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"Die Verheerung war über die Welt gekommen und als die erste Bombe fiel, sollten ihr tausende folgen." Leila ist Ermittlerin in einer zerrütteten Welt. Unter dem Decknamen Verto agiert sie im westlichen Herrschaftsgebiet und wird täglich mit den Abgründen der übrig gebliebenen Menschheit konfrontiert. Die Zeiten sind angespannt. Der Konflikt zwischen Ost und West droht Panemea – den letzten Kontinent der Erde – endgültig zu vernichten. Währenddessen setzt die korrupte Regierung Wests alles daran, den Master von Chronos – dem mächtigsten aller Syncs – zu finden, um mit seiner Hilfe den bevorstehenden Krieg für sich zu entscheiden. Als Leila der Ruf des Präsidenten ereilt, wird sie in einen Kampf verwickelt, den sie ihr Leben lang vermieden hat, während sie mit aller Macht versucht, ihr dunkles Geheimnis zu bewahren.
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Seitenzahl: 457
Veröffentlichungsjahr: 2022
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Anna Brocks
Synchronik
Band 1: Die Suche nach Kalea
Anna Brocks
Synchronik
Die Suche nach Kalea
Impressum
Texte: © 2022 Copyright by Anna Brocks
Umschlag:© 2022 Copyright by Anna Brocks
Verantwortlich
für den Inhalt:Anna Brocks
Druck:epubli – ein Service der Neopubli GmbH, Berlin
Einst war diese Welt grün und fruchtbar. Üppige Wälder, starke Flussarme, überwältigende Gipfel. Riesige Kontinente mit verschiedensten Ökosystemen boten dem Leben den idealen Boden, um wachsen und gedeihen zu können. Es war ein Paradies für alle Arten, von denen eine jedoch herausragte.
Die Menschheit hatte es geschafft, sich die Erde innerhalb weniger Jahrtausende zu eigen zu machen. Der Fortschritt stand nie still, doch wenngleich er Unglaubliches ermöglichte, sollte es genau dieser Wissensdurst sein, der die Menschen letztendlich in den Ruin trieb. Und mit ihnen den Rest der Welt.
Die Wälder verdorrten, die Flüsse versiegten, die Gipfel wurden Stein um Stein leergeschürft. Und die Welt, deren Ressourcen einst unerschöpflich schienen, hatte ihre Grenzen erreicht. Die Gier der Menschen jedoch kannte kein Erbarmen, weder der Erde gegenüber noch sich selbst. Ein Krieg brach aus. Ein Krieg, der alles verändern sollte. Ein Krieg um die verbleibenden Ressourcen der Erde. Ein Krieg, der keine Sieger hervorbrachte und ironischerweise das zerstörte, was sie alle doch so begehrten.
Die Verheerung war über die Welt gekommen und als die erste Bombe fiel, sollten ihr tausende folgen. Nationen verschwanden binnen eines Wimpernschlags. Das Gestein, das Millionen von Jahren das Leben trug, zerbarst unter den Füßen der Menschen. Ganze Kontinente versanken im Ozean.
Die Zerstörung unterschied nicht zwischen Alter oder Geschlecht. Debatten, die über Generationen geführt worden waren, waren mit einem Mal bedeutungslos. Im Feuer machte es keinen Unterschied, welche Farbe die Haut hatte, die darin verbrannte. Das Blut, das vergossen wurde, hatte dieselbe Farbe, die Schreie denselben Klang, der Tod dieselbe Sinnlosigkeit. Alle waren gleich in ihrer Verzweiflung. Die Menschheit hatte versagt.
Auf den tosenden Lärm des Untergangs folgte eine Zeit der Stille, welche Jahrhunderte andauern sollte. Die Erde konnte sich allmählich erholen und den einzigen Kontinent, der übrig blieb, mit neuem Leben füllen. Doch es regte sich etwas in der Dunkelheit. Diejenigen, die Zuflucht vor der Verheerung gefunden hatten, begaben sich wieder ans Tageslicht. Der Feind der Welt war noch nicht besiegt. Die Menschheit durfte weiterexistieren.
Zerrüttete Welt
Trockene Luft, sengende Hitze, Staub in den Lungen. Kurz gesagt: das Ödland. Obwohl ich diese Gegend hasse, ist sie mir immer noch ein willkommener Ort, verglichen mit der Hauptstadt. West. Die große Metropole unserer Zeit, das Zentrum der Überlebenden, Heimat des Fortschritts. In meinen Augen ist sie lediglich der Sitz korrupter, machtgieriger Politiker, die es geschafft haben, die Kontrolle an sich zu reißen, als die Welt brannte.
So marschiere ich also über den toten, vertrockneten Boden mit dem Gedanken daran, dass es mich auch schlimmer hätte erwischen können. Die Aufträge im Ödland mögen zwar meist mit viel Blut verbunden sein, jedoch ist es in nahezu jedem Fall nicht schwer, den Täter zu finden. Das erleichtert die Arbeit, wenngleich es nicht gerade förderlich für meinen Glauben an die Menschheit ist.
Seit drei Monaten wandere ich nun von Dorf zu Dorf, von Auftrag zu Auftrag, von Verbrechen zu Verbrechen. Diebstahl, Veruntreuung, Mord, Vergewaltigung. Das Lösen von Verbrechen ist meine Berufung oder besser gesagt das, was ich am besten kann. Damit verdiene ich mein Geld, um wieder ein paar Monate in der Stadt über die Runden zu kommen. Die Bezahlung hier draußen ist erstaunlich gut. Wo das Geld herkommt, mit dem ich mein Leben finanziere, darf man dabei natürlich nicht hinterfragen. Aber welches Geld ist schon sauber? Das in der Stadt mit Sicherheit nicht. An jeder einzelnen Münze klebt Blut. Und so auch an den Händen aller, die diese unglückselige Welt bewohnen.
Ich werde melancholisch. Mag an der Hitze liegen und daran, dass das nun mein letzter Auftrag sein soll, bevor ich mich allmählich wieder den Gebieten um die Hauptstadt nähere. Das Jahr neigt sich bald dem Ende zu. Bis zum Neujahr bin ich wieder zuhause, falls man es überhaupt so nennen kann.
„Stehenbleiben! Wer bist du und was willst du hier?“ Ich blicke nach oben. Oberhalb des geschlossenen Holztores steht ein Mann mit einem Gewehr in der Hand. Er hat den Lauf direkt auf meinen Kopf gerichtet, den Finger am Abzug. Eine normale Begrüßung hier draußen.
Dann wollen wir mal um Eintritt ersuchen: „Euer Dorfoberhaupt hat nach mir geschickt. Ich bin Ermittlerin.“
„Du? Eine Ermittlerin?“ Schallendes Gelächter bricht über mich herein. Auch keine unübliche Situation für mich. „Du würdest da draußen doch keine zehn Minuten überleben!“
Seufzend und genervt von dieser allzu bekannten Einstellung mir gegenüber kontere ich: „Wenn ich keine Gefahr darstelle, kannst du mich bedenkenlos reinlassen, oder? Also öffne das Tor!“ Ich habe es bereits aufgegeben, allzu lange mit den Wachmännern zu diskutieren. Die ganze Sache endete meist damit, dass das Streitgespräch laut genug wurde, um vom restlichen Dorf gehört zu werden, bis sich letztlich das Oberhaupt blicken ließ und sich höflichst bei mir entschuldigte. Und so sehr ich es auch genießen würde, zuzusehen wie der Wachmann, so wie all seine Vorgänger in den letzten drei Monaten, als Strafe eine Tracht Prügel kassiert, heute bin ich einfach nicht in der Stimmung für sowas.
Er blickt missbilligend auf mich herab: „Aufmüpfig auch noch, hm? Du musst schon ein bisschen freundlicher sein, um von mir ins Dorf gelassen zu werden.“ Dann hat er plötzlich ein Grinsen im Gesicht, bei dem sich mir der Magen umdreht. „Aber wer weiß? Wenn du mir einen kleinen Gefallen tust, könnte sich das ändern. Es kommen nicht oft hübsche, junge Frauen bei uns vorbei, du verstehst?“
Unglaublich. Er hat es doch tatsächlich geschafft, sogar den Schwachkopf vom letzten Mal zu übertreffen. Ich bin beinahe beeindruckt von einer solchen Menge an Idiotie. Ohne auf seine Bemerkung einzugehen, mustere ich ihn. Er ist schmächtig gebaut, hat eine schiefe Haltung, trägt einen Ledermantel, der ihm offensichtlich viel zu schwer ist. Nun gut, das dürfte nicht schwer werden.
