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In der Londoner Oberschicht geschehen unerklärliche Selbstmorde. Als deren Anzahl bedrohliche Ausmaße annimmt, schaltet sich Commissioner Sir Lawrence Hogarth persönlich in die Angelegenheit ein: Chief Inspector Isaac Blake und sein Assistent Cyril McGinnis erhalten den Auftrag, sich der Sache anzunehmen. Doch wo sollen sie ansetzen? In keinem der Fälle gibt es einen Hinweis auf Fremdverschulden. Erst als das Leben von McGinnis' Freundin bedroht wird, und er sich für sie in tödliche Gefahr begibt, kommen sie dem Rätsel auf die Spur ...
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Seitenzahl: 267
Veröffentlichungsjahr: 2019
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Das Lächeln der Medusa
Das Lächeln der Medusa
Mystery-Thriller
von
Anna-Lena & Thomas Riedel
Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar
2. Auflage (überarbeitet)
Covergestaltung:
© 2019 Susann Smith & Thomas Riedel
Coverfoto:
© 2019 depositphoto.com
ImpressumCopyright: © 2019 Anna-Lena & Thomas RiedelDruck und Verlag: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.deISBN siehe letzte Seite des Buchblocks
»Die Hoffnung: sie ist in Wahrheit
das Übelste der Übel, weil sie die Qual
der Menschen verlängert.«
Friedrich Wilhelm Nietzsche (1844-1900)
Kapitel 1
G
espenstisch leckte der helle Lichtkegel einer Taschenlampe über den teuren Perserteppich. Ihm folgte ein undeutlich erkennbares Schemen. Der Schatten huschte mit einer Stablampe in der Hand durch die Wohnhalle des etwas außerhalb Londons gelegenen Hauses. Dunkelheit herrschte in dem weiten Raum, dessen Wände mit teuren Seidentapeten beklebt waren.
Der Schatten bewegte sich wie ein körperloses Wesen. Er war schnell und lautlos. Sicher erreichte er die Verbindungstür, die von der Wohnhalle in das unmittelbar angrenzende Arbeitszimmer führte. Vorsichtig öffnete er die Tür und huschte hinein.
Nur wenige Augenblicke später hatte der nächtliche Eindringling sein Ziel erreicht. Vor ihm stand der mannshohe dunkelgrüne Safe.
Ein zufriedenes Grinsen erschien auf dem Gesicht des Mannes. Behutsam schob er sich einen Stuhl an den Safe heran und legte seine Stablampe darauf ab.
Aus seiner Jackentasche zog er ein Paar schwarze Handschuhe hervor. Mit einer flinken Bewegung streifte er sie über seine blass wirkenden Hände.
Er lauschte. Im Haus war auch weiterhin alles ruhig. Die Bewohner schliefen.
Inzwischen war es eine Viertelstunde nach Mitternacht.
Der Eindringling war vor dem Safe in die Hocke gegangen. Er griff nach dem Rädchen mit dem man die Zahlenkombination einstellte. Das Drehen des Rades erfolgte mit einer solchen Gewissheit, als handelte es sich um seinen eigenen Safe, und er würde die Kombination selbst dann nennen können, wenn man ihn aus tiefstem Schlaf riss und danach fragte.
Er brauchte nicht allzu lange. Schon zwei Minuten später ließ sich die schwere Stahltür völlig geräuschlos aufziehen. Im oberen Bereich des Safes fanden sich mehrere Banknotenstapel und Aktienpapiere. Doch dafür schien er sich nicht im Geringsten zu interessieren. Was er suchte, befand sich weiter unten. Seine rechte Hand schnellte vor. Gezielt griff er nach dem kleinen schwarzen Attachékoffer. Vorsichtig zog er ihn heraus.
Wieder zeigte der Mann ein zufriedenes Grinsen. Genau wegen dieses Koffers hatte er sich Zugang zu diesem Haus verschafft. Und nun befand sich der Koffer in seinem Besitz. Jetzt hieß es für ihn nur noch das Haus auf demselben Weg zu verlassen, auf dem er zuvor gekommen war. Und natürlich musste das ebenso geräuschlos ablaufen. Schaffte er es, dann war die Sache für ihn bestens gelaufen.
Er reckte sich ein wenig, nachdem er sich wieder aufgerichtet hatte.
Plötzlich flammte im Arbeitszimmer die mehrstrahlige Deckenbeleuchtung auf.
Erschrocken fuhr der Einbrecher auf der Stelle herum. Unwillkürlich entfuhr ein Laut zwischen Stöhnen und Krächzen seinem Mund.
In diesem Augenblick sah er sich dem verschlafen wirkenden Hauseigentümer Percy Henderson gegenüber. Der Mann hatte seinen übergewichtigen und schwammigen Körper in einen dunkelblauen Morgenmantel gehüllt. Seine wenigen grauweißen Haare waren zerzaust und sein milchiges Gesicht wies noch die Abdrücke des Kissens auf, auf dem es eben noch gelegen hatte.
Völlig durcheinander starrte Percy Henderson den ungebetenen Besucher an.
