An der Pforte zur Hölle - Anna-Lena Riedel - E-Book

An der Pforte zur Hölle E-Book

Anna-Lena Riedel

0,0

Beschreibung

Wieder einmal ist sie auf der Suche nach ihrem nächsten Opfer, einem Opfer für ihren Herrn und Meister. Sie weiß, dass sie in einer Metropole wie London nicht lange suchen muss. Kurz darauf wird die bestialisch zugerichtete Leiche einer Frau auf der kleinen Themseinsel ›Chiswick Island‹ entdeckt. Drei Medizinstudenten geraten in Verdacht, die Tat begangen zu haben, denn der Mörder verfügt offensichtlich über detailliertes medizinisches Wissen. Doch ohne handfeste Beweise können Blake und McGinnis die jungen Leute nicht festhalten. Während sie noch im Dunkeln tappen, gehen die Studenten der Sache auf eigene Faust nach und geraten dabei in tödliche Gefahr … Werden Blake und McGinnis rechtzeitig zur Stelle sein, bevor die Studenten die Pforte zur Hölle durchschreiten?

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 304

Veröffentlichungsjahr: 2019

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Ähnliche


An der Pforte zur Hölle

An der Pforte zur Hölle

Mystery-Thriller

von

Anna-Lena & Thomas Riedel

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar

2. Auflage (überarbeitet)

Covergestaltung:

© 2019 Susann Smith & Thomas Riedel

Coverfoto:

© 2019 depositphoto.com

ImpressumCopyright: © 2019 Anna-Lena & Thomas RiedelDruck und Verlag: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.deISBN siehe letzte Seite des Buchblocks

»Gehet ein durch die enge Pforte.

Denn die Pforte ist weit,

und der Weg ist breit,

und ihrer sind viele,

die auf ihm hineingehen«

Matthäus 7:13

Kapitel 1

E

s war eine regenfreie und sternenklare Nacht, die erste seit vielen Tagen. Sonnenschein, Wolken und Regen hatten sich tagsüber häufig innerhalb weniger Minuten abgewechselt. Die Temperatur schwankte zwischen dreizehn und achtzehn Grad. Durch die riesige bebaute Fläche entstand in Großbritanniens Hauptstadt ein Mikroklima, welches die Wärme speicherte und dadurch für Werte sorgte, die im Mittel um fünf Grad höher lagen. Für London und seine gemäßigte Klimazone, die vor allem durch den atlantischen Golfstrom beeinflusst wurde, war es typisches Aprilwetter. Gegen Abend war ein leichter, abkühlender Wind aufgekommen und das Thermometer mochte jetzt um die acht Grad anzeigen.

Es ging auf Mitternacht zu. Nach und nach leerten sich die Straßen. Die meisten Menschen mussten am nächsten Tag wieder zur Arbeit und für sie wurde es Zeit schlafen zu gehen. Remington Cartwright, ein drahtiger, aber bereits in die Jahre gekommener Mann, war weit davon entfernt Ruhe zu finden. Bei ihm hing wieder einmal der Haussegen schief und nach einem erneuten Streit mit seiner Frau, hatte er fluchtartig die Wohnung verlassen. Ziellos lief er durch die dunklen Straßen, einzig um nicht zu Hause sein zu müssen. Ab und zu blieb er stehen und strich sich mit einer müden Bewegung über den schon fast kahlen Kopf.

Er gab sich schweren, düsteren Gedanken hin. Wieder einmal wünschte Cartwright seiner Frau die Pest an den Hals, besser noch den Tod. Nach dem abendlichen Streit wäre er ihr am liebsten direkt an die Gurgel gesprungen. Tatsächlich hatte sogar für einen Augenblick mit der Idee gespielt, sie zu erdrosseln, aber das schaffte er dann doch nicht. Irgendwie hatte sich alles zwischen ihnen verändert. Aus ihrer anfänglichen Liebe war mit den Jahren ein abgrundtiefer Hass entstanden. Schon oft hatte er darüber gegrübelt und sich gefragt, wie es nur soweit kommen konnte. Aber eine wirkliche – eine befriedigende – Antwort hatte er darauf nicht gefunden. Mehrfache Anläufe die Situation zu verbessern, wieder aufmerksamer zu werden und ihr von Zeit zu Zeit Blumen schenken, hatten am Ende nichts geändert. Sie verstanden sich einfach nicht mehr.

Der Wind ließ ihn frösteln. Er schlug den Kragen seines Mantels hoch und korrigierte ein wenig den Sitz seines Schals. Noch wollte er nicht zurück und überlegte irgendwo einzukehren. Vielleicht würde ihm ein Whisky guttun.

Er war gerade in eine weitere Nebenstraße abgebogen, als plötzlich, wie aus dem Boden gewachsen, eine Frau vor ihm stand.

Sie trug einen mittellangen, schwarzen Wollmantel mit Pelzbesatz. Lange rabenschwarze Locken quollen unter der Kapuze hervor. Um ihre schmalen Lippen spielte ein grausames, kaltes Lächeln, als sie ihn mit ihren dunklen Augen ansah. Ihr Gesicht hatte einen fast schon ungesunden, kalkweißen Teint, der ihr, in Verbindung mit schwarz geschminkten Lippen, einen geradezu grotesken, maskenhaften Ausdruck verlieh.

Gerade wollte er mit einem Schritt ausweichen, um an ihr vorbeizugehen, als sie ihm in den Weg trat.

»Hallo, Remington Cartwright«, sagte sie mit sanfter, eindringlicher Stimme. »So voller Zorn?«

Ungewollt blieb Cartwright stehen. Irritiert blickte er sie an und fragte sich, wo sie sich schon einmal begegnet sein könnte.