Ich atme tief durch, nehme Anlauf und sprinte los. Noch in der Bewegung greife ich an meine Hüfte, ziehe meine beiden Messer heraus und setze zum Sprung an. Ich ramme die Klingen tief in das Holz und ziehe mich mit einem Ruck hoch. So lande ich direkt vor dem Wachmann, der nach hinten stolpert und das Gleichgewicht verliert. Nun bin ich diejenige, die auf ihn herabblickt.
„Wie ist das möglich?“ Er stottert. „Du bist eine von diesen Freaks, ist es nicht so?“
Ich stecke meine Messer zurück ins Holster und lege den Zeigefinger auf die Lippen: „Das bleibt unser kleines Geheimnis.“ Anschließend hole ich ein Schriftstück hervor. „Hier. Das ist das Schreiben eures Anführers, welches mich erreicht hat. Ich bezweifle zwar, dass du lesen kannst, aber sein Siegel solltest du erkennen. Und jetzt lass mich passieren.“
Ohne weitere Worte gehe ich an ihm vorbei. Er blickt mir hinterher, macht aber keine Anstalten, mir zu folgen. Ich denke nicht, dass er jemandem davon erzählen wird. Typen wie er vertragen die Demütigung nicht, von einer Frau dermaßen vorgeführt worden zu sein. Gut für mich. Das erspart mir unnötige Fragen.
Hier kommen definitiv nicht oft Fremde vorbei. Es hat keine fünf Minuten gedauert, nachdem ich im Dorfzentrum nach dem Sitz des Oberhauptes gefragt hatte, und schon versammelten sich nach und nach die Bewohner dieses kleinen Örtchens um mich. Anfangs versuchten sie noch, ihre Blicke dezent zu halten. Nun, da gefühlt das ganze Dorf um mich steht, starren sie mich ohne Scham mit großen Augen an. Ich ignoriere das bestmöglich und warte vor der Dorfhalle auf das Erscheinen meines Auftraggebers.
Als sich die schwere Holztür knarrend öffnet und ein stämmiger Mann mit schwarz-grauen Haaren heraustritt, verbeuge ich mich: „Oberhaupt Sisco? Es freut mich, Ihre Bekanntschaft zu machen. Sie haben nach mir geschickt.“
Auch in seinen Augen ist Erstaunen zu sehen, jedoch fällt seine Reaktion dezenter aus als die seiner Untertanen: „Bitte, bitte, keine Höflichkeiten. Hebe dein Haupt.“ Das tue ich sogleich, woraufhin mich ein fragender Blick trifft. „Du bist also der Ermittler, von dem ich so viel gehört habe? Du bist Verto?“
Ich nicke: „Ein Deckname. Bitte um Entschuldigung, falls er für Verwirrung gesorgt hat, aber es wäre zu gefährlich, unter meinem richtigen Namen zu agieren.“ Das ist nur ein Teil der Wahrheit. Hauptgrund für die Wahl des Namens, der so gar nicht zu meinem Äußeren passt, ist die Tatsache, dass man als Frau in meinem Gewerbe keine Aufträge bekommt. Ich habe es anfangs versucht, doch es war zwecklos. Kaum hatte ich meinen Namen geändert und die ersten Aufträge mit Bravour gemeistert, lief das Geschäft wie von selbst.
„Ich verstehe schon. Nun gut, dein Aussehen tut ja nichts zur Sache. Immerhin habe ich dich aufgrund deiner Fähigkeiten angeheuert und die sollen beeindruckend sein.“ Zu meinem Glück reagiert Oberhaupt Sisco freundlich und schickt mich nicht weg. Er wäre nicht der Erste, der das getan hat.
Schulterzuckend nehme ich das Kompliment nur halbherzig an: „Man tut, was man kann. Es gibt viele fähige Ermittler da draußen.“ Meine Branche ist ein Fass ohne Boden. Wir leben in einer zerrissenen Welt, in der wir es bis heute nicht geschafft haben, Gesetze einzuführen, die für den ganzen Kontinent gelten. Besonders im Ödland kämpft jeder nach seinen eigenen Regeln. Dörfer, die Mord als Verbrechen ansehen, können oft nur wenige Kilometer von denen entfernt liegen, die das Töten anderer als Zeitvertreib erachten.
„Ja, aber du bist Verto. Der große Ermittler, der bisher jeden Fall lösen konnte und das in Rekordzeit. Dein Ruf eilt dir voraus. Es gibt niemanden, der zurzeit begehrter ist.“ Um uns beginnen die Menschen zu tuscheln. Ob seine Schmeicheleien ernst gemeint sind oder er damit nur das Volk beschwichtigen will, ist mir schleierhaft. Immerhin verlange ich ein ordentliches Honorar für meine Dienste und wenn ich mir dieses Kaff so ansehe, haben sie durch meinen Einsatz ihre Dorfkasse mehr als überstrapaziert.
Dieser Gedanke lässt mich das Gespräch auf das Wesentliche zurückführen: „Kommen wir zum Geschäftlichen.“
Es bedarf keiner weiteren Worte, denn schon winkt Sisco einen seiner Untergebenen zu sich und überreicht mir anschließend einen schweren Beutel: „Die erste Hälfte im Voraus, die zweite nach Lösen des Falls. Wie vereinbart.“
Ich greife in meine Tasche und hole meinen Carrier heraus. Neugierige Blicke aller Umliegenden wandern zu der kleinen, ringförmigen Apparatur. Ich öffne den Ring und spanne ihn um das obere Ende des Beutels. Augenblicklich zieht er sich fest und umhüllt die wertvolle Fracht mit einem schimmernden Kraftfeld.
„Benutzer: Verto, Ziel: Heimat, Tarnmodus aktivieren, Startfreigabe erteilt.“ Binnen einer Sekunde verschwindet der Beutel vor mir und man hört ein leises Surren, das in die Ferne gleitet. Die staunenden Blicke der einfachen Dorfbevölkerung amüsieren mich.
Als mein Grinsen etwas zu offensichtlich wird, lächelt Sisco beschämt: „Wir haben kaum Kontakt zu Menschen der Großstadt. Eure Technologie wirkt immer wie ein kleines Wunderwerk auf uns.“
Ich schüttle den Kopf: „Kein Wunderwerk, nur einfache Sync-Technologie. In den Forschungseinrichtungen werden ihre Fähigkeiten studiert und bestmöglich nutzbar gemacht.“
Sein zaghaftes Nicken verrät mir alles, was ich zu dieser Thematik wissen muss. Sie verachten die Syncs. Die Reaktion des Wachmanns zuvor hat mich schon skeptisch gemacht. Die Blicke, die mir nun zugeworfen werden, bestätigen meine Vermutung. Es ist ein Jammer. Immer wieder verschlägt es mich in solch rückständige Dörfer, die die Syncs nach wie vor als Ausgestoßene betrachten. Dass ihre Fähigkeiten außergewöhnlich sind und man noch so vieles von ihnen lernen kann, käme ihnen gar nicht erst in den Sinn. Die Menschheit ist in Bezug auf die Ausgrenzung anderer kein bisschen schlauer geworden.
So deutet das Dorfoberhaupt zur Tür und zeigt mir damit subtil, aber doch merkbar, dieses Gespräch wohl besser nach drinnen zu verlegen. Ich folge ihm und betrete die Dorfhalle, die zwar weder pompös noch in irgendeiner anderen Weise bemerkenswert wirkt, uns aber dennoch die nötige Ruhe verschafft, nachdem die Holztür ins Schloss fällt.
Bald bin ich mit Sisco und einer Handvoll Leuten allein. Das Oberhaupt entschuldigt sich sogleich: „Es tut mir leid. Die Reaktion unserer Leute auf diejenigen, die ihr Syncs nennt, war nicht angemessen.“
„Wie nennt ihr sie denn?“ Ich nehme kein Blatt vor den Mund. Auf Höflichkeiten gegenüber solchen Menschen kann ich durchaus verzichten. „Lasst mich raten: Freaks, Monster, vielleicht Missgeburten?“ Betretenes Schweigen erfüllt die Halle. Keiner sieht mir in die Augen. „Versteht mich nicht falsch, ich hege keinen persönlichen Groll gegen Menschen, die vorschnell urteilen. Man sollte jedoch damit klarkommen, selbst auch in eine Schublade gesteckt zu werden, wenn man so handelt.“
Ein junger Mann tritt hervor. Er wirkt nicht so schmächtig wie die anderen Dorfbewohner. Und auch sein Blick ist anders. Darin ist keine offensichtliche Einfältigkeit zu sehen, wie sie die übrigen an den Tag legen. „Das Thema scheint dich aufzuwühlen. Bist du etwa ein Master? Befehligst du einen Sync?“
Dass er die korrekte Bezeichnung kennt, wundert mich, dennoch zucke ich nicht mit der Wimper, als ich ihm ins Gesicht lüge: „Nein.“ So gesehen war es nur teilweise eine Lüge. Habe ich besondere Fähigkeiten, so wie sie nur ein Master hat? Ja. Befehlige ich einen Sync? Nein.
