in Dienst genommene Zauberin hatte eine Spindel benutzt. Als ich mit der in den Finger gestochen wurde, begann der Zauber zu wirken.

Nicht um der Liebesunfähigkeit Raimbauts und anderer Herren zu entrinnen – um in meinem Beruf »konkret« arbeiten zu können, erschlief ich bessere Zeiten.

Bessere?

Als Frau lebte ich besser; als Tochter des Planeten schon damals unvorstellbar. Jetzt, 1980, lagern auf ihm, wie ich von Arke hörte, pro Kopf der Erdbevölkerung bereits drei Tonnen Sprengstoff. Fünfzehn Gramm reichen, um einen Menschen zu töten. Gegenüber Vorräten zur zwanzigfachen Weltvernichtung erschien mir Sirenengesang lächerlich.

Nach den Quellen des Blocksberg-Archivs zu schließen, war Lauras äußere Lebensform lange gewöhnlich. Auch ihre innere fiel da nicht mal dem Oberteufel auf.

Lauras Geburt überliefert das Blocksberg-Archiv so, wie ich in den nächsten vier Kapiteln berichte.

5. KAPITEL

Wie das Kind von der Welt empfangen wird

In Plaue unweit des Waldes Strut im Lande Sachsen, da wurde Laura geboren. Die Mutter lag elf Stunden in Wehen. Ein Arzt, Melzer mit Namen, der zur Hilfe herbeigeholt worden war und während dieser Zeit sieben Flaschen Bier trank, bezeugte, Laura Salman am 28. August 1933 mittags beim Glockenschlag zwölf auf die Welt geholt zu haben. Melzer beschäftigte sich hauptsächlich mit Astrologie. Später erinnerte er die Geburtsstunde so: »Die Konstellation war glücklich: Die Sonne stand im Zeichen der Jungfrau und kulminierte für den Tag; Jupiter und Venus blickten sie freundlich an, Merkur nicht widerwärtig, Saturn und Mars verhielten sich gleichgültig; nur der Mond, der soeben voll wurde, übte die Kraft seines Gegenscheins um so mehr, als zugleich seine Planetenstunde eingetreten war. Er widersetzte sich daher Lauras Geburt, die nicht eher erfolgen konnte, als bis diese Stunde vorüber war.«

Großmutter Selma, in deren guter Stube die Geburt stattfand, konnte Warzen bei abnehmendem Mond absprechen. Aus anderen Himmelskörpern wußte sie keinen Nutzen und also keine Bedeutung zu ziehen. Sie lebte vorwiegend gebückt bei durchgedrückten Knien, Blick auf Garten- oder Walderde gerichtet, Hände in ihr. Die Widersetzlichkeit schrieb Selma Lauras Natur zu. »Von Anfang an hat sich die Mad gesperrt«, bezeugte die Großmutter, »erst wollt sie nicht raus, dann wollt sie nicht bleiben. Ob ihr die Luft nicht gut genug war oder zu kalt oder was weiß ich, lieber lief sie blau an, als den Mund aufzutun: ein Achtpfünder. Die übliche Dresch auf den Hintern konnt ihr keinen Laut entlocken. Der Dokter hat den Querkopf auf die Welt prügeln müssen.«

6. KAPITEL

Fliegender Besuch

Als Großmutter Selma ihre eben geborene Enkelin gebadet, gewindelt und in einen Wäschekorb gelegt hatte, band sie sich die Sonntagsschürze vor, um beim Pfarrer die Taufe zu bestellen.

Eile schien ihr geboten, denn die Geburt des weiblichen Querkopfs verhieß ihr nichts Gutes. »He«, sagte sie deshalb zu ihrer Tochter Olga zwei Stunden nach der Entbindung, »siel dich nicht ewig in den Federn, übermorgen mußt du auf dem Damm sein, nauf zur Kapell geht kein Fahrstuhl, unsre Mutter hat nach dem Abnabeln zwei Stunden geschlafen, dann hat sie einen Topf Kaffee getrunken und Wäsche gewaschen.«

Olga empörten Vergleiche mit Selmas Mutter, sie pochte auf ihre Rechte als Wöchnerin und erklärte Tauftermine, die ihr keine Woche zur Erholung ließen, als unannehmbar. »Mein Kind wird getauft, wann ich will oder gar nicht«, sagte Olga.

»Dann gar nicht«, sagte Selma und nestelte an ihren Schürzenbändern.

Aber sie ließ die Arme schnell wieder sinken. Denn sie entdeckte eine Frau am Himmel. Die Frau kam näher, überflog mit einem Besen den Fluß Zschopau, an dem die Gemeinde Plaue gelegen war, und landete auf der Uferstraße. Vorm Haus Nummer II, in dem Olgas Eltern Stube, Küche und Kammer gemietet hatten. Der Rock der ortsfremden Frau war rot und so weit, daß der Wind Zipfel aus ihm herauswehen konnte wie Flammenzungen.

Als Selma ihre Tochter zum Fenster rufen wollte, um ihr die seltsame Erscheinung zu zeigen, stand die Frau mit dem Besen bereits vor dem Wäschekorb. Sie beugte sich über den Säugling.

»Wie soll die schöne Amanda denn heißen?« fragte sie, ohne ihre Stellung zu ändern.