»Du fragst dich gerade, woher du mich kennst«, lächelte sie. »Nein, du kennst mich nicht. Aber ich … ich kenne dich und auch ich deine Wünsche, Remington Cartwright.« In ihren Augen flackerte es kurz auf. Dann zischte sie leise: »Und mein Herr und Meister wird sie dir erfüllen!«

»Wenn man Alkohol nicht verträgt, dann sollte man sich davon fernhalten, Miss!«, knurrte er schlecht gelaunt. »So eine Spinnerin, wie Sie, die hat mir heute noch gefehlt!« Er hob seine rechte Hand und wollte die Frau beiseiteschieben. »Sie gehen jetzt besser ganz rasch nach Hause und schlafen ihren Rausch aus, Lady! Ich habe echt keinen Bock auf ...«, reagierte er grob, als sich die Frau näher an ihn heranschob, doch seine Stimme wurde zunehmend leiser und verebbte dann ganz.

Ihr Blick ruhte auf ihm, und in ihren schwarzen Augen lag etwas Seltsames, Zwingendes, Gebieterisches, das er nicht genau zu deuten wusste. Nein, dachte er, verrückt war sie ganz sicher nicht. Unentschlossen ließ er die Hand sinken, mit der er sie bereits auf rabiate Weise hatte zur Seite drängen wollen. Unwillkürlich versuchte er über ihren Atem herauszufinden, ob sie vielleicht betrunken war, konnte aber keine Alkoholfahne feststellen.

Aber wenn du keine ausgeflippte Spinnerin bist und auch nicht betrunken, was bist du dann?, fragte er sich.

Plötzlich lief Remington Cartwright eine Gänsehaut über den Rücken und er verspürte den Wunsch, so schnell wie möglich aus dieser dunklen Straße, mit den wenigen Laternen und menschenleeren Bürgersteigen, zu verschwinden – nur um diese fremde, seltsame Frau mit den eisigen Augen nicht mehr zu sehen.

»Nichts für ungut, Miss«, murmelte er deshalb und wollte schon hastig weitergehen, als ihn die Unbekannte am Arm zurückhielt.

»Nicht so schnell!«, sagte sie leise, ohne beim Sprechen großartig ihre Lippen zu bewegen. »Warum so abweisend, Remington Cartwright?« Ihr Blick hielt ihn fest, ebenso wie ihre langen, schmalen Finger seinen Oberarm. »Ich habe dir doch gesagt, dass ich dein Problem kenne!«

Erst jetzt fiel ihm auf, dass die Fremde seinen Namen schon dreimal ausgesprochen hatte, obwohl er sich absolut sicher war, sie noch nie in seinem Leben gesehen zu haben.

»Du spielst mit dem Gedanken deine Frau zu ermorden, Remington Cartwright«, fuhr die Unheimliche fort und ließ ein kurzes Lachen folgen.

Mit einem erstickten Aufschrei prallte er zwei Schritte zurück. Seine Augen weiteten sich. Mit ungläubigem Entsetzen sah er sie an.

Ich habe mich doch immer bemüht, meinen Hass auf Ashley zu verbergen. Seit Jahren streiten wir uns wegen Nichtigkeiten, und seit Jahren wünsche ich mich weit, weit weg … oder Ashley sechs Fuß unter die Erde. Niemand im Umfeld kann davon etwas mitbekommen haben. Wie, zum Teufel, kann sie davon wissen?, fragte er sich.

»Sie hat dir wieder eine solche Szene gemacht, Remington Cartwright«, flüsterte die geheimnisvolle Frau. »Das war wirklich nicht sehr schön von Ashley.« Sie schenkte ihm ein verständnisvolles Lächeln. »Und dass alles nur, weil du gestern Abend der Kellnerin tief in den Ausschnitt gesehen hast. Dabei konntest du doch gar nicht anders, wo sich das Mädchen so aufgeknöpft gezeigt hat. Schließlich bist du ein Mann ... es liegt in deiner Natur.«

Er wollte etwas sagen, brachte aber keinen Ton heraus. Er spürte wie ihm flau in der Magengegend wurde und sich ein Zittern einstellte. Er musste sich eingestehen, dass alles stimmte, was sie sagte. Genau in dem Augenblick hatte sich der Streit zwischen ihnen entzündet.

Verdammt noch mal!, dachte er. Die die Wut auf seine Frau kehrte zurück. Ashley ist immer noch die attraktive Frau, die ich vor über zwanzig Jahren kennen- und liebengelernt habe, und sie weiß nur zu gut um ihre Reize. Laufend fordert sie die Blicke anderer Männer durch ihr provokantes, kokettierendes Auftreten heraus. Sie prüft nur ihren Marktwert, säuselt sie dann immer lächelnd, wenn sie merkt, dass mir missfällt, was sie tut. Es sei für Frauen wichtig zu wissen, ob sie noch Begehrlichkeiten wecken können, erklärt sie. Aber wenn ich mal den Blick schweifen lasse und einem hübschen Mädchen nachsehe, dann ist das gleich etwas ganz anders! Dabei bin ich ihr noch nie untreu gewesen! Ja, ich habe nicht einmal an einen Seitensprung gedacht. Sie war mir doch immer genug.

»Du hast dir doch immer wieder vorgestellt, wie ein Leben ohne Ashley wäre!« Wie ein schleichendes, sich ganz langsam ausbreitendes Gift, drang die beschwörende Stimme der unheimlichen Frau in seine Gedanken ein. »Dann wärst du endlich frei! Du bekämst dazu noch das Geld aus der Lebensversicherung und könntest wieder tun und lassen, wonach auch immer dir der Sinn steht! Du könntest wieder ausgehen, ohne dass sie dir laufend eine Szene macht, und dir eine neue Gespielin suchen.« Eindringlich blickte sie ihn an. »Du weißt doch jetzt schon, dass sie wieder zänkisch über dich herfallen wird, wenn du morgen früh nach Hause kommst. Willst du das, Remington Cartwright?«

»Nein! Natürlich will ich das nicht! Wer würde das schon wollen?«, reagierte er hart und erschrak über die ungewollte Härte, mit der es gesagt hatte. »Woher wissen Sie das überhaupt alles?«

Ein geheimnisvolles Lächeln verzerrte die Züge der schönen Fremden zu einer dämonischen Larve.

