An den Ufern meiner Stadt - Peter Härtling - E-Book

An den Ufern meiner Stadt E-Book

Peter Härtling

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Beschreibung

Peter Härtling war Kinderbuchautor, Romancier, Essayist und Dramatiker. Und in allen Phasen seines Schriftstellerlebens aber schrieb er großartige Gedichte. Mit ihnen begann er sein literarisches Werk, und mit ihnen fand es seinen Abschluss. »An den Ufern meiner Stadt« versammelt erstmals die späten lyrischen Arbeiten Härtlings. Mit siebzehn Jahren veröffentlichte er seinen ersten Gedichtband – darin auch die später oft zitierte Zeile »ein narr wie ich« (gefolgt von den schönen Versen: »narren sind immer gleich / und wunderlich / und immer reich«). Der Narr begegnet uns auch in seinen späten, in seinen Altersgedichten. Hier hat er einen »Totenkopf« – »und einen Zauberspiegel / und einen Bleisoldatenknopf«. Bekannte Motive, Bilder und Stimmungen aus dem überaus reichen und vielgestaltigen Werk ziehen noch einmal auf in diesen späten Texten: mal düster, mal warm und hell, immer aber von beeindruckender sprachlicher Präzision und Schärfe. Seine Gedichte formten für Härtling ein literarisches Tagebuch, das er ohne Unterbrechung sein ganzes Leben über führte. Dieser Band versammelt in sorgsamer Edition sämtliche Gedichte, die von der Jahrtausendwende bis zu seinem Tod im Juli 2017, geschrieben wurden – darunter zahlreiche unveröffentlichte Texte, die erst posthum aufgefunden wurden.

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Seitenzahl: 199

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Peter Härtling

An den Ufern meiner Stadt

Späte Gedichte

Herausgegeben von Klaus Siblewski

Kurzübersicht

Buch lesen

Titelseite

Inhaltsverzeichnis

Über Peter Härtling

Über dieses Buch

Impressum

Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

Inhaltsverzeichnis

I. Gedichtbände

Ein Balkon aus Papier

kommen – gehen – bleiben

Schattenwürfe

Fenstergedichte

Von mir

Versuchte Ewigkeit

II. Aus Büchern

Sternenbilder. Zwölf Gedichte

Zehn neue Gedichte

Postscripta

Vier Gedichte

Gedichte aus Winkelspiel

III. Verstreut veröffentlichte Gedichte

IV. Unveröffentlichte Gedichte

Anhang

Mitschriften Die »Späten Gedichte« von Peter Härtling

Editorische Notiz

Editorische Hinweise

Alpabetisches Verzeichnis der Gedichte

Inhaltsverzeichnis

I. Gedichtbände

Ein Balkon aus Papier

1.

Die Fische im Augenwasser,

meistens schwimmen sie

einzeln.

Neuerdings füllen sie

in Schwärmen

den Blick,

nehmen Städte ein

und Landschaften –

eine vinetische Verwandlung:

Ich habe

ein zweites Leben

begonnen.

2.

In den Träumen,

den Morgenträumen,

lösen die Blätter

sich auf

oder

ich höre sie:

Meine Stimme erzählt sie,

und schon

sind sie vergangen

im Bodensatz von allem,

was ich erinnere.

3.

Allmählich entfallen mir

die Gegenden.

Nur noch die eine,

der Hügel,

auf dem mein Engel

seine Flügel

abstreift,

dort, wo Wege sich gabeln,

Koffer offen liegen,

gefüllt mit Schnee,

bereit

für meine Reise.

4.

Dieser junge Mann,

der hinter mir

her

läuft,

vergeudet seine Zukunft,

die ich

nicht mehr habe,

und versucht

ausdauernd

mich loszuwerden.

Oder ich ihn?

5.

Komm! singt mein Kindermund.

Komm! Komm!

Und ich weiß nicht,

ob ich König sein will

oder Knecht.

Wasser oder Stein.

Ich falle in den Brunnen,

ich falle in den Mund

und höre sie singen,

die ich suchte,

den König,

den Knecht,

ein Leben lang.

6.

Nachts

türmen sich Hügel auf

und verschwinden wieder.

Sterne wandern.

ordnen sich zu neuen Bildern:

der Kleine Wolf und

der Alte Bär.

Mühelos gelingt es mir,

mein Kinderdorf aus dem Schlaf

zu rufen.