»Edward!«, presste er verwirrt hervor. »Was machst du hier in meinem Haus?« Sein Blick fiel auf den schwarzen Attachékoffer in der rechten Hand des Mannes. »Was hast du vor? Willst du mich bestehlen?«
Edward Donahue traten dicke Schweißperlen auf die Stirn. Schlagartig wurde ihm bewusst, dass er den Wissenschaftler nicht am Leben lassen konnte. Er würde ihn töten müssen.
Kapitel 2
W
ährend Percy Henderson im Arbeitszimmer seines Hauses auf den nächtlichen Eindringling gestoßen war, rollte sich oben im Schlafzimmer die dickliche Frau des Wissenschaftlers im Bett ruhelos hin und her. Sie schlief schlecht. Ein Albtraum ließ sie nicht zur Ruhe kommen. Plötzlich schreckte sie aus dem Schlaf hoch.
Verwirrt stellte sie fest, dass ihr Mann nicht neben ihr lag und das Schlafzimmer verlassen hatte.
Vermutlich hat er auch nicht gut geschlafen, dachte sie, und ist in die Küche hinuntergegangen um eine Magentablette einzunehmen.
Sie hatten beide üppig zu Abend gegessen und sie kannte seinen nervösen Reizmagen. Sicher hatte sich das gerächt und ihm wieder Probleme gemacht.
Abigail Henderson erhob sich schlaftrunken. Sie griff nach ihrem dünnen Schlafrock. Gähnend warf sie ihn sich über ihre runden und gut gepolsterten Schultern. Fröstelnd zog sie das dünne Ding vor ihrem mächtigen Busen zusammen. Dann schlüpfte sie in die flauschigen Pantoffeln und verließ das Schlafzimmer, um ihren Mann in der Küche aufzusuchen.
Sie hatte die Hälfte der Treppe zurückgelegt, als sie von unten Stimmen hörte. Dann sah sie Licht. Aber die Stimmen und das Licht kamen nicht wie erwartet aus der Küche, sondern aus dem Arbeitszimmer ihres Mannes.
»Nanu!«, murmelte sie erstaunt vor sich hin. »Mit wem spricht Percy denn da?«
Abigail Henderson hielt einen Moment auf der Treppe inne, um zu lauschen. Aber sie konnte nichts verstehen. Zwar waren die Stimmen deutlich zu hören, doch die Worte so unverständlich, dass sie zu einem monotonen Gebrabbel verschmolzen.
Ohne es zu wollen oder gar darüber nachzudenken, setzte Abigail Henderson ihre nächsten Schritte weitaus vorsichtiger. Sie tat es gerade so, als wollte sie nicht bemerkt werden. Irgendein Gefühl warnte sie. Es sagte ihr, dass dort unten eine unangenehme Überraschung auf sie wartete. Und obwohl sich dieses seltsame Gefühl mit jedem Schritt, den sie machte, noch weiter verstärkte, war sie unfähig kehrt zu machen und wieder nach oben zu verschwinden. Es war ihre Neugierde, die sie antrieb, der Sache auf den Grund zu gehen.
Nach wenigen Schritten stand sie in der Wohn- und Eingangshalle des Hauses. Von hier gelangte sie zu der Tür, die in das Arbeitszimmer ihres Mannes führte. An dieser Stelle waren die Stimmen bereits sehr viel deutlicher zu hören. Sie erkannte eindeutig die Stimme ihres Ehegatten und auch die andere kam ihr bekannt vor. Ja, sie war sich sicher, dass es um die Stimme von Edward Donahue handelte.
Erleichtert atmete sie durch, und ein leiser Seufzer entrang sich ihrer voluminösen Brust.
Alles ist in Ordnung, dachte sie bei sich. Wenn Percy mit Edward spricht, dann ist nichts zu befürchten – dann ist alles gut.
Es fehlten nur noch wenige Schritte und sie stand an der Tür. In diesem Augenblick packte sie das nackte Entsetzen.
Von wegen, alles ist gut, ging es ihr durch den Kopf, gar nichts ist gut.
Die Situation, die sich ihr bot, war eindeutig. Die große, massive Stahltür des Safes stand weit offen, und Edward Donahue befand sich unmittelbar davor. In seiner linken Hand sah sie den schwarzen Attachékoffer ihres Mannes und in seiner rechten …
… eine Pistole!
Die metallisch, schwarzblau schimmernde Waffe zeigte genau auf die Brust ihres Mannes.
Bei diesem Anblick konnte Abigail Henderson nicht anders. Sie stieß einen entsetzten Schrei aus.
»Du kannst ruhig reinkommen, Abigail!«, schrie Donahue sofort. »Jetzt spielt es auch keine Rolle mehr!«
Edward Donahue war ein gut aussehender Mann, mit einem männlich markanten Gesicht, hellblauen, stechenden Augen und einem kantigen, sehr energisch wirkenden Kinn. Er war groß und schlank. Sein Alter mochte zwischen fünfunddreißig und vierzig Jahren liegen, aber das konnte täuschen.
»Na, los! Mach endlich, Abigail!«, schrie er sie aufgeregt an. »Oder muss ich erst zu drastischeren Maßnahmen greifen! Muss ich deinem geliebten Percy erst ins Bein schießen!?«
Percy Hendersons Gesicht hatte jede Farbe verloren. Bleich und zitternd vor Angst stand er da.
Abigail Henderson war verunsichert. Sie war sich unschlüssig darüber, was sie tun sollte.