»Amanda Laura«, antworteten Selma und Olga unwillkürlich. Und sie hatten sich doch eben noch auf die Namen Laura Waltraud geeinigt. Die Frau richtete sich gerade, setzte eine Papierkrone auf ihren Kopf, hob beide Hände und sprach: »Sejelamur«.

»Oh liebster Gott«, flüsterte Selma.

»Heimatland«, murmelte Olga. Dann faßte sie sich, trat dem ungebetenen Gast entgegen und sprach: »Wir brauchen keine Besen, Kinderzeug auch nicht, ich hab alles zusammen, Babyausstattung, Haushaltwäsch, Töppkram, Geschirr, alles, gestern kam ein Weibsen, der mans auch nicht ansah, ich will die Gasuhr nachsehen, spricht sie, und kaum ist sie in der Küch, rückt sie auch schon raus mit ihrem Krempel, den sie losschlagen will, einen Zwiebelschneider mit irgend einem närrischen Namen will sie uns andrehen und redet und redet, meine Mutter und ich hatten eine halbe Stund zu tun, ihr die Lügen zurück in den Hals zu streiten, die Vertreter werden von Tag zu Tag dreister.«

Die Frau stellte sich als Isebel vor. Dann trat sie lächelnd an Olgas Wochenbett, gratulierte der zierlichen Mutter zur schweren Leibesfrucht und übergab Selma eine Phiole zu treuen Händen. Mit dem Befehl, dem Säugling in seiner dritten Lebenswoche täglich früh, mittags und abends einen Tropfen des in der Phiole enthaltenen Elexiers zum Anfüttern zu verabfolgen. Den Rest müßte Olga sicher verwahren. Bis Amanda zwölf Jahre alt wäre. Dann sollte dem Mädchen die Phiole übergeben werden. Und Amanda müßte das winzige Gefäß bei sich tragen bis ans Ende ihrer Tage. Nicht, um den Rest zu verkosten. Er wäre zum Verpusten da. In Notsituationen. Wenn Amanda Beistand brauche und einen Tropfen des Elixiers wie eine Seifenblase aufgepustet den Lüften anvertraue, könnte sie Hilfe herbeirufen. »Aber nicht das Ganze auf einmal verschütten! Ein einziger Tropfen genügt.«

Olga sah ihre Mutter an. Selma sah die Phiole an. Die Frau bestieg den Besen.

»Was sind wir schuldig«, fragte Selma.

»Nichts«, antwortete die Frau und entflog.

7. KAPITEL

Feuer

Die Antwort »nichts« ernüchterte die Frauen und schürte Mißtrauen und Wachsamkeit. Als Selma und Olga den Blick gelöst hatten von der Höhe, wohin er gerichtet worden war, wie gebannt, beschlossen sie, die Taufe bereits am nächsten Tag auszurichten. Selma ordnete also ihre Schürzenbänder abermals. Der zweite Name Laura erschien den Frauen brauchbar wie je, der Rufname Amanda verdächtig. Deshalb benannten sie um. Indem sie die Reihenfolge änderten. So wurde »Laura« zum Rufnamen gemacht und »Amanda« zu dem, der nur auf Papieren existiert – und auch nur auf ganz und gar amtlichen.

Das Geschenk aber wiesen die Frauen von sich. Erfahrung hatte sie gelehrt, daß kostenlose Gaben teuer zu stehen kommen. Selma warf die Phiole in den Aschenkasten des Küchenherds. Darüber lag ein Holzfeuer. Beim Wurf löste sich der Korken. Die Flüssigkeit sickerte aus und entzündete sich sofort. Das Feuer quoll aus dem Herd, loderte hoch bis zur Decke und breitete sich dann nach allen Seiten aus. Schnell war die Küche in Brand und Selma von Flammen umzingelt. »Die Höll ist los«, schrie Selma Uhlig.

»Die Dummheit«, widersprach eine gewaltige Stimme. Sie fuhr in den Feuersturm. Selma rief nach Feuerwehr und Pastor. Da blies ein dröhnendes Gelächter ins Gewaber und löschte die Flammen. Selma fand sich wieder neben dem Küchentisch, der erhalten geblieben war. Auch ihr Kleid war erhalten geblieben, ihre Haut, ihr Haar. Die Küche war unversehrt, kein Ruß an den Wänden. Blanke Fensterscheiben.

Isebel flog durchs geöffnete Fenster und sprach: »Ich komm wie gerufen.«

Selma stand von Todesangst geschüttelt.

»Blödes Weibervolk«, dröhnte Isebel, »man muß sich fragen, wie so blitzdumme Bäuche so erzgescheite Kinder zur Welt bringen können. Begriffsstutzig ist keine Schande, aber vernagelt. Stur. Taub für jeden Rat, undankbar für jede Hilfe. Diese stinkende Redlichkeit, die über Leichen geht, Kriege, Weltuntergänge. Wer geschichtliche Wendungen will, braucht auch Köpfe. In euerm Waschkorb brüllt einer. Und was bietet ihr Tanten der brüllenden Hexe? Milch! Schüttet den Wundersaft in den Müll und haltet Brüste bereit, Flaschen!«

Selma schrie zurück: »Unsre Laura ist keine Hex.«