Die Schwester,

die ich vergaß,

halte ich plötzlich

an der Hand:

Sie kommt,

wenn es tagt.

7.

Mein Schlaf

dehnt sich aus

bis zu dem Rand,

über den alle,

die sich in meinen Traum

drängen,

stürzen werden,

fort von mir,

zurück in ihr Leben.

8.

Wörter

fressen sich mir

unter die Haut.

Die Schattenredner

sagen mir nach,

was ich nicht sagte.

Ihre Rede setzte sich

fest,

Knorpel und Geschwüre.

Ich habe es

ausgehalten:

Meine Schmerzen sind

nicht

ihre.

9.

Mit Greisenschritten

gehe ich

in mir herum.

Meine Ungeduld wächst.

Manchmal aber

finde ich den alten

Schritt,

ausholend, für den Morgen

gespannt,

und wandere

den geliebten Hügel

hinauf:

dort, wo die Windräder sausen

und Kinder spielen,

was ich ihnen

aufsagte.

10.

Mich friert das junge Jahr.

Ich nehme mir vor,

die Vögel zu empfangen,

die in den Garten

einfallen werden,

bald –

den Dompfaff vor allem,

der den Elstern

widerstand.

Ungeduldig halte ich

nach ihm

Ausschau.

11.

Längst zum Wegelagerer geworden,

der aufhält und beraubt,

was nachkommt.

Nichts wird mir entgehen,

nicht

die aufgebrauchte Liebe,

nicht

der hoffnungsvolle Leichnam

namens Zukunft,

nicht

der ausgebleichte Schatten,

der mich zu früh

verloren

gab.

Ich behalte sie

bei mir

und lasse sie

zurück.

12.

Die Briefe,

die ich ausschickte,

kommen zurück,

einer nach dem andern.

So lerne ich

schweigen

und streiche,

einverstanden,

die Sätze

von den Seiten.

13.

Dieser eine Tag auf der Terrasse,

die

der späte Sommer

für mich erfand.

Die ich erwarte,

haben sich versäumt.

Zögernd lese ich

den Schatten

eines Baumes.

Ab und zu pochen

Kastanien

auf den Stein.

Ich atme ohne Regel,

so,

wie sie fallen.

14.

Keine Träume mehr,

wuchernd,

nur noch Bruch,

Geröll,

Abdrücke von Schreien

im Mulm.

Das Gesicht halbiert

und den Mund

ohne Zunge.

Sobald ich erwache,

fürchte ich mich

vorm Schlaf.

15.

Komm, Kind,

hol den Alten aus der Wand,

ruf ihn,

kleine Königin,

er hat dich

erwartet.

Setz ihn aus

und sprich ihn frei,

pflanz ihm den

Stern in die Hand

für eine Runde:

Bis zum ersten Wort.

Bis zum ersten Schritt.

Dann kann er

gehn.

16.

Ein Mal,

ein einziges Mal,

werden alle Bilder

meinen Schlaf verlassen,

er wird mich aufnehmen,

ein Kanal,

nicht schwarz,

nicht weiß,

und ich werde

nicht gefasst sein

auf das,

was nicht mehr ist.

17.

Manchmal

wiederhole ich

vergangene Gespräche,

die Sätze eingeebnet,

die Wörter ohne Münder,

und rufe mir,

bodenlos heiter,

die Freunde

an den Saum des Abends,

bis das Kind

in den Kreis tritt,

mir den kommenden Tag

verspricht.

 

(für Hildegard)

18.

Nein,

kein Land mehr,

das im Schauen

weit wird.

Die Gegend

nimmt ab

und genügt mir.

Ab und zu

die Steig hinauf,

zur Schwelle vor

der Ebene oben:

ein Herzsprung.

Um den Berg wandernd,

hole ich,

Szene für Szene,

mich ein:

Bis der Greis

hinunter

stolpert.

Ihm genügen

ein paar Schritte

hier

zu sein.

19.

Am Hals

ist mir seine Ader

gesprungen.

Er hat immer besser

singen können als ich.

Als Kind hätte ich

seine Wörter

in einem Baukasten

sammeln wollen.

In Bahnhofslokalen

warte ich auf ihn.

Für ein Glas Wein

nimmt er mich

auf seine Reise mit,

vergisst mich gleich,

damit ich wieder

auf ihn warte.