»Um Himmels willen, Edward, was hast du vor?«, seufzte der Wissenschaftler.
Erst jetzt kam langsam Bewegung in die Frau. Mit verängstigtem Blick betrat sie das Arbeitszimmer und stellte sich schutzsuchend neben ihren Mann. Sie war so aufgeregt, dass sie sich über den vollen Umfang der Gefahr, der sie sich damit aussetzte gar nicht bewusst war. Doch von der sollte sie gleich erfahren.
»Es tut mir aufrichtig leid, zumal ich euch gut leiden kann«, sagte Edward Donahue im Plauderton, »aber es wäre besser gewesen, ihr wärt im Bett geblieben.« Er zuckte bedauernd mit den Achseln. »Jetzt werde ich euch töten müssen.«
Er bemerkte es völlig gelassen, ja, fast schon gleichmütig, gerade so, als sei für ihn das Töten anderer Menschen das Selbstverständlichste auf der Welt.
Die Frau des Wissenschaftlers schrie gellend auf.
»Und wir haben geglaubt, du wärst unser Freund, Edward«, stöhnte der Wissenschaftler verstört.
Donahue sah ihn kalt lächelnd an. Ohne die beiden auch nur für einen Augenblick aus den Augen zu lassen, trat er zwei Schritte zurück. Als er neben Hendersons Schreibtisch zu stehen kam, legte er den Koffer auf der Tischplatte ab.
»Ich war es«, erwiderte er kühl.
Er machte einen Schritt vorwärts und ließ die Waffe spielerisch in seine linke Hand wandern.
»Das ist doch nicht dein Ernst!«, begehrte der Wissenschaftler auf.
Donahue deutete mit einem leichten, mehrfachen Nicken seines Kopfes an, dass es ihm damit absolut ernst war.
»Sehr wahrscheinlich wäre ich auch in Zukunft euer Freund geblieben, wenn ihr mich nicht bei diesem Einbruch ertappt hättet«, sagte Donahue vollkommen nüchtern.
Abigail Henderson begann zu schluchzen. Ihr Mann legte liebevoll seinen Arm um ihre Schulter und versuchte sie zu trösten.
»Es sind die Umstände, die mich dazu zwingen«, stellte Donahue fest und es klang sogar aufrichtig. »Aber was soll ich jetzt noch machen. Auch wenn es mir gegen den Strich geht, ich muss es tun.« Er machte eine entschuldigende Geste mit der rechten Hand. »Schließlich habe ich noch ungeheuer große Pläne.«
Bestürzt riss Percy Henderson die Augen auf und schüttelte entsetzt den Kopf.
»Du bist doch wahnsinnig, Edward! Lass die Finger davon. Das bringt Unglück!« Er deutete auf den Attachékoffer, der auf seinem Schreibtisch lag. »Du weißt überhaupt nicht, worauf du dich da einlässt.« Er sah ihn eindringlich an. »Ich hätte dieses Ding gleich vernichten sollen, Edward. Es darf auf keinen Fall in falsche Hände gelangen. Das wäre einfach unverantwortlich … entsetzlich! Was immer du damit vorhast, es wird grauenvolle Folgen haben!«
Donahue lächelte. Es war eines von der Art, das die Augen nicht erreichte.
»Netter Vortrag, Percy«, erwiderte er kaltschnäuzig. »Grauenvoll? Vielleicht. Aber mich, mich wird es reich machen, unendlich reich!«
»Glaubst du das wirklich?« Der Wissenschaftler schüttelte den Kopf. »Du wirst an meine Worte denken, wenn es soweit ist, dass garantiere ich dir!«
Sein Gegenüber lachte abfällig.
»Du kannst mir keine Angst machen, Percy!« Donahue musterte den Mann, mit dem er seit einigen Jahren befreundet war. »Als Wissenschaftler bist du zwar eine echte Koryphäe, aber mal ganz ehrlich ...«, Donahue winkte leicht mit dem Zeigefinger der freien Hand, »dir fehlt einfach der nötige Geschäftsinn, Percy. Man muss Ideen auch in klingende Münze umwandeln können.«
Henderson rang die Hände.
»Ich flehe dich an«, stieß er jetzt verzweifelt aus, »lass die Finger davon, Edward!«
Donahue schüttelte frostig den Kopf.
»Geht leider nicht mehr, Percy«, erwiderte er bedrohlich leise. »Ich bin bereits anderweitig Verpflichtungen eingegangen. Es ist wirklich schade, dass es ausgerechnet so kommen musste. Wenn ihr doch nur oben in eurem Bett geblieben wäret, wäre das nicht nötig.«
Er ließ die Waffe von der linken in die rechte Hand wandern.
»Edward! Bitte!«, brachte der Wissenschaftler keuchend hervor.
Donahue wiegte verneinend das Haupt.
Hendersons Frau war kreidebleich geworden. Ihr Herz raste wie verrückt. Hilflos ließ sie sich auf die Knie sinken, faltete die Hände und begann zu beten.
Ihr Mann sah Edward Donahue fassungslos an.
Dann krachte es. Zweimal hatte Donahue den Abzug seiner Pistole durchgezogen.
