Hochzeit in Konstantinopel - Irmtraud Morgner - E-Book

Hochzeit in Konstantinopel E-Book

Irmtraud Morgner

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Beschreibung

Ein früher Klassiker der Frauenbewegung

Bele H. ist Taxifahrerin, Straßenbahnschaffnerin und Laborantin von Beruf, vor allem aber hat sie eine Reise an die jugoslawische Adria unternommen und dort in zwanzig und einer Urlaubsnacht eine Hochzeit gefeiert, die nie stattfinden wird. Die Geschichten dieser Nächte erzählt sie Paul, einem nüchternen Atomphysiker und approbierten Pascha, dem sie aber mit ihren Erzählungen nicht die Poesie der Wirklichkeit näherbringen kann. Sie versucht ihn mit Geschichten von der Liebe zur Liebe zur Verführen, doch während Pauls physikalische Experimente glücken, ist es nicht ausgeschlossen, dass Bele H.s großes Lebens- und Liebesexperiment scheitert …

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Aus Freude am Lesen

Bele H. ist Taxifahrerin, Straßenbahnschaffnerin und Laborantin von Beruf, vor allem aber hat sie eine Reise an die jugoslawische Adria unternommen und dort in zwanzig und einer Urlaubsnacht eine Hochzeit gefeiert, die nie stattfinden wird. Die Geschichten dieser Nächte erzählt sie Paul, einem nüchternen Atomphysiker und approbierten Pascha, dem sie aber mit ihren Erzählungen nicht die Poesie der Wirklichkeit näherbringen kann. Sie versucht ihn mit Geschichten von der Liebe zur Liebe zu verführen, doch während Pauls physikalische Experimente glücken, ist es nicht ausgeschlossen, dass Bele H.s großes Lebens- und Liebesexperiment scheitert …

»Mit den lockeren Beischlafgeschichten (…) hat sich Irmtraud Morgner freigeschrieben.«

Annemarie Auer

IRMTRAUD MORGNER wurde am 22. August 1933 in Chemnitz geboren, studierte Germanistik an der Universität Leipzig und arbeitete als Redaktionsassistentin bei der Zeitschrift »Neue Deutsche Literatur«. Seit 1958 war sie freie Schriftstellerin. Die Autorin wurde mit vielen bedeutenden Preisen ausgezeichnet. Irmtraud Morgner starb am 6. Mai 1990.

Inhaltsverzeichnis

Über den AutorDas DuellSchattenspielCopyright

Floret silva nobilisfloribus et foliisubi est antiquusmeus amicus?hinc equitavit!eia! quis me amabit.

CARMINA BURANA

13. 6.

