Amtsmanns Magd - Eugenie Marlitt - E-Book

Amtsmanns Magd E-Book

Eugenie Marlitt

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Beschreibung

Klassiker der Weltliteratur! eBooks, die nie in Vergessenheit geraten sollten. Der Roman erzählt die Geschichte des Gutsbesitzers Markus, in dem die Begegnung mit der vermeintlichen Magd einer verarmten Beamtenfamilie einen Sturm widersprüchlicher und komplizierter Gefühle auslöst. Erst spät im Handlungsverlauf entdeckt er, wer die geheimnisvolle junge Frau tatsächlich ist.

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Amtsmanns Magd

Eugenie Marlitt

Inhaltsverzeichnis
1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
8.
9.
10.
11.
12.
13.
14.
Impressum

Amtsmanns Magd.

Von E. Marlitt.

1.

Die alte Frau Oberforstmeisterin war schon seit länger als einem Jahr verstorben. Ein Jahr ist für die Todten, die bekanntlich schnell vergessen werden, eine lange Zeit, und die alte Dame im Hirschwinkel hatte nach landesläufigem Ausdruck keinerlei „Freundschaft“hinterlassen - es war um ihretwillen weit und breit auch nicht das kleinste Stückchen Trauerband gekauft und angelegt worden. Somit wäre ihr einsames Dasein wohl ohne Weiteres spurlos verlöscht, wie ein ausgeblasenes Licht, wenn sie nicht zeitlebens den starkmarkirenden Stempel einer Sonderlingsnatur getragen hätte - solche Signatur aber verflüchtigt sich nicht so bald für die Ueberlebenden.

Die wenigen Dorfleute, die ihr Weg dann und wann am Gutshause im Hirschwinkel vorüberführte, guckten deshalb auch beharrlich nach dem Erkerfenster im oberen Stock und erwarteten steif und fest, daß der kleine Frauenkopf mit den weißen Ringellöckchen an Stirn und Schläfen und der Stahlbrille auf dem Nasenrücken beim Geräusch ihrer Schritte lebhaft herumfahre und durch die Scheiben sehe. Da hatte ja immer der scharfmusternde Blick, über die Brillengläser hinweg, jedes noch so ängstlich verheimlichte Loch im Aermel, jeden Schmutzflecken an den Schürzen und Weiberröcken, aber auch die stillste Leidensmiene sofort bemerkt, und je nachdem war ihnen ein Wort strengen Tadels, oder die Aufforderung, doch schnell einmal mit dem Armsündergesicht heraufzukommen, zugerufen worden.

Den Arbeitern im Walde aber, den Holzknechten, den Pechsiedern und Kienrußbrennern fehlte sie erst recht. Das „Waldweiblein“ war immer so pünktlich und rüstigen Schrittes dahergekommen. Die schwarze Krepphaube, das um die Schultern geschlagene große Kantentuch war ihnen so bekannt gewesen, wie die behenden Frauenfüße in weißen Strümpfen, über denen sich nach alter Mode die schwarzen Schuhbänder kreuzten, wie der grünatlassene Strickbeutel, der ihr am Arme baumelte, und der kluge, neben der greisen Herrin hertrabende weiße Pudel.

Aus dem grünen Arbeitsbeutel war immer frischgepflücktes Kräuterwerk, nach welchem sich der alte Rücken unermüdlich bückte, in dicken Büscheln gequollen, und dabei hatte dieser vorweltliche, weite Seidensack ein ganzes Arsenal von chirurgischen Instrumenten, Pflasterschachteln und Medicinfläschchen beherbergt, woneben einige grobe Seifenstücken nie fehlten; denn wie andere mildthätige Seelen warme Suppe, so hatte die Frau Oberforstmeisterin eifrig Seife im großen Waschkessel für die Armen gekocht. Der Schrecken der Schmutzigen, ein unerschrockener Arzt und Bader für die Kranken und Verunglückten, war sie aber auch ein wahrer Zank- und Sprühteufel gegenüber dem blühenden thüringer Aberglauben gewesen, und bei dem leisesten Verdacht, daß man zum „Verbüßen und Besprechen“ von Wunden und Gebrechen greife, hatte sie den Leuten den Kopf gewaschen und ihnen den Text gelesen, „nach Noten“, wie sie sagten.

Sie war eines natürlichen Todes gestorben, an einem Erkältungsfieber, das sie sich beim Kräutersuchen auf zugigem Berggipfel geholt. Weil sie jedoch von der ersten Stunde ihres Erkrankens an bis zum letzten Athemzuge stark phantasirt und die Besinnung nicht wieder erlangt hatte, so unterlag es keinem Zweifel, daß ihr die bösen Mächte, die sie zeitlebens bekämpft, schließlich selbst „an den Kragen“ gegangen waren - sie mußte durchaus „Etwas“ im Walde gesehen haben; es war ihr „angethan“ worden.

Letztwillige Verfügungen fanden sich nicht vor, und so fiel ihr vortrefflich bewirthschaftetes, im sogenannten Hirschwinkel gelegenes Gut einem Verwandten in der Mark zu, von welchem keine Menschenseele je etwas gehört hatte, kaum, daß man erfuhr, er heiße Markus und sei Besitzer einer bedeutenden Maschinenfabrik in der Nähe von Berlin.

Er schien kein Gewicht auf den neuen Besitz zu legen; die Verwaltung desselben mochte ihm nicht passen; deshalb war Alles in Bausch und Bogen verpachtet. Der Pächter wohnte im unteren Geschoß, und im oberen Stock des verwaisten Gutshauses erlustirte sich das Mäusevolk, „und die Spinnen würden ja wohl noch die Schlüssellöcher mit ihren scheußlichen, grauen Webelappen verstopfen“, pflegte die schönere Hälfte des Pächters, Frau Griebel, mit verächtlichem Achselzucken zu sagen; denn weder ihr selbst, noch dem heiligen Kehrbesen und Scheuerwisch war der Eintritt gestattet.