»Das Böse hat seine Augen und Ohren überall«, wisperte sie. »Wann immer ein Sterblicher es ruft, so entgeht es ihm nicht.« Wieder blickte sie ihn zwingend mit ihren funkelnden, schwarzen Augen an. »Und jetzt, Remington Cartwright, … jetzt höre mir genau zu, denn dein Leben wird davon abhängen, dass du alles tust, was ich dir sage.« Sie deutete mit ihrem ausgestreckten Arm auf die gegenüberliegende Straßenseite. »Siehst den Nachtclub? Den wirst du jetzt aufsuchen und nicht vor vier Uhr früh verlassen. Bis dahin wirst du etwas trinken und dich mit den Frauen vergnügen. Vor allem aber wirst du dich bemerkbar machen! Freunde dich mit einer von ihnen an. Du weißt, sie sind käuflich und nie abgeneigt nebenbei ein paar Pfund in die eigene Tasche zu wirtschaften. Nimm eine mit zu dir nach Hause. Falls sie wegen deiner Frau fragt, dann sage ihr, die würde bei einer Freundin übernachten und du hättest eine sturmfreie Bude. Wichtig ist, dass du auf keinen Fall vor vier Uhr nach Hause kommst. Hast du mich verstanden?«

Er nickte wie betäubt.

»Und was ist dann?« Sein Tonfall klang, als wäre er schön jetzt sinnlos betrunken.

Auf dem Gesicht der ganz in schwarz gekleideten Frau zeigte sich ein diabolisches Schmunzeln.

»Dann wird mein Herr und Meister deinen sehnlichen Wunsch erfüllt haben«, erwiderte sie und fügte befehlend hinzu: »Und nun geh, Remington Cartwright! Geh!«

Wie unter einem hypnotischen Zwang folgte er ihrer Aufforderung.

»Warum die Hölle im Jenseits suchen?«, murmelte er vor sich hin. »Sie ist schon im Diesseits vorhanden.« Er lächelte. »Rousseau hatte Recht.«

Mit unsicheren Schritten überquerte er die Straße und blieb vor dem Nachtclub stehen. Als er sich noch einmal nach der Fremden umsah, war diese nicht mehr da. Sie war verschwunden, so als habe es sie nie gegeben.

Unwillkürlich schüttelte er den Kopf und begann an seinem Verstand zu zweifeln. Wie unter einem Zwang öffnete er die Tür und trat in die rot ausgeleuchtete Bar.

Auch wenn das ganze Gerede von einem Herrn und Meister blanker Unsinn ist, dachte er, muss ich ihr zumindest in einem Punkt zustimmen. Ich will mir diese Nacht einen antrinken und mich vergnügen, um alles für ein paar Stunden zu vergessen. Und in wenigen Minuten werde ich damit anfangen.

Kapitel 2

A

shley Cartwright hatte in der Küche Wasser gekocht und sich einen Tee aufgegossen. Immer noch versuchte sie sich zu beruhigen, aber es fiel ihr schwer. Verärgert nahm sie den Teebeutel aus dem großen, dampfenden Pott und legte ihn auf einen kleinen, gläsernen Untersetzer.

»Wo steckst du nur!«, schimpfte sie, griff nach einer Glasschale, die gerade in Reichweite stand und schleuderte sie wutentbrannt gegen die Küchenwand. »Komm du mir bloß nach Hause!«, schrie sie dabei lauthals.

Das explosive Klirren der zerspringenden Glasschüssel brachte sie wieder zur Besinnung. Schluchzend stützte sie ihren Kopf in beide Hände und blieb reglos am Küchentisch sitzen.

Wie und warum ist alles nur so gekommen?, fragte sie sich. Wieso verstehen wir uns nicht mehr? Damals, vor zwanzig Jahren, … es hatte doch alles so schön angefangen. Nichts ist übriggeblieben, von all unseren Träumen, Wünschen und Hoffnungen. Ist es tatsächlich der graue Alltag, der uns beide zermürbt und zerrieben hat, bis nur noch Abneigung übrig geblieben ist ... eine, die uns das Leben zu Hölle macht?

Mit schleppenden Schritten ging sie in den Flur und besah sich in dem großen Ankleidespiegel.

Ich bin doch immer noch hübsch anzuschauen, gepflegt und attraktiv. Noch gelingt es mir, dass sich auch jüngere Männer für mich interessieren. Bei diesem Gedanken huschte ein Lächeln über ihr Gesicht. Warum nimmt Remington das nicht mehr wahr? Natürlich bin ich älter geworden und sicher kann ich nicht mehr mit einer siebzehn- oder achtzehnjährigen Kellnerin konkurrieren, … aber muss ich mich deshalb verstecken? Sie korrigierte den Sitz einer blonden Haarsträhne. Ich habe immer auf mich geachtet, trage immer noch Größe acht, bin gertenschlank und wohlproportioniert. Dabei betrachtete sie sich von der Seite und hob mit den Händen leicht ihren Busen. Ich kann zufrieden sein. Die Natur hat es gut mit mir gemeint.

»Was suchst du nur bei anderen Frauen, was ich nicht habe?«, murmelte sie leise, während sie hilflos mit den Achseln zuckte. »Und dann flirtest du auch noch mit ihnen in aller Öffentlichkeit!«

Ihre Wut kehrte zurück und ihre Augen, die die Farbe blasser Kornblumen hatten, verdunkelten sich. Sie fieberte dem Augenblick entgegen, in dem sie ihrem Mann wieder so richtig ihre Meinung an den Kopf werfen konnte.

Sie konnte nicht ahnen, dass es dazu nicht mehr kommen sollte!

Plötzlich ruckte ihr Kopf herum. Sie glaubte etwas gehört zu haben. Hatte sie sich geirrt? Sie lauschte. Es war ihr, als habe sie einen lautlosen Ruf erhalten. Verwirrt strich sie sich durch die Haare.

Da!

Sie hörte es wieder!

»Ashley!«, rief eine Stimme, leise, aber eindringlich. »Ashley, komm! … Komm zu mir … Es ist an der Zeit!«

Irritiert blickte sie sich um. Sie zitterte ein wenig.

»Wozu ist es Zeit?«, fragte sie fast unhörbar.

