Der Gedankenspieler - Peter Härtling - E-Book

Der Gedankenspieler E-Book

Peter Härtling

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Beschreibung

Peter Härtlings letztes Buch: ein bewegender Roman über das Alter, die Freundschaft und die Einsamkeit. Johannes Wenger, ein achtzigjähriger alleinstehender Architekt, ist gestürzt und seither auf den Rollstuhl und Pflege angewiesen. Das kratzt an seinem Selbstbild, macht den Alltag mühsam und lässt viel Raum für Einsamkeit und Wehmut. Sein junger Hausarzt Dr. Mailänder jedoch hält dagegen und Wenger am Leben, holt ihn zurück in die Welt und lädt ihn mit seiner Familie zu einem gemeinsamen Osterurlaub ein. Wie der grantige Alte auf diese Einladung reagiert, ist meisterhaft erzählt. Und was alles geschehen kann, wenn man mit einem kauzigen Rollstuhlfahrer, der gedanklich in ständigem Austausch steht mit historischen Figuren wie den Architekten Karl Friedrich Schinkel oder Mies van der Rohe, an den Strand von Travemünde reist, ist ein großes Leseerlebnis voller Komik und Melancholie. Mit viel Gefühl, genauem Blick und voller Selbstironie nimmt Härtling seine Leser mit in die Mühsal des Alters, die sich auch in seinen Träumen spiegelt, um deutlich zu machen, welch großes Glückspotenzial auch diese Lebensphase besitzt.

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Seitenzahl: 221

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Peter Härtling

Der Gedanken-spieler

Roman

Kurzübersicht

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> Titelseite

> Inhaltsverzeichnis

> Über Peter Härtling

> Über dieses Buch

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> Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

Inhaltsverzeichnis

1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. KapitelNachwort
zurück

1.

 

 

 

 

 

Die Summa Summarum des Alters ist eigentlich niemals erquicklich.

Goethe am 21.12.1798 an Friedrich Constantin von Stein

 

Ist da jemand?, fragte er, horchte in die Wohnung, sackte auf dem Schreibtischstuhl wieder zusammen. Wie so oft hatte das Parkett im Flur geknarzt. Manchmal, wenn die Stille übermächtig wurde, hatte er den Eindruck, sein Bewusstsein dehne sich aus und ströme wie Gas in die Zimmer, fülle die ganze Wohnung.

Kein Mensch, antwortete er und überlegte, wie viele Personen den Schlüssel zu seiner Wohnung besaßen. Die Schlüsselliste, sagte er sich. Aus dem Tischkalender zog er einen Zettel; fünf Schlüssel hatte er ausgegeben: an die Hilfstruppe des Diakonischen Werks, an Wagner, den seit Langem abwesenden Freund, an Frau Gutzsche, die Mitbewohnerin aus dem vierten Stock, alt und hinfällig wie er, und an seinen Hausarzt und Freund Jonathan Mailänder.

 

Seit zwei Monaten saß er fest, war er zu Hause gefangen. Ein lächerlicher Unfall war der Grund. Er war von einem Spaziergang zurückgekommen, hatte das Haus betreten, war auf den Lift zugegangen und rutschte auf einer schmierigen Masse, einem ekelhaften Überrest aus. Er geriet, sich aufrecht haltend, in einen an seinem Rumpf reißenden Spagat, aber mit zwei, drei Schritten gelang es ihm, den Sturz zu vermeiden. Einen stechenden Schmerz in der Leistengegend nahm er als Schlusspunkt wahr. Erst einige Stunden danach nahmen die Schmerzen zu, griffen auf das linke Bein über, das eigentümlich schwer wurde, eine bleierne Last. Er konnte nicht mehr aufstehen und gehen. Da er am Schreibtisch saß, das Telefon zur Hand war, rief er seinen Freund Mailänder an, schilderte das Malheur, die Schmerzen und schämte sich seines Jammers.

Er musste nicht lange warten. Mailänder kam, er hörte ihn im Flur rufen.

Ich bin im Arbeitszimmer, antwortete er und versuchte mühsam, sich aufzurichten.

Bleib sitzen!, bat ihn Mailänder. In diesem Moment, erinnerte er sich jetzt, hatte das Elend begonnen: angewiesen zu sein auf die Hilfe anderer, auf ihre Anweisungen.

Kannst du gehen?

Nein, das siehst du ja.

Ich sehe nichts.