Auf den höhergelegenen Partien des Thüringerwaldes gediehen die Halmfrüchte nicht sonderlich; Wiesenwachs und Kartoffelbau herrschen vor. Die schmalen Thalgründe liegen oft in stundenlanger grüner Linie wie ein schimmerndes Sammetpolster zwischen den waldbewachsenen Bergen; Gras, glitzerndes Wassergerinnsel, auch wohl ein kühler Forellenbach, oder der weiße, glatte Chausseeweg wechseln mit einander ab. Der Hirschwinkel dagegen war eine selten sonnige, geschützte Waldecke, eine Art Eiland, aus welchem der Sommerwind nach Herzenslust manneshohes Halmengewoge der Kornfelder vor sich herjagen und sogar in den tiefgelben Breiten des edlen Weizens wühlen konnte.

Das hübsche Gut lag ziemlich abseits von den belebtesten Verkehrswegen, gleichsam hinter den Waldcoulissen; deshalb konnte es recht wohl geschehen, daß der Fremde, der bereits seit einer vollen Stunde den Waldfahrweg beschritt, plötzlich Halt machte, um sich an frischem Quellwasser für einen vermeintlich noch längeren Marsch zu erquicken.

Der dünne Wasserstrahl, der am Abhang zwischen dem entblößten Wurzelgeflecht einer schief überhängenden Fichte hervorquoll, war kalt wie Eis und von köstlichem Wohlgeschmack; der kleine silberne Reisebecher wurde wiederholt gefüllt und geleert; dann schritt der Herr fürbaß. Ueber der linken Schulter hing ihm der Plaid und an der Seite eine Ledertasche; eine leichte Reise-Ausrüstung; sonst hätte man den schlanken Mann in der hellgrauen Joppe für einen Spaziergänger halten können, so behaglich schlendernd, ganz dem Genuß der Waldschönheit hingegeben, verfolgte er die Weglinie, die, wie gewaltsam in das Buchendüster hineingeschnitten, sich durch die Stämme drängte.

Er war bisher ein einsamer Wanderer gewesen; keine Menschenseele war ihm begegnet. Er sah die Eichhörnchen von Ast zu Ast schlüpfen und die grünen Fahnen der Farren am Wege zittern, wenn sich kleines Gethier unter dem Pflanzengeschlinge tummelte, das die schaffende Kraft des Waldhumus immer wieder bis in die Fahrgeleise herübertrieb. Die leichtbewegte Luft hauchte ihm Erdbeerdüfte und für Momente auch den appetitlichen Geruch von Bratkartoffeln zu; sie trug auch das schwache Geräusch ferner Axtschläge herüber, und seit einer Viertelstunde begleitete den Gehenden zur Rechten das Murmeln fließender Gewässer, die er nicht sah. Nun aber lichtete sich das Dunkel allmählich nach dieser Seite hin, und sonnige Wiesenflächen leuchteten herein; ein rascher Bach schoß mitten durch das rasige Gelände und trieb weiter unten die Räder einer Schneidemühle. Da war im engen Rahmen dunkelnden Gehölzes der ganze Zauber einer Waldidylle eingefangen. Ein schmaler Steg führte über das Wasser, ein primitives Gefüge, durch dessen aus einander klaffende Bretter das drunten rauschende Gewässer heraufblinkte.

Der Fremde beschleunigte seine Schritte. Er betrat den Steg, jedenfalls um den vollen Anblick des hübschen Landschaftsbildes zu gewinnen, aber er kannte wohl die Heimtücke solcher sorglos über die Bäche geschlagener Holzbrückchen nicht; denn während er die Augen gefesselt auf die Mühle richtete, versank sein Fuß plötzlich und saß wie eingekeilt zwischen dem den äußersten Rand bildenden Fichtenstamm und dem nächsten Brett.

Eine Verwünschung auf den Lippen, mühte er sich unter allen Zeichen zorniger Ungeduld, den Fuß aus der Klemme zu ziehen, aber der Steg hatte kein Geländer, und dem Gefangenen stand nicht einmal ein Gehstock zur Verfügung, auf den er zu nachdrücklicher Kraftaufwendung den Oberkörper hätte stützen können. Bebend vor Aerger und Erregung hielt er inne und schaute nach irgend einem Beistande aus, der in dem einsamen Thale sehr fraglich schien.

Just in dem Moment kam eine weibliche Gestalt um die Ecke der Schneidemühle und schritt geradewegs auf den Steg zu. Sie trug ein Grasbündel auf dem Kopfe, das sie mit dem gehobenen Arm stützte. Allem Anschein nach war es eine Dienstmagd, ein junges blödes Bauernmädchen, das sich vor dem Fremden auf der Brücke fürchtete; denn ihr anfänglich sehr rascher Gang verlangsamte sich augenscheinlich bei seinem Erblicken.

„Heda, spute Dich ein wenig, mein Kind!“ rief er ihr ungeduldig zu. Nun blieb sie gar wie festgemauert stehen.

Er murmelte etwas von bodenloser Bauerndummheit zwischen den Zähnen und machte abermals einen verzweifelten Versuch, sich zu befreien. Angesichts dieser Anstrengungen mochte es dem Mädchen doch wohl klar werden, daß er kein zu Fürchtender, vielmehr ein Hülfloser sei. Sie besann sich nicht länger und kam herbei.

