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Amelia konnte ihren neuen Lebensabschnitt kaum erwarten: endlich raus aus der Kleinstadt und hinaus in die große, weite Welt. Sie genoss das Studentenleben in vollen Zügen, musste jedoch bald feststellen, dass nichts war, wie es schien. Verwickelt in den übernatürlichen Kampf zwischen Engeln und Gefallenen befand sie sich inmitten zweiter mächtiger Fronten. Gemeinsam mit ihrem Beschützer erwartete sie ein Leben auf der Flucht, doch Amelia gab sich nicht kampflos geschlagen.
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Seitenzahl: 408
Veröffentlichungsjahr: 2022
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Anna Brocks
Amelia – Der Weg der Engel
Anna Brocks
Amelia
Der Weg der Engel
Impressum
Texte: © 2022 Copyright by Anna Brocks
Umschlag:© 2022 Copyright by Anna Brocks
Verantwortlich
für den Inhalt:Anna Brocks
Druck:epubli – ein Service der Neopubli GmbH, Berlin
Der Start in ein neues Leben
Jeder hat eine bestimmte Rolle auf dieser Welt zu spielen. Ob für sich selbst oder andere, für Freunde oder Feinde, ganz egal. Man bleibt in seiner Rolle und hält das Rad am Laufen. Zumeist hat man selbst die Entscheidungsgewalt darüber, was man tut und inwiefern man seinen Beitrag leistet. Bei mir war das wohl eher nicht der Fall.
Unzählige Male sagte meine Mutter zu mir, dass auch ich einen bestimmten Weg gehen und die Zukunft auf die eine oder andere Art und Weise beeinflussen würde. Damals glaubte ich ihr nicht. Wie sehr hatte ich mir gewünscht, eine der wenigen Hauptrollen in der großen Geschichte unserer Zeit zu spielen. Ich wollte bedeutend sein, wichtig für andere. Hätte ich mir diesen Wunsch doch besser zweimal überlegt.
Meine Geschichte beginnt an einem sonnigen Junimorgen in einem kleinen Wagen, eingepfercht zwischen Kisten, Taschen und einem großen Koffer. Ich war mir sicher, dass sich an diesem Tag mein Leben grundlegend ändern würde.
Eigentlich war es ein guter Tag, ein sehr guter sogar. Ich war so glücklich, wie schon lange nicht mehr und das, obwohl meine Eltern und ich schon seit sechs Stunden im Auto saßen. Und das allerbeste daran: wir hatten erst die Hälfte geschafft.
Mir machte es nichts aus, an einem heißen Tag eine zwölf Stunden lange Autofahrt auf mich zu nehmen, denn ich freute mich unglaublich auf das ferne Ziel. Genau die Entfernung war schließlich der Aspekt, der das College so reizvoll für mich machte.
Ein Teil von mir war traurig darüber, Familie und Freunde zurückzulassen, aber ein anderer war so aufgeregt, dass die Vorfreude einfach überwiegte. Man kommt schließlich nicht alle Tage so viel herum, besonders nicht, wenn man in einem kleinen Örtchen aufgewachsen ist. Während der Autofahrt dachte ich nicht im Geringsten daran, dass ich mein Zuhause schon nach kurzer Zeit vermissen würde.
Bei uns daheim war man immer gut gelaunt. Jeder kannte jeden. Obwohl man sich fast täglich über den Weg lief, grüßte man sich immer noch mit der gleichen Freude. Natürlich gab es auch ein paar schwarze Schafe in unserem Städtchen, diese hielt es aber ohnehin nicht lange dort. Als ich mich das erste Mal dabei ertappte, einen dieser besagten Auswanderer zu beneiden, war bald für mich klar, was auch ich wollte: einfach raus aus dieser Kleinstadt. Und da war ich nun. Meine unbeschwerten Highschool-Jahre lagen hinter mir und ich war bereit, mich ins Leben zu stürzen.
„Alles klar bei dir? Du bist so still.“ Diese Frage riss mich aus meinen Gedanken, als ich aus dem Fenster starrte und mir den Campus der Uni ausmalte.
Mit einem Lächeln im Gesicht blickte ich zu meiner Mutter: „Genauso still wie vor zehn Minuten und auch wie in den Minuten zuvor.“
Sie unterbrach mich: „Okay, hab schon verstanden. Ich bin überfürsorglich.“
Während ich mit einem Schulterzucken reagierte, übernahm mein Vater, der am Steuer saß, die Antwort: „Ach was, die paar Stunden hält sie das schon noch aus.“
Da mein älterer Bruder eine Karriere in einer örtlichen Firma keine zehn Minuten von unserem Haus entfernt angestrebt hatte, war ich die Erste der Familie, die es nach außerhalb verschlug. Wie man sich denken kann, waren meine Eltern erst nicht so begeistert von der Idee, aber letzten Endes haben sie dann doch eingelenkt.
„Keine Sorge, ich werde mich oft genug melden.“ Ein schwerer Seufzer meiner Mutter folgte. „Komm schon, es ist das College. Ich gehe nicht für immer weg.“
Ihr wisst wahrscheinlich, wie es sich anfühlt, wenn man nach einem verdammt anstrengenden Tag endlich ins Bett fallen und zum ersten Mal seit Stunden zur Ruhe kommen kann. Beim ersten Tag am College ist es ungefähr genauso, nur tausendmal besser. Der ganze Stress fällt von einem ab. Nach stundenlangem Umherrennen und dem herzzerreißenden Abschied von meinen Eltern brauchte ich aber wirklich mal eine Pause.
Diese sollte mir aber nicht vergönnt sein, denn eben in diesem Moment kam jemand zur Tür herein und begrüßte mich mit einem etwas verdutzten: „Huch?“
Es dauerte nur wenige Augenblicke, bis ich begriff, dass das wohl meine Zimmergenossin sein musste. Etwas länger brauchte ich schon, um die richtigen Worte zu finden, immerhin kann der erste Eindruck viel bewirken.
Nach reichlichem Überlegen und einigen Sekunden des peinlichen Schweigens beließ ich es aber doch bei einer langweiligen Standardfloskel: „Hallo, ich bin Amelia und wohl deine neue Mitbewohnerin.“
Von ihr kam erst mal nichts. Das war zugegebenermaßen nicht sehr förderlich für mein ohnehin schon nervöses Gemüt. Ich hatte hier eine völlig fremde Person vor mir, mit der ich mir in Zukunft einen Wohnraum von knapp 20m² inklusive Bad teilen sollte. Meine Gedanken darüber, wer diese kleine Person mit den pinken Haarspitzen sein könnte, überschlugen sich regelrecht.
Erst als auch sie sich vorstellte, beruhigte ich mich: „Freut mich sehr. Ich bin Rose.“ Sie lächelte, legte den Kopf zur Seite und mir fiel mir ein Stein vom Herzen. Sie wirkte echt nett.
Die folgende Handlung ihrerseits sollte das bestätigen. Sie hopste fröhlich zu ihrem Bett, das nur ein paar Meter von meinem entfernt stand, warf ihre Tasche daneben hin und setzte sich auf die Bettdecke.
Dann galt mir ihre volle Aufmerksamkeit: „Erzähl mal! Wo kommst du her?“ Die Art, wie sie das gesagt hatte, verblüffte mich. Für gewöhnlich entsteht bei solchen Gesprächen, die man meist nur aus Höflichkeit führt, immer ein gewisses Desinteresse beim Gegenüber. Rose hingegen schaffte es, mich komplett davon zu überzeugen, dass sie sich wirklich für mich und mein bisheriges Leben interessierte.