Eigentlich hatten sie nach Prag reisen wollen. Der Anreisetermin war auf zwei Uhr dreißig anberaumt. Sie nahmen die letzte Bahn. Während der Nacht, die sie anweisungsgemäß in der Empfangshalle des Flughafens verbrachten, führte Paul zwei Telefongespräche mit Klatt. Die Maschine startete fünf Uhr vierzig. Als die Stewardessen Frühstück brachten, bestellte Bele Wodka. Das Fenster zeigte Blech und Wolken. Der Wodka stand ruhig im Glas. »Worauf wartest du?« fragte Paul. »Prost«, sagte Bele. Sie saß am Fenster und sah Wolken, zwei graue, durchsichtige Segmente, Aluminiumblech, etwas Feuerschein, ein Schild. Auf dem Schild, das dem linken ihr zugewandten Armstützenteil des Vordersessels aufgeschraubt war, stand: »Die Rettungsweste ist unter Ihrem Sessel, Your life jacket is under your seat, Спасательный жилет под вашим креслом«, unter ihrem Sessel war die Reisetasche. Bele leerte das Plastgeschirr. Paul aß Zwieback. Über Lautsprecher wurde bekanntgegeben, daß in Kürze Budapest überflogen würde. »Klatt ist nicht der richtige«, sagte Paul. Graue Wolken, weiße Wolken, Mittelplatzbesitzer, die nicht mehr von Tischen eingeschlossen waren, erhoben sich und drängten zu den Fenstern, um die Budapester Wolken zu sehen, die Budapester Wolken hatten Wollgrascharakter, Bele schlief ein. Sie verschlief mehrere Großstädte. Gegen sieben erzitterte die Maschine, homogener Nebel, auf dem Aluminiumblech Wasserperlen, kein Feuerschein, Paul sagte: »Das Fahrgestell«, Nebelschwaden, Wasser mit Bäumen, Wasser mit Dächern, Landung, Aufbruch, Gangway, Regen: Sie waren im Süden. Die Reisegruppe betrat unter Führung des Reiseleiters das Flughafengebäude von Beograd. Er zählte die Reisegruppenmitglieder, die Zahl stimmte mit der im Sammelvisum angegebenen überein. Staubsauger heulten, uniformierte Mädchen klimperten mit dünnen Absätzen über Steinplattenboden, Lautsprecher verbreiteten einen Schlager, den Bele vor fünf Stunden zuletzt gehört hatte, Paßkontrolle, Reiseleiter Konstantin sprach von der Überschwemmungskatastrophe. Paul rauchte Pfeife. Sie war gestopft mit einer Zigarette, die ihm ein Herr anbot, der gegenüber auf einer Polsterbank Platz genommen hatte. Manchmal hob der Herr eine Braue, dann entfielen dem darunterliegenden Auge Funken, das übrige Gesicht blieb unbewegt. »Die kleine Stewardeß hatte Wimpern«, sagte Paul. »Angeklebte«, sagte Bele. »Wir sind auch sehr zufrieden, was«, sagte eine Frau, die sich in Berlin als wissenschaftliche Lehrerin bekannt gemacht hatte. Ihr Mann sagte: »Ganz ausgezeichnet, hatten Sie Tartar oder Schinken.«   – »Tartar und Schinken«, sagte Bele. Paul entwickelte eine Theorie für die Beschaffung günstiger Plätze. Aufbruch, Paßkontrolle, Gang durch den Regen, Gangway, Paul eroberte für Bele wieder einen Fensterplatz. Sie sah Blech und Beton. Später ein graues, durchsichtiges Segment, Blech und Wolken. Dem linken ihr zugewandten Armstützenteil des Vordersessels war kein Schild aufgeschraubt. »Kleine Flugzeuge sind gemütlicher«, sagte Paul, »worauf wartest du?«  – »Dir gefällt alles, was klein ist«, sagte Bele. Paul sagte: »Frauen können gar nicht klein genug sein, wer dauernd aus dem Fenster sieht wartet auf wen.« Luftdusche, kein Essen, nur Wolken. Paul verhandelte mit Reiseleiter Konstantin. Landung. Aufbruch in südliche Kälte. Ein Vertreter des Deutschen Reisebüros sagte »nun herzlich willkommen« und kündigte eine dreistündige Busfahrt an. Die Autobusse wären unterwegs. Neue Platztheorie, die sich von der alten insofern unterschied, als sie sich nicht auf das menschliche Sicherheitsstreben, sondern auf das Trachten nach Verbesserung der Existenzbedingungen gründete. Bele bezeichnete derartiges Theoretisieren als unsinnig. Paul entgegnete, es gäbe viele Tätigkeiten, die unsinnig wären, das spräche nicht gegen