„So, weißt Du nun, daß ich kein Menschenfresser bin?“ sagte er, ohne sie weiter anzusehen. „Sieh her, Du mußt mir aus dem Schraubstock helfen. Stelle Dich hierher, dicht neben mich, aber fest, damit ich meinen Arm auf Deine Schultern legen kann!“

Sie trat zu ihm, ohne ein Wort zu sagen, aber in dem Moment, wo er Miene machte, sich auf sie zu stützen, sah er, wie sie verstohlen in das Grasbündel hinaufgriff und einen dicken Halmbüschel zwischen ihre Schulter und seinen Arm niederzog – lächerlich! – das Bauernmädchen da war eine Prüde.

Er hielt inne und zog den Arm zurück. „Möchtest Du nicht?“ fragte er belustigt.

„Nein – eigentlich nicht! Aber der Sägemüller und sein Knecht kommen vor Abends nicht heim, und die Müllerin ist schwach und krank.“

„Ach so, da müßte ich ja wohl wie der Fuchs im Tellereisen hier verkommen, wenn Du Dich nicht erbarmtest?“

Er bog sich vor, um unter das große weiße Tuch zu blicken, das sie gegen den Sonnenbrand über den Kopf gezogen und unter dem Kinn geknüpft hatte; es ragte weit vor, wie ein umfangreicher Hutschirm, und beschattete Stirn und Nase bis zur Unkenntlichkeit; die untere Gesichtspartie verschwand noch mehr in den dicken Falten der verschlungenen Leinenzipfel – hübsch oder häßlich, das blieb unentschieden.

„Ja, meine kleine Prüde, da kann ich Dir freilich nicht helfen. Du wirst Dich herablassen müssen,“ setzte er endlich mit verhaltenem Lachen hinzu. „Denke, Du seiest eine barmherzige Schwester, und thue es um der christlichen Liebe willen!“

Sie schwieg und stemmte die Linke auf die Hüfte, um ihrer Haltung mehr Festigkeit zu geben. Sie war ein großes, schlank- und schöngebautes Mädchen und stand wie eine Mauer, als er, den Arm auf ihre Schulter pressend, mit einigen heftigen Rucken den Fuß aus der Klemme zu ziehen sich abmühte. Ein leises Aechzen, eine halbverbissene Verwünschung klangen an ihrem Ohr hin; dann sprang er plötzlich befreit mitten auf die Brücke und stampfte wiederholt auf, um sich zu vergewissern, daß das mißhandelte Glied unverletzt geblieben sei.

Das Mädchen schritt unterdessen weiter.

„Halt auf ein Wort!“ rief er ihr nach.

„Hab’ keine Zeit. Der Fisch verdirbt,“ antwortete sie, unbeirrt weitergehend. Sie zeigte ihm halb zurückgewendet, daß ihr ein Netz mit einer Forelle am rechten Arm hing.

„Ließe sich in dem Falle das Fischchen nicht ersetzen, wie?“

„Nein.“

„Nein? Also nicht … Aber mein Dank?“

„Behalten Sie ihn!“

„Oho – Du bist kurz angebunden, mein Kind,“ lachte er und steckte das seidene Taschentuch, mit welchem er die Reste der Fichtenrinde von seinem attakirten Fuße weggestäubt hatte, wieder zu sich. Gleich darauf schritt er an ihrer Seite.

„Mir scheint, unter dem häßlichen Tuche da steckt ein ganz verteufelt trotziger Kopf,“ sagte er. „Wie aber, wenn ich nun ebenso trotzig bin, wie Du, und Deine Hülfe absolut nicht geschenkt haben will?“

„Dann thun Sie wohl, an Ihren Platze auf der Brücke zurückzukehren.“

Er lachte laut auf und suchte gespannt abermals einen Blick unter das verhüllende Tuch zu werfen. Das Mädchen hatte Mutterwitz; die „Bauerndummheit“ hatte sie sicher so wenig im Gesicht, wie auf den Lippen. Sie wandte flink den Kopf nach der anderen Seite, und ihm blieb nur die Musterung ihrer Gestalt. Sie war ärmlich gekleidet. Aus dem verschossenen Kleide waren die Aermel getrennt und hatten den Hemdärmeln Platz machen müssen; sie fielen lang und schön weiß bis über die Ellenbogen herab. Busen und Rücken umhüllte plump ein zerwaschenes hinten geknüpftes Baumwollentuch, und die starren Falten der steifgestärkten blauen Schürze verhäßlichten Taille und Hüften. Sie war ohne Zweifel eine Dienende. Das Kleid, wenn auch entstellt und zum Arbeitskittel degradirt, war von städtischem Schnitt und stammte sicher aus der Garderobe der Dienstherrin.

„Nun, dann will ich Dir für Deinem Samariterdienst wenigstens die Hand drücken.“

Er streifte rasch den Handschuh von der Rechten, einer weißen, kräftigen Hand mit einem schönen Siegelring am Finger, und hielt sie ihr hin.

„Meine Hand ist hart,“ versetzte sie zurückweichend; der Arm, an welchem ihr das Netz hing, vergrub sich förmlich in den Schürzenfalten.

„Na ja, ich hätte das wissen können,“ sagte er mit Humor. „Die Thüringer Disteln stechen, wo man sie anrührt; das merkte ich schon vorhin auf der Brücke. Dienst Du in der Mühle drüben?“

Sie schwieg einen Augenblick; dann sagte sie: „Der Sägemüller kann keine Magd halten. Er hat die Mühle nur in Pacht; sie gehört zum Gute im Hirschwinkel.“ – Dabei schritt sie in tannengerader Haltung, das Grasbündel auf dem Kopfe stützend und weder rechts noch links blickend, beschleunigten Schrittes den Fahrweg entlang. Sie zeigte unverhohlen, daß sie keine Lust habe, sich weiter examiniren zu lassen.

Diese bäuerische Unnahbarkeit schien ihn höchlich zu amüsiren. Er war ein noch junger Mann, der mit seinem elastischen Gange nicht um eine Linie hinter ihr zurückblieb.