 

(für Peter Bichsel)

20.

Fang die Stimme ein

und nicht den Vogel.

Schließ die Augen

und geh ins Bild.

Ich könnte mit Macke

nach Tunis reisen,

mit Klee nach Kairuan.

Kannst du Farbe

falten,

Noten springen lassen?

Nur eine Reise noch –

nicht nach Tunis,

nicht nach Kairuan.

Fang die Stimme ein.

Und geh ins Bild.

21.

Ein Balkon aus Papier,

handtellergroß,

für jeden Morgen.

Das ist kein Kinderspiel.

Diese ein wenig

fahrige Mühe,

den Tag zu gewinnen,

dem ersten Satz zu trauen,

ohne ihn auszusprechen,

Sonnenflecken zu zählen,

den Atem zu hören

und den Rauch der Zigarette

gegen die offene Hand

zu blasen.

Jeder Morgen

könnte mir fehlen.

22.

Vorboten kommen:

Totems und Krüge,

Wolken, die ihre Schatten

zurücklassen

auf der Terrasse

und Vogelschwärme,

die sich am Horizont

stauen.

Der Abdruck von Händen

auf dem Tisch,

noch warm in der Form.

Und Stimmen, die an

den Gegenständen haften,

hier, jetzt.

Nicht ein Satz reicht

über diesen Winter

hinaus.

23.

Ein letztes Mal

in Golems steinernen Büchern

blättern.

Nichts wird mehr erzählt.

Ich verwechsle Schatten

und wage es nicht,

sie anzureden.

Vielleicht mein Vater –

er verliert sich

in der Schrift.

Er plante sein Glück.

Er lernte das Recht.

Dem Kind stellte er

die Heiligen

auf der Brücke vor.

Und Wörter warf er

in den Fluss:

dreiunddreißig Tauben.

Ich wiederhole Gänge,

seine, meine.

 

(Prag)

24.

An den Ufern meiner Stadt

treffen sich

die Abgelebten,

dünnhäutig und schweigsam.

Manchmal tanzen sie

nach einer Musik,

die nur laut wird,

wenn die Leiber

sich vermengen –

ein kostbares, sehr altes

Geräusch.

Dann brandet an,

was sie mitnimmt.

25.

Die Koffer sind leer.

Aber mein Schubert trägt

schwer an ihnen.

Die Adressen habe ich

nicht für ihn ausgesucht:

Himmelspforte und Himmelsberg.

Auch nicht, dass Komtesse Karolin

im Fuße eines Windrads

verschwindet.

Es ist ein Einfall

der Gegend.

Hier nämlich ist er

seit zwei Wintern

unterwegs.

 

(Melchinger Winterreise)

26.

Eingewachsen

in meine Armbeuge.

Ich kann dich wiegen,

Kind,

in den Tag,

in den Abend.

Bewahrt bist du

in allen Fluchten,

vor den regnenden Steinen,

vor den steigenden Wassern.

Am Ende wird

das geteilte Leben

dir gehören, Kind,

entwachsen meiner Armbeuge.

 

(für Hannah)

27.

Mein Haus wird mit mir alt.

Es senkt seine Schwellen,

um meinen Schritten

wohlzutun.

Es legt den Garten um sich,

einen immerfort

sich wandelnden Schal.

Es schickt,

mich zu locken,

Kinderstimmen über die Flure

und schichtet

die einst gelesenen Bücher

um

für Anfänge.

Nur wartet es nicht mehr auf mich.

Ich könnte gehn.

Längst ist es unterwegs

mit mir.

28.

Am Kinderhaar

aus der Fluchtspur gezerrt.

Was heißt schon:

gerettet.

Da kreuzen sich wieder

Lichtfinger am Himmel, der

seinen Horizont verbrennt.

Keinen wirst du

dort mehr erkennen.

Vergiss, sagt Mutter,

den Koffer nicht

mit den Papieren.

Der ging mir immer

verloren.

Nun hört das Kind,

ohne mich,

auf zu reden

im neuen Krieg.

29.

Kommt über die Rampe

und wirft mit Noten,

streut Wörter aus,

kehrt um und

sieht sich zu.

Wenn er nur wüsste,

wer er ist, sein soll,

jetzt oder dann,

ihm sagt es keiner.