Eben. Er hätte schreien können.

Mailänder telefonierte und wenig später stürmten Sanitäter in das Zimmer. Sie transportierten ihn in einem klinischen Sessel im Lift hinunter, schoben ihn in den Rettungswagen. Mailänder stieg mit ein, debattierte mit den Sanitätern.

Du musst nicht mitkommen.

Ich möchte wissen, was mit dir los ist.

Das über die Schlaglöcher rüttelnde Auto verstärkte die Schmerzen. Er stöhnte, jammerte.

Der Notarzt gab ihm eine Spritze, sie beruhigte, sie machte ihn schläfrig, gleichgültig.

Möglicherweise ein Beckenbruch, hörte er Mailänder.

Er hätte ihm widersprechen können, aber es fehlte ihm der Schwung.

Er ist dreiundachtzig.

Was fällt ihm ein, für mich Auskunft zu geben?, dachte er und fand den Gedanken albern.

Mit einem kleinen Luftwirbel entfernte sich Mailänder: Ich verschwinde erst einmal, bleibe aber mit den Kollegen hier in Verbindung.

Er starrte auf den leeren, ans Bett geschobenen Stuhl. Ist gut. Er wusste nicht, weshalb er etwas gut fand.

Mit dem Bett wurde er zur Tomografie gefahren und von zwei freundlichen Frauen in die Röhre geschoben. Leiden Sie unter Klaustrophobie?, fragte die eine. Er gab sich Mühe, gelassen zu bleiben. Meinen Sie Röhrenangst?

Das Mädchen lachte. Er fuhr in die Röhre.

Es wurde angesagt, wie er zu atmen habe. Einen Moment lag er still und lauschte auf das arhythmische Knallen der Magneten. Sein Körper fühlte sich an wie von jemandem anderen gedacht.

Er wurde von der glatten Liege der Röhre auf das Bett gehievt – eine lästige Last. Der Helfer, der ihn in seinem Bett durch die endlosen Krankenhausgänge schob, ein paarmal die Aufzüge wechselte, kam aus Eritrea. Er fragte ihn gleichsam Station für Station, ob es ihm besser gehe.

Besser als gut?, fragte er zurück. Da der Eritreer ihn offenbar nicht verstand und schwieg, schämte er sich dieser schnellen Gegenfrage. Er wird annehmen, ich sei arrogant. Aber ich kann überhaupt nicht so denken.

Mailänder hatte dafür gesorgt, dass er als Privatpatient ein Einzelzimmer bekam, mit kleinem Balkon zum Innenhof und einem riesigen Flachbildschirm an der Wand gegenüber dem Bett. Die Schwester, die ihn nach seiner Rückkehr aus der Röhre in Empfang nahm, kündigte für den Nachmittag eine außerordentliche Visite an. Der Herr Professor werde ihm das Ergebnis der Computertomografie erklären. Und wie es mit ihm weitergehen solle.

Das frage ich mich auch.

Sie kicherte und verließ kopfschüttelnd das Zimmer. Er lag, musterte die Zimmerdecke, und es gelang ihm beinahe wieder, sich aus seinem Körper zu entfernen, wären die Schmerzen nicht gewesen, die sich wütend aus der Leiste hinunter ins Bein drängten. Als er es heben wollte, war es steif und bleischwer. Er rief mit der Klingel nach der Schwester und bat um ein Schmerzmittel.

Am späten Nachmittag befand er sich gleichgültig am Rand des Schlafs. Dann gab es die angekündigte Visite. Mailänder und der Chefarzt, Professor Worm, traten auf. Ein gewagtes Doppel: der kompakte, eher unauffällige Mailänder und der große, spindelähnlich seine Ausführungen mit Gesten unterstreichende Worm. Er habe schon viel über ihn vom Kollegen Mailänder gehört. Außerdem lese er seine Aufsätze und höre seine Kommentare im Radio. Ich bedaure, Sie unter diesen Umständen kennenzulernen, Herr Wenger.