Also erzählte ich ihr das Wichtigste über mein unspektakuläres Leben mit meiner makellosen Kindheit, der fürsorglichen Familie und dem großen Freundeskreis. Je länger ich erzählte, desto klarer wurde mir, wie gut ich es eigentlich immer hatte. Kein nennenswerter Liebeskummer, keine Familiendramen, nichts. Ein perfekter Lebenslauf, wie er im Buche steht.
„Das klingt ja super!“ Kein Anflug von Neid war in ihrer Stimme zu hören. Obwohl sie mich erst seit wenigen Augenblicken kannte, schien sie sich ehrlich für mich zu freuen. Bisher ließ mich meine Menschenkenntnis selten im Stich und bei ihr hatte ich ein wirklich gutes Gefühl. So dachte ich mir schon bei unserem ersten Gespräch, dass ich in Rose eine wirklich gute Freundin finden konnte.
Die Zeit verging wie im Fluge. Minuten wurden zu Stunden und bald ertappten wir uns dabei, dass es längst dunkel geworden war, während wir uns alles erzählt hatten, was es zu wissen gab. Als Rose mir sagte, dass sie bisher keine allzu guten Freunde gehabt hatte und eine Einzelgängerin sei, konnte ich es nicht glauben, geschweige denn verstehen. Unser stundenlanges Gespräch endete erst dann, als wir beide völlig den Faden verloren hatten und nur noch Tränen lachten.
Rose faszinierte mich in gewisser Art und Weise, da man Menschen mit ihrem Aussehen in einer ländlichen Kleinstadt kaum zu Gesicht bekam. Die kurzen schwarzen Haare mit den knallpinken Spitzen passten perfekt zum Rest des ausgeflippten Stils. Als sie bei der Tür hereingekommen war, überraschte mich ihr Aussehen, andererseits hegte ich immer schon Interesse für solche Menschen.
„Vielleicht sollten wir uns langsam schlafen legen, meinst du nicht auch?“ Rose gähnte unabsichtlich und wurde etwas rot.
Ich grinste: „Ja, du hast wohl recht. Ich bin auch müde. Außerdem sollen wir doch morgen fit sein, nicht wahr? Wenn ich mir die Liste der Kurse ansehe, für die ich mich eingetragen habe, brauche ich morgen alle Energie, die ich aufbringen kann.“
So stand der Beschluss fest und wir beide machten uns bereit für unsere erste Nacht auf dem Campus. Diesen Tag konnte ich trotz all der Anstrengungen als einen guten verbuchen. Mein Start ins Studentenleben verlief nahezu reibungslos und mit Rose hatte ich sogar schon eine erste Freundin gefunden. Nun konnte es nur noch weiter bergauf gehen, dachte ich zumindest.
Dafür, dass mir alle immer erzählt hatten, wie schön und gemütlich das Leben am College sei, war mein erster Tag wirklich alles andere als ruhig. Vielleicht hätte ich vor dem Eintragen in diverse Kurse bedenken sollen, dass der Campus nicht gerade klein ist und man auch irgendwie von A nach B kommen sollte, ohne sich zu verspäten. Diese Erkenntnis kam aber leider etwas zu spät, weshalb ich um kurz nach elf quer über das Gelände joggte, um rechtzeitig zum nächsten Einführungskurs zu kommen. In diesem Moment war ich beinahe froh darüber, dass die ersten Kurse schon im Juli begannen. So hatte ich mehr Zeit, diesen Berg an Unterlagen abzuarbeiten.
Fast beim Ziel angekommen und die Augen auf die Karte am Smartphone gerichtet, passierte das Unvermeidliche: ich rannte jemanden nieder. Ehe ich wusste, was passiert war, landete ich auf dem harten Boden. Meiner sorgfältig angelegten Mappe erging es ähnlich und so flatterten all die Blätter, die ich während den ersten beiden Vorlesungen vollgeschrieben hatte, durch die Luft.
Es dauerte etwas, bis ich die Orientierung wiederfand. Dann erblickte ich den armen Kerl, der zum Opfer meiner Tollpatschigkeit geworden war. Mein erster Gedanke war: „Wie konnte ich den nur übersehen?“ Kurze Erklärung: er sah verdammt gut aus.
Zuerst konnte ich mein Glück kaum fassen. Der erste richtige Tag am College und schon begegnete ich einem gutaussehenden Sportler, der offensichtlich zu den von mir sehr bewunderten Höhersemestrigen gehörte. Dann erkannte ich jedoch den Fehler hinter meinem Gedankengang: ich hatte ihn eben brutal niedergerannt.
Also versuchte ich, die Situation so schnell wie möglich zu retten: „Es tut mir so leid! Warte, ich helfe dir!“
Mit einem Kopfschütteln wies er die Hilfe ab und richtete sich allmählich wieder auf: „Ach was, kein Ding. Wenn ich nur daran denke, wie viele Leute ich angerempelt habe, als ich hier angefangen habe.“
Er lachte kurz, woraufhin ich fragte: „So offensichtlich?“
Aus seinem Lachen wurde ein freundliches Grinsen: „Dass du ein Erstsemester bist?“ Ich nickte. „Nur ein bisschen.“ Eine sarkastische Bemerkung nach nur wenigen Sekunden des Kennenlernens? Das gefiel mir.
Leider vergaß ich bei dem netten Smalltalk den eigentlichen Grund für diese ungeplante Begegnung, bis es mir schlagartig einfiel: „Ach du meine Güte, ich bin spät dran! Der Kurs hat schon begonnen!“ Sofort griff ich nach meiner Mappe und stopfte die herausgefallenen Zettel rein.
„Kann ich dir helfen? Wenn du willst, bringe ich dich zum Vorlesungssaal.“ Wie gerne hätte ich in diesem Moment zugestimmt, aber bevor ich zu studieren begann, hatte ich mir eines fest vorgenommen: erst die Arbeit, dann das Vergnügen.
Somit lautete meine Antwort: „Nein, tut mir leid. Ich habe keine Zeit mehr. Man sieht sich vielleicht ein andermal.“ Und schon sauste ich los.
Von dem freundlichen Unbekannten folgte nur noch ein kurzes Rufen: „Darf ich wenigstens erfahren, wie du heißt?“
„Amelia!“ Weg war ich. Den restlichen Weg hielt ich kein einziges Mal an, obwohl ich schon völlig außer Atem war. Im Nachhinein betrachtet floh ich wohl auch vor der peinlichen Situation.
„Und du weißt nicht einmal seinen Namen?“ Das Entsetzen in Roses Stimme war wohl keineswegs gekünstelt und es wurde nicht weniger, als ich den Kopf schüttelte. „Echt schräg. Immerhin klingt das Ganze wie eine Filmszene. Mann trifft Frau, Frau rennt weg, die Suche nach der mysteriösen Unbekannten beginnt.“
Ich konnte mir meinen Kommentar nicht verkneifen: „Du hast einen Teil vergessen. Frau rennt Mann brutal nieder. Der hält mich bestimmt für verrückt. Vermutlich wollte er nur meinen Namen wissen, um mich in Zukunft zu meiden.“ Auf diese Bemerkung hin mussten wir beide lachen.
So viel zum Thema „zuerst die Arbeit, dann das Vergnügen“. Seit ungefähr einer Stunde saßen Rose und ich nun schon beisammen und davon hatten wir vielleicht fünf Minuten über unsere Kurse gesprochen. Die restliche Zeit ging es hauptsächlich um die Leute, die uns begegnet waren. Man trifft viele interessante Menschen mit noch interessanteren Geschichten auf dem Campus. Trotzdem hatte mein kleiner Zusammenstoß Platz eins bei den Themen des Abends belegt.