Doch ist er, was er war,

nichts als ein Gedanke,

eine Laune mit Namen und Leib:

Komm über die Rampe,

komm wieder!

 

(für Ursula Bothe)

30.

Ich erzähl dir einen Garten,

unsern letzten, ich erzähl

dir zuerst die Hecke, damit

der Himmel seine Grenze hat,

ich erzähl dir Blumen,

die ihre Farben tauschen,

ich erfinde dir einen Teich,

in dem die Schatten Körper werden,

Nixen und Nöcks, und Bäume setze ich,

die von einem Tag in den andern

ihre Äste verschränken – ein Schirm

aus Laub und Vogelstimmen,

ich spanne dir den Rasen aus,

das alte Tuch mit Kindertritten,

und alle Jahreszeiten schick ich

in einem Atem drüber weg –

einen Garten erzähl ich dir,

unsern.

 

(für M.)

31.

Plötzlich die Hand

voller Vogelherzen:

ein Instrument für meine

mährische Musik.

Hier

wird sie nicht gehört.

Janáček hat

für sie Linien gezogen.

Wie könnte ich,

mich gegen mein Spiegelbild lehnend

im Fluss,

in der grünen Kindermarch,

wie könnte ich

meine Hand ballen zur Faust:

ach, dieses spürbare,

pochende Lied.

32.

Sätze –

schon unter der Zunge,

schon im Papier,

gespreizt haben sie sich,

sich aufgeführt,

gelogen, geliebt,

haben Feuer gefangen

zwischen Atemzügen,

sind Haut geworden

und Haar.

Nun, nach ihrer Zeit,

nach unserer,

wissen sie nichts mehr

von sich,

von uns.

33.

Meine Toten wachsen

in mich hinein,

stumme, sich ausbreitende

Geschwüre.

Maserungen in meinem

Fleisch.

Mit der Zeit

werden sie mehr sein

als ich.

Wucherungen,

die meiner Seele

den Raum rauben.

Nur mein Gedächtnis

sparen sie

aus.

34.

Das Kind

liegt auf dem Rücken

und bespricht Wolken.

Ich ruf es

unter den Holunder,

dort,

wo der tote Soldat,

von schwarzen Fliegen besetzt,

in die Erde sinkt,

am Ende

eine Spur von Teer

fürs Gedächtnis.

35.

Über die Schwelle

und nicht vor die Tür.

Längst ist der Morgen vermint.

Die Fische schwimmen auf dem Rücken.

Die Gräser bleichen zurück

in die Wurzeln.

Die Sterne ziehen Fäden.

Das Meer springt aufs Land.

Am Ende des Korridors,

sehr fern,

reißt sich der Terror

die Maske

vom Gesicht.

36.

Reif, sagst du.

Wenn du reif sagst,

jetzt, und über den harten

Schatten des Sommers

springst,

mich hinüber

rufst,

lehnen wir uns

gegen die Mauer,

danken dem Stein die Wärme

im Voraus.

Die Liebe,

dieser Sud der Jahre,

wird sämig,

wird fest.

 

(zum 24.6.99)

37.

Immer wieder den Wörtern

auf den Leim gegangen –

nun endlich,

satt und krank zugleich,

untergetaucht,

um sie von unten zu sehen,

ein Himmel

von faulenden Bäuchen:

Nahrung für

mein wachsendes Schweigen.

38.

Die verbrauchten Häuser

kommen geschwommen

auf meinen Flüssen.

Aufgelöst die Fenster,

die Türen im Schlick,

und vor den Mündungen angelangt

nur noch Umrisse, brüchig,

Sätzen ähnlich, die ein Kind

plappert, den Flüssen

nachredend: Neckarrheinhavelmain

39.

Du, rede ich mich an,

du flüchtig Verdoppelter,

und doch nicht gut

für den Spiegel.

Mein Du für die Dauer

dieses Gedichts:

Du, den ich hier lasse,

eingefasst in Wörter,

Du, mit dem Gedächtnis

einiger Zeilen,

Du, ein knapper Atemzug,

Du, mein wankelmütiges Herz,

mein Jetzt.

40.

Auf einer Reise

allein in einem Abteil

überraschen mich

übrig gebliebene Gespräche.

Ich kann euch nicht sehen,

klage ich.

Wie leicht verlieren Wörter

ihren Körper.