Seine Augen mustern mich skeptisch, doch bevor er weitere Fragen stellen kann, schreitet Sisco ein: „Du musst unseren jüngsten Zugang in der Führungsriege entschuldigen. Er schießt schnell mal über das Ziel hinaus.“ Ein erboster Blick trifft den jungen Überflieger. „Ich würde sagen, dass wir unser Gespräch morgen fortführen, meinst du nicht auch? Du musst schließlich noch dein Quartier beziehen und dich mit der Gegend vertraut machen, ehe du mit den Ermittlungen beginnst, nicht wahr?“
Um der unangenehmen Situation zu entfliehen, nicke ich lediglich. Etwas Ruhe kann in der Tat nicht schaden, immerhin war ich in den letzten Tagen ständig unter freiem Himmel unterwegs. Der Schlaf im Ödland ist nicht der erholsamste, muss ich gestehen. Also folge ich einer jungen Dame hinauf in das obere Stockwerk des rustikalen Bauwerks.
Endlich Ruhe und Frieden. Wurde auch langsam Zeit. Anfangs waren die Dorfbewohner noch schüchtern, aber allmählich wurden sie anhänglich. Es mag zwar überheblich klingen, aber ich habe keine Zeit dafür, mich in jedem noch so kleinen Örtchen mit meinen Auftraggebern anzufreunden. Umso mehr genieße ich nun die Stille um mich.
Ich muss sagen, ich hatte bereits schlechtere Unterkünfte. Es gibt zwar weder Elektrizität noch fließend Wasser, aber zumindest wirkt alles sauber und gepflegt. Mehr als ein Bett und einen kleinen Tank voll Frischwasser brauche ich prinzipiell nicht. So gesehen habe ich alles.
Oft frage ich mich, warum ich das alles tue. An so manch guten Tagen rede ich mir ein, dass meine Arbeit eine ehrenwerte Sache ist. Immerhin löse ich Verbrechen, ziehe den Abschaum dieser Welt zur Rechenschaft. Dann gibt es wiederum die schlechten Tage, die Tage der Wahrheit, der Ehrlichkeit. An diesen wird mir bewusst, dass meine Tätigkeit nicht ehrenvoller ist als jeder andere Beruf. Ich verdiene mein Geld durch das Leid anderer. Wenngleich ich diesen Beruf aus Überzeugung wählte und mir einredete, etwas bewirken zu können, kann ich nicht leugnen, dass ich mit der Zeit immer mehr abgestumpft bin. Mit jeder Leiche, die ich gesehen habe, ist auch etwas in mir gestorben. Es wurde schlimmer, je jünger die Opfer waren, je grausamer die Verbrechen. Und mit steigendem Ruhm steigerten sich auch Anzahl und Härte der Gräueltaten, mit denen ich konfrontiert wurde. Kann mir jemand verübeln, dass ich die Menschheit hasse? Kann es mir jemand vorwerfen?
Ich seufze und starre an die Decke. Es wird Zeit, mich auf andere Gedanken zu bringen. Glücklicherweise habe ich einen Weg gefunden, um dieser grausamen Realität zu entfliehen, zumindest für eine Weile. So greife ich nach meiner Tasche und widme mich dem neuesten Fund meiner Reise. Es ist ein Bilderbuch, den Illustrationen nach ist es für Kinder gemacht, doch das stört mich nicht. Auf der ersten Seite des Einbands steht das Jahr der Auflage. 2003. Zeit für eine Reise in die Vergangenheit.
Ehe ich das Buch aufklappe, bewundere ich den Einband. Er zeigt vier Jahreszeiten. Wie schön muss die Zeit gewesen sein, als es so etwas noch gab. In meiner Welt bleibt alles stets gleich. Der Himmel über West ist grau, nur selten bricht die Sonne durch. Die Temperatur wird konstant gekühlt, ansonsten würde uns die Hitze wohl in den Wahnsinn treiben. Vielleicht ist das der Grund dafür, dass im Ödland die meisten Städter durchdrehen. Hier ist es stets heiß, bei Tag und auch bei Nacht. Eine gelbliche Wolkendecke liegt über diesen trostlosen Landen. Noch nie sah ich auch nur einen Stern in der Nacht, wenn ich hier war. Panemea, unser schöner Kontinent, welcher der letzte auf Erden ist, ist völlig erstarrt. Fernab im Osten, hinter den unendlichen Weiten des Ödlandes, soll das anders sein. Ich war noch nie dort, vielleicht aus Angst, dass ich dann nicht mehr zurückkehre.
So geht es mir auch, wenn ich mich in meinen Büchern verliere. Es ist nicht gut für mich, zu lange in der Vergangenheit zu verweilen, das ist mir durchaus bewusst. Und dennoch kann ich es nicht lassen. Es ist wie ein innerer Trieb, eine Unruhe, die mich nicht schlafen lässt. Warum bin ich in dieser Zeit geboren und nicht in jener, die ich so vermisse, obwohl ich sie nicht kenne?
Ich schlage das Buch auf und lächle, als ich Bilder vom Schnee sehe. Dann lege ich beide Hände auf die Seiten und schließe die Augen. Mein Bewusstsein entgleitet mir.
Ich tauche in die Vergangenheit ein und finde mich auf einer Couch wieder, eingewickelt in einer warmen Decke. Vor mir flackert ein Kaminfeuer. Meine Hände halten immer noch das Buch. Vor mir steht eine Tasse Kakao. Ich kenne dieses Getränk bereits aus meinen anderen Reisen. So erfüllt es mich mit großer Freude, als der Kleine, in dessen Körper ich mich befinde, einen großen Schluck nimmt. Ich kann nicht beeinflussen, was derjenige tut, in dessen Vergangenheit ich mich begebe und dennoch spüre ich alles um mich, als würde ich es selbst erleben. Man könnte mich durchaus als blinden Passagier bezeichnen. Als sich der Junge anzieht und in den Schnee hinausläuft, macht mein Herz einen Freudensprung. Die Kälte stört mich nicht, im Gegenteil. Ich starre in den Himmel. Das stechende Blau wird von einem magischen Glitzern vieler kleiner Eiskristalle begleitet. Doch dann trübt sich mein Blick, mein Bewusstsein kehrt allmählich in die Realität zurück.
Ich sitze wieder auf dem harten Bett in meinem trostlosen Zimmer. Was mir zuvor noch als ausreichend erschien, widert mich nun regelrecht an. Zurück in der Gegenwart, in der ich eigentlich völlig fehl am Platz bin. Was bleibt, sind nur Erinnerungen an diesen und viele weitere Ausflüge in die Vergangenheit, von denen ich nun bereits so viele gemacht habe. Zum ersten Mal seit Langem habe ich Heimweh. Ich freue mich auf meine kleine Wohnung im obersten Stockwerk, auf meinen schlichten und liebevoll eingerichteten Rückzugsort, auf meine prall gefüllten Bücherregale. Mit dem Verdienst der letzten Monate sollte ich meine Sammlung beträchtlich erweitern können, sofern der Schwarzmarkt das Sortiment aufgestockt hat. Aber ich denke, dass Miles nicht untätig war, immerhin bin ich eine seiner besten Kundinnen und bereit, eine Menge Geld für Informationen über die Vergangenheit auszugeben. Manchmal kommt es mir so vor, als würde ich die Zeit vor der Verheerung besser kennen als die, in der ich geboren wurde.
Mein Blick fällt auf die Unterlagen in meiner Tasche. Zeit für die Arbeit. Je eher ich den Fall löse, desto schneller kann ich zurück nach Hause. So lege ich das Bilderbuch beiseite und schlage die dünne Mappe auf. Ich muss sagen, dass der Fall mich vor gewisse Herausforderungen stellt. Nicht etwa, weil ich ihn nicht lösen könnte, sondern weil es schwierig wird, eine Rechtfertigung zu finden, sobald ich den Täter entlarvt habe. Jeder Auftraggeber will Beweise sehen und da ich meine Fähigkeit, in die Vergangenheit zu blicken, nach wie vor geheim halten will, kann ich diese nicht als Argument anführen. Nun gut, ich mache es wie immer. Zuerst finde ich den Täter mithilfe meiner Gabe, danach suche ich nach einer plausiblen Erklärung und möglichen Beweisen.