Percy Henderson wurde zu Boden geworfen und seine Frau kippte zu Seite. Donahue hatte beiden in den Kopf geschossen. Mit verrenkten Gliedern lag das Ehepaar auf dem teuren Perserteppich. Die Hand des Wissenschaftlers ruhte auf dem Arm seiner Frau. Selbst im Tod waren sie noch miteinander verbunden.
Mit einem bedauernden Achselzucken steckte Edward Donahue die Pistole weg.
»Wirklich schade«, sagte er mit belegter Stimme, während er sich den schwarzen Attachékoffer schnappte, »das war nicht geplant.«
Es war die Wahrheit.
Kapitel 3
D
onahue war aus dem Haus geeilt. Aufmerksam hatte er sich umgesehen. Es schien, als habe niemand in der Nachbarschaft die beiden Schüsse gehört. Ungesehen erreichte er seinen, vor dem Grundstück der Hendersons, abgestellten Wagen. Den schwarzen Attachékoffer, wegen dem zwei unschuldige Menschen hatten sterben müssen, legte er auf behutsam auf den Rücksitz. Leise drückte er die Wagentür zu. Dann hastete er zum Kofferraum, griff eilig zum Treibstoffkanister, den er stets gefüllt mit sich führte, und rannte damit zurück zum Haus des Wissenschaftlers.
Er lief durch den Eingangsbereich in das Arbeitszimmer zurück. Schnell öffnete er den Verschluss des Kanisters und begann die beiden Leichen mit Benzin zu übergießen. Dann verteilte er noch einigen Treibstoff im Raum und vergoss den restlichen Inhalt so, dass eine feuchte Spur bis zum Kellerabgang lief. Dort befand sich Hendersons Labor, von dem er wusste, dass dort einige hochexplosive Stoffe lagerten.
»Wenn die mit dem Feuer in Berührung kommen, fliegt das halbe Haus in die Luft«, murmelte er leise vor sich hin und lächelte dabei diabolisch.
Dann war er soweit. Alles war vorbereitet. Jetzt fehlte nur noch die zündende Flamme, die das fürchterliche Inferno einleiteten würde. Schwitzend zog er ein Päckchen Zigaretten hervor, klopfte eine davon heraus und zündete sie an.
»Verdammt Mist«, dachte er laut. »warum mussten die auch mitten in der Nacht aufstehen!«
Fast hätte er sich mit dem Streichholz seine Finger verbrannt. Vor Schreck ließ er es fallen. Sofort entzündeten sich die aufsteigenden Benzindämpfe, und mit einem dumpfen Geräusch schnellte nach links und rechts eine davonlaufende Flammenwand hoch. Gierig fraß sich das Feuer bis zu dem toten Ehepaar durch, leckte an den Vorhängen empor, verbrannte den Teppich und die Bücher in den Regalen. Ungeheuer schnell erreichte es den Zugang zum Kellergeschoß.
Für Edward Donahue wurde es Zeit das Haus zu verlassen. Gegenwärtig griff er nach dem leeren Benzinkanister und lief schnellstens aus dem Haus. Als er seinen Wagen erreichte, züngelten die Flammen bereits aus den Fenstern.
Gehetzt sprang Donahue auf den Fahrersitz, drehte den Zündschlüssel herum und gab Gas. Etwa eine halbe Meile vom brennenden Haus entfernt hielt er noch einmal kurz an. Er warf einen Blick durch die Heckscheibe. Hohe Flammen leuchteten rot am dunklen Nachthimmel. Plötzlich ertönte ein dumpfer Donner und Funken schlugen massenhaft nach oben. Er lächelte zufrieden. Die Flammen hatten das Labor erreicht. Eine neuerliche Detonation zerfetzte die Stille Nacht, gefolgt von einer weiteren. Er war sicher, dass die Flammen und Explosionen ganze Arbeit leisten würden. Vom Haus und den beiden Leichen würde wohl kaum etwas übrigbleiben.
Der Gedanke daran, beruhigte ihn ein wenig. Er wandte sich ab, versuchte sich auf das zu konzentrieren, was nun vor ihm lag und setzte seine Fahrt fort.
Bald erreichte er London. Es dauerte noch einige Zeit, ehe er auf die Straße einbog, in der er wohnte. Ringsherum war kein einziges Fenster mehr erhellt. Mittlerweile war es zwei Uhr in der Früh geworden und die Menschen schliefen.
Donahue steuerte seinen Wagen die gewundene Abfahrt zur Tiefgarage hinunter. Müde und abgespannt stieg er aus seinem Fahrzeug. Mit einem schnellen Griff holte er den schwarzen Attachékoffer vom Rücksitz. Dann drückte er auf das Schließsymbol des Fahrzeugschlüssels und betrachtete das kurze Aufleuchten der Blinker. Als sei nichts geschehen, schlenderte er entspannt an den anderen geparkten Fahrzeugen vorbei und betrat kurz darauf den Lift, der ihn surrend zu der Etage beförderte, in der sich seine Eigentumswohnung befand.
Kaum hatte er die Tür hinter sich geschlossen, goss er sich in der Küche einen Drink ein. Er kippte ihn in einem Zug, denn er hatte das Gefühl ein gewisses Unbehagen hinunterspülen zu müssen. Es war nicht so gelaufen, wie er sich das vorgestellt hatte. Natürlich war es nicht vorgesehen gewesen, dass Abigail und Percy Henderson sterben sollten. Schließlich wollte er sich doch nur den Koffer aneignen.