Ich rufe in die Gegenwart,

was nur

auf die Vergangenheit hört.

Wer endet hier?

Wer kommt hier an?

41.

Einer Blume die Blätter

zählen,

bis sie’s endlich weiß.

Einem Stein die Haut

abziehen,

bis er’s endlich spürt

oder

bevor dir die Lider

über die Augen wachsen,

den Tag auswendig lernen,

um ihn zu haben

für den Fall.

42.

Vorm Herbst

der mürben Gartenbank

eine Schleife an die Lehne

binden:

Leicht wird vergessen,

was die Dauer erdachte.

Aus dem Tisch wachsen,

ein Rätsel für ungefragte Gäste,

Blumen anderer Kontinente.

Ich rufe niemanden mehr,

gehe ins Haus,

und das Gras

schwärzt mir die Füße.

43.

Ich habe mir versprochen,

die Sonne in einem Kahn verreisen zu sehen

noch in jener Jahreszeit,

aus der ich,

ich weiß es,

nicht mehr finden werde.

Es könnte die Julisprache sein.

Denn ich habe aufgehört,

in Gesichtern zu lesen,

und Sandkörner bleiben

auf meiner Haut.

Die Bäume schreiben ihre

Namen gegen den Horizont.

Noch vor Nacht lerne

ich sie auswendig.

44.

Komm, fremder, mir noch fremder Schlaf,

komm, Schlaf der Alten,

träg und sprunghaft,

leere meine Träume

und leg dich am Tag zu mir,

füll mich aus,

zieh deine Teerspur

durch mein Gemüt,

schwärze meine restliche Zeit,

bis ich mich deinen Launen füge,

bis ich bereit bin,

dir nachzugeben, dir zu gehören,

mein Schlaf.

45.

Ein Nachmittag wie dieser,

aus dem Kalender verloren,

die Stühle und der Tisch

werfen Schatten, die Sonne

steht hoch, die Bäume

beugen sich im Wind.

Meine Gäste sind gegangen.

Ich rede ihnen nach

und höre mir zu.

Leicht wäre es, den Atem

anzuhalten und

der Schatten zu sein,

der noch fehlt.

46.

Weg gehen –

die Signatur einer Spinne

an der Wand:

So brüchig schreibt

die Dauer.

Traut mir nicht!

Ich setze ein Schiff aus

und warte,

bis die Flut den Garten erreicht.

Mein Blick

steht schon unter Wasser.

In diesem Herbst tanzen die Puppen,

verspreche ich meiner kleinen Königin

und werfe

die durchtanzten Schuh

für alle Fälle

über den Zaun.

47.

Einen Luftgeiger

hinterlasse ich dir,

sichtbar nur

im Gegenlicht.

Ich nehme den nächsten Zug

und spanne

eine Gegend vors Fenster,

keine von hier.

Welche Station

für welchen Abschied?

Einmal

schwenkt ein Kind

eine weiße Fahne –

ich habe es als alte Frau gekannt.

Einmal

höre ich den Geiger wieder;

es schwingt die Luft

und kündigt

das Ende der Reise an.

48.

Wie leicht ist es,

den Engeln ihr Wesen einzureden.

Sie geben nach

und kehren wieder:

Schattenflocken

zwischen dem Wacholder

oder andernorts Lichtwirbel

zwischen Zypressen.

Manchmal ist ihr Kern

zu erkennen,

nicht Tag, nicht Nacht,

aus einer Zeit,

die wir uns versprechen.

Sie nicht.

49.

Aufgeregt und lose der Himmel.

Die greisen Rebstöcke stolpern

und ihre Arme haben

kein Gewicht.

Was für eine Stadt,

steinern und poliert.

Wie soll ich die schöne Garonne

grüßen?

In welcher Sprache.

Dir fiel sie aus dem Mund.

Mir ins Gedächtnis:

Wörter schon ohne Grund,

ohne Gewicht,

frei für den hastigen Aufbruch.

 

(Bordeaux)

50.

Wie du die Silben,

die Wörter gelernt hast,

spielend – fürs Es erst,

fürs Ich und Du danach,

Sätze, die ein Leben beginnen,

Sätze grad und krumm,

lüstern, aufgebracht und aufgebraucht.

Sich brüstend im Anfang: Jetzt!