Ich blättere um. Großartig. Die einzigen Spuren, die jemals gefunden wurden, führen aus dem Dorf hinaus in das Ödland. Schleifspuren, die bis zu einem giftigen Erdloch führen. Ohne Zweifel befindet sich in der Nähe ein Veneri-Bau. Ist das des Rätsels Lösung? Soll es so einfach sein? Ich denke nicht. Wie sollte sich ein Venerus unbemerkt in das Dorf schleichen können, wo es doch streng bewacht wird? Diese Wesen besitzen kein abstraktes Denkvermögen. Es sind Bestien, die stets die gleichen Verhaltensweisen an den Tag legen. Sie bevorzugen schnelle Angriffe, pumpen dabei eine beträchtliche Menge Gift in den Gegner und erst, wenn dieser verendet ist, nähern sie sich ihm wieder und schleppen die Beute in den Bau. Es sind scheue Wesen, die Siedlungen meiden. Das passt alles nicht zusammen.
Ich blättere auf die nächste Seite. Neun Tote in zwei Monaten, alles junge Frauen und Mädchen. Die Sache stinkt zum Himmel. Jemand im Dorf scheint großen Wert darauf zu legen, alle Spuren zu verwischen, ansonsten gäbe es mehr Hinweise bei so vielen Leichen. Das bringt mich zum nächsten Thema: die Leichen wurden nie gefunden. Dennoch bin ich mir zu einhundert Prozent sicher, dass sie tot sind. Nennen wir es Berufserfahrung.
Wie ich es drehe und wende, mir wird ohnehin nichts anderes übrigbleiben, als mich zu der giftigen Grube zu begeben. Solange ich keinen Gegenstand habe, den ich berühren kann, ist mir eine Reise in die Vergangenheit nicht möglich. Ich brauche die Tatwaffe oder eine Leiche. Vielleicht wird es doch nicht so einfach, den Fall zu lösen. Nun gut, ich werde morgen früh aufbrechen. Veneri sind für gewöhnlich nachtaktiv. Die Wahrscheinlichkeit, einem dieser Biester bei Tag über den Weg zu laufen, ist also eher gering. Und selbst wenn es so wäre, meine Fähigkeiten haben mich bisher noch nie im Stich gelassen.
„Der Gestank wird immer unerträglicher. Wir müssten bald da sein.“ Das sind die ersten Worte meines unerwünschten Begleiters, seitdem wir das Dorf verlassen haben. Dass sie mir ausgerechnet ihn zugewiesen haben, obwohl er gestern alles andere als gut auf mich zu sprechen war, wundert mich ehrlich gesagt. Angesichts der Tatsache, dass er jedoch der Einzige im Dorf ist, der nicht so aussieht, als könnte er kaum eine Waffe halten, macht es aus deren Sicht wohl Sinn. Auch nach mehrmaligem Betonen, dass ich stets allein arbeite und keinen Beschützer benötige, bestanden sie darauf, dass ich Curio mitnehme.
„Tut mir leid wegen gestern. Ich wusste nicht, dass ich dich mit meiner Frage beleidigen würde.“ Diese Reaktion überrascht mich nun. Er weckt langsam mein Interesse. „Ich kenne mich nicht allzu gut mit den Syncs aus. In unserem Dorf ist es verboten, über sie zu sprechen. Meine Frage war nicht als Vorwurf gedacht.“
Ich lächle: „Du warst also neugierig, nicht wahr?“ Er nickt. „Teilst du die Meinung der anderen in Bezug auf die Syncs?“
Er schüttelt den Kopf: „Nicht wirklich. Schwer zu sagen. Wie soll ich mir eine Meinung über etwas bilden, von dem ich nichts weiß?“ Seine Art zu denken, gefällt mir. Besonders, da er in einer Umgebung aufgewachsen ist, die ihn in eine völlig andere Richtung erziehen hätte sollen. Es ist leicht, Dinge kritisch zu hinterfragen, wenn man es lernt und einem gesagt wird, dass es gut sei. Umso schwieriger ist es jedoch, in einer intoleranten, verblendeten Gesellschaft solche Eigenschaften zu entwickeln.
So stelle ich eine naheliegende Frage: „Willst du mehr über sie wissen? Ich komme aus der Stadt, ich kann dir so einiges über die Syncs erzählen.“
Seine Augen funkeln regelrecht: „Wirklich? Das würdest du tun?“ Doch plötzlich liegt ein Anflug von Zweifel in ihnen. „Aber…“
Ich unterbreche ihn: „Keine Sorge. Die anderen werden nichts davon erfahren.“ Er erwidert mein Lächeln und hört nun gespannt zu. „Wo fange ich an? Die Syncs gibt es erst seit dem großen Krieg. Es gibt zahlreiche Theorien zu deren Entstehung. Die geläufigste ist jedoch auch die naheliegendste: Mutation. Vor der Verheerung sahen die Lebewesen der Erde völlig anders aus. Erst die Strahlung und die schlagartige Veränderung der klimatischen Bedingungen auf unserem Planeten führten zu diesen gravierenden Veränderungen. Da die Menschheit lange Zeit in Bunkern darauf wartete, bis sie wieder ohne Schutzanzüge ans Tageslicht treten konnte, blieben wir weitestgehend von den Mutationen verschont. Eine Ausnahme sind die Master.“
Mit staunendem Blick wirft er etwas ein: „Du weißt echt viel über die Vergangenheit. In unserem Dorf ist die Geschichte der Welt vor dem Krieg unbekannt. Wir lernen nur, was nach dem Krieg passierte. Wie es dazu kam, kann sich keiner erklären.“
„Ich interessiere mich für die Vergangenheit. Es ist eine Art Hobby von mir, könnte man sagen.“ Er nickt, woraufhin ich zu meiner Geschichte zurückkehre. „Wie du ja vielleicht wissen dürftest, sind Master ausschließlich Menschen. Keine anderen Lebewesen haben vergleichbare Fähigkeiten, daher ist es naheliegend, dass diese Gabe irgendwo in unserer DNA fest verankert ist. Aber nicht bei allen, das macht es wiederum so kompliziert. Auf die Bevölkerung von West gesehen, findet man unter einhundert Menschen nur einen Master und diese Rechnung bezieht bereits diejenigen mit ein, die wohl nichts von ihrer Fähigkeit wissen dürften, weil deren Auswirkung so verschwindend gering ist.“
Als darauf keine Frage folgt, setze ich fort: „Kommen wir zu den Syncs. Im Gegensatz zu den Mastern sind sie nicht menschlich. Syncs sind übernatürliche Wesen, die unwiderruflich mit ihrem Master verbunden sind und sich erst als solche manifestieren, wenn sie auf eben diesen treffen.“ Ein fragender Blick trifft mich. „Ich weiß, das ist ganz schön kompliziert, wenn man mit dem Thema nicht vertraut ist. Am besten erkläre ich es dir an einem Beispiel. Ein Master wird mit besonderen Fähigkeiten geboren. Manche sind selten, wie Verwandlungskünste oder Beherrschung verschiedener Elemente, andere wiederum kommen ziemlich häufig vor, beispielsweise telepathische Fähigkeiten in unterschiedlich stark ausgeprägter Form. Es gibt auch Master, die selbst keine erkennbaren Gaben besitzen, jedoch sind ihre Syncs in diesem Fall meist umso mächtiger. Die Vielfalt ist hier nahezu grenzenlos.“
Als sein Blick Verwirrung ausstrahlt, versuche ich, die Sache zu vereinfachen: „Nun egal, zurück zu unserem Beispiel. Stell dir vor, du bist ein Master. Du kannst immer schon erkennen, wenn jemand lügt und das nicht, weil du die Menschen gut kennst, sondern weil du es spürst. Es ist wie ein Urinstinkt, wie ein sechster Sinn. Schwer zu beschreiben, wenn man nicht selbst davon betroffen ist. Eines Tages zieht es dich zu einem Gegenstand. Es kann alles Mögliche sein. Vielleicht ist es ein Buch, ein Stift, ein Blatt Papier oder ein einfacher Stein. Keiner nimmt den Gegenstand als besonders wahr, nur du, denn du weißt, dass ihm etwas innewohnt. Sobald du besagtes Objekt berührst, nimmt dein Sync Gestalt an und geht eine unwiderrufliche Verbindung mit dir ein.“
„Moment.“ Curio sieht mich mit großen Augen an. „Das heißt, wenn ich diesen Stift - oder was auch immer - berühre, verwandelt er sich in ein Monster?“
Ich schüttle den Kopf: „Nicht zwangsläufig. Syncs können verschiedene Formen haben. Sie erscheinen als Tiere oder Menschen. Es gibt auch Mischungen aus beidem.“
Und ehe ich weiter darauf eingehen kann, kommt ein naheliegender Einwand: „Eben sagtest du noch, Syncs seien nicht menschlich. Nun verstehe ich gar nichts mehr.“
„Sind sie auch nicht.“ Beim folgenden Gesichtsausdruck Curios muss ich lachen. Man sieht regelrecht, wie sein Verstand auf Hochtouren läuft. „Manche Syncs sehen menschlich aus, sind aber keine Menschen. Sie sind ein Teil ihres Masters. Ohne ihn können sie nicht sein. Die gängigste Theorie ist, dass sie eine Abspaltung des Menschen sind, der sie kontrolliert. Sie sind unvollständig, bis sie auf ihren Master treffen.“
Nun ist er derjenige, der den Kopf schüttelt: „Unglaublich. Aus einem bloßen Gegenstand soll so etwas entstehen?“ Dann überlegt er kurz. „Was ist, wenn der Gegenstand zerstört wird, bevor er zu seinem Master kommt?“ Er stellt berechtigte Fragen. Gut, das zeigt mir, dass er mir folgen kann.