„Also die Mühle gehört zum Gut?“ wiederholte er fragend. „Sieh, sieh – nun weiß ich doch auch, wo Du zu Hause bist. Der Weg da führt doch wohl direct nach dem Gutshause im Hirschwinkel?“

„Auch nach dem Vorwerk.“

Er blieb stehen. „Aha, das ist die kleine zum Gute gehörige Pachtung, die der verkommene Amtmann widerrechtlich besetzt hält.“

Jetzt wandte sich der Kopf unter dem Grasbündel mit einer jähen Wendung nach ihm hin. Die untere Gesichtspartie hob sich dabei aus den Tuchfalten, und der Fremde sah für einen Moment einen kleinen, schönen Mund mit blaßrothen Lippen, um den der Zorn seine Linien zog.

„Ich bin beim Amtmann,“ schnitt sie ihm kurz die Rede ab. Diese arme Creatur im Joche der Dienstbarkeit drohte förmlich.

„Was der Tausend – da habe ich Dich ja wohl gar beleidigt. Hältst wohl große Stücke auf Deinen Herrn?“

Sie schwieg scheinbar trotzig.

Er lächelte verstohlen. „Du scheinst mir eine Aparte zu sein. Aber auch im Dienst beim Amtmann! Das will ’was heißen! Weißt Du aber auch, daß ich gerade deshalb Gewalt über Dich habe?“

Das Mädchen wich unwillkürlich zurück.

„Ja, ja – ernstlich! Ich kann Dir das Grasbündel da ohne Weiteres wegnehmen und Dir Dein Tuch abpfänden, wenn Du mir nicht das volle Besitzrecht Deines Herrn an der Wiese nachweisest, auf der Du gemäht hast. Er zahlt seinen Pacht nicht und zieht fortgesetzt den Nutzen aus Grundstücken, die ihm vor länger als Jahresfrist gekündigt worden sind. Was hast Du darauf zu erwidern, wie?“

Sie schien anfänglich kein Wort über die Lippen bringen zu können, dann aber sagte sie mit leiser Stimme: „Daß Sie der neue Herr im Hirschwinkel sein müssen.“

„Der bin ich. Siehst Du nun ein, daß Du alle Ursache hast, mir schön zu thun?“

„Ich – Ihnen?“ Eine grenzenlose Empörung schien ihr ganzes Wesen zu durchschüttern.

„Alterire Dich nicht!“ lachte er. „Ich bin kein Schlimmer; im Gegentheil – ich nehme nun die harte Hand gar nicht, die mir ,das Kräutlein rühr’ mich nicht an’ vorhin so schnöde verweigert hat, und wenn sie mir noch freundlich geboten würde. … Aber ein wenig höflicher möchte ich Dich sehen –“

„Gegen den Feind der Menschen, die ich lieb habe?“

„Feind? – Hm ja, Du hast ganz recht, insofern ich ein geschworener Feind der notorischen Spieler und Schlemmer bin, und Dein Amtmann ist einer, der seines Gleichen suchen soll.“

Ein Seufzer hob den Busen des Mädchens, und gepreßt stammelte sie: „Da werden Sie wohl mit meinem –“

„Mit Deinem lieben Herrn kurzen Proceß machen, willst Du sagen?“ fiel er ihr mit sehr strengem Ton und ohne eine Miene zu verziehen in’s Wort. „Versteht sich! Ich werde ihn an die Luft setzen, und zwar sofort, ohne Gnade, den Verschwender, den Prahlhans – darauf verlasse Dich! In Geschäftsangelegenheiten verstehe ich durchaus keinen Spaß. … Weißt Du nun, wen Du vor Dir hast?“

„Ach ja, einen reichen Mann, wie er schon in der Bibel steht.“

„Richtig! Einen Mann, der absolut nicht in’s Himmelreich kömmt, eben weil er ein reicher, ist – der Arme! Ja, ja, hast Recht – einen Tyrannen, einen Blutsauger, einen Menschen, der Geldfragen gegenüber ein steinhartes, oder vielmehr gar kein Herz hat, wie es einem praktischen Geschäftsmann ziemt. … Aber laufe doch nicht so, Mädchen!“

Sie war in der That in förmlichen Sturmschritt verfallen, und diesmal blieb Herr Markus zurück. Er sah ihr mit gespannter Aufmerksamkeit nach. Und wenn auch der häßliche plumpe Anzug das Mädchen entstellte, eine thüringer Edeltanne war sie doch, eine Erscheinung voll Leben und unbewußter Grazie in dem Spiel der schlanken, jugendkräftigen Glieder. … Schade um diese Gestalt, an der Sonnenbrand, Arbeit und Armuth rieben und zehrten, um sie in kurzer Zeit hart und eckig, zum frühgealterten Weibe zu machen! … Es blieb allerdings fraglich, ob nicht der Kopf den Adel, die Anmuth des schönen Leibes sofort verwischte, wenn das verhüllende Tuch fiel. Der lieblich geschwungene Mund verbürgte noch lange nicht, daß das Mädchen nicht schielte, keine gemeinen Züge hatte, und nicht sommersprossig und rothhaarig war – doch nein, unter dem weißen Tuchzipfel stahl sich ein gelöstes, glänzend dunkles Zopfende hervor – rothhaarig war sie nicht.

2.

Das Mädchen hatte sich kaum um zwanzig Schritte entfernt, als eine kleine, dicke Frau in braunem, rundem Strohhut und weiter Jacke aus einem schräg nach dem Fahrweg mündenden Waldpfad trat. Sie schritt direct auf die Eilige zu und hielt sie an der Schürze fest.