Mailänder begleitete die Begrüßung mit einem verlegenen Hüsteln und begann, als Worm Atem holte: Kollege Worm weiß, welchen Grund oder welche falsche Bewegung es für dieses blutige Malheur gab, und der setzte fort, indem er eine Computeraufnahme aus der Mappe zog, sich ein wenig schüttelte, mit dem durchscheinenden Blatt wedelte: Da können Sie sehen, rief er, obwohl sein Patient nichts sehen konnte, dieser schwarze Klumpen – nun sah er ihn auch – ist geronnenes Blut. Wahrscheinlich haben Sie mit der jähen Bewegung, an die Sie sich zu erinnern glauben, den Psoas Major verletzt, der blutete ein und verschwand in diesem Klumpen. Der wiederum drückt samt gereiztem und auch entzündetem Muskel auf das Bein, quält Nerven und Adern und macht das Bein schwer.

Wenger stemmte sich hoch auf das Kopfkissen: Und? Womit er Therapie oder Operation meinte.

Mailänder übernahm jetzt die Rolle des Auskunftgebers: Professor Worm rät als Chirurg ab. Er weiß nämlich über deinen angeschlagenen Zustand Bescheid: zwei Infarkte, vier Stents, ein Schlaganfall, Diabetes. Lauter Übertreibungen, mein Lieber. Eine Operation wäre allzu riskant. Wir raten zu Geduld und physiotherapeutischer Behandlung.

Was verstehst du unter Geduld?

Der Blutklumpen löst sich mit der Zeit auf, und das Bein wird beweglich.

Sie wussten nicht sich und nicht ihm zu helfen. Und wie befristet ist meine Geduld?

Zwei oder drei Monate.

Wäre da nicht eine Operation hilfreicher?

Das Nein kam zweistimmig.

Der Professor verabschiedete sich.

Mailänder zog einen Stuhl ans Bett. Ich habe Zeit. Es ist Mittwoch. Die Praxis ist am Nachmittag geschlossen. Er strich sich mit dem Zeigefinger über die Oberlippe: Wir müssen uns überlegen, wie du zu Hause zurechtkommst. Wer dir hilft.

Ich helfe mir selber, und es könnte ja eine zeitweilige Hilfe engagiert werden.

So geht das nicht, mein Lieber. Du kannst ein paar Wochen lang nicht gehen.

Wer weiß das?

Ich, das sagt mir meine Erfahrung.

Ihr Mediziner beruft euch, in die Enge gedrängt, gern auf die Erfahrung. Ist dir das womöglich aufgefallen?

Wenger wälzte sich so, dass er mit dem Gesicht zur Wand lag. Auf diese Weise entging er den Fragen der Schwester, die eben ins Zimmer kam, und dem mürrischen Abschied seines Freundes. Er redete lautlos mit sich, leise, leise, schwebte wieder in dieser Blase von erwartetem Schmerz und zufriedener Entrückung.

Langsam, sonderbar gegen sich selbst, stand er auf. Das Bett schaukelte neben ihm oder er schwankte. Ich bin elend allein, dachte er. Ich lebe menschenlos. Was Mailänder auch immer von mir denkt, ich muss mich ihm erklären.

Nach einem knappen Klopfen erschien eine der Schwestern, um seinen Zucker zu prüfen.

Aus Zucker bin ich nicht. Solche albernen Sätze fielen ihm ein, sprangen ungebeten in sein Bewusstsein.

Welchen Finger?, fragte sie.

Wählen Sie, gab er zur Antwort und ihr die Hand. Er sah, wie der Himmel hinterm Fenster rosa wurde, und hörte die Sirene eines Rettungswagens. Die Schwester gab sich Mühe, ihn den Stich in die Fingerkuppe nicht merken zu lassen. Er wartete mit ihr, bis das Messgerät Auskunft gab. Hundertvierzig, sagte sie, wir müssen nicht spritzen. Wir, sagte sie und bezog ihn in die Therapie ein. Dieses Krankenhaus-Wir.

Wir können jetzt schlafen, sagte er sich.

Sie haben Zeit, bis der Herr Professor kommt, sagte sie.

Ich kann ja nicht davonrennen.

Er nickte ihr hinterher. Auf einmal befand er sich wieder im Vakuum. Kein Geräusch. Kein Besuch. Nur am Rand des Bewusstseins der Schmerz und der hechelnde Atem in der Brust. Er sollte sich Mailänder erklären, ihm einen Brief schicken. Er drückte den Kopf ins Kissen, schloss die Augen und schrieb in Gedanken:

Hallo, Mailänder, mein Hausarzt, später Freund und Behüter.