sie. Bisweilen wären sie sogar schön, in Genf hätte er zum Beispiel fast jeden Tag an irgendeinem Institutsfenster gestanden und auf Bele gewartet. Im Flughafengebäude saßen zwei Soldaten und ein Hund. Bele sprach ihre Urlaubsdefinition, die sich auf Wärme gründete. Paul sprach über ossianisches Wetter. Dr. Stolp sagte, er führe oft ins Ausland. Dr. Stolp war namentlich bekannt, weil Reiseleiter Konstantin häufig »Herr Dr. Stolp« sagte. Die Reisegruppe überfüllte das Flughafengebäude. Paul verhandelte mit dem Vertreter des Deutschen Reisebüros. Der erklärte sich in Personenstandsfragen für nicht zuständig. Paul befragte ihn über die Historie des Ortes, in dem die Reisegruppe für drei Wochen angesagt war. Der Vertreter antwortete, die jugoslawische Reiseleiterin träfe mit den Bussen ein. Eine Dame sagte: »Wanderwetter.« Die wissenschaftliche Lehrerin sagte: »Das Tief zieht ab.« Sie hatte einen Sitzplatz. Bele saß auf ihrem Koffer. Der war mit Stoff bezogen. In den von Kleidungsstücken überworfenen Gepäckhaufen, die den Raum verwüstet hatten, ballte sich Leder. Schlangen vor den Toiletten, Plakate, Volkskunstpuppen in Glasvitrinen, die Soldaten schliefen, der Hund fing Fliegen, das Restaurant schenkte Pilsner für freikonvertierbare Währung und Dinar, Bele fror zwei Stunden. Dann machte sich die jugoslawische Reiseleiterin bekannt und bat um Beeilung. Paul verhandelte mit ihr. Sie zeigte Verständnis und betraute Reiseleiter Konstantin mit der Klärung des Falls. Den Zielort mit dem unaussprechlichen Namen bezeichnete sie als sehr alt. Es regnete nicht mehr. Als die Busse abfuhren, war es dunkel. Paul hatte zwei Heckplätze erobert. Gute Nacht. Mondschein. Glatte Straßen. Dann Serpentinen. Die Busscheinwerfer schnitten Stücke von nackten Felsen, Geröllfeldern. Ginster, Karst aus der Dunkelheit, rechts Felswände, links nichts, links Felswände, rechts nichts, die Reisegruppe wurde mit zwei Bussen transportiert, die überholten einander abwechselnd. Als sich der Mond im Wasser spiegelte, rief jemand: »Das Meer.« Etliche riefen: »Das Meer.« Obgleich Reiseleiterin Boza wiederholt über Mikrophon versicherte, bei dem Gewässer handelte es sich um einen See. Einen großen See offenbar. Einen sehr großen See. Bele war seekrank. Ihrem Nachbarn ging es auch nicht gut. Er redete, als ob er Chauffeur wäre. Bele fragte sich, woher ein Chauffeur 1750 Mark für eine Reise nimmt. Der Buschauffeur fuhr das Rennen ohne Pause. Bele bewunderte seine Kondition. Paul sagte: »Wenn wir auf der Rückreise in Budapest zwischenlanden, bestell ich Klatt zum Flughafen.« Das Meer. Boza schaltete das Mikrophon ein und sagte: »Das Meer.« Der Mond schwamm darin. Der Chauffeur fuhr, als gälte es, den zu retten. Mit sechzig bis siebzig durchfuhr er das Ziel. Männer vor der Schenke, einstöckige Häuser, Hunde, zwei erleuchtete Lebensmittelgeschäfte, der Friseur unterbrach eine Rasur und winkte, Kinder, Schuhladen, Textilgeschäft, Supermarket, der Reiseleiter versprach, das Taschengeld nach der Ankunft im Hotel auszuzahlen. Das Hotel war an einen Hang gebaut. Der Chauffeur fuhr den mit Gepäck und Menschen gestopften Bus den Hang hinauf und hielt vor dem Hoteleingang. Auf dem Steilhang. Und stieg aus. Bele und der Chauffeur aus Berlin stiegen ihm sogleich nach. Der Sieger lehnte grüßend am Kühler. Der Bus fiel nicht ins Meer. In Beles Kopf brummten die Motoren einer IL 18, einer Dakota und eines Busses, »essen«, sagte Boza, »wenn Kopfschmerzen muß essen«. Drei Gänge, die Taschengeldauszahlung ermunterte Bele etwas. Zimmerverteilung. Paul entfaltete wieder Beredsamkeit. Reiseleiter Konstantin prüfte die Papiere und bedauerte. Bele taufte das Ziel der Hochzeitsreise Konstantinopel. Paul trug die Koffer in ihr Zimmer. Gegen Morgen erzählte sie Paul folgende Geschichte:

Das Duell

Ich arbeitete jahrelang an diesem Entschluß. Eines Abends war er gefaßt. Kurz vor Geschäftsschluß betrat ich den Laden und verlangte einen luftbereiften Roller. Der Verkäufer zeigte mir verschiedene Ausführungen. Ich verlangte einen ganz bestimmten. Der Verkäufer holte drei weitere Exemplare vom Lager. Ich verlangte den verchromten mit schaumgummigepolsterter Sitzeinrichtung, Hand- und Fußbremse sowie dynamobetriebener Lampe zu achtundneunzig Mark siebzig aus dem Schaufenster. »Fensterware erst nach Dekorationswechsel«, sagte der Verkäufer. »Wann wird gewechselt?«  – »In drei bis vier Tagen.«  – »Zu spät«, sagte ich. Der Verkäufer fragte nach dem Datum des Geburtstages. Ich versicherte, kein Geburtstagsgeschenk kaufen zu wollen. »Dann kann das Kind auch noch drei, vier Tage warten«, sagte er. »Keine Stunde«, sagte ich. »Wie alt ist denn das Kind?« fragte er. »Ich kaufe den Roller für mich«, sagte ich. Der Verkäufer wechselte einen Blick mit dem Ladenmeister. Der winkte die anderen beiden Verkäufer zur Kasse. Ich stand vor der Kasse und wedelte mit dem Scheck. Der Ladenmeister bedauerte, mir auf Scheck nichts verkaufen zu können. Ich verwies darauf, daß es sich bei dem Papier um einen Barscheck handelte, steckte ihn ein und holte vier grüne Geldscheine aus der Tasche. Der Ladenmeister brachte seine Verwunderung über die Summe zum Ausdruck, die ich mit mir führte. »Lohntag«, sagte ich. »Wo?« fragte er. »Bei der BVG«, sagte ich. »Was arbeiten Sie denn da?« fragte er wieder. »Ich bin Schaffnerin, krieg ich nun den Roller, ja oder nein.«  – »Schaffnerin«, sagte der Ladenmeister und wechselte Blicke mit seinem Personal. Ich wechselte das Standbein. Ein Verkäufer riß den Arm hoch, winkelte ihn an und gab bekannt, daß die Uhr in fünf Minuten neunzehn Uhr anzeigen würde. Wir verglichen unsere Uhren. Wir stellten Einstimmigkeit fest. Der Ladenmeister erklärte seinen Laden für geschlossen und bat mich, morgen wiederzukommen. Ich machte ihn auf die Gesetzwidrigkeit seiner vorzeitigen Handlung aufmerksam, sagte ferner, daß ich meine Zeit nicht gestohlen hätte, und bestieg einen der herumstehenden luftbereifen, jedoch nicht verchromten und nicht mit schaumgummigepolsterter Sitzeinrichtung versehenen Roller, entschlossen, die noch verbleibenden viereinhalb Minuten für Trainingszwecke zu nutzen. Der Laden war weiträumig. Sein linker Trakt wurde von vier Säulen gestützt. Ich benutzte ihn als Slalomstrecke. Obgleich ich noch nie in meinem Leben auf einem luftbereiften Roller gestanden hatte, nahm ich die Kurven sicher. An den Schaufenstern standen Leute. Die Finger meiner rechten Hand lagen auf dem Bremshebel. Vor jeder Kurve klappte ich ordnungsgemäß den Winker heraus und verringerte die Geschwindigkeit. Wenn ich am Verkaufspersonal vorbeifuhr, blendete ich ab und klingelte. An den Schaufenstern drängten sich Menschen. Die Räder waren vorzüglich gelagert, einmal mit dem Fuß abstoßen, und ich hatte Schwung für eine ganze Runde. Menschenmassen belagerten die Schaufenster. Der Geschäftsführer schien um die Scheiben zu bangen. Er rannte abwechselnd zu den Scheiben und hinter mir her. Ich war schneller. Er gestikulierte. Stumm. Das gesamte Personal gestikulierte stumm. Schließlich bestieg der Ladenmeister das Auslagenpodest, um den Ruf des Ladens zu retten, wie er später in seiner Anzeige formulierte, er bestieg wie gesagt das Podest, schnitt den an Perlonfäden hängenden verchromten, mit schaumgummigepolsterter Sitzeinrichtung, Hand- und Fußbremse sowie dynamobetriebener Lampe versehenen Roller ab, schrieb einen Kassenzettel aus, ich betätigte sofort Hand- und Fußbremse und stellte das relativ gute Gerät zurück zu den anderen seiner Art, dankte, man händigte mir das absolut gute gegen die auf dem Preisschild angegebene Summe aus. Eingepackt, ich mußte versprechen, den mit mehreren Quadratmetern Wellpappe verhüllten und mit Tauwerk verschnürten Traum nach Hause zu tragen.

Als Kind hatte ich von Holzrollern geträumt. Ein Mädchen im Nebenhaus besaß einen gummibereiften zu sieben Mark achtzig. Mit dem fuhr ich nachts über die Dächer. Bisweilen erschien mir auch ein Tretroller im Traum. Den fuhren Damen von Schneewittchen aufwärts. Aber luftbereift war auch der nicht gewesen. Unvergleichbar jenem, den ich bis zur Unkenntlichkeit verschnürt aus dem Laden schleppte. Geschultert. Die Menge bildete eine Gasse. Ich schritt hindurch und auf dem schnellsten Weg nach Hause, versprochen ist versprochen.