Er schenkte sich das Glas noch einmal nach.
Soll ich mir jetzt wegen der Hendersons graue Haare wachsen lassen?, fragte er sich. Es ist doch sowieso nicht mehr zu ändern.
»Was passiert ist, ist eben passiert«, murmelte er dann laut vor sich hin. »Macht eh keinen Sinn sich Vorwürfe zu machen.« Er nahm einen weiteren Schluck. »Warum konnten die nicht einfach schlafen? Es hätte so leicht sein können.«
Mit dem Glas und dem gestohlenen Koffer ging er ins Wohnzimmer. Er stellte ihn neben seinen Ohrensessel und nahm Platz. Während er an seinem Drink nippte, strich er sanft über das weiche Leder des Koffers. Im Großen und Ganzen zählte ja doch nur dieser Koffer und sein spezieller Inhalt. Und der befand sich nun in seinem Besitz.
Er leerte das Glas und lehnte sich entspannt zurück. Langsam begann der Whisky zu wirken. Er spürte, wie er deutlich ruhiger wurde. Eine Weile blieb er so sitzen, dann schnappte er sich das schnurlose Telefon vom Wohnzimmertisch, suchte im Speicher eine Nummer heraus und ließ sich verbinden.
Zweimal hörte er das Freizeichen, dann meldete sich eine Stimme, die Donahue nur zu gut kannte.
»Ja?«, meldete sich Peter McGowan, der wie es schien, auf den späten nächtlichen Anruf gewartet hatte.
»Ich bin es«, antwortete Donahue und fügte zur Sicherheit noch seinen Namen hinzu.
»Und, Eddy? Alles glattgegangen?«, erkundigte sich McGowan.
Donahue schluckte leicht.
»Kann man nicht unbedingt behaupten«, erwiderte er tonlos. »Wird den Zeitungen sicher eine Schlagzeile wert sein, denke ich.«
Der Mann am anderen Ende der Leitung schien beunruhigt.
»Was ist denn passiert, Eddy?«, fragte er erschrocken.
Donahue zögerte ein wenig.
»Na los, sag schon, Eddy?«, forderte ihn McGowan auf. »Lass dir nicht alles aus der Nase ziehen!«
»Ich hatte den Koffer gerade in den Händen und wollte mich schon davonmachen, da tauchte doch plötzlich Henderson auf«, gestand Donahue zähneknirschend. »Er hat mich natürlich erwischt.«
»Verdammt!«, entfuhr es McGowan.
»Rege dich nicht auf, Peter«, beschwichtigte Donahue seinen Gesprächspartner. »Den Koffer habe ich ja!«
»Und was ist mit Henderson?«, warf McGowan ein. »Der wird doch längst im Yard sitzen und Anzeige erstatten. Wundert mich, dass die Bullen noch nicht bei dir aufgeschlagen sind, Eddy!«
Donahue konnte sich ein gewisses Grinsen nicht verkneifen.
»Stimmt«, bestätigte er. »Da würde er jetzt ganz sicher sitzen. Aber wie das Schicksal so spielt ... Er kann es nicht mehr.«
»Was?«, stieß McGowan aufgeregt aus.
»Ich sagte gerade: Er kann es nicht mehr«, schmunzelte Donahue.
»Und wieso nicht?«
Jetzt lachte Donahue.
»Mein Gott, Peter! Du bist aber schwer von Begriff«, stellte er fest. »Henderson kann nicht mehr zur Polizei. Seit wann können Tote laufen?«
Damit hatte er die Katze aus dem Sack gelassen.
Am anderen Ende Leitung wurde es einen Augenblick still.
»Du hast Henderson also umgelegt?«, fragte McGowan plötzlich mit ganz ruhiger Stimme, obwohl Mord die meisten Menschen ganz sicher in schiere Aufregung versetzt hätte.
»Ja«, bestätigte Edward Donahue. »Und seine Frau gleich mit.«
McGowan stieß einen anerkennenden Pfiff aus.
»Alle Achtung, Eddy!«, reagierte er lachend. »Du und ein eiskalter Killer. Ganz ehrlich? Das hätte ich dir niemals zugetraut. Vor allem, wo du doch so ein gutes Verhältnis zu den beiden hattest.«
»Was hätte ich denn tun sollen. Henderson hat mich in flagranti erwischt. Und dann muss auch noch seine Frau auftauchen. Die hätten einfach im Bett bleiben sollen!« Donahue kniff grimmig die Lippen zusammen. »Ich hatte doch gar keine andere Wahl, Peter!«
»Mensch, Eddy! Jetzt komm‘ mal wieder runter! Das sollte doch kein Vorwurf sein. Ich habe das anerkennend gemeint«, sagte McGowan lachend. »Betrachte die Hendersons als Kollateralschaden. Du hast den Koffer und darauf kam es letztlich an.«
»Ja, den habe ich«, bestätigte Donahue, der inzwischen sehr viel ruhiger geworden war. »Der steht direkt neben mir.«
»Na, dann ...«, sagte McGowan gedehnt, »dann kann es ja demnächst richtig losgehen, Eddy.« Er lachte begeistert. »Ist dir eigentlich klar, dass wir bald steinreich sein werden, Eddy? … Partner!«
»Ja, steinreich, Partner!«, erwiderte Donahue, aber in seiner Stimme schwang kaum Enthusiasmus mit.