Du fragst Dich und mich, wie ich so geworden bin, meinen momentanen Zustand erreicht habe, als notorischer Einzelgänger, Einsamkeitsverkoster, einer, der Häuser gebaut hat und unbehaust blieb, einer, der schreibt und von allen guten Geistern verlassen ist, einer, der verschwinden möchte, der es genießt, immerhin mit Einschränkungen da zu sein. Als Kind war ich spillerig, dünn, wurde als Schwächling verspottet, doch in der Schule legte ich los, spielte eine andere Kraft aus, nicht die der Muskeln, sondern die des Hirns, für die wurde ich simultan verprügelt von den Mitschülern und von den Lehrern, am Ende gab ich auf, ein unordentlicher Nachkriegsgymnasiast. In einem Architekturbüro in Stuttgart, dem Büro des weltberühmten Baumeisters Behnisch, bekam ich eine kaum sichtbare Stelle als Bote, Zuträger, Hilfsarbeiter. In den Pausen besuchte ich die Buchhandlung Eggert, trank dort Kaffee und unterhielt mich mit Leuten, die es sonst vermieden, sich mit mir zu unterhalten. Ich hatte so gut wie keinen Kontakt mit den Kollegen und Kolleginnen im Büro, und ich merkte nicht, mein Doktor Mailänder, dass ich ständig für mich reagierte, Partei nahm und dissozial wurde, krank, ja, krank, aber noch lange nicht krankenhausreif. Wenn nach jemandem im Büro gerufen wurde, dann war ich es, der Bürodepp. Was mit dem Kerl anfangen, fragte sich vermutlich mein Arbeitgeber.

Eben hat der Pfleger Dennis mich unterbrochen, eine hartnäckige Pflegeerscheinung, die dafür sorgt, dass ich rechtzeitig meinen Finger hinhalte. Welchen bitte?

Mein Stuttgarter Arbeitgeber, auf den ich zurückkomme, hielt mich dazu an, nein, schlug mir vor, Projekte zu beschreiben. Das gefiel mir. Mit Sätzen planen, mit Wörtern bauen. Ich fand mich dafür begabt. Also bekam ich meinen eigenen Schreibtisch und war gefragt. Meine Schriften, eine Beschreibung von Häusern und Stadträumen, fanden Anklang bei Fachleuten, sie wurden nachgedruckt, und bald baten mich Fachzeitschriften um Beiträge. Mein Chef war zufrieden mit mir.

Nichts folgt, Mailänder, worauf Du gespannt bist, keine große Liebe, keine Partnerin, die es gab, niemanden. Ich nahm an, ich sei schwul, und war wiederum überrascht, dass ich mich mit niemandem einließ. Ich verschwand nach Groningen, wo ich an der Universität als Zeichenlehrer eine Stelle angeboten bekam, ein Appartement im Studentenwohnheim hatte, eine Schweigehöhle, Ausgangspunkt für Spaziergänge durch die Stadt, am Meer entlang.

Merkst Du erst für Dich, dass Du älter wirst? Ich merkte es nicht. Ich erwarb mir im Lauf der Jahre ein Bewusstsein, das sich der Veränderung widersetzte. Allerdings litt ich zunehmend an der sich steigernden Dummheit und Mordlust in der Welt. Der Dschihad tat seine Wirkung und stärkte mein Misstrauen gegen jeden.

Eben besuchte mich der Professor. Er hat eine eigentümliche Methode, mich aus meinem Heilschlaf zu reißen: Er räuspert sich drei Mal, immer genau drei Mal, dann flüstert er zischend meinen Namen. So sticht er tief in meinen Schlaf. Er wolle mir mitteilen, dass ich morgen entlassen werde. Entlassen – so als sei ich in meiner Krankheit gefangen. Stimmt ja auch.

Diesen Brief schicke ich nicht ab, Mailänder. Jetzt rufe ich Dich an und bitte Dich, mich aufzufangen, einen alten Mann, der nicht unschuldig ist an seinem Elend.

Er müsse auf den Arztbrief warten, erklärte ihm am Morgen die Schwester. Aber sein Arzt, der Herr Doktor Mailänder, werde mit ihm warten, also könne sich der Professor Zeit lassen für seine Erklärungen. Der Professor selbst schreibe nicht. Also mit Genehmigung des Professors der Oberarzt.

Er brachte, was er mit Genugtuung feststellte, die harsche Dame zum Seufzen. Sie verschwand wiederum und machte dem Team mit der Sitzwaage und dem Frühstück Platz.