„Hör’ mal, Mädel, habt ihr denn wirklich die theuern Speisekartoffeln so in Hülle und Fülle, daß Du Ende Juni, sage Ende Juni, den Betteljungen die ungewaschenen Mäuler damit stopfst?“ fragte sie. Das klang nicht etwa wie Schelten; die Frau sprach sehr langsam und bedächtig, aber nachdrücklich. Man hörte, daß sie gewohnt sei, in aller Gemüthlichkeit den Leuten die Köpfe zurecht zu setzen. „Ich krieche tagtäglich auf allen Vieren durch die Kellerecken, um noch ein paar feine Salatkartoffeln für unseren Tisch zu erwischen, und dort“ – sie zeigte nach der Richtung zurück, in der sie gekommen – „dort braten sie haufenweise in der Asche. Das soll Einen nicht ärgern. Wir bezahlen auf die Minute pünktlich den theuren Pacht für schlechten Boden, und Deine Amtmanns ernten die besten Aecker ab; sie leben in’s Tageslicht hinein und fragen den Kukuk danach, daß auch einmal bezahlt sein muß –“

„Lassen Sie mich gehen, Frau!“ rief das Mädchen halb gebieterisch, halb ängstlich und strebte weiterzukommem.

„Frau! Frau!“ wiederholte die kleine Dicke geärgert und ohne den Schürzenzipfel loszulassen. „Bin ich denn ein Taglöhnerweib? Und hast Du denn gar keine Lebensart, Mädchen? Wenn Du noch gesagt hättest ,Frau Verwalterin’, oder meinetwegen auch nur ,Frau Griebel’, aber schlechtweg ,Frau’! Du bist ja nicht um ein Haar besser als Deine Herrschaft. Verschenkst mir nichts dir nichts gute Sachen, die nicht bezahlt sind, und hast den Hochmuthsteufel und eitle Dinge im Kopfe. Sieht man Dich denn je ohne das Scheuleder da auf dem Acker oder beim Grafen?“ – Sie zeigte nach dem weißen Kopftuch. „Hör ’mal, wenn man dienen muß, da darf man nicht darnach fragen, ob Einem die Sonne ein Paar Sommerfleckchen mehr auf die Haut brennt oder nicht, das paßt nicht, da lachen Dich die Leute nur aus, wie sie sich auch lustig darüber machen, daß Dir der Graskorb nicht nobel genug ist. Hier zu Lande trägt man das Futter nicht auf dem Kopfe heim – das ist nicht Mode bei uns. Und laß doch mal sehen“ – sie bog sich vor – „ach herrje, Forellchen hast Du da im Netz? Guck’ Einer an, Forellchen! Ja, ja, auf dem Vorwerk wissen sie, was gut schmeckt!“

„Der Fisch ist für die Kranke.“

„Ach ja, für die Kranke wird er geholt, und der Herr Amtmann ißt ihn, die alte Naschkatze, die! Gucke, Mädchen, wüßte ich das nicht, ich schickte manchmal ein Rebhuhn, oder sonst was Gutes ’nüber, ich bin ja doch kein Unmensch und hab’ Mitleid –“

„Wir danken!“ kam es kurz und herb unter dem weißen Tuch hervor.

„,Wir danken!“ spottete die kleine Behäbige nach. „Großplatziges Ding Du! Wer ist denn ,wir’? – ’s ist ja wahr, Amtmanns haben schlimm gehaust mit ihrem großen Vermögen; das Hemd auf dem Leibe gehört ihnen kaum noch, aber deswegen sind’s doch immer vornehme Leute und noch lange nicht Deines Gleichen.“

Inzwischen war Herr Markus längst näher gekommen und stand neben der Sprechenden, ohne daß sie es bemerkte. Er verbiß mit Mühe das Lachen. Die drollige Frau hatte sich bei dem nachäffenden „Wir danken!“ ironisch knixend, tief und gravitätisch zu Boden gestaucht, und das war urkomisch gewesen. Sie hielt das Mädchen noch fest; dem Beobachtenden war es, als müsse er einen gefangenen Vogel befreien.

„Wer wird sich denn so ereifern, meine kleine Dame!“ unterbrach er die Standrede.

Die Frau fuhr wohl bei der unvermuteten Einmischung ein wenig zusammen, aber außer Fassung gerieth sie nicht. Sie wandte schwerfällig den Kopf auf dem fleischigen Halse und sah den Fremden aus schmalgeschlitzten, blauen Aeuglein von oben bis unten groß an.

„Wie kommen Sie mir denn vor?“ sagte sie trocken. „Ich bin eine ehrbare Frau, und noch lange nicht ,meine kleine Dame’ für einen Jeden, der dahergeschlichen kommt wie der Ratz vom Taubenhaus.“

Er unterdrückte ein Lächeln und sagte mit empörendem Gleichmuth: „Protestiren Sie, so viel Sie wollen – es hilft Ihnen doch nichts. ,Meine kleine Dame’ wird mir in dieser Stunde noch eine Tasse Kaffee serviren und heute Abend eine gute Omelette backen; ,meine kleine Dame’ wird mir für ein anständiges Nachtquartier sorgen und mäuschenstill sein, wenn ich im Hirschwinkel thue, als sei ich zu Hause –“

„Ach herrje – der Spaß! Sie sind Herr Markus!“ lachte sie überrascht auf, aus ihrer Ruhe aber brachte sie die unerwartete Ankunft des „neuen Herrn“ trotzdem nicht. „Warum haben Sie denn das nicht gleich gesagt? … Kommen Sie denn endlich aus Ihrer alten, märkischen Sandbüchse und sehen sich das gottgesegnete Fleckchen Erdboden an, das Ihnen der liebe Herrgott nur so in den Schooß geworfen hat? Na, und was sagen Sie denn dazu? Haben Sie solchen Wald, solche Wiesen, solche Berge schon einmal in Ihrem Leben gesehen? … ’s ist hohe Zeit, daß Sie kommen, Herr Markus, hohe Zeit! Ueber unseren Köpfen pfeifen die Mäuse in Heerschaaren und die Mottenwolken will ich sehen, die aus den Wollstrümpfen und Unterjacken der sel’gen Frau Oberforstmeisterin auffliegen, wenn das Nest endlich aufgemacht wird.“

Währenddem entfernte sich das freigelassene Mädchen in stürmischer Eile. Herr Markus sah ihr über Frau Griebel’s Kopf hinweg nach. Dort, wo sie ging, lag der Fahrweg bereits im hellen Sonnenschein. Rechts säumte ihn das Wiesengrün, und auf der entgegengesetzten Seite trat das Walddickicht weit auseinander; wie Alleebäume reihten sich die Buchen hin und warfen da und dort Schlagschatten über den Weg, der in scharfer Krümmung nach links einbog.