Unsere fröhliche Unterhaltung wurde abrupt beendet, als jemand an die Tür klopfte. Verdutzte Blicke wurden zwischen Rose und mir ausgetauscht. Offensichtlich erwartete sie ebenso wenig jemanden wie ich. Da Rose die Erste war, die es aus ihrem Bett schaffte, machte sie auf, während ich gespannt im Hintergrund lauschte.
Kaum war die Tür auch nur einen Spalt geöffnet, dröhnte ein lautes: „Heute Party in der Johnson-Villa! Das dürft ihr euch nicht entgehen lassen!“ durch meine Ohren. Und schon war unser merkwürdiger Besucher wieder weg.
Kopfschüttelnd starrte ich auf die Tür. Wer klopft denn bitte einfach an allen Zimmern an und fragt wildfremde Leute, ob sie zu einer Party kommen wollen?
Rose hingegen hatte ein breites Grinsen im Gesicht und ich konnte mir schon denken, worauf das hinauslaufen sollte: „Du willst doch nicht etwa hingehen, oder?“ Ihre Mundwinkel blieben oben. „Wir kennen den Kerl doch gar nicht. Außerdem bezweifle ich, dass er der Gastgeber war. Was, wenn wir gar nicht wirklich eingeladen wurden?“
„Komm schon!“ Sie verdrehte die Augen. „Das wird bestimmt lustig! Wolltest du denn noch nie auf eine dieser legendären Studentenpartys gehen?“
Ich zögerte noch etwas: „Ja schon, aber doch nicht am ersten Tag. Morgen haben wir wieder Kurse.“ Zugegeben, ich klang in diesem Moment wie eine richtige Spießerin.
Und Rose kannte genau die richtigen Worte, um mich zu überzeugen: „Lernen kannst du noch dein Leben lang, aber diese Party ist nur heute. Amelia, wir müssen da hin! Wie sollen wir denn sonst neue Leute kennenlernen?“
„Nun ja…“ Daraufhin wurde mir ein böser Blick von ihr zugeworfen. „Okay, na schön! Gehen wir hin.“
Augenblicklich veränderte sich ihre Stimmung. Rose war ein regelrechter Wirbelwind. Ich mochte das. Man wusste nie, was einen mit ihr erwartete. An diesem Morgen hatte ich zumindest nicht gedacht, dass ich am Abend auf einer Party sein würde und siehe da, schon war ich auf dem Weg ins Bad, um mich fertig zu machen.
„Sollen wir einfach hineingehen?“ Die Frage meinerseits war berechtigt, immerhin war ich bisher noch nie auf eine Party gegangen, zu der ich noch nicht einmal eingeladen wurde.
Dennoch hätte ich mit Roses Antwort rechnen können: „Sehen die etwa so aus, als wären sie alle eingeladen worden?“ Sie deutete auf den großen Eingangsbereich. Dort tummelten sich unzählige Studenten.
Ich zuckte mit den Schultern: „Na schön. Du wirst mir sowieso keine andere Wahl lassen, nicht wahr?“
„Stimmt.“ Und schon nahm sie mich am Arm und ging zielstrebig auf die Eingangstür zu, die ohnehin weit offenstand.
Wild entschlossen führte mich meine Mitbewohnerin durch nahezu alle Räume des Erdgeschosses. Erst als wir die Küche der Studenten-Villa erreicht hatten, wurde mir klar, was sie gesucht hatte. Mit einem Grinsen im Gesicht visierte sie die Bar an und ehe ich mich versah, hatte ich ein Bier in der Hand.
„Auf den Start in ein neues Leben!“ Rose stieß mit mir an. Sie war in ihrer Euphorie kaum zu bremsen. Glücklicherweise steckte sie mich damit aber an und meine Anspannung bezüglich der völlig fremden Situation wich langsam.
Plötzlich vibrierte mein Handy in der Hosentasche. Mit einer kurzen Geste gab ich Rose zu verstehen, dass ich schnell nach draußen ging, um zu telefonieren. Sie nickte kurz und ich begann meinen Kampf durch die vielen Menschen.
Währenddessen schaute ich auf mein Handydisplay, um nachzusehen, wer mich denn um diese Uhrzeit noch erreichen wollte. Angesichts der Tatsache, dass ich einen Becher vollgefüllt mit Bier in der Hand hatte, war das wohl keine so gute Idee. Es kam, wie es kommen musste und ich befand mich in einer ähnlich peinlichen Situation wie heute Vormittag auf dem Campus.
„Oh nein, das tut mir so leid!“ Das half demjenigen, dem ich gerade die Hälfte meines Biers übers Shirt und ins Gesicht geschüttet hatte, auch nicht weiter.
Das gab er mir aber auch deutlich zu spüren, während er sich über seine Augen wischte: „Hast du keine Augen im Kopf?“
Überrascht und zugegebenermaßen schockiert über diese aggressive Reaktion, geriet ich in Erklärungsnot: „Es war echt keine Absicht.“
„Das hilft mir jetzt auch nicht weiter!“ Als er endlich die Hände vom Gesicht nahm und mir in die Augen schaute, war er plötzlich still. Seine Wut war wie weggeblasen und er starrte mich nur noch an.
Ich fragte nach: „Alles okay bei dir?“ Er hatte völlig die Sprache verloren.
Als er sie wiederfand, folgte nur ein einziger Satz: „Pass das nächste Mal besser auf.“ Dann verschwand er in der Menge.
Ich stand noch immer wie angewurzelt da und wusste nicht recht, was da gerade passiert war. Ein merkwürdiges Gefühl machte sich in mir breit. Obwohl dieser völlig schwarz gekleidete Mann mit den ebenso schwarzen Augen und Haaren so düster und fast schon bedrohlich wirkte, empfand ich nichts Unangenehmes, als ich ihn ansah. Es kam mir fast so vor, wie an dem gestrigen Tag, als ich Rose kennengelernt hatte, nur noch stärker. Vertrauen beschreibt es wohl am besten. Ich glaubte für einen kurzen Moment, diesem völlig Fremden blind vertrauen zu können.
Weil mir mein Gedanke aber dann doch völlig absurd vorkam, schüttelte ich ihn schnell ab und kehrte zu meinem eigentlichen Vorhaben zurück. Draußen angekommen warf ich einen Blick auf mein Smartphone. Plötzlich tippte mir jemand von hinten auf die Schulter.
Als ich in die freundlichen Augen meines Gegenübers blickte, konnte ich es kaum fassen: „Nein, das kann doch gar nicht sein! Wie?“ Ehe er mir eine Antwort geben konnte, fiel ich Robin um den Hals.
„Was ist denn hier los?“ Das freudige Wiedersehen wurde von Rose unterbrochen, die mit besorgtem Blick aus dem Haus kam. Plötzlich verstummte sie. Für wenige Sekunden war sie wie erstarrt und ihre Augen hafteten auf meinem Freund Robin.
Dann zeigte sie ihr nettestes Lächeln: „Und wer ist das, wenn ich fragen darf?“
Wie gewöhnlich lief der schüchterne Robin rot an und ich übernahm die Antwort: „Rose, ich darf dir feierlich meinen besten Freund Robin vorstellen. Wir kennen uns unser ganzes Leben.“
Diese kurze Vorstellung beschrieb nicht einmal ansatzweise, wie sehr ich mich tatsächlich freute, ihn hier zu haben. Robin war schon immer wie meine bessere Hälfte gewesen. Er hatte mir jederzeit geholfen und alles in seiner Macht Stehende getan, um mich glücklich zu sehen. Im Gegenzug stand ich für ihn ein und versuchte stets, den großartigen Jungen hervorzubringen, der hinter der schüchternen Fassade steckte. Zwischen uns herrschte eine wunderbare Freundschaft, seit ich denken konnte.