Sie machte keine Anstalten sich dem Ruf zu widersetzen. Ohne weiter darüber nachzudenken, wer da überhaupt nach ihr rief, schlüpfte sie mit traumwandlerischen Bewegungen in ihre Pumps. Dann nahm sie ihren langen, auf Taille geschnittenen, bordeauxroten Mantel vom Bügel und zog ihn über. Wie in Trance schloss sie die gekordelten Knebelverschlüsse. Eitel, wie sie war, warf sie noch einen abschließenden Blick in den Spiegel, setzte die an den Mantel geknöpfte Kapuze auf und drapierte mit wenigen, gekonnten Handgriffen ihre blonde Haarpracht. Sie lächelte ihr Spiegelbild an.

Ohne das Licht im Flur zu löschen, verließ sie die Wohnung und huschte über das Treppenhaus hinaus auf die Straße. Es war frisch draußen. Der Wind hatte zugenommen. Ein leichter Nebel kroch durch die mitternächtliche Straße und überzog alles mit einem feuchten, kühlen Film.

Trotz des warmen Mantels fror sie. Es war eine innere Kälte. Sie spürte, wie eine seltsame, unsichtbare Macht von ihr Besitz ergriff, fühlte, dass da etwas unbeschreiblich Grauenhaftes auf sie zukam und gefangen nahm. Sie versuchte dagegen anzukämpfen.

»Hilfe! Hilfe!«, wollte sie ausrufen, brachte es aber kaum über die Lippen.

Es war nur ein Flüstern und es klang krächzend. Ihre verzweifelte, an ihre Mitmenschen gerichtete Bitte wurde vom wattigen Nebel verschluckt. Niemand ahnte, welch ein grässliches Unglück sich hier anbahnte.

»Hilfe! Warum hilft mir denn niemand!?«, versuchte sie erneut auf sich aufmerksam zu machen, aber niemand hörte ihre Rufe.

Gehetzt lief sie die Straßen entlang. Immerzu hatte sie diese befremdliche, lautlose Stimme in ihrem Kopf, die sie zwang ihr zu folgen.

Das Stadtbild hatte sich gewandelt. Die in den 1960iger Jahren entstandenen Reihenhäuser hatte sie hinter sich gelassen. Jetzt standen zu beiden Seiten monotone Plattenbauten, die von einigen 30-stöckigen Hochhäusern überragt wurden. Es war eine Großsiedlung die zum Schlafsilo, Wohnghetto und zu ›Arbeiterschließfächern‹, wie es die Bewohner selbst sarkastisch nannten, verkommen war – ein seelenloses Viertel, wie es sie in jeder Großstadt der Welt zuhauf gab, und die nur all zu oft Schauplätze brutalster Verbrechen waren.

Diese Nacht würde es nicht anders sein, auch wenn es andere Umstände waren, denn andere Mächte hatten diesmal ihre teuflischen Finger im Spiel.

Schon bald erreichte die attraktive Mittvierzigerin die nächste Straßenkreuzung. Sie verlangsamte ihren Schritt, als eine schwarze Limousine direkt auf sie zurollte. Ein eisiger Schauer lief ihr über den Rücken. Alles in ihr sträubte sich und begehrte gegen die spürbare Gefahr auf, die von diesem Fahrzeug ausging.

Doch so sehr sie auch dagegen anzukämpfen versuchte, sie schaffte es nicht, sich von dem Zwang zu lösen und zu fliehen. Wie von unsichtbaren Fesseln wurde sie festgehalten.

Sie zitterte am ganzen Körper als sie dem Wagen entgegensah, der seine Fahrt verlangsamte und zum Halten kam. Gleich darauf öffnete sich die hintere Tür und eine blasse Hand winkte ihr einzusteigen.

Wie eine gehorsam an den Schnüren gezogene Marionette und stieg ein. Kaum hatte sie im Fond Platz genommen, schlug die Tür zu und der Motor heulte auf. Es war das letzte, was sie wahrnahm, denn sie verlor das Bewusstsein. Die Anspannung war für sie einfach zu groß geworden.

Plötzlich spukten wilde Fantasiegestalten durch ihren Kopf. Es waren gnomenhafte, dämonische Wesen, halb Mensch und halb Tier. Fratzenhaft grinsten sie ihr voller Verachtung, Hass und Vernichtung entgegen. Sie glaubte sich auf einem Steintisch liegen zu sehen, im flackernden Schein rußender Fackeln und schwarzer Kerzen. In ihren Ohren dröhnte es. Es war Orgelmusik und ein beschwörender Gesang aus weiblichen Kehlen – eingängig und unheimlich zugleich. Und über der ganzen Szene hing ein penetranter Geruch von Pech und Schwefel.

Mit einem Aufschrei fuhr sie hoch. Sekundenlang versagte ihr eigener Verstand, die schreckliche Realität zu erkennen. Dann begriff sie schlagartig: alles um sie herum war wirklich! Sie hatte nicht fantasiert. Alles war real: die Fackeln, die Beschwörungen, der Geruch, die dämonischen Fratzen und die singenden Frauen mit den geheimnisvollen Augenmasken, die sie in ihren aufreizenden, schwarzen Kleidern umtanzten.

Sie befand sich in einer großen Halle, deren seitliche Kirchenschiffe samt Decke von mächtigen Säulen getragen wurden. Zwischen jedem Säulenpaar fanden sich sieben sorgfältig aufgereihte mattschwarze Särge, deren Deckel akkurat gegen die Wände gelehnt worden waren. Auf dem Kirchenschiff zu ihrer Rechten musste sich die Orgel befinden, von der sie, aus ihrer Position heraus, nur die mächtigen Pfeifen sehen konnte.

Sie selbst lag inmitten dieser, wie sie glaubte, Basilika, auf einem steinernen Altar, der sie an einen Dolmen aus der megalithischen Kultur erinnerte – einen dieser wuchtigen Steintische an der bretonischen Küste. Immerzu schwebten die dämonischen Fratzen auf sie hinunter, um sich sofort wieder zurückzuziehen. Mit diabolischem Funkeln sahen die höllischen Kreaturen auf sie hinab. In ihren Blicken erkannte sie, dass ihr Tod bereits beschlossene Sache war.