Ich gebe ihm eine möglichst kurze Antwort: „Dann fährt die Seele des Syncs in einen neuen Gegenstand. Ehe ein Sync sich materialisiert hat, kann er nicht zerstört werden. Es sei denn, der Master stirbt. Was uns zum nächsten Punkt bringt, welcher interessant ist: stirbt der Master, stirbt auch der Sync. Stirbt jedoch ein Sync, bleibt der Master am Leben.“
Curio verschränkt die Arme: „Das ist logisch. Das Ganze kann ohne einen Teil überleben, der Teil jedoch nicht ohne das Ganze, korrekt?“
Mit einem stolzen Lächeln bestätige ich dies: „Völlig richtig. Du verstehst schnell.“ Ich bemühe mich, nicht den Faden zu verlieren. „Wir sind noch nicht fertig mit unserem Beispiel. Du hast also den Stift berührt und vor dir steht plötzlich eine Frau mittleren Alters. Du spürst, dass ihr verbunden seid und je mehr du diese Verbindung pflegst, desto stärker werden eure Fähigkeiten. Nun kannst du nicht mehr nur spüren, ob jemand lügt, du kannst die Person auch dazu zwingen, die Wahrheit zu sagen. Dein Sync kann vielleicht Menschen Dinge glauben lassen, ohne dass sie stimmen. In Kombination schafft ihr es, ganze Völker zu manipulieren.“
„Je stärker die Verbindung, desto stärker die Fähigkeit. Aber die Gabe bleibt im Kern die Gleiche, oder? Es ist also ausgeschlossen, dass ein Sync sich unsichtbar machen kann und zeitgleich auch Gedanken manipuliert.“ Wieder muss ich nur nicken. Er hat es durchschaut. Die Synchronisation folgt gewissen Gesetzmäßigkeiten. Auch wenn nichts unmöglich scheint, es gibt dennoch Grenzen. Die Forschungseinrichtungen in West beschäftigen sich unter anderem mit solchen Fragen.
Plötzlich sucht Curio Blickkontakt, seine Miene ist ernst geworden: „Und was ist dann ein Fracto?“ Seine Frage überrascht mich. Es ist kein Begriff, den man leichtfertig ausspricht. Dass er es dennoch tut, zeigt mir, dass er keine Ahnung hat, was er bedeutet. „Als ich noch klein war, kam ein Mann in unser Dorf. Er hatte besondere Fähigkeiten und hätte dementsprechend aus dem Dorf gejagt werden sollen. Aber dann sagte er, er sei kein Master, er sei ein Fracto, woraufhin die anderen meinten, in diesem Fall dürfe er bleiben.“
Seufzend gebe ich ihm auch darauf eine Antwort: „Ein Fracto oder eine Fracta ist ein Master, dessen Sync gestorben ist. Sie sind in sich zerrissen, gebrochene Menschen. Denn glaubt man den Gerüchten, so ist für einen Master nichts erfüllender, als die Verbindung mit einem Sync einzugehen und im Umkehrschluss nichts vernichtender, als diesen zu verlieren.“ Stille folgt auf diese Worte. Curio hat wohl verstanden, was ich meine.
Dass er keine weiteren Fragen stellt, hat aber auch einen anderen Grund. Wir sind da. Vor uns bietet sich eine karge Landschaft, gehüllt in gelblichen Nebel, der bei jedem Atemzug in den Lungen brennt. Ich ziehe mein Halstuch über Mund und Nase. Nun dürfen wir keinen Laut mehr von uns geben. Veneri reagieren empfindlich auf Geräusche. Sie selbst sind beinahe völlig blind, weshalb ihre anderen Sinne umso schärfer sind. Ähnlich wie ihre sichelartigen Klauen, die mit Gift getränkt sind. Curio und ich sind uns wohl beide einig, dass wir keinem dieser Biester über den Weg laufen wollen. Daher bewegen wir uns so leise und bedacht wie möglich über den trockenen Boden.
Die Tageszeit mag auf unserer Seite sein, aber dennoch sind wir in ihrem Revier. Das bedeutet wiederum, dass sich ihr unterirdischer Bau wohl ziemlich genau unter unseren Füßen befindet. Kein schöner Gedanke. Mit einem Venerus könnte ich es schon noch aufnehmen, aber mit einer ganzen Gruppe?
Diesen Gedanken ignorierend gehe ich weiter. Curio ist dicht hinter mir. Bald kommen wir beim Ursprung des giftigen Nebels an. Vor mir erstreckt sich ein gewaltiger Krater, gefüllt mit einer brodelnden, stechend gelben Flüssigkeit. Mein Blick wandert am Rand des Kraters entlang. Dort sind mehrere Gruben zu sehen. Bei einem Bau dieser Größe müssen es mindestens zehn Veneri sein. Wenn wir Glück haben, vielleicht etwas weniger. Sie organisieren sich in eher kleinen Verbänden. Das ist, abgesehen von ihrem scheuen Verhalten, ein weiterer Grund, warum sie nicht zu den gefährlichsten Kreaturen hier draußen zählen.
Zurück zum Auftrag. Ich denke zwar nicht, dass ich hier irgendwelche Hinweise finden werde, da ich jedoch unglücklicherweise einen Begleiter an meiner Seite habe, dem ich verkaufen muss, dass ich ernsthafte Spurensuche betreibe, könnte das Ganze länger dauern. So gehe ich am Rande des Kraters entlang, beuge mich hin und wieder prüfend zum Erdreich hinab, führe eine vermeintliche Untersuchung dessen durch und gehe anschließend weiter. Aus dem Augenwinkel sehe ich, dass auch Curio sich genau umsieht. Die Sache scheint ihm sehr ernst zu sein. Dabei fällt mir auf, dass ich ihn noch gar nicht gefragt habe, in welcher Verbindung er zu den Vermissten steht. Mich überkommt der Anflug eines schlechten Gewissens, als ich daran denke, dass unter den Opfern jemand sein könnte, der ihm wichtig ist. Ich sollte meine Arbeit ernster nehmen und darf es mir auch nach drei Monaten im Ödland nicht erlauben, emotional so abzustumpfen. Traurig, dass ich mich daran erinnern muss.
Plötzlich tippt mich Curio an der Schulter an. Wortlos deutet er in die Ferne. Sein Fund weckt mein Interesse. Das darf doch wohl nicht wahr sein. Habe ich mich tatsächlich geirrt? Nein, das kann gar nicht sein. Wer auch immer es war, er hat sein Leben riskiert, um diesen Hinweis hier zu hinterlassen, da bin ich mir sicher. Er hat also einen guten Grund, seine Verbrechen zu vertuschen. Sein Leben ist ihm lieb. Er hat etwas zu verlieren. Das grenzt die Suche zumindest schon mal ein und liefert mir außerdem ein gutes Argument gegenüber meinen Auftraggebern. Wer tatsächlich hinter all dem steckt, wird sich mir ohnehin gleich zeigen.
So gehe ich auf das Objekt zu, das genau vor dem Eingang einer Veneri-Grube platziert wurde. Es ist ein Schuh. Curio wirft mir einen fragenden Blick zu. Als ich ihm zunicke und damit meine Zustimmung gebe, hebt er ihn auf. Meine Kehle schnürt sich zu, als ich das traurige Bild vor mir sehe. Der Schuh ist kaum größer als Curios Hand. Sie war also jung, zu jung. In seinen Augen sammeln sich Tränen. Wut und Trauer lassen sein Gesicht beben. Ich kenne diesen Ausdruck nur zu gut. So oft musste ich ihn schon mitansehen. Sie stand ihm nahe, das weiß ich nun.