Rose reagierte auf meine kurze Erläuterung gewohnt übermütig: „Wie süß! Ihr kennt euch schon so lange? Hast du ein Glück!“ Ich musste schmunzeln, als Robins Gesicht noch roter wurde. „Und jetzt studiert ihr gemeinsam? Warum hast du mir das nicht erzählt?“
Nun kamen wir allmählich zu dem Thema zurück, das auch mich brennend interessierte: „Stimmt ja, ich habe noch immer keinen Schimmer, warum du hier bist. Was machst du hier, Robin?“
Er murmelte leise vor sich hin: „Ich kann dich doch nicht einfach hier allein lassen, Amelia. Schließlich habe ich dir etwas versprochen, weißt du noch?“
Ich lächelte: „Meinst du das ernst?“
Nachdem Robin genickt hatte, stürzte ich mich sofort wieder auf ihn. Während ich ihn umarmte, hüpfte ich wild in der Gegend umher, sodass wir fast zu Boden fielen. Meine Freude war einfach riesengroß.
Erneut verstand Rose meine Euphorie nicht: „Kann mir mal jemand erklären, was so toll ist?“
Mit einem riesigen Grinsen im Gesicht ließ ich von Robin ab, der noch etwas benommen umhertaumelte: „Robin bleibt hier! Er studiert auf diesem Campus! Das ist einfach großartig!“
Da das noch immer nicht die ganze Geschichte war, übernahm mein bester Freund den Rest: „Du musst wissen, meine Eltern waren nicht gerade begeistert von der Idee, gemeinsam mit Amelia auf diese Universität zu gehen. Um genau zu sein, sie wollten es mir verbieten.“
Das schien Rose nicht ganz zu verstehen: „Warte mal kurz, ganz langsam. Deine Eltern wollten dich nicht gehen lassen? Das ist doch deine Entscheidung.“
Robin nickte: „Ja, sehe ich genauso, sie nur leider nicht. Das war schon immer so. Ich habe keine Geschwister, weißt du? Und als ihr einziges Kind behandelten sie mich meist etwas überfürsorglich.“
Ich mischte mich wieder ein: „Ja, aber wie hast du es dann geschafft, sie zu überzeugen? Das hast du doch bisher noch nie gekonnt!“ Das mag zwar etwas direkt gewesen sein, besonders vor Rose, aber es stimmte. Robins Eltern hatten ihn immer fest im Griff.
Aus diesem Grund überraschte mich die folgende Antwort umso mehr: „Habe ich nicht. Sie waren kein bisschen überzeugt. Eigentlich wollte ich mich damit abfinden, aber dann habe ich daran gedacht, dass ich dir versprochen habe, alles Menschenmögliche zu tun, um gemeinsam mit dir ans College gehen zu können. Also habe ich ihnen gesagt, dass ich einfach gehen werde, ob sie mich unterstützen oder nicht.“
Ich war sprachlos. Es war kaum zu glauben. Robin hatte sich tatsächlich seinen Eltern widersetzt und das meinetwegen. Vor lauter Überwältigung brachte ich kaum ein Wort raus.
Rose hingegen klopfte ihm auf die Schulter und lächelte: „Mein lieber Junge, das lobe ich mir! Für die beste Freundin gegen die Eltern rebellieren, das nenne ich Courage!“ Und wieder wurde Robin rot, aber dennoch grinste er ein wenig.
Ehe ich noch etwas hinzufügen konnte, setzte Rose fort: „Dann wäre das ja geklärt. Noch ein Grund mehr, um zu feiern! Kommt schon, wir verpassen ja alles!“ So gingen wir wieder hinein. Zu dem Zeitpunkt wusste ich es zwar noch nicht, aber meine erste große Feier am College sollte erst in den frühen Morgenstunden enden.
Obwohl meine Vorlesung am darauffolgenden Tag erst um elf Uhr begann, war ich völlig fertig. Ich war um halb sechs von der Party heimgekommen. Davon abgesehen hatte ich nach dem Aufstehen ziemliche Kopfschmerzen und ein ekliges Gefühl im Mund. Vielleicht hatte ich doch den einen oder anderen Drink zu viel genommen.
Nichtsdestotrotz wollte ich meinen ursprünglichen Plan, das Studium ernst zu nehmen, durchziehen und so ging ich mehr oder weniger motiviert zur Vorlesung. Rose konnte das nicht von sich behaupten. Sie blieb im Bett.
Einziges Problem an der ganzen Sache war, dass ich verschlafen hatte oder besser gesagt nicht eingeplant hatte, dass mein morgendliches Aufstehritual etwas mehr Zeit in Anspruch nehmen würde. Die logische Folge daraus: der Hörsaal war voll und ich bekam keinen Platz mehr, dachte ich zumindest.
Ein Hoffnungsschimmer machte sich breit, als ich ein Plätzchen am rechten Rand der vorletzten Reihe entdeckte. Es stand ein Rucksack dort, aber der gehörte wohl zu dem jungen Mann am Platz daneben. Also beschloss ich, einfach hinzugehen und zu fragen. Kaum stand ich davor und der vermeintlich fremde Student drehte sein Gesicht zu mir, erkannte ich ihn wieder.
Offensichtlich hielt meine Verwunderung etwas zu lange an, denn er fragte mich mit genervtem Unterton: „Ist irgendwas? Oder starrst du gern fremde Leute an?“
Ich ignorierte diese Bemerkung und deutete auf den Rucksack: „Ebenfalls hallo. Ist das da deiner? Ich würde mich nämlich gerne hinsetzen.“
Für einen kurzen Moment schien ihn meine Reaktion zu überraschen, aber das schüttelte er schnell wieder ab: „Sehe ich etwa aus wie der Platzreservierer vom College?“
Dann reichte es mir: „Nein, denn der wäre vermutlich etwas freundlicher.“ Als darauf nichts mehr zurückkam, machte ich erneut meinen Standpunkt klar. „Was ist jetzt? Lässt du mich hinsetzen, oder nicht?“
Murrend nahm er seinen Rucksack vom Platz. Ich setzte mich wortlos hin und packte meine Sachen aus. Währenddessen hatte ich Gelegenheit, meinen Sitznachbarn aus dem Augenwinkel etwas genauer zu beobachten. Viel herauszufinden gab es da aber nicht.
Schwarz war offensichtlich seine Lieblingsfarbe, zumindest war er genauso gekleidet wie gestern auf der Party. Meinen ersten Gedanken, dass er direkt von dort hergekommen war, verwarf ich gleich wieder. Schließlich roch er nicht nach dem Bier, welches ich ihm ungeschickterweise über sein Shirt gekippt hatte.
Ich wurde aus meinen Gedanken gerissen, als der Professor den Raum betrat und mit dem Kurs begann. Ebenso wie mein schlecht gelaunter Studienkollege packte ich meinen Notizblock aus und schrieb das Datum darauf. Durch einen flüchtigen Blick auf den oberen Rand seines Blocks konnte ich einen Namen erkennen. Alexander. So hieß er also.
Der restliche Tag verlief eher suboptimal oder besser gesagt schrecklich. Da mich Alexanders Anwesenheit so abgelenkt und verunsichert hatte, wusste ich natürlich keine Antwort auf die Frage des Professors, als mich dieser spontan aufrief. Peinlichkeit pur. Der darauffolgende Kurs war langweilig und beim dritten war meine Laune ohnehin schon so im Keller, dass ich mich nicht mehr konzentrieren konnte. Dementsprechend niedergeschlagen war ich also, als ich mit gesenktem Kopf quer über den Campus in Richtung Wohnheim spazierte.