„Liegt in der Richtung dort der Hirschwinkel?“ fragte Herr Markus und zeigte nach einer vereinzelten Baumgruppe, hinter welcher das Mädchen eben verschwand. Noch einmal bei der Wegbiegung hatte sich ihre Gestalt in scharfer Profilstellung vom Hintergrunde abgehoben, seltsam fremdartig, weit mehr die Erscheinung einer schlanken, braunen Fellahtochter vom Nilufer, als die eines stämmigen Thüringer Waldkindes.

„O herrje, wie närrisch Sie fragen!“ lachte Frau Griebel. „Sie stehen ja mitten drin im Hirschwinkel und gehen schon seit einer reichlichen halben Stunde auf Ihrem eigenen Grunde und Boden. Und dort zwischen den Bäumen können Sie auch schon die Hintergebäude vom Gute sehen. – Von Kaffee sprachen Sie vorhin, Herr Markus? Na, Sie sollen einen Kaffee bei der Griebel trinken, der seines Gleichen sucht. Gehen Sie nur einstweilen weiter auf dem schön trockenen Wege da – immer der Nase nach! Sie können gar nicht fehl gehen. Ich schlüpfe unterdessen hinten ’rum, durch den Hof in die Küche – muß doch sehen, ob die Magd kochendes Wasser hat.“

Es war nun zwar kein „Schlüpfen“, mit welchem sich die kleine Dicke seitwärts durch die knackenden Büsche schlug, aber sie kam doch flink vorwärts und war sehr schnell den Blicken des Weiterschreitenden entschwunden.

Das Gutshaus war ein völlig schmuckloser Bau, ein altes Haus, mit hochragendem Dache, und an der Giebelwand, nach der Wetterseite hin, mit Schiefer wohlverwahrt und beschlagen. Sonst einförmig weiß angestrichen, hatte es als einzige Unterbrechung inmitten seiner casernenartigen Façade nur einen Erker, der vom Fundamente bis unter das Dach so voll und dicht mit Waldepheu bewachsen war, daß die Fenster ist seinen drei Wänden vertieft wie Schießscharten erschienen. Drunten hatte das einsam gelegene Haus grüne Sicherheitsläden, im oberen Stocke aber hingen nur gleichmäßig weiße, mit groben, gehäkelten Kanten besetzte Shirtingrouleaux hinter den sichtlich verstaubten Scheiben.

In der weiten, das ganze Gehöft abschließenden Umfassungsmauer, die das Haus zu beiden Seiten flankirte, befand sich rechts der Eingang, eine schöne, massive Doppelthür mit glänzend polirtem Messinggriffe; zur Linken dagegen lief sie ohne Unterbrechung in die Ecke aus, auf welcher ein hölzerner, grünumrankter Gartenpavillon wie ein kleines, rundes Nest saß. Kirsch- und Aepfelbäume reckten dort ihre Zweige über die Mauer, und dahinter hoben sich auch Linden- und Kastanienwipfel.

Das ehemalige Heim der Frau Oberforstmeisterin machte einen überraschend freundlichen, behäbigen Eindruck. Vor den Fenstern lag grüner Rasen, so üppig und gleichmäßig, als werde er unter der Scheere gehalten, und weiter hin, in die mäßige Thalsenkung hinab, lief das Ackergelände mit seinem wogenden Halmenmeer, seinen Raps- und Runkelfeldern und den üppigen Flachsbreiten mit wehendem blauem Schleier.

Herr Markus war nach Frau Griebel’s Verschwinden langsam weiter geschlendert und stand nun angesichts „des Fleckchen Erdbodens, das ihm der liebe Herrgott in den Schooß geworfen“. – Himmlischer Waldfrieden wehte ihn an. Das betäubende Hämmern und Pochen in seiner Fabrik, das rastlose Lärmen und Hasten der Berliner Straßen, in denen er auch heimisch war, wie weit, wie weltenweit lag das Alles in diesem Augenblicke hinter ihm!

Ein paar Truthühner spazierten geräuschlos aus der Thür, die man wahrscheinlich zu seinem Empfang eiligst geöffnet hatte, und droben aus dem einen Schornstein fuhr plötzlich eine gewaltige Rauchwolke in den glänzend blauen Himmel hinein – Frau Griebel schürte jedenfalls unter dem Kaffeetopfe und heizte die Back- und Bratmaschine zu Ehren und zum Labsale des neuen Hausherrn, „Holder Friede, süße Eintracht!“ summte Herr Markus vor sich hin. „Einlullendes Stillleben!“ – Himmel! Er fuhr herum und sah nach dem offenen Fenster im Erdgeschosse, aus welchem Clavieraccorde herüberbrausten; dann schüttelte er sich lachend. „Tyrann, entsetzlicher Klimperkasten! Selbst bis hierher verfolgt er den Musikmüden mit seinen tönenden Hämmern!“ rief er mit komischem Pathos und trat schleunigst durch die Mauerthür in den Hof. Ein wüthendes Hundegebell empfing ihn.