Nicht später, jetzt! Jetzt

solltest du sie alle

zurückrufen, über die Lippen

holen und schlucken,

bis mit dem letzten Wort,

schon vergessen, das anfängt,

was die Wörter

nicht mehr braucht

und keine Rede: Nichts.

51.

Unerwartet

unter die Winterkröten

geraten,

die Haut schuppig

und Erde fressend

bis an den Schlund.

Was

habe ich denn erwartet?

Unterm

geleerten Himmel

werde ich

die Tode wechseln,

bis ein anderes Jahr

das Krötenvolk weckt

zum blinden Aufbruch,

zum schrecklichen Gesang.

52.

Kann ich,

wenn ich die Haut wechsle,

dieses unscheinbarste Kostüm

mit einer Geschichte,

einer einzigen Geschichte,

die ich mir erzählte

sehnsüchtig nach einer Haut –

kann ich

den Schluss ändern,

den ich kenne?

53.

Die Wachteln, die Mörike

in einem Bauer vor seiner Tür

aufzog, rund wie er,

die seine Verse sangen –

unvermutet besetzen

sie mein Gedicht, ein

flaumiges Rudel, und wetzen

ihre Schnäbel

an winzigen Wörtern

aus Stein.

54.

So lange habe ich den Wörtern

vertraut, misstraut,

habe sie geworfen und verworfen,

hab sie bewohnt;

so lange bin ich den Wörtern

auf den Leim gegangen.

Jetzt aber ziehn sie sich

zurück,

wenden sich ab,

satt von mir

und überdrüssig

meiner Erinnerung.

Ich brauche mich nicht mehr.

 

(1.12.99)

55.

Meine Städte wachsen

zusammen.

Straßen verbinden sich,

von jetzt nach ehedem.

Parks wuchern ineinander.

Unlängst bin ich

in einem dottergelben Palais

mit einem Bischof

durch Säle gelaufen,

den Krönungsstuhl Franz Josephs

zu begrüßen.

Ein langes Regiment,

sagte der Bischof

und balancierte auf einer Brüstung

von einer Stadt in die andere.

Vergessen Sie, riet er mir,

die Namen

und vertrauen Sie

Ihren Schritten –

in die Städte hinein,

in die andern.

Nachträge für den Maler Axel Arndt

1.

Mit Kinderhand

Häuser malen.

Da schaukelt ein Zimmer

in der Luft,

und im Kanal treiben

Fassaden.

Berlin,

sagt der Maler,

es wächst sich mir aus:

Wo immer ich einziehe,

bin ich schon

gewesen.

2.

Der Platz vorm Café

schrumpft im Licht

und steigt –

eine Bühne.

Er hält sie

seit Stunden besetzt.

Der rote Stein

aus dem Gebirge

jenseits

löst sich in seinem Glas.

Ich male nachts,

sagt er,

und was ich sehe,

verliert seine Farbe.

3.

Mit dem Bleistift

eine Linie ziehn

und auf ihr fortgehn:

Sichtbar

am Horizont bleiben,

sehr klein

und

sehr beweglich.

Ich habe mich

schon vergessen,

sagt er,

und lässt seine Bilder

frei.

kommen – gehen – bleiben

I.

Eine Kehre

Geh weg, ruft das Kind

und läuft dir hinterher.

Du folgst seinem Ruf.

Es holt dich ein.

Halt an, sagt das Kind

und erzählt dich zurück.

An den Anfang eines Satzes,

den du eben noch dachtest.

Es atmet eine Weile mit dir,

es raubt dir den Atem.

Es treibt dich ans Ende

des Satzes. Es verspricht

dir ein wortloses Glück.

Komm mir nach, ruft das Kind

und läuft dir voraus.

Veränderung

Kann es ein Spiel sein?

In einem Bild Ghirlandaios

einen Stein verstecken,

zwischen zierlichen Schuhn

und Battistsäumen. Und

die Betrachter auffordern,

eine Seele zu suchen.

Wer wird sie erkennen?

Jener vielleicht, der sich

schon lange in abendlichen

Städten aufhält und

die Finsternis erwartet,

die über die Ränder steigt.

Dort, sagt er, dort

kann ich bleiben

und schiebt den Stein

tiefer ins Bild.