Plötzlich donnerte es und der ohnehin schon trübe Himmel gab mir mit einem Wolkenbruch den Rest: „Ernsthaft? Das musste jetzt sein, oder?“
„Mieser Tag?“ Ich erschrak, als ich plötzlich im Trockenen stand und mich unter einem großen Regenschirm wiederfand. Langsam drehte ich mich um und erblickte den Retter meines schrecklichen Tages.
Lächelnd sah ich in die blauen Augen meines Gegenübers: „Das kann man wohl sagen. Vielen Dank.“
Mit einem kurzen Kopfnicken gab er mir zu verstehen, dass ich ihm ins Trockene folgen sollte. Ich fragte nicht lange nach und ging einfach mit. Immerhin musste ich noch etwas gut machen, da ich ihn am ersten Tag auf der Uni niedergerannt hatte. Ja, es war tatsächlich der sportliche junge Mann, den ich stehen ließ, um einer peinlichen Situation zu entfliehen. Nun war er erneut bei mir und das genau im richtigen Moment.
Als wir endlich einen überdachten Bereich erreicht hatten, spannte er den Schirm ab und sah mir tief in die Augen: „Zuerst attackierst du mich am helllichten Tag mitten am Campus und dann finde ich dich, wie du allein durch den Regen spazierst. Irgendetwas sagt mir, du bist anders als die anderen.“ Ich wurde rot und wusste nicht, was ich antworten sollte.
Daraufhin lachte er: „Keine Sorge, das braucht dir nicht peinlich zu sein. Ich versuche nur, etwas mehr über dich herauszufinden. Auf den ersten Blick wird man nicht schlau aus dir.“
Mein Herz raste und ich war enorm aufgeregt, trotzdem bemühte ich mich, so ruhig wie möglich zu klingen: „Da gibt es nicht allzu viel zu wissen. Ich bin ein Tollpatsch und hatte heute einen schlechten Tag, den du übrigens gerade ein bisschen besser gemacht hast. Danke dafür.“
„Ärger mit den Professoren?“ Er schien sich tatsächlich für mich zu interessieren. Sein Blick haftete stets auf meinem Gesicht und es kam mir beinahe so vor, als würde er jede Reaktion von mir mit Spannung erwarten.
Ich schüttelte den Kopf: „Nein, eher mit den Studienkollegen. Sagen wir mal so: du beweist mir gerade, dass nicht alle Kerle hier völlige Idioten sind.“
Erneut folgte ein unverfälschtes Lachen: „Da bin ich aber froh.“ Er streckte mir seine Hand entgegen. „Ich bin übrigens Troy.“
„Amelia, freut mich sehr.“ Meine Wangen röteten sich. Noch nie hatte mir jemand so gut gefallen wie Troy. Aus diesem Grund löste sein kräftiger Händedruck Gänsehaut bei mir aus.
„Nun, Amelia.“ Er schaute auf seine Uhr. „Hast du noch etwas vor oder darf ich dich auf einen Kaffee entführen?“
Am liebsten hätte ich losgeschrien vor Freude, ich beließ es aber bei einem weniger lauten: „Sehr gerne.“ Dann machte ich mich gemeinsam mit meinem spontanen Begleiter auf den Weg zum Uni-Café.
„Wo warst du denn so lange?“ Zuerst verstand ich Roses Aufregung nicht. Ein Blick auf die Uhr offenbarte mir jedoch, dass aus dem kurzen Kaffee mit Troy eine stundenlange Unterhaltung geworden war. Die Zeit mit ihm war wie im Fluge vergangen.
Um die Sache etwas spannender zu machen, verriet ich Rose nicht sofort, was passiert war: „Nun ja, ich wurde aufgehalten.“
„Und wieso grinst du so?“ Sie starrte mich an und plötzlich begriff sie. „Du hast jemanden kennengelernt!“
Daraufhin musste ich lachen: „Naja, kennengelernt würde ich nicht sagen. Ich kannte ihn schon, flüchtig zumindest.“
Nach kurzem Nachdenken kam Rose von selbst darauf: „Der Sportler? Der, den du am ersten Tag umgehauen hast, also im wahrsten Sinne des Wortes?“ Ich nickte. „Genial! Wie ist er so?“
So folgte ein langes Gespräch. Kern der ganzen Geschichte war folgendes: Troy war Footballspieler im offiziellen Team des Colleges, außerdem war er neben gutaussehend auch noch nett, zuvorkommend, gebildet und ein wahrer Charmeur. Und das Beste an der ganzen Sache: er hatte mich doch tatsächlich zum Sommerfest, das an diesem Wochenende auf unserem Uni-Campus stattfinden sollte, eingeladen.
Aus einem Tag, der furchtbar begann, wurde also ein absolutes Highlight und ich konnte mit einem Lächeln im Gesicht schlafen gehen. Ich wusste, in den folgenden Tagen würde es mir bestimmt nicht an Motivation mangeln.
Ich hatte recht gehabt mit meiner Vermutung und die restliche Woche war wirklich gut gelaufen. Trotz Stress hatte ich es geschafft, all die Vorlesungen zu besuchen, für die ich mich eingetragen hatte. Rose und ich waren immer vor Mitternacht ins Bett gegangen, damit wir an den darauffolgenden Tagen fit waren. Nach dieser ersten Woche hatte ich mich allmählich an die neue Umgebung gewöhnt. Auch die Leute erschienen mir nicht mehr so fremd, da ich mit einigen ins Gespräch gekommen war.
Mit Troy hatte ich mich immer wieder getroffen und die wenigen freien Stunden, die mir am Ende des Tages übriggeblieben waren, verbracht. Er erzählte nicht viel von sich und seiner Herkunft, zeigte jedoch enormes Interesse an mir und meiner Vergangenheit. Irgendwie gefiel es mir, so im Mittelpunkt zu stehen. Vor allem, weil mir auch Troy gefiel.
Ein Rätsel gab es jedoch immer noch und das war Alexander. Dieser schlecht gelaunte Zeitgenosse war in fast allen Kursen, in denen auch ich mich befand. Anfangs ärgerte mich das, aber dann beschloss ich, es mit Humor zu nehmen. Hin und wieder hatte ich mich sogar absichtlich zu ihm gesetzt, was ihn sehr zu nerven schien. Dies bereitete mir wiederum eine gewisse Schadenfreude.
Tja, und dann war es soweit. Samstagabend, der Tag an dem das Sommerfest stattfand. Den ganzen Tag machte sich eine Mischung aus Vorfreude und Nervosität in mir breit. Als ich dann tatsächlich im Bad stand und mich fertigmachte, blieb nur noch letzteres.
Wie aufs Stichwort kam Rose herein und stellte mir die Frage, auf die sie die Antwort eigentlich schon wusste: „Und? Nervös?“
Mit viel Selbstironie folgte meine Reaktion: „Ach was, kaum.“
Rose grinste und machte mir Mut: „Mach dir keine Sorgen, es wird schon alles glattgehen. Immerhin trefft ihr euch jetzt schon fast eine ganze Woche jeden Tag und es scheint ihm nicht langweilig zu werden.“
„Hoffentlich hast du recht.“ Diese halbherzige Aussage meinerseits spiegelte wider, dass es mir gar nicht so sehr um den heutigen Abend ging, sondern um das, was zuvor gewesen war. Troy hatte mich bisher immer bis zur Zimmertür begleitet und sich dann freundlich verabschiedet.