„Sultan, Schlingel, willst Du gleich still sein! Man versteht ja sein eigenes Wort nicht!“ schrie Frau Griebel von den Thürstufen des Hauses herab. „Kusch! Oder ich komme mit dem Stocke.“

Sultan kroch in die Hundehütte, und „Ihren Eingang segne Gott!“ sagte Frau Griebel in umgewandeltem Tone und streckte herabkommend dem „neuen Herrn“ beide Hände entgegen.

„Das ist Herr Peter Griebel, mein guter Mann“ – damit schob sie ihren Arm in den des Mannes, der mit ihr gekommen war. „Und hören Sie’s, Herr Markus? – das ist meine Luise, die so schön spielt. Sie spielt den Marsch aus dem ,Propheten‘, Ihnen zu Ehren. Sie ist die beste Schülerin in der Pension und will Gouvernante werden. So – nun kennen Sie alle meine Hühner und Gänse.“

3.

„Der neue Herr“ lehnte es ab, sich drunten in der „guten Stube“, wo „meine Luise“ immer noch wacker in den „tönenden Hämmern“ wühlte, den Kaffee serviren zu lassen. Er bestand darauf, so sehr auch Frau Griebel im Hinblick auf Staub, Mäuse und Spinnweben protestirte, sich sofort in seinen eigenen vier Pfählen einzuquartieren, und stieg die Treppe hinauf.

Er hatte bestimmt, daß die Siegel an der Wohnung der Verstorbenen nicht gelöst werden sollten, bis er selbst einmal komme; nun riß er die Papierstreifen an der Hauptthür ab, und Herr Peter Griebel schloß auf. Genau so traut und anheimelnd wie die äußere Physiognomie des Gutshauses war auch die innere Einrichtung der Zimmerreihe im oberen Stock.

Frau Griebel zog behutsam die Rouleaux in die Höhe. Sie triumphirte; die Scheiben waren weißbestäubt, und auf der nächsten Tischplatte schrieb sie mit sardonischem Lächeln und ungeschicktem Finger ein paar groteske Buchstaben in die Staublage. Aber die Dielen waren schneeweiß und steckenlos, und ein starker Duft von Steinklee und anderem Kräuterwerk füllte die Räume, in welche auch ein Hauch frischer Luft durch Zuglöcher an der Decke fortgesetzt Zutritt hatte.

„Offene Fenster und ein wenig Fegen machen allen Schaden gut,“ sagte der „neue Herr“ heiter und entriegelte einen Flügel des mittleren Erkerfensters.

„Und mit den verstopften Schlüssellöchern war’s nichts, Jettchen!“ schmunzelte Herr Peter Griebel. „Wo sitzen denn nun die Spinnen, über die Du den ganzen Winter gebrummt hast? Unsere alte Dame war gar ein propres Weibchen – sie litt solches Geziefer nicht – wo sollte denn da die Brut herkommen, Jettchen?“

„Guck nur erst in die Bücherstube, Peter, eh’ Du so dick thust mit Deiner Weisheit! An den himmelhohen Regalen und hinter dem Bücherwerk wirst Du schon Dein blaues Wunder sehen. – Da drüben giebt’s was zu lesen, Herr Markus – Bücher ohne Ende! Und alles, was drin steht, das hatte die alte Frau in ihrem Kopfe. Sie war Doctor und Apotheker in einer Person und tausendmal gescheidter, als der elende Bartkratzer drüben in Tillroda, der sich von den Leuten Doctor schimpfen läßt. Der hatte deswegen aber auch eine ganz gehörige Pike auf die resolute Frau, gerade wie der Pfarrer, der an ihrem Grabe gepredigt hat, sie sei zeitlebens eine Gottlose gewesen, weil sie nichts vom Teufel und dergleichen wissen wollte und den Augenverdrehern spinnefeind war. Na, im Himmel ist sie doch – der in Tillroda wird’s doch dem lieben Gott nicht vorschreiben dürfen, wer hinaufkommen soll und wer nicht.“

„Ja, eine tüchtige Frau ist sie gewesen, die Frau Oberforstmeisterin,“ sagte Peter Griebel. „In der Oekonomie war sie zu Hause wie ein Mann. Ich war nur die letzten zwei Jahre Gutsverwalter bei ihr, aber da hab’ ich alter Kerl mehr gelernt, als in zehn bei meinem vorigen Herrn. Sehen Sie doch hin!“ – er streckte den Arm nach dem üppigen Gelände aus, das sich draußen hinbreitete – „das Alles ist hauptsächlich ihr Werk; denn der Herr Oberforstmeister soll so gut wie gar nichts davon verstanden haben. Freilich, die paar Acker dort hinter dem Fichtenhölzchen, die sind ziemlich ’runtergewirthschaftet; sie gehören zum Vorwerk, und da wird nicht gut gehaust – der Herr Rechtsanwalt wird Ihnen ja wohl davon geschrieben haben.“

„Ja wohl. Seit vier Jahren hat der Amtmann Franz das Vorwerk in Pacht, und in den musterhaft geführten Büchern der Verstorbenen ist nicht ein einziges Mal die ausbedungene Pachtsumme als eingegangen notirt zu finden –“

„Unsere alte Dame hat eben immer ein Auge zugedrückt, weil die Frau Amtmann von der Jugendzeit her ihre gute Freundin gewesen ist,“ fiel die Leine Frau erklärend ein. „Amtmanns haben Schulden gehabt wie Sand am Meere, und ist ihnen von den Gläubigern Alles, Schiff und Geschirr, weggenommen worden. Da hat sich die Frau Oberforstmeisterin erbarmt und hat ihnen das Vorwerk gegeben, freilich nicht umsonst – dazu war sie viel zu streng und ordentlich in Geldsachen aber doch für einen wahren Pappenstiel, und auch den hat der alte Schwindler nicht einmal bezahlt.“