Ich mache einen Schritt zur Seite und versuche, etwas Abstand zu gewinnen. Nicht etwa, weil ich Angst vor Curio habe, aber es gibt dennoch einen guten Grund. Manche Objekte lösen eine ungewollte Reaktion meiner Fähigkeiten aus. Wenn sie mit starken Emotionen aufgeladen sind, können die Gegenstände mich in die Vergangenheit befördern, ohne dass ich es in irgendeiner Weise kontrollieren könnte. Mittlerweile weiß ich mich zu schützen und trage zumeist Handschuhe, auch nun. Meine Erfahrung hat mich jedoch gelehrt, dass es Gegenstände gibt, die diese Barriere mühelos überwinden.
So schüttle ich den Kopf, als Curio mir das Beweismaterial geben will. Ich versuche, ihm deutlich zu machen, dass er den Schuh verwahren soll, bis wir wieder im Dorf sind. Ohne Zweifel versteht er, was ich meine, aber dennoch hält er ihn vor mich. Sein flehender Blick zeigt mir, dass er ihn keine Minute länger bei sich haben will. Mir wird wohl nichts anderes übrigbleiben, ansonsten wirft das Fragen auf. Fragen, die ich nicht beantworten will. Fragen, die meinen Ruf innerhalb kürzester Zeit zerstören könnten.
Also konzentriere ich mich. Womöglich habe ich mich geirrt. Vielleicht ist der Gegenstand gar nicht so besonders, wie ich vermute. Dennoch will ich auf alles gefasst sein, als ich Curio meine Hand entgegenstrecke. Und binnen eines Sekundenbruchteils wird mir bewusst, dass das nicht möglich ist.
Meine Fingerspitzen berühren den Schuh und schon wird mein Geist durch die Zeit geschleudert. In meinem Kopf dreht sich alles. Danach bewege ich mich plötzlich. Ich laufe auf jemanden zu. Ist das Curio? Er sieht jünger aus. Ich werde hochgehoben und in die Luft geworfen, ehe er mich wieder sicher in seinen Armen hält. Freude und Geborgenheit sammeln sich in mir. Das ist Geschwisterliebe in ihrer reinsten Form. Dann deutet Curio hinter sich. Dort steht ein Geschenk. Die Schachtel ist nichts Besonderes und doch freue ich mich unglaublich. Mir ist mit einem Mal bewusst, unter welchen Umständen Curio und seine Schwester aufgewachsen sind. Sie waren bettelarm. Umso mehr erfüllte es die Kleine mit Freude, als sie die Schachtel öffnete und darin ein neues Paar Schuhe fand.
Dann reise ich weiter. Innerhalb eines Wimpernschlags schlägt die Szenerie in das absolute Gegenteil um. Ich habe Todesangst und laufe um mein Leben. Mein Arm schmerzt. Ich verliere Blut. Verwirrung und Panik lassen mein Herz schneller schlagen. Wer verfolgt mich da? Ich konnte sein Gesicht nicht sehen. Instinktiv versuche ich zu schreien, aber es kommt kein Ton raus. Die Angst schnürt mir die Luft ab. Ich stürme auf ein Gebäude zu. Wenn ich die Tür erreiche, bin ich in Sicherheit, doch im letzten Moment packt mich jemand an den Haaren und reißt mich zurück. Der Schmerz treibt mir die Tränen in die Augen. Dann spüre ich einen kalten Gegenstand an meiner Kehle. Ein Schnitt, ein kurzer Schmerz und mein Verfolger lässt mich los. Ich falle in den Staub, hustend, röchelnd. Eine erdrückende Schwärze legt sich über mein Sichtfeld, ehe meine Lungen versagen und ich an meinem eigenen Blut ersticke.
Schweißgebadet und tränenüberströmt komme ich zu mir. Curio hält mich an beiden Armen und starrt mich mit weit aufgerissenen Augen an. Ehe er etwas sagen kann, donnert ein grauenhafter, schriller Schrei über uns hinweg. Er kam aus der Grube. Sie sind aufgewacht. Für einen Moment wirkt die Welt wie erstarrt. Curio und ich blicken uns an und wir beide wissen, dass es nur noch eines zu tun gibt. So laufen wir los.
„Was war mit dir los? Du warst wie versteinert.“ Keuchend stolpert Curio neben mir her. Es fällt ihm schwer, mein Tempo zu halten. „Und dann hast du plötzlich geschrien. Das hat die Biester aufgeweckt.“
„Nicht reden, laufen!“ Zum Glück scheint er zu begreifen, dass das nicht der richtige Zeitpunkt für ein Gespräch ist. Curio ist zu langsam, das wird mir mit jedem Schritt klarer. Ich könnte schneller laufen, aber dann würde er zurückfallen. Das kann ich ihm nicht antun. Um uns dröhnen immer mehr ohrenbetäubende Schreie aus den Gruben. Es sind so viele. Ich kann mindestens sechs Veneri heraushören. Gar nicht gut.
Dann passiert das Unvermeidliche. Curio stolpert und fällt. Binnen weniger Sekunden muss ich entscheiden, was ich tue. Laufe ich weiter? Lasse ich ihn zurück? Er hat meine Fähigkeit gesehen und ist schlau genug, um zu erkennen, dass ich kein gewöhnlicher Mensch bin. Ob er den Mund halten kann? Oder wird er es weitererzählen und mich damit in Gefahr bringen? Wenn das Gerücht die Runde macht, ist nicht nur mein Ruf ruiniert, es erwartet mich ein Leben auf der Flucht. Davon abgesehen muss ich noch mehr von meinen Fähigkeiten preisgeben, um lebend hier rauszukommen. Was soll ich bloß tun?
Ein Blick zurück genügt jedoch, um eine Entscheidung zu treffen. Als ich die Furcht und Verzweiflung in Curios flehendem Gesichtsausdruck erkenne, halten meine Beine wie von selbst in der Bewegung. Ich bleibe stehen und seufze. Es hilft alles nichts. Ich kann ihn nicht zurücklassen. Das bin nicht ich.
So gehe ich auf ihn zu und reiche ihm meine Hand, die er dankend ergreift. Ein Gefühl der Wärme erfüllt mich und ich bin mir sicher, das Richtige getan zu haben. Als ich den Blick jedoch über das Areal schweifen lasse, schwindet diese Sicherheit allmählich. Da sind sie nun. Acht ausgewachsene Veneri kommen auf uns zu. Ihre ledrige Haut ist mit Narben übersäht. Diese Veneri sind alt und kampferfahren. Das macht es nicht unbedingt leichter.
Ich ziehe Curio zu mir: „Zusammenbleiben. Trennen sie uns, sind wir so gut wie tot. Also bleib bei mir.“ Er folgt meinen Anweisungen wortlos. Die Veneri nähern sich nur langsam. Sie sind irritiert vom Tageslicht und ihre scheue Wesensart macht sich in den behutsamen Bewegungen bemerkbar. Dennoch kenne ich den Blick in ihren Augen. Sie werden angreifen, daran führt kein Weg vorbei.
Um sie nicht aufzuschrecken und uns Zeit zu verschaffen, senke ich die Stimme: „Trägst du eine Waffe bei dir? Kannst du kämpfen?“ Zitternd hält er mir ein stumpfes Jagdmesser und einen alten Revolver hin. Ich schüttle entrüstet den Kopf. „Damit kommen wir nicht weit. Hier, nimm das.“ Ich greife in meine Tasche und hole eine Pistole hervor. Es ist eines der neuesten Modelle, die am Schwarzmarkt zu bekommen sind. Zumindest behauptete das der Auftraggeber, der mich nicht bezahlen konnte, als er sie mir gab. „Ziel nicht auf ihre Köpfe. Die Knochenplatten darauf sind hart wie Stein. Ihre Panzerung ist unterhalb des Kiefers am schwächsten. Sobald sie den Kopf heben, musst du schießen. In der Pistole müssten zwanzig Schuss sein. Mehr habe ich nicht.“
Ein zaghaftes Nicken folgt: „Alles klar. Und du? Womit willst du kämpfen?“
Trotz der aussichtslosen Situation habe ich nun ein Lächeln im Gesicht: „Mit denen hier.“ Ich ziehe meine beiden Messer aus dem Holster. Curio mustert die schwarzen Klingen genau. Er hat so etwas wohl noch nie gesehen. Woher auch? Sie sind selten. Nicht mal die reichsten und einflussreichsten Leute der Stadt kommen an das Material, aus denen sie gemacht sind.
Da Curio nicht überzeugt wirkt und ich keinen verunsicherten Mitstreiter gebrauchen kann, erkläre ich es ihm: „Sie bestehen aus Devastium, in der Bevölkerung eher bekannt als Verheerungsstahl.“ Und augenblicklich geht seine Verunsicherung in Erstaunen über.
Für weitere Fragen bleibt jedoch keine Zeit, denn die Veneri gehen in Kampfposition. Ich tue es ihnen gleich und auch Curio ist nun bereit. So stürmt einer von ihnen auf uns zu. Er ist schnell, zu schnell. Das schaffen wir nicht.