Er wartete auf Mailänder, schämte sich seiner Ungeduld. Ich müsste mich kontrollieren, sagte er dem Zimmer. Mailänder hatte seine Praxis, und er konnte die Patienten nicht nur seinem Kompagnon überlassen, bloß weil er einen allzu alten Freund aufgegabelt hatte und sich nun aus Anstand um ihn kümmern musste. Aus Anstand! Ihm fiel ein – es musste ihm jetzt einfallen –, wie sie sich kennengelernt hatten. Ihm war im Supermarkt schwindelig geworden und er war zwischen die Regale gefallen. Ein junger Mann hob ihn mit einem erstaunlich gekonnten Griff auf, fragte, ob er ihn nach Hause bringen oder ein Taxi rufen solle. Er entschied sich in undeutlicher Sprache für die Begleitung. Der Mann brachte ihn nach Hause, ging ganz selbstverständlich mit in die Wohnung, fragte nach dem Schlafzimmer, half ihm beim Ausziehen und erwiderte lachend auf seine Bitte, doch einen Arzt zu rufen: Der bin ich.

Er fragte sich, warum er sich ihm anvertraute. Bin ich schwul?, fragte er sich von Neuem. Ist mir alles egal?, fragte er sich. Er ist mir geschickt worden, sagte er sich an einem der Abende nach seiner Heimkehr, ein Schutzengel, getarnt als Arzt, als mein möglicher zukünftiger Arzt.

Mailänder nahm die Rolle an, ging in ihr auf. Nun regelte er die Heimkehr seines alten Freundes, bestellte den Pflegedienst, Einrichtungsgegenstände für Hinfällige, zum Beispiel zwei Rollatoren, einen für drin, einen für draußen, den Rollstuhl, den roten Knopf, der an einem Armband befestigt war und mit dem er auf Druck die Johanniter rufen konnte. Er hielt fast alles für demütigend und lächerlich.

Er saß am Bettrand und wartete darauf, angezogen zu werden. Und was geschieht, wenn jemand klingelt, wer öffnet ihm?, fragte er sich, und in einem Atemzug setzte er fort: Du kannst dir gar nicht vorstellen, Mailänder, wie ich als junger Mann Vespa gefahren bin, oftmals waghalsig auf rutschigem Kopfsteinpflaster.

Mailänder musterte ihn lächelnd. Wie kommst du darauf?

Eben so, manchmal schießen Bilder in mein Bewusstsein, wie kurz vorm Sterben.

Quatsch.

Er wusste, dass er mit solchen Bemerkungen Mailänder verdross.

Ein offensichtlich schwerer blauer Eisenkanister wurde von einem jungen Mann, den er nicht kannte, ins Schlafzimmer gerollt.

Er beugte sich in seinem Stuhl nach vorn und verfolgte interessiert, die Hände gefaltet, was geschah. Ist das eine Bombe, fragte er, für den Fall, dass sich meine Geschichte zu lange hinzieht?

Mailänder antwortete ruhig, ohne sich von ihm provozieren zu lassen: Es ist ein Sauerstoffgerät. Du brauchst es.

Ich brauche es. Alles, was ihr hier reinschleppt, brauche ich. Damit ich nicht allein bin. Ich setze eine Industrie in Bewegung. Manufakturen von Rollatoren, Rollstühlen, Badewannenliften, Sauerstoffgeräten, Masken, ein Bett mit Galgen, Damen aus der Pflegestation, einen Arzt, der zum Glück beschloss, mir Freund zu sein.

Hör auf!

Ja, und die Verbände, die Windelhosen, die Insulinpens, die Tablettenhäufchen! Das alles auch. Hast du im Tagebuch des großen Kertész gelesen, dass er sich ärgerte über die impulsiven Urinstöße, wenn er das Wasser nicht mehr halten konnte, in die Hose pinkelte. Er besaß die Größe, diese Kleinkinderschwäche öffentlich zu machen, ein alter Dichter!

Er holte Luft. Zu seiner Überraschung meuterten die Bronchien. Ich rattere mal wieder, stellte er fest.

Mailänder war mit einem Sprung bei ihm, legte den Kopf lauschend an seinen Rücken. Man hört nichts. Eine vorübergehende Störung.

Er schloss die Augen, hörte in sich hinein und spürte die Leere wieder, die Gleichgültigkeit. So könnte ich anfangen zu sterben, sagte er und fügte hinzu: Ich bin müde.