Die meisten Bewohner meines Hauses bezeichneten mein Hobby als komisch. Anfangs. Ein international bekannter Radballsportler, wohnhaft im Vorderhaus, griff sich an den Kopf. Ich boykottierte die Verkehrsmittel, deren unentgeltliche Benutzung mir zustand, und fuhr täglich mit dem Roller zum Dienst. Mein Gesundheitszustand verbesserte sich. Doktor Lauritz, der mir von je Bewegung verordnet hatte, war zufrieden. Als ich ihm verriet, wie ich mich bewegte, verwickelte er mich in ein längeres Gespräch über Gegenstände, die auf seinem Schreibtisch standen. Außer Dienst bewegte ich mich vorzugsweise luftbereift, zum Bäcker fuhr ich, zum Fleischer, alle Besorgungen erledigte ich mit dem Roller, Plage wandelte sich in Wohltat, manchmal kaufte ich für meine Nachbarn ein. Natürlich ließ sich der Lenker schwer bedienen, wenn prallgefüllte Netze an ihm hingen, aber die Erziehung, die ich genossen hatte, wertete Angenehmes nur dann moralisch auf, wenn es mit Nützlichem verbunden war. Ich versteuerte mich nie, beladen und dennoch leicht fuhr ich dahin, beflügelt von dieser selten erlebten Harmonie zwischen Moral und Lust, ich fuhr, ich fuhr, größer als sonst  – zwischen Trittbrett und Straße maß der Abstand zwölf Zentimeter  –, ich schaukelte mich auf den Luftpolstern über die Unebenheiten von Pflaster-, Asphalt- und Betonstraßen, bergauf stieg ich nie ab, schon bei geringem Gefälle war Anschieben mit dem Fuß überflüssig, tat ich es dennoch, überholte ich nicht selten Straßenbahnzüge auf Strecken, die nur mit einer Geschwindigkeit von dreißig Kilometern befahren werden durften. Oft saß ich jedoch auch auf dem schaumgummigepolsterten Sitz, der stahlrohrgestützt über dem verchromten Kotflügel des Hinterrads angebracht war, lauschte dem Summen des Dynamos und genoß den Fahrtwind. Der stemmte sich gegen mich, zauste das Haar, bauschte den Mantel, trieb mir Tränen in die Augen: Ich besiegte ihn immer. So eroberte ich binnen kurzem alle Straßen des Stadtbezirks und eine mir umständehalber bis dahin vorenthalten gebliebene Lustbarkeit des Lebens. Ich pries sie, wo sich Gelegenheit bot. Die meisten Erwachsenen fanden sie wie gesagt komisch. Mitleidig oder auch froh über die unverhoffte Abwechslung sahen sie auf mich herab. Anfangs. Die Kinder hörten mir zu. Alle lachten. Am fünften Tag nach dem Kauf standen, als ich meinen Roller bestieg, um zum Dienst zu fahren, einige Frauen und Männer vor der Haustür. Als ich wiederkehrte, versperrte eine Menschenmenge den Torweg. Ich fragte, ob man gestatten würde, man gestattete, zögernd, eine Frau verlangte Auskunft über den Zweck, zu welchem ich mich derartig benähme. Ich erläuterte den Zweck der Fortbewegung. Man fragte nach dem Sinn. Ich erläuterte den Sinn des Spaßes. Die Menschenmenge sah mißtrauisch zu mir hinauf. Am anderen Morgen besuchte mich ein Herr in meiner Wohnung und protestierte im Namen gegen derartige Provokationen, die einer Verächtlichmachung des Radsports, das heißt einer olympischen Sportart, das heißt einer olympischen Idee, gleichkäme. Ich versicherte ihn meiner Loyalität. Er versicherte mir, nicht zu ruhen. Als ich gegen Mittag den Roller im Straßenbahndepot an seinen Platz stellte, wurde ich zu Betriebsarzt Lauritz gerufen. Er schrieb mir eine Überweisung für die psychiatrische Abteilung der Charité. Auf dem Weg zur Charité merkte ich, daß die Fußbremse defekt war. Da ich den Laden in der Nähe wußte, fuhr ich einen kleinen Umweg und wandte mich vertrauensvoll an den Fachmann, bei dem ich den Roller gekauft hatte. Der Fachmann wechselte sofort einen Blick mit dem Ladenmeister. Dieser winkte die anderen beiden Verkäufer zur Kasse. Ich stand vor der Kasse und erläuterte mein Anliegen. Als keiner von den vier Herren die bedrohte Kasse, wie später in der Anzeige formuliert war, verließ, um den Schaden in Augenschein zu nehmen, führte ich den Schaden vor. Ich stellte den rechten Fuß aufs Trittbrett, stieß mich mit dem linken zweimal kräftig ab, trat mit dem linken Absatz mehrmals auf den Bremsknopf, vergebens, ich fuhr zwei Runden durch den weiträumigen Laden, alle anwesenden Käufer konnten bestätigen, daß die Fußbremse nicht funktionierte. Der Ladenmeister nahm meine Personalien auf, händigte mir einen Reparaturzettel aus und behielt den Roller. Kurz darauf bekam ich die Mitteilung, daß gegen mich eine Anzeige wegen groben Unfugs sowie Erregung öffentlichen Ärgernisses vorläge.

Da machte ich mich zum drittenmal auf den Weg, betrat den Laden kurz vor der Mittagspause, stellte mich in einer Entfernung von zirka zwei Metern vor dem Ladenmeister auf, gab die Bedingungen bekannt, verzichtete auf einen Sekundanten, gewährte ihm drei, nahm die Schultern zurück, zählte, holte tief Luft und lachte ihn tot.