Am ersten Abend gab er mir die Hand, am zweiten küsste er sie, am dritten Abend umarmte er mich und am vierten gab er mir einen Kuss auf die Wange. Meine Nervosität war also nur auf eine Sache zurückzuführen, die ich heute unbedingt erleben wollte: endlich wieder mal geküsst zu werden.
„Amelia?“ Rose wedelte mit ihrer Hand vor meinem Gesicht herum. „Bist du noch da drin?“
Ich fasste mich wieder: „Tut mir leid, ich war wohl etwas in Gedanken.“ Rose zuckte mit den Schultern, drehte sich um und zog sich das Shirt aus. Es störte mich nicht, sie in Unterwäsche zu sehen, gehörte meiner Meinung nach irgendwie zum Mitbewohner-Dasein dazu. Und wie die paar Male davor fiel mir Roses Tattoo auf.
Da ich ohnehin Ablenkung brauchte, beschloss ich, diesmal nachzufragen: „Darf ich dich etwas fragen?“ Sie drehte sich zu mir. „Hat das Tattoo auf deinem Rücken eigentlich irgendeine Bedeutung? Ich frage mich das schon die ganze Zeit.“
Sie betrachtete sich selbst im Spiegel: „Ach das, betrachte es einfach als kleinen Unfall aus meiner Kindheit. Spielt für mich keine größere Rolle.“
„Jugend.“ Ihr fragender Blick traf mich. „Du meintest bestimmt Jugend, oder? Ich meine, welches Kind lässt sich schon tätowieren?“ Ich musste kurz lachen. Als Rose jedoch nicht mitmachte, verstummte ich.
Plötzlich war sie so ernst, wie sonst nie: „Nein, so war das eigentlich nicht gemeint.“ Dann erschrak sie regelrecht über ihre Worte und begann augenblicklich zu lächeln. „Aber mach dir keinen Kopf, Amelia. Irgendwann erzähle ich es dir vielleicht.“
Ich hätte noch weiter nachgefragt, aber jemand klopfte an die Tür. Ein bekanntes Gesicht stand vor mir und ich freute mich: „Robin! Was machst du denn hier?“
Mit seiner gewohnt leisen Stimme antwortete er mir: „Naja, wir waren beide in der ersten Woche hier ziemlich beschäftigt und hatten kaum Zeit, uns zu treffen. Da dachte ich mir, dass es doch eine gute Idee wäre, wenn wir heute gemeinsam aufs Sommerfest gehen würden. Was hältst du davon?“
„Großartige Idee!“ Aus dem Badezimmer hallte Roses Stimme hervor. „Lasst uns alle gemeinsam hingehen! Während du auf deinem heißen Date bist, vertreibe ich mir einfach die Zeit mit Robin!“
Da Leute am Gang waren und mir das Ganze ziemlich peinlich war, bat ich Robin schnell herein. Ich schloss die Tür und ging einen Schritt zurück, woraufhin ich gegen Robin prallte, der wie angewurzelt dastand.
„Was ist denn nun schon wieder?“ Allmählich war ich genervt. Schließlich war ich ohnehin schon spät dran. Es bedurfte aber keiner Antwort, denn ich konnte genau erkennen, warum Robin erstarrt war. Es war ein unbezahlbarer Anblick.
Während Rose in Unterwäsche aus dem Bad hüpfte und ihr scheinbar völlig egal war, dass mein bester Freund den Raum betreten hatte, lief Robin so rot an, wie noch nie zuvor und starrte ins Leere. Dann wandte er sich blitzartig ab und entschuldigte sich mehrmals. Rose hingegen schaute mich verdutzt an und wusste wohl gar nicht, was es da zu entschuldigen gab. Irgendwie tat mir Robin leid, aber ich konnte mir mein Lachen trotzdem nicht verkneifen.
Als ich langsam wieder Luft bekam, wandte ich mich an Rose: „Zieh dir bitte was an, Rose! Der Junge kriegt noch einen Herzinfarkt!“ Ich lachte wieder weiter. Robin strafte mich mit bösen Blicken.
Da ich noch immer nicht aufhören konnte, bemerkte er mit rollenden Augen: „Musst du nicht zu einer Verabredung, oder sowas?“ Augenblicklich verstummte ich und blickte auf die Uhr.
„Oh Mann, ich komme zu spät!“ Im Eiltempo raste ich durchs Zimmer, griff nach meiner Tasche, umarmte Robin im Vorbeilaufen und stürzte aus dem Zimmer. Kurz darauf bremste ich ab und steckte den Kopf nochmal durch den Türspalt. „Wir sehen uns später, ich melde mich!“ Und weg war ich.
„Es tut mir wirklich leid, dass ich zu spät bin.“ Ich setzte mein unschuldigstes Lächeln auf, als ich auf Troy zuging, der an unserem vereinbarten Treffpunkt am Brunnen wartete.
Wie immer war er verständnisvoll: „Hör auf, das ständig zu sagen. Keine Entschuldigungen mehr, verstanden? Bei unserem nächsten Treffen will ich mal eine anständige Begrüßung, alles klar?“ Ich nickte und ein innerliches Freudenfeuer loderte in mir auf.
Dann trat er einen Schritt näher an mich heran und drückte mich fest an sich. Während mir seine Hände sanft über den Rücken strichen, vergrub ich mich in den starken Armen. Es war ein schöner Moment.
Als er mich losließ, lächelte er auf mich herab: „Siehst du? Eine Umarmung ist eine viel bessere Begrüßung als eine Entschuldigung, findest du nicht auch?“ Ich nickte verlegen. Am liebsten hätte ich ihm in diesem Moment erklärt, dass ein Kuss noch viel schöner gewesen wäre, aber alles mit der Zeit. Ich war nicht mehr nervös, das war zumindest schon mal ein Anfang.
Troy reichte mir seinen Arm und wir beide spazierten los in Richtung Sommerfest. Das konnte nur ein guter Abend werden, dachte ich.
Die Stunden verstrichen viel zu schnell und ehe ich mich versah, war es stockdunkel geworden. Das Fest war in vollem Gange und ich hatte riesigen Spaß. Als Troy und ich von einer der Schießbuden zurück an die Bar kamen und er für uns etwas zu trinken bestellte, musste ich erst einmal durchatmen. Ich konnte mein Glück für einen kurzen Augenblick kaum fassen.
Dann stand Troy auf: „Stört es dich, wenn ich mich für ein paar Minuten entschuldige? Ich muss schnell mit den Jungs vom Football-Team etwas trinken. Sonst kann ich mir die nächsten Wochen wieder anhören, was für ein Spießer ich bin.“ Insgeheim war ich froh darüber, dass ich für kurze Zeit meine Ruhe hatte, um nachzudenken.
Das ließ ich mir jedoch nicht anmerken: „Kein Problem, aber beeil dich, ja?“ Ein kurzes Nicken und schon war er weg.
Endlich hatte ich Zeit, um in mich zu gehen und mir auszumalen, wie der restliche Abend verlaufen könnte, beziehungsweise was ich tun würde. Fakt war, dass Troy körperliche Nähe suchte und zwar nicht zu knapp. Er fasste mich an, wenn es nur ging, was mir ja eigentlich gefiel, aber mittlerweile glaubte ich, dass das Küssen bei weitem nicht das Einzige war, das er heute mit mir vorhatte. Bei dem Gedanken an den weiteren Verlauf des Abends bekam ich Gänsehaut.
Ehe ich diesen aber weiterführen konnte, sah ich jemanden allein an der Bar sitzen. Kurz dachte ich darüber nach, ihn einfach in Ruhe zu lassen, aber irgendetwas hielt mich davon ab.