Versuch zu schlafen, riet Mailänder.

Das muss ich nicht.

Schlafen?, fragte Mailänder verblüfft.

Nein, es versuchen. Diese Müdigkeit vergiftet mich. Er könne einen wütenden und eine halbe Ewigkeit dauernden Vortrag über Müdigkeit halten, über den Zustand, der vor dem Leben schützt, zugleich auch aus ihm hinausführt, dieses Gas aus dem Unterbewusstsein.

Unsinn.

Er wälzte sich zur Seite und ging auf Reisen.

 

Seit dem Klinikaufenthalt nach dem Schlaganfall schlief er, wie er dem Stationsarzt zu seinem Schreck erklärte, auf der Strecke zwischen Ohnmacht und Tod. Er versank auf den Grund des Schlafs. Da gab es so gut wie keine normalen Träume, sondern verrückte Bruchstücke. Er stand etwa in einer Reihe mit (alten) Männern an einer Wand und spürte, dass der Stein seinen Körper aufnahm, den Rücken einschloss. Er konnte sich nicht mehr bewegen. Die Männer neben ihm versuchten ebenfalls loszukommen. Auf einem Motorrad fuhr ein bärtiger Terrorist vorbei, schwenkte eine Fahne, auf der stand: »Ihr werdet geschlachtet.« Kaum hatte er den Satz gelesen, kippte die Mauer nach hinten und er lag in einer Reihe von alten Männern, die sich ächzend aufrichteten wie er. Im nächsten Abschnitt, nachdem er auf der Toilette gewesen war, sah er die Mauer aus großer Ferne. Er lief mit den anderen auf sie zu, wie von einem Magnet angezogen. Er wachte nicht auf, nein, er schoss ins Vorhandensein. Das führte zu Irritationen, zu skurrilen Reaktionen.

 

Er war allein. Mailänder hatte sich für den ganzen Tag verabschiedet, der geordnet war durch die Besuche der Helfer und Helferinnen. Sie hatten Schlüssel zur Wohnung. Sie schlichen sich entweder an oder alarmierten ihn mit einem Gruß. Die Morgenwäscherinnen, die abwechselten, mal die Feinsinnige, mal die Robuste, die Physiotherapeutin, die Dame mit den didaktisch sprechenden Händen, der junge Mann mit dem Essen auf Rädern und schließlich die Gutenachtfee, die ihn bei der kleinen Wäsche beobachtete, die Tabletten abzählte und ihm die Lantusspritze, das notwendige Insulin für die Nacht, verabreichte. Vierzehn Einheiten, pflegte er zu sagen, zu fordern.

Klar, bestätigte die Dame Tanja, bitte den Bauch frei machen.

Jetzt wird sie die vielen blauen Flecken beklagen, die sie mit ihrem Spieß verursacht hat, dachte er jedes Mal.

Er fragte sie aus, was sie in den Ferien vorhabe.

Sie bleibe mit ihrem Kind zu Hause, gehe an den Badesee und genieße die freie Zeit.

Dann geht es uns ähnlich, stellte er fest und streckte sich.

Sie lachte, schüttelte den Kopf: Nein. Das doch nicht.

Nein?

Das meinen Sie doch nicht im Ernst.

So wie es um mich steht.

Sie verließ ihn mit einem Seufzer: Schlafen Sie gut.

Er fischte sich Fontanes »Stechlin« vom Nachttisch. Seit Tagen las er wieder in dem Buch. Unterhielt sich wach und vor sich hin dämmernd mit Dubslav von Stechlin. Zeit, ihm einen Brief zu schreiben:

Immer wieder, verehrter Herr von Stechlin, habe ich mich in Ihre Gesprächsrunde gestohlen, es gewagt, Ihnen beizustimmen, zu entgegnen, mich auf die Seite Ihres Pfarrers zu schlagen, Woldemar zu applaudieren, Melusine mit Ihnen nachzuerzählen. Ich habe Sie zu Grabe getragen, begleitet von Ihrem Sohn und Ihren Freunden. Nun bin ich Ihnen Jahre voraus, besitze kein Gut, bin nicht preußisch verwurzelt, bin mutterseelenallein, wenn ich in die Grube fahre. Kein Kind wird mir ein Blümchen aufs Grab legen. Da sollten Sie einmal in sich gehen, höre ich Sie sagen. Ich bin es, gebe ich Ihnen und mir zurück. Ich bin nicht nur in mich, ich bin in mir umhergegangen. Sie scheinen das auch gekannt zu haben, Herr Baron, wenn die Tage öder wurden, die Einsamkeit Sie schnürte und das kommode Dasein auf dem Gut nicht mehr half, wenn das Warten auf Woldemar und seine Kumpane zu sehr anstrengte und die Gesprächsrunden mit den Freunden zäh wurden. Ich wäre da, Verehrter, gerne laut geworden, hätte Ihnen den Bismarck ausreden und Ihnen erklären wollen, dass alle Übel, die Sie beklagen, sich im Laufe der nächsten Jahrhunderte furchtbar vergrößern würden, dass der Anstand, auf den Ihre Welt so nachdrücklich Wert legte, dahinschwände in einem widerlichen Knäuel von Neid, Besserwissen und Mordlaune. Sie, Verehrter, zählen zu einer verschwundenen Herrenart, den Junkern. Aber Ihr Wissen entfernte sich weit von denen. Sie kannten keine Anmaßung, haben sich nicht aufgeblasen, traten und trieben nicht andere. Sie waren das, was Sie dachten. Wahrscheinlich beneide ich Sie nur um Ihre Melusine, dieses rätselhafte liquide Geschöpf. Sie ist eben dazu gemacht, die Träume alter, einsamer Männer zu bewegen. Pardon – nehmen Sie mir diese Zudringlichkeit nicht übel.

Er schlief ein und schlief den Träumen voraus. Bis das schallende »Guten Morgen« der Pflegerin ihn weckte, an diesem Morgen eine junge Frau, die ihre Energie an ihm auszuprobieren dachte, wie er fürchtete.

Er kroch langsam aus dem Bett. Sie sprang ihm bei. »Springt ihm bei« – was für eine treffende Wendung, dachte er, und dachte, warum mir das gerade durch den Kopf geht. Sie schob ihn auf den kleinen Rollstuhl. Er taumelte, strengte sich nicht an, was sie ihm vorwarf. Naja, antwortete er. Während sie ihn ins Bad schob, erklärte sie ihm das Wetter »draußen«. Er musste unbedingt ihre Laune einschwärzen.

Ferien an der See plane ich sowieso.

Ah! Sie reagierte kurz und erstaunt.

Trauen Sie mir das nicht zu?

Sie sind doch krank, Herr Wenger.

Da stimme ich Ihnen aus schwachem Herzen zu, Schwester. Also, auf zur Morgenwäsche.

Wann immer er mit dem Waschlappen traktiert wurde, am Bauch, am Rücken, an den Beinen, im »Intimbereich«, verlor er sich als Subjekt, wurde zum Objekt, ein Gegenstand, der gesäubert wird. Dennoch bemühte er sich, den Gegenstand vergessen zu machen. Wenn die Pflegerin ihm den Rücken wusch, atmete er zufrieden durch.

Tut gut?, fragte die Dame, die ihm für diesen Augenblick nah war.

Jaja.

Warum, fragte er sich jedes Mal während der Prozedur, der die wechselnden Pflegerinnen ihm aussetzten, warum empfinde ich keine Scham mehr? Alt und nackt. Hilflos. Warum begehre ich nicht auf, ziehe ich mich nicht zusammen, wenn die über Jahrzehnte jüngere Frau ankündigt: Jetzt kommt der Poppes dran.

Er starrte in den Spiegel über dem Waschbecken, in dem er sich nur als Schemen erkennen konnte, legte die Hände vors Gesicht.

Ist Ihnen nicht gut, Herr Wenger?

Es könnte mir besser gehen.

Es wird besser, bestimmt.

In solchen Wortwechseln wurden Klage und Trost banal.

Er fuhr sich mit den Händen durch die Haare.

Ich bringe Sie in Ihr Zimmer zum Ankleiden.

Bringen Sie.

Die Dame zog ihn an.

Die Arme heben für die Ärmel.

Er tat’s.

Es wiederholte sich: das Kind, der Greis. Es könnte jetzt seine Mutter sein, doch sie würde ihm unter Tränen helfen. Vielleicht, vielleicht unter Gelächter.

Die Hosen waren bis über die Knie gezogen. Dem folgte die geübte Aufforderung: Aufstehen! Die Dame zog ihm die Hosen über den Bauch. Er musste noch zum Kämmen ins Bad.