14. 6.

Fünf Uhr vierzig Wecken. Verflucht. Sonnenwecker. Gelobt. Als Bele hinaustrat, um den Ort abzunehmen, sah sie die Zwillinge liegen. Über Liegestühle gebreitet, die standen auf einem Balkon, der Bele größer erschien als der ihre, Bele wohnte im vierten Stock Hauptgebäude, die Zwillinge wohnten im zweiten Stock Seitenflügel, sie glichen einander von Angesicht und Wuchs. Der eine trug eine weißgestellige Sonnenbrille, rote Badehosen und braune Sandalen. Der andere fragte: »Waren Sie schon im Wasser?« Er trug eine weißgestellige Sonnenbrille, rote Badehosen und braune Sandalen. Bele trug ein Nachthemd. Als ihr das auffiel, fand sie sich bereits in ein Gespräch über fehlende Badezimmer verwickelt. Das Gespräch querte die Fassade wie eine Gerüstverschwerterung, das Ehepaar Janotte kündigte eine Beschwerde an, ein Herr vorgeschrittenen Alters wollte abreisen, wenn er kein Einzelzimmer bekäme, Dr. Stolp behauptete, kein Auge zugetan zu haben, Konstantinopel lag in einer Bucht, die von steilfelsigen Halbinseln flankiert wurde, »eine zauberhafte Aussicht«, sage Bele zu Paul. Der schlief immer noch. Die Halbinseln waren bebaut, rechts kastellartig, links hotelartig. Die Bucht hatte einen Strand, der von der Straße durch eine Mauer getrennt war. An der Kleinstmole hatten drei Fischerboote festgemacht. Unterhalb des Kastells brandete das Meer an eine Kaimauer. Das Meer war blaugrün und mit der Ostsee nicht zu vergleichen, in der Bucht war es blaugrün und hatte dunkle Flecken, vor der Bucht trug es weiße Kämme, »zu schade zum Baden«, sagte Paul gegen sieben. Bele trug seinen Koffer in sein Zimmer, zerwühlte das Bett und öffnete das Fenster. Es gewährte eine Aussicht auf den Hof. Lebende Hühner in Stiegen, Fässer, Flaschen, Duft von kaltgepreßtem Sonnenblumenöl und Knoblauch, Bele änderte ihr strategisches Ziel und gewann einen Verbündeten. Er schickte sich an, ungewaschen die Küche zu stürmen, abends jäh, morgens jäh. Das Klima entsprach Beles Urlaubsdefinition. In Prag regnete es vielleicht. Das Hotelrestaurant hatte zwei Eßsäle, die durch eine Glaswand getrennt waren. Im kleinen Eßsaal saßen die Westdeutschen, im großen saß unter anderen die Reisegruppe, der Paul und Bele angehörten. Paul hatte einen Tisch mit zwei Stühlen ausgesucht. Im großen Eßsaal gab es nur einen Tisch mit zwei Stühlen. Alle anderen dreißig bis vierzig Tische umstanden vier Stühle. Die eisernen Stuhlbeine erzeugten Schab- und Quietschgeräusche, wenn sie über den Steinboden gezogen wurden. Am rechten Nebentisch hatten die wissenschaftliche Lehrerin mit ihrem Mann, der Chauffeur aus Berlin und der Herr vorgeschrittenen Alters Platz genommen, der wiederholte seine Drohung. Paul schöpfte neue Hoffnung und eine Zimmertauschtheorie folgenden Inhalts: Wenn der Herr vorgeschrittenen Alters, der Klodwig heißen könnte, abreist, hat Reiseleiter Konstantin Arbeit. Arbeit ist im Urlaub üblicherweise unerwünscht. Konstantin ist ein üblicher Mensch: gegen Debatten. Debatten könnten vermieden werden durch Zimmertausch. Da der Reisegruppe lediglich zwei Einzelzimmer zur Verfügung stehen, kann nur mit diesen getauscht werden. Diese bewohnen wir. Klodwig und der Chauffeur aus Berlin bewohnen ein Zweibettzimmer. Result: Im Zuge der Verbesserung der Urlaubsatmosphäre beziehen wir ein Zweibettzimmer. Paul trug Reiseleiter Konstantin eine taktische Variante der Theorie vor. In Gegenwart von Klodwig und dem Chauffeur aus Berlin. Result: Klodwig verzichtete. Eine Schmalseite des Tischs, an dem Paul und Bele saßen, stieß an Wand. Paul ritzte mit dem Daumennagel einen Strich in die weißgetünchte Wand. Dann aß er Ei im Glas und Wurst und viel Weißbrot, und Bele aß Schwarzbrot mit Butter und Marmelade, die war so süß, daß sie im Rachen brannte. Aus den Papierservietten faltete Paul Tüten, blies sie auf und hieb sie gegen die Tischplatte. Nur ein Knall. Nach dem Frühstück versammelte der Vertreter des Deutschen Reisebüros die Reisegruppe auf der Veranda, zählte und gab Hinweise, Essenzeiten, Badefelsen, Stadt, Stadtstrand, Sonnenbrand, Fahrten, Basar und Schlangen betreffend. Die Schlangen teilte er ein in giftige und ungiftige. Die Giftigen wären gefährlich und hießen Vipern, Spielfilme würden in diesem Land nicht synchronisiert, wenn im Freilichtkino deutsche Filme gezeigt würden, könnte man sie also verstehen, Haifische wären noch nicht gesichtet worden, die Stadt wäre ein ehemaliges Seeräubernest, viele Albaner, Komitees zur Bekämpfung der Blutrache, gute Erholung. Paul wollte solche Albaner sehen, Abstieg in den Ort, der wie gehört kein Ort war, sondern eine Stadt. Prag war vielleicht zwanzigmal so groß, aber nichts Besonderes. Steile Hotelabfahrt, auf der gestern der Bus wunderbarerweise