Alex faszinierte mich und deshalb rief ich ihn zu mir: „Hey, Alex!“ Er schaute zu mir und dann gleich wieder auf sein halbvolles Glas. „Ach komm schon, du Spaßbremse! Es ist das Sommerfest. Können wir nicht einmal das Kriegsbeil begraben?“
Zu meiner großen Verwunderung zeigten meine Worte Wirkung. Er stand auf und kam in meine Richtung. Dann nahm er schweigend neben mir Platz und kippte den Rest seines Biers runter.
Erst dann war er bereit, mit mir zu sprechen: „Du bist wohl auch nur am Feiern, hm? Eine Party jagt die nächste. Sei zumindest so gut und pass diesmal besser auf dein Getränk auf.“
Ich zuckte mit den Schultern: „Das kommt ganz darauf an, wie du dich verhältst, mein lieber Alex. Momentan sieht es eher schlecht für dich aus.“
Eigentlich hatte ich wenigstens mit einem kurzen Lacher gerechnet oder einer einigermaßen freundlichen Reaktion, da täuschte ich mich aber gewaltig: „Sind wir jetzt Freunde, oder was? Wie um alles in der Welt kommst du darauf, mich Alex zu nennen? Mein Name ist Alexander, verstanden? Nicht mehr und nicht weniger.“
Ich seufzte und bereute meine Entscheidung, ihn angesprochen zu haben. Aus diesem Grund hielt ich Ausschau nach einem etwas freundlicheren Zeitgenossen. Troy war schon ein paar Minuten weg gewesen, weshalb er wohl jeden Augenblick hätte zurück sein können.
„Und wonach hältst du so unnachgiebig Ausschau? Nach einem besseren Gesprächspartner? Oder hast du etwa ein Date?“ Die Teilnahmslosigkeit in seinen Worten war beinahe schon greifbar.
Also tat ich ebenso desinteressiert: „Ich würde sagen beides.“ Plötzlich hatte ich seine volle Aufmerksamkeit. „Er ist auf der einen Seite mein Date und auf der anderen mit Sicherheit ein besserer Gesprächspartner als du.“
Er erzwang ein Lächeln: „Ich bin beeindruckt. Noch keine Woche auf dem College und schon lachst du dir einen Kerl an. Sag schon, wer ist es?“
Provokant fragte ich nach: „Wieso auf einmal so interessiert? Eifersüchtig?“
„Wenn du wüsstest!“ Er lachte schon beinahe. „Nein, ernsthaft. Wer ist es? Komm schon, mir kannst du es sagen. Es gibt wohl keinen, den das weniger kratzt.“
So gesehen hatte er recht, also gab ich nach: „Sein Name ist Troy. Er ist sehr nett. Außerdem…“
Alexander unterbrach mich: „Troy? Du meinst aber nicht etwa den Kerl aus dem Football-Team, oder?“ Stolz nickte ich. „Bist du denn wahnsinnig?“ Das pure Entsetzen stand ihm ins Gesicht geschrieben.
Verwirrt fragte ich nach: „Was stimmt denn deiner Meinung nach nicht mit ihm?“
Er versuchte offensichtlich, sich zu beruhigen, aber ich merkte, dass Alexander noch immer sehr aufgewühlt war: „Ach, du weißt schon. Diese Sportler aus den höheren Semestern sind doch meistens nur auf das eine aus. Wenn sie das dann haben, werfen sie dich weg. Willst du dir das wirklich antun?“ Für einen Moment schwieg ich, woraufhin Alex noch nachlegte. „Komm schon, du bist zu schlau für so einen Kerl. Schreib ihn schnellstmöglich ab, Amelia. Glaub mir.“
Ich war zwar verwundert über seine plötzliche Fürsorge und darüber, dass er meinen Namen kannte, aber ich war auch sauer: „Sag mal, was fällt dir eigentlich ein? Du behandelst mich die ganze Woche wie Abschaum, obwohl ich dir nichts getan habe und plötzlich siehst du dich in der Position, mir Ratschläge zu erteilen?“
Sein sonst so großes Ego war schlagartig wie weggeblasen: „Hör mir doch zu…“
„Nein, du hörst mir zu!“ Ich ließ ihn nicht mehr zu Wort kommen. „Wenn du einen auf guten Freund und Ratgeber machen willst, dann verhalte dich auch dementsprechend. Ich habe dir oft genug die Möglichkeit gegeben, dich nett mit mir zu unterhalten, aber du hast mich immer abgewiesen. Wieso auf einmal der Sinneswandel?“
Er geriet in Erklärungsnot: „Das ist nicht so einfach, Amelia. Ich weiß, dass ich definitiv nicht in der Lage bin, deine Entscheidungen zu beeinflussen, aber dennoch musst du meine Warnung ernst nehmen. Halt dich von Troy fern, wenn dir dein Leben lieb ist.“
Eigentlich wollte ich mit meiner Schimpftirade soeben fortfahren, da mir Alexander offensichtlich gedroht hatte, aber ich wurde unterbrochen: „Ist hier alles in Ordnung?“
Endlich. Troy war wieder da und stand mit fragendem Blick vor mir. Da Alex mir gegenübersaß, hatte er meinen Begleiter nicht kommen sehen. Jetzt, da er direkt hinter ihm stand, kniff er die Augen zusammen und biss sich auf die Unterlippe.
Um eine weitere Auseinandersetzung zu vermeiden, log ich: „Ja, alles klar. Wir haben uns nur ein wenig unterhalten. Alexander wollte gerade gehen.“
Er blieb aber noch sitzen: „Amelia, ich bitte dich.“
Plötzlich packte Troy ihn an der rechten Schulter und kam ihm gefährlich nahe: „Du hast sie doch eben gehört, oder etwa nicht? Sie möchte, dass du verschwindest.“
Die Situation war angespannt. Zwei junge Männer kamen hinzu: „Ich würde sagen, dass du mit uns kommst. Wir wollen doch nicht, dass die Angelegenheit hässlich wird.“
Ich hatte damit gerechnet, dass Alexander sich wehren würde, aber das tat er nicht. Es kam mir so vor, als würde er erkennen, dass er wohl keine andere Wahl hatte. Der Blick, den er mir zuwarf, bevor er mit den beiden Männern ging, verängstigte mich.
Kaum war er weg, setzte sich Troy zu mir: „Alles okay bei dir?“ Ich nickte halbherzig. „Was für ein merkwürdiger Kerl. Der war wohl eifersüchtig. Wundert mich nicht, bei einem Mädchen wie dir. In Zukunft lasse ich dich wohl besser nicht mehr aus den Augen.“ Ich wusste nicht recht, wie ich reagieren sollte, denn ich musste daran denken, was nun wohl mit Alexander passieren würde.
Troy hatte mein besorgtes Gesicht bemerkt: „Keine Angst, die beiden sind harmlos. Sie können auf den ersten Blick einschüchternd wirken, aber sie tun keiner Fliege was zuleide.“ Dann wechselte er das Thema. „Wollen wir ein Stück gehen?“ Er stand auf und reichte mir die Hand. Ich schüttelte meine negativen Gedanken ab und folgte Troy. Langsam entfernten wir uns von dem Fest. Er führte mich zu einem Gelände etwas abseits vom Campus. Ich wusste zwar, dass unser College etwas Besonderes war, weil es auf einem kleinen Berg am Rande der umliegenden Stadt lag, aber mir war nicht bewusst, was für eine traumhafte Aussicht man genießen konnte, wenn man nur wenige Minuten zu Fuß ging.
Stolz präsentierte mir Troy seine persönliche Überraschung für mich: „Darf ich vorstellen, die wunderbarste Aussicht nahe dem Uni-Gelände. Staunen erwünscht.“ Das tat ich auch. Mit offenem Mund stand ich da und betrachtete das unglaubliche Lichtermeer, das vor meinen Füßen lag.