Der begangene Doppelmord trübte seine Freude auf den kommenden Reichtum gewaltig. Er war sicher, dass ihm die toten Hendersons noch lange Magenbeschwerden bereiten würden.
Peter McGowan hörte sofort, wie es um Donahue stand.
»Hey! Kopf hoch, Edward!«, rief er, um seinen Partner aufzumuntern. »Du solltest dir einen ordentlichen Drink zur Brust nehmen, dann sieht die Sache bald ganz anders aus. Ich kann mir gut vorstellen, dass sich dein Magen im Moment komplett umkrempelt. Ging mir beim ersten Mal auch nicht anders. Aber ich kann dir sagen, dass vergeht bald. Und dein Bankkonto wird sein Übriges dazu tun. Je schneller es anschwillt, desto eher wirst du die Hendersons vergessen. Mein Wort darauf! Ich habe eine Menge Erfahrung in diesen Dingen.« Als Donahue nicht gleich antwortete, fügte er hinzu: »Soll ich vielleicht noch auf einen Sprung bei dir vorbeischauen, Eddy?«
McGowan konnte nicht sehen, wie Donahue angewidert seinen Kopf schüttelte.
»Nein, ist nicht nötig. Es geht schon«, gab er schnell zurück. »Wir sehen uns dann morgen.«
Im gleichen Augenblick drückte er McGowan aus der Leitung und beendete damit das Gespräch. Dann stand er auf und goss sich in der Küche einen weiteren Drink ein.
»Na, dann kann es jetzt losgehen«, murmelte er und nippte an seinem Glas.
Und es ging los!
Sehr bald schon!
Unter Londons Superreichen begann eine Selbstmordwelle zu grassieren – unerklärlich und schrecklich. Wie ein riesiger Stein war sie ins Rollen gekommen, und es schien, als sei niemand in der Lage, sie aufhalten zu können.
Kapitel 4
B
ald stieg die Zahl der Selbsttötungen so unerklärlich an, dass sich auch der ›Metropolitan Police Service‹, und damit New Scotland Yard, mit dem Thema zu befassen begann. Natürlich riefen die beängstigenden Dimensionen auch Journalisten auf den Plan, die sich wie Aasgeier auf die Vorfälle stürzten. Sensationsheischende, reißerisch aufgemachte Schlagzeilen zierten die Titelseiten der Regenbogenpresse. Auch die Nachrichtensender der Fernsehanstalten standen in nichts zurück. Zu jedem neu bekannt gewordenen Fall gab es eine ausführliche Berichterstattung, zu der Fachleute aus den Bereichen Psychiatrie, Psychologie, Soziologie, Philosophie, Theologie und sogar der Rechtswissenschaft ihr Fachwissen beizusteuern suchten. Und da es eigentlich keine wirklichen Erkenntnisse darüber gab, warum sich die Einzelnen das Leben genommen hatten, gab man sich philosophischen Diskursen darüber hin, ob nun Freitod oder Selbstmord die richtige Bezeichnung sei. So folgte einer der eingeladenen Fachleute dem Philosophen Fritz Mauthner, der, so erklärte er den Zuschauern, den so genannten Selbstmord nicht als unnatürlichen Tod angesehen habe, weil dieser immer natürlicher Art war. Dies, weil Leben und Sterben zum Menschsein gehöre, und er den Ausdruck Freitod dem an die Sprache des Strafrechts erinnernden Wort Selbstmord vorziehe. Ein anderer konterte und erklärte, dass er diese Ansicht schlicht ablehnen müsse, da für ihn im Begriff Freitod eine Beurteilung der Tat enthalten sei, die es zu vermeiden gelte. Sein Gegenüber entgegnete ihm, dass ein Selbstmord kein Mord im eigentlichen Sinne sei und damit kein Verbrechen. Nietzsche wurde erwähnt und auch Sokrates und Seneca wurden bemüht. Letztlich lief es darauf hinaus, wie es zumeist war: wenn es schon nichts weiter zu berichten gab, dann blähte man das Thema eben bis zum Erbrechen künstlich auf.
Der Chef persönlich, Detective Commissioner Sir Lawrence Hogarth, hatte sich in die Angelegenheit eingeschaltet. Und so bekamen am Ende Chief Inspector Isaac Blake und Sergeant Cyril McGinnis den hochoffiziellen Auftrag, sich dieser heiklen Sache anzunehmen. Im Gegensatz zu sonstigen Fällen, wurden sie diesmal mit zahlreichen Vollmachten ausgestattet. Diese erlaubten es den beiden weitaus selbständiger und nach eigenem Gutdünken zu agieren, als es ihnen normalerweise erlaubt war. Der Commissioner hielt viel von dem jungen, aufstrebenden Chief Inspector. Hogarth wusste aus Blakes Personalakte, dass er mit ihm einen absolut fähigen Kriminalbeamten in seinen Reihen hatte, der über eine außergewöhnlich klare und logische Urteilskraft verfügte. Von ihm versprach er sich die baldige Lösung dieser geheimnisvollen Vorfälle.