Plötzlich endeten Gesang und Orgelspiel, und das schmerzende Dröhnen in ihrem Kopf ließ nach. Sie sah, wie die Tänzerinnen um sie herum einen Ring bildeten und stumm verharrten. Es schien, als würden sie auf etwas Bestimmtes warten. Erst jetzt bemerkte sie, dass eine jede von ihnen ein goldenes Amulett um den Hals trug, auf dem sich ein ihr unbekanntes Symbol befand.

Sie kam nicht dazu, weiter darüber nachzudenken. Ein hallender Gong war ertönt, worauf sich der Kreis ein wenig öffnete, um von einer schwarzhaarigen Frau in einem roten Kleid direkt wieder geschlossen zu werden. In ihren Händen trug sie eine brennende Kerze. Ehrfürchtig blickten alle Atropos an, wie sich die Schwarzhaarige selbst nannte. Ihr Name war gut gewählt, denn sie hatte viel mit der griechischen Schicksalsgöttin gemein. Für einige Sekunden herrschte absolute Stille, dann begann Atropos zu sprechen:

»Ilasa micalazoda olapireta ialpereji beliore. Das odo Busadire Oiad ouoaresa eaosago. Easaremeji Laiada eranu berinutasa cafafame das ivermeda aposo Moz, od maoffasa. Bolape como belioreta pamebeta. Zodacare od Zodamernau!«

»Zodacare od Zodamernau!«, wiederholte der Kreis mit einer Stimme. »Zodacare od Zodamernau!«

»Odo eicale Qaa!«, rief Atropos beschwörend. »Zodoreje, lape zodiredo Noco Mada, hoathahe Belial!«

Auch wenn Ashley Cartwright die Sprache nicht kannte, so verstand sie doch seltsamerweise jedes Wort: ›Oh du mächtiges Licht und brennende Flamme unseres Trostes, sei uns ein Fenster in dein Königreich. Komme hervor und zeige dich! Öffne uns die Mysterien deiner Schöpfung. Komme zu uns, die wir dich anbeten, dich, den höchsten und unbeschreiblichen König der Hölle! Belial!‹

Zu ihren Füßen begann vor dem Altar eine rötliche Flamme zu tanzen, die größer und größer wurde, sich ausbreitete und allmählich zu einer Gestalt formte.

Augenblicklich knieten sich die Tänzerinnen nieder und blickten demütig zu Boden. Voller Demut blickten sie zu Boden. Nur Atropos, in ihrem roten Kleid, war aufrecht stehen geblieben. Immer noch hielt sie Belial zu Ehren die Kerze in ihren Händen.

»Wir heißen dich willkommen, König der Hölle, Regent des achten Kreises und Wächter des Höllentores!«, begrüßte sie ihn. »Wir sind hier, um dir zu dienen. Sei unser Herr und Meister!«

Während sie sprach, hatte die Orgelmusik wieder eingesetzt.

»Sehet her, meine Dienerinnen!«, sprach der Gerufene. »Die mächtige Stimme der Hölle zerschmettert die Stille der Luft und steht wie ein Monolith des Zorns auf einer Ebene sich windender Schlangen!« Er warf einen Blick in die Runde. »Oh, meine Schwestern der Nacht, ihr, die ihr mir huldigt, die ihr die heißen Winde der Hölle in euch spürt und in deren Herzen ich wohne, lasst euch anschauen!«

Kaum hatte er ausgesprochen, erhoben sie die Tänzerinnen, wie auf ein unsichtbares Zeichen und ließen ihre Kleider fallen. Nackt wie sie waren, drehten sie sich ihm zu Gefallen im Kreis herum. Dann aber sanken sie, mit gesenkten Köpfen, wieder auf die Knie und legten die Hände demutsvoll auf ihre Oberschenkel. Auch Atropos, ihre Anführerin, hatte sich an dem Ritual beteiligt und dabei die flackernde Kerze vor sich auf den Boden gestellt.

»Und nun zeigt mir mein höllisches Banner und reicht mir die Widerhaken, auf das ich euer Opfer aufgespießt auf ihnen ruhen lasse.«

Die Frauen machten diese Zeremonie nicht zum ersten Mal. In einer fehlerfreien Choreographie erhoben sie sich, eine nach der anderen. Elegant drehten sie ihrem Meister den Rücken zu, nur um sich gleich darauf wieder niederzuknien. Erst jetzt bemerkte Ashley Cartwright, dass eine jede von ihnen eine rückenfüllende Tätowierung aufwies. Sie vermutete, dass es sich um das Zeichen des von Atropos Angerufenen handelte.

Bis zu diesem Zeitpunkt hatte sie den elegant befrackten Mann nur von hinten gesehen. Jetzt aber wandte sich der geheimnisvolle Fremde ihr zu, … und sie zuckte zusammen. Ihr war, als würde eine eiskalte Hand nach ihrem Herzen greifen, es packen und fest umschließen.

Rotglühende, höllisch funkelnde Augen starrten sie an, und ein satanisches Lächeln umspielte die Mundwinkel des Unheimlichen.

Mit jeder Faser ihres Körpers fühlte sie, dass dieser Dämon gekommen war, um sie in sein Reich zu verschleppen …

… und sie irrte sich nicht!

Kapitel 3

C

hiswick Island‹, im Stadtbezirk ›Borough of Hounslow‹, war eine der zahlreichen, idyllischen Themse-Inseln. Sie lag am westlichen Rand Londons, wo die Metropole bereits sehr ländlich wirkte. Ein wenig ähnelte sie der Insel ›Lot’s Ait‹, die 1951, mit einigen Palmen bestückt, für den Film ›African Queen‹ mit Humphrey Bogart und Katherine Hepburn herhalten musste. Im weiteren Umfeld gab es keine Häuser.