„Zur Seite!“ Ich springe zurück und packe Curio am Kragen. Gerade noch rechtzeitig, denn nur um Haaresbreite verfehlen ihn die Sensen unseres Gegners und rammen sich ins Erdreich. Ich reagiere sofort, presche nach vorne und stoße dem Venerus meine beiden Klingen in die Kehle. Mit einer raschen Bewegung ziehe ich mich wieder zurück zu Curio. Das Biest fällt zu Boden. Schwarzes Blut schießt aus der Wunde. Er ist tot.
Die Schreie seiner Artgenossen gehen mir durch Mark und Bein. Sie sind wütend. Das können wir zu unserem Vorteil nutzen. „Planänderung!“ Ich trenne mich von Curio und laufe nach links. So liegt die Aufmerksamkeit der nächsten beiden Angreifer auf mir. Sie lösen sich von der Gruppe und verfolgen mich. Als mich der erste von ihnen erreicht, rolle ich mich zur Seite. Dann stürme ich auf den zweiten zu. Verwirrt von diesem direkten Angriff, weicht er zurück. Das ist meine Chance. Ich springe so hoch ich kann und lasse meine Klingen auf den Kopf meines Gegners herabdonnern. Die Knochenplatte bricht. Sein Schädel ist gespalten.
Plötzlich verliere ich den Halt und stürze in den Staub. Der andere Venerus hat mich gerammt. Seine Bewegungen sind unglaublich schnell. So erkenne ich nur noch aus dem Augenwinkel, wie er sich auf mich stürzt, die Sensen voran. Dann ertönen drei Schüsse. Der Venerus taumelt zurück. Ich reagiere sofort und schleudere meine beiden Messer in seine Richtung. Eines trifft seinen Bauch, das andere direkt ins Herz. Er fällt.
Drei weniger, bleiben noch fünf. Ich blicke zurück zu Curio und will ihm soeben für meine Rettung danken, als ich erstarre. Schlagartig wird mir bewusst, dass ich sein Schicksal durch meine Aktion besiegelt habe. Er steht allein da. Die anderen fünf Veneri stürmen auf ihn zu. Das schafft er nicht. Hilflos blicke ich um mich. Ich bin zu weit von ihm entfernt. Meine Messer stecken noch im Körper des Venerus.
Curio weicht zurück und stolpert. Die Pistole gleitet ihm aus der Hand. Die Biester sind gleich bei ihm. Ich muss etwas tun, sonst zerfetzen sie ihn. Mir bleibt nichts anderes übrig. Ich muss meine Fähigkeit preisgeben. So wende ich all die Macht an, die mir innewohnt. Es sind so viele, das wird schwierig. Jede Bewegung muss perfekt sitzen. Also los.
Ich entfessele meine Gabe. Die Zeit um mich verlangsamt sich. Alles bewegt sich in Zeitlupe. Alles, außer mir selbst. Ich richte mich auf und laufe zu meinen Messern. Die Kopfschmerzen setzen ein. Lange kann ich es nicht mehr halten. Schnell reiße ich sie aus dem leblosen Körper und stürme auf die übrigen Veneri zu. Sie sind kurz davor, sich gesammelt auf Curio zu werfen. Ihre Klauen sind nur noch Zentimeter entfernt. Das wird knapp.
Dann erreiche ich den ersten und durchtrenne seine Kehle. Es folgen drei weitere gezielte Schnitte. Der letzte wird eng. Ich spüre, wie meine Kraft schwindet. Bitte, es muss noch ausreichen!
Ein stechender Schmerz schießt durch meinen Kopf, als meine Klinge den Hals des letzten Venerus erreicht. Ich stürze mit ihm gemeinsam zu Boden. Mir wird schwarz vor Augen. Ich kann nichts sehen. Ein pfeifender Ton betäubt meine Ohren. Dann spüre ich zwei Hände an meinen Schultern. Die Sicht wird langsam klarer, das Pfeifen lässt nach. Ich erkenne Curio, der sich über mich gebeugt hat. Schock und Erleichterung sind ihm gleichermaßen anzusehen.
Ich richte mich auf und fasse mir an den Kopf. Diesmal habe ich meine Kräfte überstrapaziert. Mein Blick geht an Curio vorbei auf die Veneri, die allesamt leblos im Staub liegen. Fünf Schnitte, fünf Tode. Und das in wenigen Augenblicken. Kein Wunder, dass mich Curio nun mit fragendem Blick mustert.
Dann schüttelt er den Kopf: „Wie ist das möglich? Du warst eben noch dort drüben und plötzlich liegst du vor mir. Deine Bewegungen waren so unfassbar schnell. Ich konnte sie gar nicht richtig erkennen.“ Ich schweige. Curios wissender Blick sagt mir bereits genug. „Du bist ein Master, nicht wahr? Deshalb hast du auch zuvor so merkwürdig reagiert, als du den Schuh berührt hast. Das alles waren deine Fähigkeiten, oder?“
Ich nicke, sage aber weiterhin nichts dazu. Zuerst möchte ich seine Reaktion abwarten. Diese wird mir verraten, ob er mein Geheimnis für sich behalten kann. Anderenfalls habe ich eine traurige Pflicht zu erfüllen. Curios Verhalten wird darüber entscheiden, ob ich allein ins Dorf zurückkehre oder mit ihm an meiner Seite.
Die Begeisterung, die er plötzlich an den Tag legt, macht es mir nicht unbedingt leichter: „Wie? Sag, wie hast du das angestellt? Was sind deine Fähigkeiten? Ich würde so gerne mehr darüber erfahren!“ Als ich seine freudige Reaktion nicht erwidere, scheint er zu verstehen. Augenblicklich wird er ernst. „Du musst es mir natürlich nicht sagen. Es geht mich nichts an.“ Dann lächelt er. „Keine Sorge, ich werde es keinem verraten. Wir sprechen nicht mehr darüber, wenn du das nicht möchtest.“
Erleichtert atme ich auf. Es wäre mir nicht leichtgefallen, ihn zum Schweigen zu bringen. Ich mag ihn, das kann ich nicht leugnen. Er ist verdammt naiv und kein besonders guter Kämpfer, aber er hat das Herz am rechten Fleck. Das ist selten hier draußen.
Somit fällt es mir nicht schwer, sein Lächeln zu erwidern: „Vielen Dank, Curio. Du musst mir versprechen, es keinem zu erzählen.“ Er nickt. „Im Gegenzug will ich dir erklären, welche Kräfte mir innewohnen.“ Ich muss lachen, als er abermals nickt, schneller, euphorischer. „Das mit der Geschwindigkeit kennst du ja bereits. Kommen wir zum anderen Teil. Es ist mir möglich, für kurze Zeit in die Vergangenheit zu reisen und die Ereignisse dort zu sehen. Diese Gabe war unter anderem ausschlaggebend für meine Berufswahl.“
„Verstehe. So löst du also all deine Fälle in Rekordzeit. Das erklärt einiges.“ Doch plötzlich schlägt seine Stimmung um. Curio wird ernst, todernst. Er sieht mir tief in die Augen. „Was hast du gesehen, als du den Schuh berührt hast? Ist das Mädchen am Leben?“ Ich wusste, dass diese Frage kommen würde. Und genauso weiß ich, dass Curio mit der Antwort bereits rechnet, denn in seinen Augen ist keinerlei Hoffnung zu sehen.
Schweren Herzens gebe ich ihm Gewissheit: „Deine Schwester ist tot. Es tut mir leid.“
Tiefer Schmerz ist nun in seinem Gesicht zu erkennen: „Wer?“ Er ballt die Hände zu Fäusten. „Wer war es, Verto? Diese Monster? Ist ihr Tod nun gerächt?“
Traurig schüttle ich den Kopf: „Nein, Curio. Ein Monster war es gewiss, doch kein Venerus. Es war ein Mensch.“ Er donnert seine Faust auf den Erdboden. „Ich konnte nicht erkennen, wer es war, aber ich schwöre dir, ich finde es heraus.“ Ich nehme ihn am Arm und zwinge ihn, mich anzusehen. „Damit ich das kann, musst du mir jedoch versprechen, dass du dich in Zaum hältst. Die Dorfbewohner dürfen nicht erfahren, dass ich einen von ihnen verdächtige. Das würde den Täter nur noch vorsichtiger machen.“
„Aber du kannst ihn doch ganz einfach ausfindig machen! Wir verhören jeden einzelnen Bewohner. Du blickst in deren Vergangenheit und…“ Er unterbricht sich selbst. „Oh, verstehe. Das geht nicht. Sonst würdest du deine Fähigkeiten preisgeben.“
Ich umfasse seinen Arm noch fester: „Bei allem, was ich habe, ich schwöre dir, dass ich denjenigen finden werde, der das getan hat. Ehe das erledigt ist, werde ich dein Dorf nicht verlassen. Gib mir nur etwas Zeit. Ich bin gut in dem, was ich tue, glaub mir.“
Er nickt: „Umsonst hättest du wohl keinen so beachtlichen Ruf.“ Dann atmet er tief durch und richtet sich auf. Er reicht mir die Hand. „Ich vertraue dir, Verto.“
Und um das von ihm entgegengebrachte Vertrauen zu erwidern, entgegne ich: „Leila. Mein richtiger Name ist Leila.“
Liebe und Hass
Bei unserer Rückkehr wurden Curio und ich bereits erwartet. Das halbe Dorf hatte sich versammelt, um die ersten Ergebnisse meiner Ermittlungen zu erfahren. Curio ließ es sich nicht nehmen und berichtete von meinem heldenhaften Einsatz. Genauere Details ließ er glücklicherweise aus und auch bei der Anzahl der Veneri log er. Somit wirkte die ganze Sache schon eher glaubwürdig.