Inzwischen stapelten sich die Aktendeckel im Büro und auch die Magnetboards und Flipcharts waren mit Notizen und Fotos gefüllt. Immer wieder hatten sich Blake und McGinnis in die ihnen vorliegenden Unterlagen gestürzt, doch so sehr sie auch gruben – nichts!
»Nichts«, knurrte Sergeant McGinnis unzufrieden und legte einen pathologischen Bericht zur Seite. »Es findet sich aber nicht der kleinste Hinweis, und der auf ein Fremdverschulden schon mal gar nicht.«
Blake drückte seine Zigarette im Aschenbecher aus, während er nach dem Bericht griff, um selbst hineinzuschauen.
Der Chief Inspector dreiundvierzig Jahre alt, mittelgroß und von schlanker Statur. Er hatte ein energisches, aber attraktives Gesicht. Seine dunkelbraunen Haare waren kurz geschnitten. Über seinen kühlen, grauen Augen prangten zwei dunkle buschige Augenbrauen und die kleinen Grübchen in den Wangen hatten ihren Charme, wenn er lächelte. Er spielte leidenschaftlich gern Minigolf und Kricket, doch widmete er die meiste Zeit seinem Beruf, also seiner Arbeit beim New Scotland Yard. Obwohl sich dies, wenn auch kaum spürbar, ein wenig geändert hatte, seit Kimberly Kincaid in sein Leben getreten war. Auch seine leidenschaftliche Bastelei an seinem Oldtimer, einem Austin Healey 3000, Baujahr 1967, hatte nachgelassen. Möglichst viel Zeit mit seiner äußerst attraktiven Verlobten zu verbringen stand führ ihn augenblicklich im Vordergrund.
»Gar keine Hinweise stimmt nicht«, korrigierte er seinen Sergeant. »Immerhin haben die Suizide etwas Gemeinsames. Alle Selbstmörder waren sehr vermögend und alle verfielen von der einen auf die andere Sekunde dem Wahnsinn.«
»Dreiundzwanzig Selbstmorde«, murmelte McGinnis mit seiner Tenorstimme, der sämtliche Fallakten auf der rechten Seite seines Schreibtisches aufgehäuft hatte, während er über die Mappen strich. »Dreiundzwanzig!«
Blake strich sich nachdenklich über seine Augenbrauen. Es war eine Angewohnheit. Er tat es immer, wenn er sich intensiv über etwas den Kopf zerbrach.
»Ich frage mich, wie das möglich ist … im einen Augenblick reagieren diejenigen noch völlig normal ... und dann, gerade, als wenn man einen Schalter umlegt ... drehen sie völlig durch und bringen sich um.« Blake stützte seinen Kopf auf die Handfläche seiner Rechten und seufzte. Gleich darauf rieb er sich über die müden Augen. »Wovor hatten die bloß eine solche Angst?«, fragte er sich halblaut.
Er sah McGinnis an, doch sein Sergeant wusste, dass er in diesem Augenblick eher durch ihn hindurch sah.
Dennoch fühlte sich McGinnis angesprochen.
»Keine Ahnung«, erwiderte er achselzuckend und klappte die Akte zu, in der gerade gelesen hatte.
»Das ist mir ein absolutes Mysterium«, gab Blake unumwunden zu.
Er erhob sich von seinem Schreibtischstuhl und trat ans Fenster. Nachdenklich sah er hinüber zur Themse.
»Ganz ehrlich?« Er wandte sich dabei wieder McGinnis zu. »So langsam beginne ich daran zu zweifeln, ob wir dieses Rätsel jemals lösen werden.«
Kapitel 5
Z
eitungsverleger Colin Oliver Louis Gardener schüttelte mit weit aufgerissenen Augen in panischem Entsetzen den Kopf. Er schrie und brüllte, so markerschütternd und unmenschlich, dass es jedem, der es hörte, das Blut in den Adern gefrieren ließ.
»Neeeein …!«, stieß er immer wieder gellend hervor. »Neeeein …!«
Gardener befand sich in seinem Verlagsbüro. Es lag im sechzehnten Stock, in einem der zahlreichen Hochhäuser mitten im Geschäftsviertel ›Canary Wharf‹ in Londons Zentrum. Es schien als ob ihn ganz plötzlich die Tollwut befallen hätte. Colin Gardener war knapp sechzig Jahre alt, hatte eisengraues Haar und ein hageres Gesicht. Jetzt war es erschreckend verzerrt. Er war kaum noch wieder zu erkennen.
»Nein!«, keuchte der Verleger wieder.
Seine Wangenmuskulatur zuckte wild. Seine Augen traten weit aus ihren Höhlen. Er wankte unsicher durch das Büro. Wild und heftig schlug sein Herz und drohte ihm den Brustkorb zu sprengen. Seine Lippen bebten und kleine Schaumflocken zeigten sich in den Mundwinkeln.
Gardener schlug sich seine zitternden Hände vor das Gesicht. Er war völlig verstört und verzweifelt. Eine irrsinnige Angst hatte ihn gepackt.