Mit der Insel im Blick konnte ein vorbeikommender Ruderer nur erahnen, wie nahe die Millionenstadt war. Jede Hektik, jeder Stress, Autoabgase, Smog und Lärm blieben fern. Bis hierher kamen nicht einmal mehr die Lastenkähne, die inmitten der Hauptstadt den Fluss bevölkerten. Hier war die Themse schmal und floss geruhsam dahin.

Achtundzwanzig junge Frauen und Männer, zumeist Studenten, hatten ›Chiswick Island‹ zu ihrem eigenen, kleinen Königreich gemacht. Niemand hatte sie wirklich daran gehindert, einige, der leerstehenden Holzhütten in Beschlag zu nehmen und für ihre Zwecke her- und einzurichten. Nur selten verirrte sich jemand hierher, und die Insel gab ihnen die Zuversicht, dem Moloch London zumindest vorübergehend entkommen zu sein.

An diesem Morgen waren tiefhängende, dunkle Wolken aufgezogen und ein feiner, kühler Nieselregen hatte eingesetzt. Es war gerade sieben Uhr durch, als die Idylle der Studenten jäh von einem schrillen Pfiff gestört wurde. Ein Signal, das für sie ein ausgesprochenes Durcheinander einläutete.

Was für die Beamten des Scotland Yard eine vorab genau geplante Operation darstellte, entwickelte sich für die achtundzwanzig Bewohner des kleinen Eilandes zum reinen Chaos.

Mit zwei schnellen Motorbooten der Londoner ›River Police‹ wurde der Fluchtweg über die Themse blockiert, und eine Gruppe von dreißig bewaffneten Polizeibeamten stürmte über die schmale Eisenbrücke, die ›Chiswick Island‹ über einen kleinen Seitenarm mit dem Festland verband. Weitere zwanzig Beamte, die sie sich lautlos und im Schutz des Morgennebels per Boot genähert hatten, setzten auf die Insel über. Auf diese Weise wurden alle neuralgischen Punkte in generalstabsmäßig in Windesweile besetzt. Vom Festland her flammten grelle Scheinwerfer auf und tauchten das kleine Eiland in ein helles Licht.

»Hier spricht Detective Chief Inspector Blake von Scotland Yard!«, dröhnte eine kräftige, kultivierte Männerstimme aus einem Lautsprecher. »Ich fordere Sie auf keinen Widerstand zu leisten! Die Insel wird in diesem Augenblick von Beamten besetzt! Jeder Widerstand ist zwecklos! Flucht ebenfalls! Bewahren Sie Ruhe!« Es trat eine kurze Pause ein, ehe er wiederholte: »Hier spricht Detective Inspector ...«

Noch ein weiteres Mal folgte seine Aufforderung über Lautsprecher, während seine Kollegen bereits die kargen Hütten stürmten und jede Person verhafteten, deren sie habhaft werden konnten.

Chuck Armstrong, James Sheppard und ›Silky‹ Brightman gehörten zu den Einwohnern der ersten Stunde auf der Insel. Etwas Derartiges, wie an diesem Morgen, hatte es in der ganzen Zeit ihres Aufenthaltes in der Kommune noch nicht gegeben. Sie hörten zwar die deutliche Ansage der Kriminalpolizei, aber sie begriffen nicht, was gerade um sie herum vor sich ging. Sie kamen auch nicht dazu, sich darüber Gedanken zu machen, denn schon stürmten drei uniformierte Beamte mit gezogenen Dienstwaffen ihre Hütte.

Keiner von ihnen dachte in diesem Augenblick an Widerstand – dafür waren sie viel zu verwirrt. Aber sie hätten sich auch so ihrem Schicksal ergeben, denn sie besaßen ein reines Gewissen, und das Exekutiv-Organ des britischen Staates stellte für sie kein Feindbild dar.

Natürlich hätten sie gern gewusst, was diesen Einsatz rechtfertigte, aber sie kamen nicht dazu irgendwelche Fragen zu stellen. Ehe sie etwas vorbringen konnten, hatte man sie auch schon bäuchlings auf den Boden gedrückt und die Handschellen klickten. Den jungen Frauen und Männern in den übrigen Unterkünften erging es keinen Deut besser.

Bereits während der Aktion überzeugten sich Chief Inspector Blake und sein Kollege, Inspector McGinnis, persönlich davon, dass ihnen niemand entkommen war. Von Seiten ihrer Männer wurde nur das Nötigste gesprochen. Blake und McGinnis sorgten dafür, dass sich die überraschten und betäubten Inselbewohner noch etwas Ordentliches anziehen konnten, ehe sie abgeführt und in bereitstehende Gefangenentransporter verfrachtet wurden. Die anderen Männer des Yards halfen den Kollegen der ›Fatal Accident Inquiry‹ bei der Spurensuche in den Unterkünften.

Die Aktion des Yards war so schnell abgelaufen, dass die Festgenommenen erst zur Besinnung kamen, als sich die Kleinbusse mit der Käfigausstattung, in der maximal sechs Gefangene Platz hatten, in Bewegung setzten. Plötzlich schrien sie alle durcheinander. Einige stellten Fragen, andere suchten nach Antworten, wieder andere schimpften lautstark und mokierten sich über die ruppige Art und Weise des Yards, in der man mit ihnen umgesprungen war.

»Versteht das einer von euch? Das darf doch alles gar nicht wahr sein!«, knurrte Chuck. »Die haben uns doch bisher immer in Ruhe gelassen!«

Sein Freund James war kurz davor völlig auszurasten. Ihm ging sein Temperament durch. Völlig sinnlos stemmte er sich gegen die Handschellen und rüttelte am Käfig.