Fertig für den Ausgang, sagte er mit bleichem Gesicht in den Spiegel.

Als das Mädchen neben ihm die Augen rollte, sagte er: Ich weiß, ich übertreibe, damit Sie sich aufregen können.

Sie ließ ihn stehen mit einem ausgekühlten: Bis heute Abend.

Er sah ihr im Spiegel nach. Er sah sich, horchend, mit offenem Mund. So wollte er sich nicht sehen, schloss die Augen, horchte in die Wohnung, ausdauernd, hielt sich am Waschbecken vorm Spiegel fest, horchte in die Stille, nachdem die Wohnungstür ins Schloss gefallen war.

Die Stille wurde dicht, schloss ihn ein. Er öffnete die Augen, sah sich an, trat neben den Spiegel, verließ ihn, hörte nun sich, drohte das Gleichgewicht zu verlieren und sagte sich, nicht ohne Hohn: Wozu hast du den roten Notknopf der Johanniter am Arm. Drück ihn und die tragen dich zum nächstbesten Sofa.

Dann entschloss er sich, Schrittchen für Schrittchen über den Flur ins Arbeitszimmer zu gehen. Die Schwester hatte ihm die Zeitung auf den Schreibtisch gelegt, so wie er es mit ihr ausgemacht hatte. Er überflog die Schlagzeilen auf der ersten Seite; was er las, hatte er bereits am Vorabend aus dem Fernsehen erfahren. Es schüttelte und schlug ihn von Neuem. Der blanke Wahnsinn tobte sich auf dem Globus aus. Offenbar war die Menschheit von einem apokalyptischen Virus heimgesucht. In Nizza raste am Feiertag der Französischen Republik ein Wahnsinniger, ein Angestifteter, in die feiernde Menschenmenge, tötete siebzig Menschen, darunter viele Kinder; in der Türkei putschte das Militär offenbar in Eile und unzulänglich. Der Putsch wurde niedergeschlagen, der obsiegende Potentat zettelte den Mob zu böser Rache an. Anzetteln und anstiften sind eigentlich Kinderwörter, für Spiele, dachte er.

Er stemmte sich aus dem Stuhl und ging zum Bücherregal neben der Balkontür. Dort standen, neben der Fachliteratur für Architekten, Gedichtbände. Den Mörtel der Romane habe ich entfernt, hatte er Mailänder die kuriose Ansammlung erläutert.

Viele Gedichte sind bewohnbar, gleichen Zelten oder Kirchen. Er war auf Hikmet gekommen, als er von seinem Büro nach Istanbul geschickt wurde, um den Ausbau der Deutschen Schule vorzubereiten. Eine Buchhändlerin hatte ihn empfohlen: Er sei der größte türkische Dichter der Neuzeit.

Ein Kommunist!, wusste sein belesener Chef. Und er sagte auch gleich die Verse auf, die er noch immer auswendig kannte:

»Leben, einzeln und frei,

wie ein Baum und dabei

brüderlich wie ein Wald.

Diese Sehnsucht ist unser.«

Na ja, ein wenig naiv, befand der Chef damals, aber gesungen wird die Schmonzette auch. Er las Hikmet, bewunderte und brauchte seine Gedichte. Außerdem gelang es ihm, seinen Kollegen mit Hikmet auf die Nerven zu gehen. Wenn er zitierte, hieß es: Der Hauskommunist predigt schon wieder.

An Hikmet schrieb er nicht in Gedanken. Er setzte sich an den Schreibtisch und tippte den Brief in die kleine Hermes, die als Erinnerungsstück neben dem Computer ihren Platz beanspruchte:

Großer Nazim Hikmet,

ich schreibe an Sie auf einem Maschinchen, einer Hermes, dessen rhythmisches Klappern uns beiden vertraut ist. Wenn es einen Himmel gibt, wir können ihn uns immerhin denken, werden Sie da eine Bleibe nach dem Leben gefunden haben. Wer immer Sie holte und wählte, Ihr Land, verehrter Meister, befindet sich in Aufruhr, zerstört sich selbst, die Masse, der Mob und ein rasender Potentat – Sie haben ja Erfahrungen mit derartigen Erscheinungen – sorgen dafür. Tausende werden verhaftet, unter unsinnigen Vorwänden, in Gefängnisse geworfen und vermutlich gefoltert. Manche werden vom Mob gelyncht.