stehengeblieben war, Feigenbäume, im Schatten eines blühenden Granatapfelbaumes ein Hund, dann überquerten Paul und Bele die Asphaltstraße, die sich in Serpentinen durch Konstantinopel wand, W. hatte auch nur eine Straße gehabt und war ein Dorf. Paul und Bele benutzten die Straße nicht, sondern stiegen Stufen, ausgetretene Sandsteinstufen, solche gab es in Prag auch, links weiß- und rotblühender Oleander, Agaven, ein niedriges schindelgedecktes Haus, die meisten Häuser Konstantinopels waren mit Schindeln gedeckt, unebene, weißgetünchte Häuserwände, rote Dächer, das Minarett trug die gleichen Farben und war fast so hoch wie das Hotel, in dem Paul und Bele wohnten. Es lag außerhalb der Bucht. Alle Hotels lagen außerhalb, alle, bis auf das, in dem sie wohnten, waren neu, Paul ärgerte das. In einigen arbeiteten noch Handwerker. Die steil ansteigende Küste der Bucht war dicht mit kleinen Häusern bebaut, aus reichlicher Entfernung betrachtet, konnte man den bekannten Eindruck gewinnen, als ob sie nicht nebeneinander, sondern aufeinander errichtet wären, Beles Freundin Anne hatte ihn im Wohnzimmer hängen. Auf Kunstbastgewebe gemalt, die Bambusstäbe an der oberen und unteren Schnittkante waren mit den Kettfäden umknüpft. An einem Kiosk hing eine Eisfahne. Der Verkäufer bot auch Limonade und Joghurt feil, er klopfte mit der Eisportionierzange auf seine Kühltruhe, grüßte englisch und deutsch und schnalzte mit der Zunge. Bele kaufte ihm ein Glas Joghurt ab. Paul sagte: »Fraß.« Eine ärztliche Anordnung verbot ihm kalte Speisen. Heiße bekamen ihm auch nicht. Die Reise hatte ihm die Akademie besorgt. Ein Erdnußverkäufer. Er grüßte englisch und deutsch und hob eine Braue, dem darunterliegenden Auge entfielen Funken wie ein Monokel, das übrige Gesicht blieb unbewegt, Bele kaufte ihm eine Tüte Erdnüsse ab. Paul sprach über das Nobelpreisalter. Ein Kaffeegarten, ein Lebensmittelkiosk, der Thunfischkonserven führte, Bele sagte: »Was vom Taschengeld übrigbleibt, geben wir aus für Thunfischkonserven«, hinter blühenden Mimosenbäumen das vom Vertreter des Deutschen Reisebüros erwähnte Freilichtkino, eine Andenkenbude, da sah Bele gar nicht hin. Die Sonne brannte auf das obere Drittel ihres Rückens, Paul erbot sich, ihn mit dem Frottiertuch zu behängen, das er zusammengerollt unter der Achsel trug, in das Tuch war seine Badehose gewickelt, Bele lehnte ab. Der Rückenausschnitt war der Schmuck des Kleides, sah er überhaupt, daß sie ein Kleid anhatte? Im Schatten einer großen Pinie stand ein kleines Restaurant. »Die erste Pinie meines Lebens«, sagte Bele. Vor der Abreise hatte ihre Mutter gesagt: »Ich möchte mal unter Pinien sitzen und Zikaden hören.« Und der Sohn hatte ihr aufgetragen, eine Teufelsgeige mitzubringen. Paul sagte, er würde es schaffen. Das kleine Restaurant ähnelte einem Laubenbau. Das Hauptgebäude hatte eine Tür, zwei Fenster und ein etwa fünf Meter langes Schild mit der Aufschrift Restaurant, es war in Türhöhe angebracht und erstreckte sich über die gesamte Front. Rechts und hinten waren drei, links zwei Erweiterungsbauten an das Hauptgebäude angefügt, die Erweiterungsbauten waren von Holz aufgeführt, im rechten, frontal offenen Holzbau stand das Schankbüfett für den Garten. Im Garten standen Tische, Klappstühle, Oleandersträucher in Holzkübeln und zwei Bratroste. Darauf bewegten zwei Männer in weißen Jakken Fleischstücke mit Holzzangen. Oder Fischstücke, Restaurantgäste versperrten Bele die Sicht. Der Rauch des Holzkohlenfeuers sammelte sich unter dem Astschirm der Pinie. Es roch wie in Pauls Hotelzimmer, wenn das Fenster geöffnet war. »Ich möchte mal unter einer Pinie sitzen und Zikaden hören«, sagte Bele. Paul brauchte Streichhölzer. Sie betraten einen Gemischtwarenladen. Strandhüte, Badeanzüge, Andenken, Guslen, Zigaretten, Tabak, Volkskunstschuhe, ein schöner Mann hinter dem Ladentisch. Ein zu schöner Mann, der mehrere Bündel Volkskunstschuhe auf den Ladentisch warf, Bele probierte etliche an, alle zu groß, er holte größere vom Lager und verkaufte Paul nebenbei eine Schachtel Streichhölzer, die größeren Schuhe paßten auch nicht, der Gemischtwarenbeau bedauerte und dankte und bat, morgen wiederzukommen. Bele gab ihrer Verwunderung über derartige Gepflogenheiten in zwei Sätzen Ausdruck. Paul bezeichnete sie mit dem Wort »albern«, er ging zu Hause nicht einkaufen. Anschließend Stadtstrand, ausziehen, baden, duschen, anziehen, umziehen, Mittagessen, Badefelsen, ausziehen, baden, duschen, ölen, braten, Granatapfelsaft trinken, weiter braten, baden, anziehen, Abendessen, aufschreiben, Hochzeitsreisen muß man aufschreiben, weil man sie selten erlebt. Abends behauptete Paul, müde zu sein. Deshalb erzählte ihm Bele folgende Geschichte:

Schattenspiel

Franz, der Dichter, bewohnte ein kleines Haus mit großen blau-weiß gestreiften Markisen. Wenn ich an dem Haus vorbeikam öffnete er manchmal das Fenster, legte die rechte Hand auf die linke Brust und neigte ein wenig den Kopf. Und ich neigte den meinigen auch ein wenig. Selten. Ich kam nur zwei-, dreimal im Jahr an dem dürftigen Haus vorbei, dessen Erdgeschoß der Dichter gemietet hatte.

Eines Tages verirrte ich mich in den Schluchten der Stadt. Ich fragte nach dem Weg, man wies ihn mir, ich lief und lief, als der Abend hereinbrach, passierte ich Straßen, die ich nie gesehen hatte. Wo war ich? Häuser. Menschen. Bäume. Ich lehnte mich an den Stamm eines Baumes und überdachte meine Lage. Nackte Zweige spießten den Himmel. Sein Saft sickerte in den Blutrinnen. Mein Mantel war durchnäßt, ich fror. Als ich Müdigkeit spürte, zog ich Mantel, Schuhe und Strümpfe aus, entfernte mich sechs Schritte, nahm Anlauf, krallte Finger und Zehen in die Borke eines Stamms und erklomm den Wipfel des Baumes. Dächer, soweit das Auge reichte. Wo war ich zu Hause? Ich zählte Antennen, schaukelte mich in den Ästen, spuckte runter. Als ich beschließen wollte, auf dem Baum zu nächtigen, gewahrte ich in der Ferne bläulichen Rauch. Er stieg nicht auf in Schwaden, sondern in Ringen. Der Wind trug die bläulichen Ringe, die sich ständig vergrößerten und dabei verblaßten,

1. Auflage Genehmigte Taschenbuchausgabe Januar 2012, btb Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München Copyright © 2011 by Luchterhand Literaturverlag, München einem Unternehmen der Verlagsgruppe Random House GmbH Umschlaggestaltung: semper smile unter Verwendung eines Motivs von © Steve Collier / Collier Studios / CORBIS Satz: Uhl + Massopust, Aalen

KS · Herstellung: BB

eISBN 978-3-641-09262-7

www.btb-verlag.de

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