Sie unterbrach sich und fuhr mit der Hand in die Tasche. „Da guck her, Peter. – was ich Dir immer sage!“ wandte sie sich an ihren Mann und zerdrückte vor seinen Augen eine kleine gebratene Kartoffel, sodaß das köstliche Eidottergelb des Inneren appetitlich duftend hervorquoll. „Drüben im Grafenholz sammeln die Tillröder Jungen Erdbeeren, und da liegt diese Gottesgabe halbmetzenweise in der heißen Asche –“

„Na und, Jettchen?“

„Na und, Mann?“ ahmte sie ihm ärgerlich nach. „Wie kömmst Du mir denn vor? Mußten denn die Bengels gerade vom Allerbesten haben? … Und wie ich frage: ,woher?’ da sagt die Rotte ganz frech: ,Nicht von der Frau Griebel, aber von Amtmanns Magd,’ … Herr Markus, ich will ja den Leuten drüben nicht in’s Gehege kommen – meinetwegen mögen sie bis in alle Ewigkeit auf dem Vorwerk sitzen und keinen Pacht zahlen, aber sie haben den allerbesten Kartoffelboden vom ganzen Gute –“

„Jettchen, denk’ an Dein Gewissen!“ fiel ihr Mann warnend ein. „Wir haben keine Ursache zu klagen; es geht uns gut – und von meiner Familie soll mir ja Keines mitschieben und drängen, daß Herr Markus kurzen Proceß macht mit den Leuten. Der Amtmann ist alt, und seine Frau liegt seit einem Jahre krank im Bette, und wenn die Magd nicht hauszuhalten versteht –“

„Ja, die Magd – das ist mir die Allerschönste,“ sagte Frau Griebel mit verächtlichem Achselzucken. „Na, Sie haben sie ja gesehen, Herr Markus, das Mädchen in dem verhunzten Stadtkleide. Jetzt trägt sie freilich ihr Grasbündel auf dem Kopfe, als wenn sie damit auf die Welt gekommen wäre, aber im Anfang – daß sich Gott erbarm’!“

„Ist sie nicht aus der Umgegend?“ fragte Herr Markus mit Interesse.

„Bewahre! Der Sprache nach muß sie weit her sein. … Sehen Sie, das war so. Gleich nachdem unsere alte Dame gestorben war, da legte sich auch die Frau Amtmann, und die Magd lief davon, weil sie nie einen Heller Lohn zu sehen gekriegt hatte – das war schlimm; denn eine andere fand sich partout nicht. Ich sprach schon davon, daß ich ’nübergehen und nach der Ordnung sehen wollte – wenn auch die Leute sich niemals um Unsereinen gekümmert hatten – aber da kam auf einmal eine Nichte vom Amtmann; sie war Gouvernante in einer großen Stadt, wie mir die Frau Oberforstmeisterin einmal gesagt hat, und die hat das Mädchen zur Hülfe mitgebracht. … Auf der Magd liegt nun freilich die ganze Wirthschaft; denn das Gouvernantenfräulein wird wohl weder Kochtopf noch Kehrbesen anrühren –“

„Brr!“ machte Herr Markus und schüttelte sich.

„Na, was denn?“ fuhr Frau Griebel zurück und riß ihre kleinen Augen unter den verwundert emporgezogenen blonden Brauen weit auf.

„Ja, sehen Sie, meine liebe Frau Griebel, ich bin ein nervenschwacher Mensch; ich leide an einer unbesieglichen Gouvernanten-Antipathie“ – durch seine interessanten Züge ging ein humoristisches Zucken wie Wetterleuchten.

„Das soll heißen, Sie können die Gouvernanten nicht leiden? … Da kommen Sie mir aber schön an, Herr Markus. Meine Luise will ja auch eine werden – freilich nicht so wie die auf dem Vorwerk. Das leide ich schon nicht. In den Ferien muß sie mir tüchtig mit an die Arbeit – da wird nicht gefackelt. Sie kann perfect backen, einmachen und Geflügel stopfen, und in der Milchwirthschaft ist sie zu Hause wie ich selber, und dabei hat sie rothe Backen wie ein Stettiner Apfel und ist frisch und gesund – Gott behüt’s – wie eine Ecker. … Sie soll mir auch nie in eine große Stadt; denn da bringen sie immer blasse Farbe und abgeschmackte Manieren mit, wie eben Fräulein Franz auf dem Vorwerk. Ich hab’ sie nur ein einziges Mal in der Kirche in Tillroda gesehen, und da hatte ich schon genug. Sie ist eine ebenso lange Hopfenstange wie ihre Magd, thut schrecklich apart und ist blaß und schmal im Gesicht, so weit ich’s von meinem Kirchenstuhl aus erkennen konnte –“

Sie machte, sich selbst unterbrechend, eine plötzliche Schwenkung nach der Thür. „Ja, da stehe ich nun, ich alte Plappertasche, und verthue die Zeit und weiß doch kaum, wo nur der Kopf steht vor Arbeit! – Peterchen, Du mußt mir gleich junge Tauben vom Schlag holen und nach frischen Eiern suchen, und ich gieße derweil den Kaffee aus. Nachher wird hier oben gefegt. – Bis dahin vertreiben Sie sich ja wohl die Zeit, Herr Markus, und gucken sich ein Bischen um in den Raritäten hier oben?“

Damit ging sie hinaus; ihr „Peterchen“ folgte ihr auf dem Fuße und „der neue Herr“ trat vom Fenster weg, während seine Augen musternd durch das Zimmer glitten.

Der Erker durchschnitt die Vorderwand dieses großen Raumes genau in der Mitte, sodaß seine Glasthür von je einem Stubenfenster flankirt wurde. Auf diese Weise strömte viel Licht herein, leicht gefärbt durch grünblumige Kattunvorhänge, und beleuchtete voll zwei Gestalten, die von der tiefen Wand herabsahen.