Ich erzählte von unserem Fund vor einer der Gruben, wollte aber weitere Ermittlungen nicht ausschließen. Was meinen Verdacht anging, dass es ein Dorfbewohner getan haben musste, schwieg ich. Vorerst meinte ich nur, dass ich das Dorf näher untersuchen wolle, um herauszufinden, wie die Monster unbemerkt eindringen konnten. Curio konnte zum Glück die Fassung bewahren.
Und da das Ausmärzen von ein paar Veneri und die Rettung Curios wohl genug Grund zum Feiern boten, arrangierte man ein Fest in den Abendstunden. So sitze ich nun bei einem Glas selbstgebranntem Whisky oder was auch immer das sein soll. Um mich herrscht reges Treiben. Die Musik und das Tanzen der angesäuselten Dorfbewohner machen die Umgebung beinahe schon gemütlich. Die Dorfhalle ist gut gefüllt.
Es scheint nicht oft Feierlichkeiten zu geben. Zumindest wirkten alle sehr überrascht, als Sisco dem Ganzen zustimmte. Daher wundert es mich nicht, dass das ganze Dorf anwesend ist. Ich beobachte die Leute. Merkwürdigerweise bleiben die Frauen unter sich, während die Männer den Alkohol der Gesellschaft der Damen vorziehen. Ein unübliches Bild zu so später Stunde.
Gerade als ich diesen Gedanken vertiefen möchte, gesellt sich Curio zu mir: „Darf ich mich setzen?“ Er nimmt Platz und senkt die Stimme. „Wie geht es nun weiter, Leila? Das Fest bietet doch den idealen Schauplatz für ein paar unbemerkte Ermittlungen, nicht wahr?“
Ich nehme einen Schluck des starken Getränks und verziehe das Gesicht: „Immer mit der Ruhe. Natürlich habe ich daran auch schon gedacht, aber der Abend ist noch jung. Lass die Leute noch ein klein wenig mehr von diesem Zeug hier trinken und keiner merkt etwas.“
„Du bist wirklich sehr vorsichtig, was deine Identität und deine Fähigkeiten angeht. Hat das einen bestimmten Grund?“ Er fragt in beinahe entschuldigendem Tonfall.
Schulterzuckend antworte ich ihm: „Nun ja, gerade du müsstest doch wissen, dass meinesgleichen nicht immer gut aufgenommen wird.“ Er sieht mich eindringlich an. Diese Antwort scheint ihm wohl nicht zu genügen. Schlaues Bürschchen. Dennoch beharre ich darauf, dass das die Erklärung für mein Verhalten sei und vermittle ihm die tatsächliche Antwort lediglich in vagen Formulierungen. „Die Menschen reagieren stets gleich auf Dinge, die sie nicht verstehen oder die ihren eigenen Horizont überschreiten. Sie fürchten sich. Aus Angst wird Ablehnung, aus Ablehnung wird Hass, aus Hass Verfolgung, aus Verfolgung schließlich Mord. Auch wenn du die blutgetränkte Geschichte der Menschheit kaum kennst, sollte dir das klar sein.“
Aber er will es nicht wahrhaben: „Wieso hat man Angst vor so etwas Großartigem? Ich meine, die Syncs und ihre Master eröffnen uns doch schier unbegrenzte Möglichkeiten.“ Und wieder bestätigt sich meine Vermutung. Er ist gutherzig, aber verdammt naiv.
Also hole ich ihn auf den Boden der Tatsachen zurück: „Sie tun recht daran, Angst zu haben. Master und ihre Syncs können sehr mächtig sein. Gerät diese Macht in die falschen Hände, sind die Folgen fatal. Du hast aber auch nicht unrecht. Die Fähigkeiten der Syncs können dazu genutzt werden, um das Leben aller zu erleichtern. Das sind die Prinzipien der Sync-Labore, einer unabhängigen Gesellschaft, die sich selbst finanziert und genau diesen Traum vorantreibt. Doch was tut die Führungsriege von West? Missbraucht die Syncs für ihren Krieg und die Sicherung ihrer Vormachtstellung, indem sie Waffen aus ihnen macht. Sie haben bereits so oft versucht, die Sync-Labore zu verstaatlichen. Bisher zum Glück ohne Erfolg. Diese Welt ist ein völlig verdrehter Ort, was Gerechtigkeit angeht. An die Macht gelangt derjenige, der alles dafür tut, um sie zu erhalten. Die, die eigentlich regieren sollten, verschwinden von der Bildfläche.“ Curios Blick wird traurig. Er versteht, was ich meine, zumindest versucht er es.
Dann beginnt er zu erzählen: „Der Ruf der Syncs war nicht immer so schlecht hier bei uns im Dorf, weißt du?“ Ich horche auf. Das könnte interessant werden. „Glaubt man den Älteren, dann gab es eine Zeit, in der wir die Master mit offenen Armen empfangen haben. Doch mit ihm änderte sich alles.“
„Mit ihm?“ Ich gebe zu, dass ich nicht verstehe, worauf er hinauswill. Doch dann kommt mir ein Bild in den Sinn, ein Bild des Chaos, der Verwüstung.
Und damit ein Name, den Curio sogleich ausspricht: „Chronos. Seitdem er im Ödland wütet, hat sich der Ruf der Syncs schlagartig verschlechtert. Diese Reaktion rührt wohl auch aus der Angst vor ihm, nicht wahr?“ Ich nicke nur und versinke in Gedanken.
Chronos, der herrenlose Sync. Der erste und einzige von ihnen, der sich ohne Hilfe seines Masters manifestieren konnte. In der Hauptstadt bezeichnet man ihn als Unnatürlichkeit, als Laune der Natur. Dass die Medien seine Existenz so dermaßen belächeln und versuchen, seine Fähigkeiten kleinzureden, kann nur eines bedeuten: er ist verdammt gefährlich. Unabhängige Informanten am Schwarzmarkt bezeichnen ihn als Naturgewalt, als den mächtigsten Sync aller Zeiten. Kaum vorstellbar, was geschehen würde, sollte er auf seinen Master treffen. Viele glauben, dass das die Welt in ihren Grundfesten erschüttern würde.
Und genau das ist der wahre Grund, warum man es sich besser nicht anmerken lassen sollte, dass man ein Master ohne aktiven Sync ist. Gerüchten zufolge werden alle, auf die das zutrifft, in Gewahrsam genommen. Die Regierung Wests streitet das natürlich ab. Es gäbe keine Zeugen für solch wahnwitzige Behauptungen, heißt es. Für mich und alle, die sich sonst noch mit den verbotenen Substanzen des Untergrunds auskennen, kann das wiederum nur eines bedeuten: Auslöschung des Gedächtnisses mittels Exmoria, einer Substanz, von denen die Mitglieder der Führungsriege auch unter Folter und Todesqualen behaupten würden, dass sie nicht zum Einsatz kommt. Hat man jedoch die richtigen Kontakte, weiß man, dass es das wichtigste Mittel zum gewaltlosen Machterhalt in West ist.
Der Verlust meiner Erinnerung ist jedoch nicht das, was ich fürchte. Ich habe Angst vor dem, was bei meiner Gefangennahme rauskommen könnte, Angst vor der Wahrheit. Schon bei den ersten Berichten von Chronos hatte ich ein seltsames Gefühl. Ich weiß von anderen Mastern, wie es sich anfühlen soll, wenn man zum Gegenstand hingezogen wird, dem die Seele ihres Syncs innewohnt. Eine solche Anziehung spüre ich bei Chronos. Und als ich erfuhr, welche Fähigkeiten er tatsächlich hat, wurde meine Vermutung zur Gewissheit.