»Es würde mich nicht wundern, wenn irgendein stinkreicher Konzern die Insel gekauft hat und sie uns jetzt vergraulen wollen!« Er kochte vor Wut und fing an, mit den Fersen gegen das Gitter schlagen. »Vielleicht laufen hier demnächst lauter Schlitzaugen rum! Die Chinesen kaufen doch alles, was sie in die Pfoten kriegen können! Ein Scheiß ist das mit dem globalen Handel! England den Engländern!«

Silky war mit ihren neunzehn Jahren die jüngste der Gruppe. Wegen ihrer seidenweiß eingefärbten Haare und ihres verrückten französischen Haarschnitts, wurde sie von allen nur liebevoll ›Silky‹ gerufen. Niemand wusste, wie sie wirklich mit Vornamen hieß. Der Spitzname passte im doppelten Sinn, denn umgangssprachlich nannten die Briten den Anwalt der Krone ›Silk‹, und sie gehörte zu jenen, die jede Auseinandersetzung immer sofort zu schlichten suchte. Daher schüttelte sie auch sofort widersprechend den Kopf, als sie James‘ Vermutung hörte. Sie war sehr viel besonnener, als ihre beiden Freunde.

»Ich glaube nicht, dass das eine gewöhnliche Räumungsaktion ist«, meinte sie gelassen. »Da steckt etwas Anderes dahinter.« Sie warf den beiden einen nachdenklichen Blick zu. »Überlegt doch mal«, forderte sie beiden auf, »wenn die uns nur von der Insel hätten haben wollen ... da hätten sie vielleicht zehn Leute geschickt.« Noch einmal schüttelte sie leicht den Kopf. »Darum geht es denen nicht! Habt ihr denn nicht zugehört, was da über den Lautsprecher kam?« Sie lehnte sich mit ihrem Rücken ans Gitter und biss sich mit den Zähnen leicht auf die Unterlippe. »Das war ein Chief Inspector von Scotland Yard. Seit wann kümmert sich die Kriminalpolizei um ein paar Studenten in alten ungenutzten Holzhütten? Wir stören niemanden und tun auch keinem was.«

Nicht nur ihre beiden Freunde, auch die drei anderen Mitgefangenen sahen sie betroffen an.

»Du wirst wohl Recht haben, Silky«, meinte der zweiundzwanzigjährige Chuck grübelnd. »Es scheint sich tatsächlich um etwas sehr Ernstes zu handeln.«

»Da pfeife ich darauf!«, blaffte James dazwischen. Er war der Hitzkopf der Gruppe und hatte sich noch keineswegs beruhigen können. Immer noch randalierte er herum. »Ich will jetzt endlich wissen, was die Mistkerle von uns wollen!«, schrie er in Richtung der Fahrerkabine, wohlwissend, dass man ihm das jetzt kaum sagen würde.

Sie erfuhren es gut eine Stunde später, als sie in kleinen Gruppen von Blake und McGinnis vernommen wurden.

Isaac Blake war mittelgroß und von schlanker Statur. Er hatte ein energisches, aber durchaus attraktives Gesicht mit kleinen Grübchen in den Wagen, die ihm einen gewissen Charme verliehen, wenn er lächelte. Doch im Augenblick lächelte er nicht.

Obwohl den Festgenommenen ihre Rechte bereits genannt worden waren, wiederholte Cyril McGinnis das Prozedere.

»Ich weise Sie ausdrücklich darauf hin, dass alles was Sie sagen, aufgezeichnet wird. Sollten Sie also vorher mit einem Anwalt sprechen wollen, schweigen Sie besser«, erklärte der Mann mit den spärlichen Haaren auf dem kugeligen Kopf. Eindringlich sah er die Gruppe mit seinen vergißmeinichtblauen Augen an. »Haben Sie das alle verstanden?«, fragte er abschließend.

Chuck und Silky nickten, während James immer noch außer sich war. Den Beamten war nichts anderes übriggeblieben, als den Randalierenden mit den Handschellen am Stahltisch des Verhörraums zu ketten. Die anderen drei, die mit ihnen im Gefangenentransporter hergebracht worden waren, sahen Blake und McGinnis nichtssagend an.

»Was soll der ganze Scheiß!?«, schrie James lautstark.

Blake und McGinnis ließen sich von dem jungen Hitzkopf nicht aus der Ruhe bringen.

»Die größte Verwundbarkeit ist die Unwissenheit, Mister Sheppard! Wissen Sie das nicht?«, fragte Blake ihn lächelnd. »Sie werden doch von allen scherzhaft ›Philosoph‹ gerufen, oder etwa nicht?«

Das Blake ihn herausforderte gefiel James gar nicht.

»Auch des Feindes Auge wird mit der Zeit blind«, schleuderte der Heißsporn ihm wütend entgegen. »Wir sind doch nicht hier, um uns über Sunzis Kunst der Kriegsführung zu unterhalten, Chief Inspector! Sie sollten endlich mit der Sprache herausrücken. Weshalb haben Sie uns unserer Freiheit beraubt und hierhergeschleppt? … Und weil Sie es ja anscheinend auf der intellektuellen Schiene wollen – frei nach Mark Twain: Überall gibt es einen Idioten, der die naiven Fragen stellt, vor denen jeder andere zurückschreckt! Darf ich fragen, wer von Ihnen beiden dieser Idiot ist? Sie vielleicht, Detective Inspector McGinnis?«

»Ich rate Ihnen, Ihre Zunge zu zügeln, junger Mann«, fuhr McGinnis ihn knurrend an. »Ansonsten wäre es möglich, dass sich Ihr Aufenthalt bei uns nicht unwesentlich verlängert! Ich hoffe, ich habe mich deutlich ausgedrückt.«

»Meine Zukunftsplanung sieht da aber ganz anders aus!« James schäumte vor Wut.

»Immer, wenn der Mensch anfängt, seine Zukunft zu planen, fällt irgendwo das Schicksal lachend vom Stuhl, Mister Sheppard«, bemerkte McGinnis mit einem spöttischen Schmunzeln.

»Sie haben ja einen echten Spaßvogel zum Kollegen, Chief Inspector!«, regte sich James auf.

Blake ignorierte die Bemerkung des tobenden Studenten und blickte die anderen Studenten mit seinen kühlen, grauen Augen gelassen an.

»Wir vermuten«, sagte er seelenruhig, so, als würde er einen Vortrag halten, »dass in der letzten Nacht eine Frau in ihrer Kommune ermordet wurde. Dementsprechend fragen wir uns: Wer unter Ihnen könnte ihr Mörder sein?«

In dem sterilen, hellgrau gestrichenen Verhörraum hätte man eine Stecknadel fallen hören können – so still wurde es mit einem Mal. Geschockt hielten die Studenten den Atem an.