Dauer

Sobald ich das Kind

wiedersehe, das Kind

in dem Zimmer, das, weiß,

vom Licht verschlungen

wird, das Mädchen auf dem

Bettrand sehe, wiedersehe,

die Puppe auf dem Schoß,

verhakt ins Karo des Röckchens,

und das Buch für die

vergessenen Wörter neben sich,

das Mädchen, das nicht mehr

weiß wie ein Kind wartet,

wenn es warten soll,

sobald ich das Kind

wiedersehe, versuche ich

die Wörter zu wecken,

die es verlernte, um zu

bleiben und sicher zu sein

vor dem, was es erwartet.

Innere Bewegung

Kann die Elster den Garten

erobern?

Du sprichst zu wenig

mit ihr.

Übermorgen gibts Krieg,

schreit sie

und rauft sich die Federn.

Dass sie die Nacht

fürchtet,

sollest du wissen;

und den Tag

immer alleine anzettelt,

dem sie droht und

der schnell vergisst.

Gegenbewegung

Dieser Neckar, der umkehrt,

treibt den störrischen Kahn

dort, am Turm, vorüber,

wo die Stimme steht, seither

dieser eine Schrei aus dem Fenster;

wo die gelehrten Schatten,

aus allen Fragen entlassen,

in die Nacht aufgehen;

wo widerstrebende Wellen

die Rinde von den Stämmen

jener Bäume zärtlich schälen,

die sich seit je

im Fluss spiegeln.

Erwartung

Endlich der gläserne Himmel,

Winterhimmel,

der die Nacht über den

Rest von Licht hebt.

Eine einzige eisige Spannung,

in der Glück sichtbar wird:

Spuren von Bildern, von

Buchstaben, Engelshaaren.

In Erwartung der Sterne.

Zeitgewinn

So unterm Mond,

windig bis in die Knochen,

frei von Nachreden,

dem Morgen abspenstig,

so unterm Mond

treffen sich die Tagdiebe,

um sich auszutauschen,

sich zu tauschen

und die Spur der

gestohlenen Tage

in einem andern Licht

verschwinden zu sehn.

II.

Versuchung

Mal einen Weg, der

dir hinterm Horizont

wegläuft oder

schreib ihn –

nur weiter kommst du nicht.

Du übertreibst die Farben,

die ihn säumen, die Schatten

der Bäume, die ihn

zurechtweisen.

Noch traust du dir

den Gang nicht zu.

Du könntest aber,

wenn die Wörter, die Farben

verbraucht sind,

dich auf den Weg begeben,

und dort, wo die Farben,

die Wörter enden,

auf den Himmel treten.

Florentinischer Augenblick

Du könntest hinuntergehn

in die aufgeschichtete Stadt

und den Heiligen die Mäntel

stehlen. Am Abend könntest

du sie ausbreiten auf den

warmen durstigen Hügeln,

ihre Säume auftrennen, nach

einander, und die Reste

freilassen: die ganze Saumseligkeit

aus Wörtern, gestirnten Silben –

bereit für ein Amen

und untauglich für den Tag.

Auf Probe

Du lauschst an der Tür,

das Ohr am Holz,

lauschst einer vergangenen

Geschichte

und versiegelst sie mit Scham:

Hinter der Tür

erzählt die Liebe.

Nur noch von sich.

Aber du wolltest dich

hören und sie

wolltest du hören.

Und danach erst das alte Lied.

Danach

Orpheus, zerfallen in Asche.

Danach ist danach.

Dies eine Lied, das er konnte,

gerann zur Spur

im schwarzen Staub.

Feuer sprang vor ihr Bild.

Er hat, fiel ihm ein,

bevor er fiel, stumm sein

wollen. Aber das Lied, das eine,

mit dem er sich hörte,

verriet ihn.

Fragen

In Gedanken ein Zimmer

betreten, das du in Gedanken

verließest. Wer hat

es umgeräumt und wessen

Atem stockt in ihm?

Staub hat Buchstaben

auf die Tischplatte

geschrieben. Du mühst

dich umsonst, sie zu lesen.

Du hörst auch den Rest

einer Stimme – deiner?

Könnte es ein Lied

werden, sein Anfang?

Was erinnerst du und

wer erinnert dich?

Wer ist es, fragst du nach,

der sich verließ?

Wer blieb?

Wechsel

Dieser Ausschnitt Nacht, meiner,

in wechselnden Fenstern.

Tintig und beschwert von Schatten

oder mit springenden Lichtern.