Wir waren nur wenige Meter von einer steilen Klippe entfernt. Über uns leuchteten der Mond und die Sterne in dieser so klaren Nacht. Ich fühlte mich wie in einen Traum versetzt.
Als ich die Sprache wiederfand, wusste ich nur eines, das ich in diesem Moment sagen konnte: „Danke. Vielen Dank, dass du mir diesen Ort gezeigt hast. So etwas Schönes habe ich lange nicht mehr gesehen.“
„Ich auch nicht.“ Es war nicht zu übersehen, dass seine Augen bei dieser Bemerkung nur auf mir hafteten. Troy näherte sich. Ein Teil von mir wollte ihn unbedingt küssen, ein anderer jedoch wehrte sich. Dies war vermutlich auch der Grund, warum ich im letzten Augenblick zurückwich.
Troys Reaktion war abzusehen: „Stimmt etwas nicht?“ Tausende Gedanken spukten durch meinen Kopf, allem voran die Worte von Alex. Er hatte recht. Irgendetwas war merkwürdig. Ich konnte es mir nicht erklären, aber ein Gefühl der Unsicherheit stieg in mir hoch.
Da ich noch immer nichts sagte, fragte Troy erneut: „Amelia?“
Gerade wollte ich meine Bedenken ignorieren und da weitermachen, wo wir aufgehört hatten, als ich ein seltsames Rascheln im umliegenden Gebüsch hörte: „Hast du das eben auch gehört? Da war doch irgendetwas.“
Ich deutete auf das Gestrüpp, aber Troy sah nicht einmal hin: „Du bist offensichtlich nervös. Tut mir leid, dass ich dich so überfallen habe. Ich möchte dich zu nichts zwingen.“
Mir wurde bewusst, was gerade passiert war. Ich hatte mich doch tatsächlich von Alexander so sehr beeinflussen lassen, dass ich die Gelegenheit, das zu tun, was ich schon seit der ersten Begegnung mit Troy tun wollte, verstreichen ließ.
Ärger stieg in mir hoch und ich versuchte, die Situation noch irgendwie zu retten: „Nein, du zwingst mich doch nicht. Ich bin nur etwas verunsichert. Ist schon eine Weile her, dass ich jemandem so nahegekommen bin.“
Troy lächelte: „Es gibt keinen Grund dazu, glaub mir.“ Er umfasste meine Hüfte fest mit beiden Händen und zog mich zu sich. Erneut war er mir ganz nahe. Ich konnte bereits seinen Atem auf den Lippen spüren. Doch dann hörte ich wieder dieses Rascheln und wendete mich ab.
Augenblicklich ließ mich Troy los und fuhr wütend zurück: „Was ist denn nun schon wieder? Das kann doch wohl nicht so schwer sein!“
Ich war schockiert. Mit einem Mal wurde aus dem netten, verständnisvollen Mann ein wütendes Nervenbündel. Mich hatte noch nie jemand angeschrien, weil ich ihn nicht küssen wollte. Wieder dachte ich an die Worte von Alex und diesmal war ich mir nicht sicher, ob er nicht vielleicht doch recht hatte. Hatte ich die Sache mit Troy überstürzt?
Um die Situation nicht aus dem Ruder laufen zu lassen, versuchte ich, bei den folgenden Sätzen so ruhig wie möglich zu klingen: „Vielleicht sollten wir besser zurückgehen. Ich denke, das war genug Aufregung für einen Tag.“
Troy lachte: „Du bist verdammt naiv, wenn du glaubst, dass ich dich jetzt noch gehen lasse!“
Ich traute meinen Ohren nicht. Panik machte sich in mir breit. Ich wusste nicht, was er damit meinte, aber eines war sicher: Alexander hatte nicht gelogen, Troy war gefährlich. Langsam und vorsichtig entfernte ich mich ein paar Schritte von ihm. Ich wollte Abstand gewinnen.
Währenddessen redete ich mit Troy: „Was auch immer du vorhast, ich bitte dich, tu es nicht. Wir können über alles reden.“
Und wieder folgte ein Lachen seinerseits: „Du glaubst wohl noch immer, dass es mir um dich und den verdammten Kuss geht, nicht wahr?“ Nun verstand ich gar nichts mehr. Er war wie ausgewechselt. „Zugegeben, ich hatte vor, noch etwas Spaß mit dir zu haben, aber das ist nun hinfällig.“
Allmählich wurde ich sauer: „Was zum Teufel redest du da bloß? Ich habe keine Ahnung, was du meinst!“
Er näherte sich: „Irrelevant. Du wirst nicht lange genug leben, dass sich die Erklärung lohnen würde.“ Meine Rückwärtsschritte wurden schneller. Ich hatte Angst.
Dann wurde es mir klar: „Darum hat Alexander so auf dich reagiert. Du bist ein kranker Irrer!“ Ja, es musste stimmen. Alex hatte mir wenige Minuten zuvor nicht gedroht, er hatte mich gewarnt.
„Ein Irrer?“ Sein Grinsen wurde immer größer. „Wie wäre es stattdessen mit Monster?“ Plötzlich geschah etwas, das ich nicht glauben konnte. Troy verwandelte sich vor meinen Augen in irgendein Ding, ein Wesen, das ich noch nie zuvor gesehen hatte.
Seine Mundwinkel rissen ein und es entstand ein riesiges Maul. Die Zähne darin spitzten sich zu und wurden immer größer. Das Innere seiner Pupillen legte sich über das gesamte Auge, wie ein pechschwarzer Ölfilm. Hinter dem leblosen Blick steckte nichts Menschliches mehr.
Je weiter die Verwandlung fortschritt, desto mehr Haare fielen ihm aus. Die Ohren wurden spitz und doppelt so lang. Ein düsteres Grau verfärbte den ganzen Körper, die Haut wirkte wie verfault. Gleichzeitig zeichneten sich schwarze Adern von Kopf bis Fuß ab. Mit jeder Sekunde sah das Wesen grässlicher aus, dennoch konnte ich meinen Blick nicht abwenden.
Ich erschrak, als im Bruchteil einer Sekunde scharfe Klauen aus seinen Fingern schossen, die groß genug waren, um sie mit einem Fleischermesser zu verwechseln. Ein lautes Knacken hallte durch die Nacht, als sich seine Wirbelsäule nach vorne krümmte und die Arme immer länger wurden, bis sie fast zum Boden ragten.
Die Verwandlung war abgeschlossen und vor mir stand das furchtbarste Ungetüm, das diese Welt je gesehen hatte. Nicht in meinen kühnsten Träumen hätte ich mir eine solche Grässlichkeit ausmalen können. Das steckte hinter der freundlichen Fassade von Troy. Das war sein wahres Gesicht.
Auch seine Stimme veränderte sich zu einem schaurigen Zischen: „Was ist denn los, Amelia? Willst du mich etwa nicht mehr küssen?“
Endlich löste sich meine Schockstarre auf und ich tat das, was ich eigentlich schon viel früher hätte machen sollen: ich rannte um mein Leben. Kreischend und um Hilfe schreiend lief ich über das Areal. Ich steuerte auf das Gebüsch zu, durch das wir hergekommen waren und hoffte, den Campus lebend zu erreichen.
Kurz vor den ersten Büschen kam ich aber zum Stehen, denn vor meinen Augen bot sich ein schauderhaftes Bild. Aus dem kleinen Wäldchen krochen immer mehr dieser hässlichen Viecher hervor und alle hatten nur ein Ziel: mich.