Blake gab den zwei Constablern im Hintergrund ein Zeichen. Sie führten die anderen drei Mitgefangenen ab – nur Chuck, James und Silky nicht. Als die drei merkten, dass sie mit den beiden Kriminalbeamten allein waren, zuckten sie unwillkürlich zusammen. Es kam ihnen so vor, als würden die beiden Inspektoren, sie des Mordes an der Frau beschuldigen.

Blake war von seinem Platz aufgestanden, hatte sein Päckchen Benson & Hedges hervorgeholt, eine Zigarette entnommen und sie angezündet. Während er einen ersten tiefen Zug nahm, ließ er die vor ihm sitzenden jungen Leute nicht aus den Augen.

McGinnis hatte seinen Stuhl etwas zurückgeschoben. Lässig schlug er die Beine übereinander und lehnte sich entspannt zurück. Obwohl das Verhör mitgeschnitten wurde, hatte er seinen abgegriffenen Notizblock herausgeholt und spielte abwartend mit seinem inzwischen viel zu kurzen Bleistift.

Die aufgekommene Stille wirkte bedrohlich.

»Es wird das beste sein, wenn Sie uns schildern, wie es abgelaufen ist«, schlug Blake mit eisiger Stimme vor.

Kapitel 4

E

in unerträglich bohrender Schmerz wütete in seinem Kopf. Seine Schläfen pochten wie wild. Es fühlte sich an, als würden dort jeden Augenblick die Adern platzen. Vor seinen Augen hingen kaum durchdringbare Schleier. Remington Cartwright leckte sich über seine trockenen Lippen. Wie ein ausgedörrter Klumpen lag ihm seine Zunge im Rachen.

»Meine Fresse!«, stöhnte er fluchend und erschrak, weil er seine Stimme kaum wiedererkannte.

Ganz langsam richtete er sich auf, schlug die Bettdecke zurück und setzte sich auf die Bettkante. Nur allmählich trat seine Erinnerung an die vergangene Nacht aus dem Dunstschleier des noch vorhandenen Restalkohols hervor.

Irgendwann im Morgengrauen war er nach Hause gekommen und hatte sich eine ›Gespielin‹ mitgebracht, die er in dem obskuren Nachtclub kennengelernt und nach zahlreichen Drinks auf ein gemeinsames Schäferstündchen eingeladen hatte. In seinem Kopf schwirrte es, wie in einem wilden Bienenstock. Als sich sein Blick endlich etwas klärte, seufzte er.

Zwei Flaschen und eine aufgebrochene Kondom-Packung lagen auf dem Boden vor seinen Füßen. Den Sekt hatte er mit seiner Begleiterin getrunken und sich anschließend ausgiebig mit ihr beschäftigt. Unsicher stand er auf und lief durch die Wohnung. Das Mädchen, welches sich ihm gegenüber als Karen vorgestellt hatte, war fort ...

... und seine Frau Ashley ebenfalls!

Es traf ihn wie ein Schock. Er fühlte, wie ihm mit einem Mal die Knie weich wurden, als von einer Sekunde auf die andere seine Erinnerung wieder einsetzte.

Er dachte an den fürchterlichen Streit, den er wieder einmal mit seiner Frau ausgefochten hatte, und daran, wie er fluchtartig aus der Wohnung gestürmt war. Mit einem Mal war ihm wieder präsent, wie er ziellos durch die Straßen gelaufen war und sich übelsten Mordgedanken hingegeben hatte. Dann fiel ihm die unheimliche Frau in ihrem schwarzen Mantel ein, die alles zu wissen schien, und auch das grauenhafte Versprechen, demzufolge ihr Herr und Meister seinen Wunsch erfüllen werde. Er entsann sich, wie er ihr gehorchend den Nachtclub aufgesucht hatte. Alles war wieder gegenwärtig, und es war so lebendig, wie das junge Mädchen, welches er auf Anweisung dieser Frau um vier Uhr in der Früh mit zu sich Hause genommen hatte. Ashley hatte er nicht angetroffen. Karen und er hatten anfangs gemeinsam im Wohnzimmer gesessen, angefangen Sekt zu trinken, waren sich dabei immer nähergekommen und zum Schluss im Ehebett gelandet. Er schmunzelte, als er sich bei dem Gedanken erwischte, sie habe sich ihm hingegeben. Das war natürlich Quatsch, denn sie war für ihre Dienstleistung ordentlich bezahlt worden.

»Was habe ich nur getan?«, stöhnte er leise und spürte, wie ihm schlecht wurde – sein Kreislauf verrückt spielte. »Luft! Luft!«, murmelte er vor sich hin. »Ich brauche frische Luft!«

Wankend schritt er zum Fenster und öffnete es. Gierig sog er die kalte, vom Nebel angefeuchtete Luft ein. Langsam stabilisierte sich sein Kreislauf wieder und das aufgetretene Schwindelgefühl verschwand.

Als er auf die Straße hinunterblickte, verschluckte er sich an seinem eigenen Speichel, was einen heftigen Hustenanfall zur Folge hatte. Auf dem gegenüberliegenden Bordstein stand eine Person, und es war nicht irgendjemand! Es war jene seltsame Frau, die er in der vergangenen Nacht getroffen hatte. Wieder trug sie ihren schwarzen Mantel und wieder hatte sie die dessen Kapuze aufgesetzt. Auch im Grau der frühen Morgenstunde wirkte ihr Gesicht ausgesprochen blass. Sie sah direkt zu ihm herüber. Starr waren ihre dunklen Augen auf ihn gerichtet.

Ein heftiger Schreck durchfuhr ihn und automatisch wich er zurück. Erst dachte er daran sich zu verkriechen, doch dann machte sich seine Neugierde bemerkbar. Er wollte unbedingt wissen, was hier vor sich ging.

Schnell eilte er in den Flur, schnappte sich den Wohnungsschlüssel, warf sich eine Jacke über und rannte das Treppenhaus hinunter auf den Gehweg.