Immer ohne Himmel und Erde:

ein Gelände für unausgesprochene

Wörter, angeredet und blind,

keine Vorbereitung auf den Schlaf,

eher der Ansatz für eine Hymne,

die dem Vergessen widersteht

vor dem schönen Wechsel der Finsternis.

Verdoppelung

Wieder der Fremde

die Nacht geöffnet,

dem lautlosen Körper,

auch einem Streifen Licht

am Rand der Erwartung.

Er bewegt sich mit deinem

Atem, mit meinem.

Ich komme zu mir, wieder fremd

für diese eine Nacht,

in der ich mich zu mir lege

und mich atmen höre.

Austausch

Wäre er austauschbar, unser Schlaf,

er müsste sich erkennen:

Kurz und tief und neben dem Leben;

frei von Bildern und Stimmen;

nichts als süchtig nach sich.

Ohne Macht, aber fest im Willen:

Der Punkt zu sein vorm folgenden Satz.

 

für György Konrád

Sinngedicht

Ein abgebrauchter Satz,

verludert in der Zeit

und doch schon Schwelle –

fest für einen Übertritt:

DAS HABE ICH NICHT GEWOLLT.

Dass du stolperst,

dass du einhältst,

ehe du ankommst mit nichts

von dem, was du wolltest.

Im Widerspruch

Unbewegt eine Wolke,

unbewegt ihr Spiegelbild im See,

unbewegt ihr Schatten auf dem Fels;

eine Wolke, die nicht kommt,

die nicht geht,

eine Wolke, aufgehalten,

bevor sie verging;

nur einmal gesehen,

leicht, beinahe zu leicht,

in einem Bett von Licht –

ausgesetzt dem Widerspruch

ihres Seins: der Dauer.

Eine Wolke im Bild.

 

für Gisela Neven Du Mont

Einfaches Andenken

So oft gesagt, so oft beteuert –

Sätze, rund um ein Brunnenloch;

oder ein Foto, aufgestellt im Regal.

Einfaches Andenken. Und Erinnerungen

an den Atem von Mund zu Mund,

diesen Austausch von Leben: Jetzt

ist es längst eingewachsen,

du in mir und ich in dir.

Abend

Das Wasser steigt

mit dem Abend.

Es ist keine Flut vorausgesagt,

sie käme nie so ruhig.

Vielleicht verwechselt

der Abend das Wasser

mit dem Licht. Ein Licht,

das wir vergessen: feucht

und mit einem atmenden

blutigen Rand. Immer

unerwartet. Licht, das

mit den Kriegen kommt,

lange vor den Klagen,

lange vor den Geschichten,

die ohne Ende bleiben werden,

dieses Licht, das dem Wasser

gleicht, an das wir uns

wieder erinnern: feucht

und mit blutigem Rand,

aus dem Stoff toter Seelen.

Taub

Die Wörter beginnen,

sich zu verstecken.

Zwischen Ebennoch und Jetzt

brechen sie auseinander.

Was sie wussten,

liegt taub herum.

Die Frage kennt die Antwort

nicht mehr und nicht

die Antwort die Frage.

Das einst Angesprochene

fällt aus dem Raum,

aus dem Sinn,

wenn die Wörter beginnen,

sich zu verstecken.

Giotto

Es könnte Wesen geben,

sage ich mir,

die uns aus Liebe

erscheinen. Seit je

sind sie um uns,

Bewegungen in der Luft,

säuselnde Zungen,

sprechende Wirbel.

Selten erfüllt sich

ihre Sehnsucht. Sie

atmen mit den Jahreszeiten.

Bis einer es wagt zu lieben,

was er nicht sieht,

Giotto, sage ich mir,

und die Erregung Gestalt annimmt,

endlich frei wird,

was ihn umgibt:

ein Engel oder die

noch ungetaufte Liebe.

III.

Lauterbacher Verse

1.

Grau5gans, dort, knapp

hinterm Morgenschatten,

vom Himmel gestürzt.

Ich auch, Gänschen.

Mir ging der Atem aus.

Hinter den Rippen

wuchs ein Stein.

Dir ist das Gefieder

schwer geworden

von unvollendeten Reisen.

Mit ein paar Schritten

bin ich bei dir, Gänschen,

weiß aber die Lieder

nicht mehr

und nicht die Märchen.

Ohne Namen wirst du

auskommen müssen,