»Hiiiilfeeee!«, brüllte der Verleger lautstark. »Warum hilft mir niemand? Hiiilfeee!«
Seine ganze Verzweiflung und die wahnsinnige Angst, die er empfand, schwangen in seinem gellenden Schreien mit. Wie ein Betrunkener wankte und stolperte er rückwärts durch sein Büro. Immer mehr näherte er sich der Fensterfront. Immerzu fixierten seine weit hervorgetretenen, fiebrig glänzenden Augen den Aktenschrank. Und immerzu schüttelte er dabei wie ein Irrsinniger den Kopf. Sein ohnehin eher fahles Gesicht hatte inzwischen jede Farbe verloren. Gardner stöhnte, röchelte und hustete. Immer mehr Schaum bildete sich auf seinen Lippen. In dünnen Bahnen lief er weißlich über die Mundwinkel ab und über das Kinn zum Hals hin.
Taumelnd erreichte der Verleger die großen Panoramafenster zur Straße. Als er merkte, dass er nicht weiter nach hinten ausweichen konnte, begann er zu schluchzen.
Panisch drehte er sich herum. In wahnsinniger Angst griff er nach einem der Fenstergriffe und entriegelte das Fenster. Gleich darauf riss er den breiten Flügel auf. Ein leichter eisiger Windstoß fauchte ihm ins Gesicht.
Colin Gardener spürte es nicht. Er heulte wie ein verendendes Tier.
Kapitel 6
F
elicity Thompson, Gardeners Sekretärin, war im Vorzimmer mit der Korrespondenz ihres Chefs beschäftigt. Plötzlich glaubte sie ihren Ohren nicht zu trauen. Entsetzt schnellte sie hinter ihrem Schreibtisch hoch. Ihr Blick richtete sich auf die ledergepolsterte Tür, hinter der sich das Büro ihres Arbeitgebers befand.
Grauenvolle Schreie waren zu hören. Bestürzt lief die junge blonde Frau zur Tür. Ohne anzuklopfen stürmte sie in Gardeners Büro.
Kaum hatte sie einen Fuß in den Raum gesetzt, blieb sie wie erstarrt stehen.
Ihr Chef bot einen entsetzlichen Anblick. Er schien vollkommen verrückt geworden zu sein. Er hatte jede Kontrolle über sich verloren. Gardener stand vor dem geöffneten, mittleren Fenster und starrte auf den Aktenschrank. Seine Mimik war völlig verzerrt und immer wieder verdrehte er die weit aufgerissenen Augen. Plötzlich brüllte er mit einer Kraft los, dass ihm die Adern am Hals dick anschwollen. Auch seine Augen schienen ihm aus den Höhlen treten zu wollen. Immer mehr weißlicher Schaum troff aus seinem weit aufgerissenen Mund. Wie ein Irrer schüttelte er den Kopf. Dann zuckte er am ganzen Körper, bewegte sich völlig unnatürlich und begann unendlich schwer zu keuchen. Ungelenk griff er sich in die Haare und begann plötzlich, sie sich büschelweise auszureißen.
»Mister Gardener!«, schrie sie entsetzt.
Aber Colin Gardener sah und hörte sie nicht. Wild warf er seinen Kopf hin und her. Seine ununterbrochen zuckenden Gesichtsmuskeln ließen einen bizarren Ausdruck entstehen.
»Diese Qualen!«, schrie er. »Diese unendlichen Qualen!«
»Was ist denn mit Ihnen, Mister Gardener?« Sie wusste nicht was sie tun sollte. Sie war völlig hilflos.
Gardener hatte damit angefangen um sich zu schlagen. Sie wagte es nicht, sich ihm zu nähern.
»Diese Qualen. Sie sind so entsetzlich. Ich halte sie nicht mehr aus!«, schrie der Verleger.
Immer noch starrte er in Richtung des Aktenschranks. Sie konnte dort aber nichts Besonderes feststellen. Sie verstand einfach nicht, was in ihren Chef gefahren war, oder wovor er sich dermaßen wahnsinnig fürchtete.
Plötzlich änderte sich die Situation.
Gardner lachte lauthals los und ging dazu über auf die Fensterbank zu klettern. Eiskalt lief es der jungen Frau über den Rücken.
»Mister Gardener!«, rief sie auf das höchste erregt.
Doch ihr Chef hörte sie nicht.
»Um Gottes willen, tun sie es nicht!«, stieß sie hervor. »Mister Gardener!«
Sekundenlang starrte der Zeitungsmann in die Tiefe. Dann ließ er den Fensterrahmen los und begann lauthals zu singen.
»Oh, happy day! ... Oh, happy day!«
Er schwankte. Plötzlich riss er beide Arme in die Höhe und machte, immer noch singend, einen Schritt ins Leere, gefolgt von einem Wahnsinnsgebrüll.
Sie versuchte noch ihn aufzuhalten. Aber sie kam zu spät.
»Mister Gardener!«, wollte sie noch einmal rufen, aber sie schluckte es herunter.
Erschreckend lange war der Schrei des in die Tiefe stürzenden Verlegers zu hören. Erst als sein Körper unten hart auf die Betonplatten aufschlug, riss er jäh ab.
Mit weit aufgerissenen Augen sah ihm seine Sekretärin nach.
Colin Oliver Louis Gardener, der wohlhabende, mächtige Zeitungsverleger, lag tief unten auf dem Gehweg – klein, regungslos ... wie eine Puppe.
Sie hielt den grauenvollen Anblick nicht länger aus. Vom Grauen geschüttelt wandte sie sich vom Fenster ab.
Kapitel 7
D
etective Chief Inspector Blake drehte sich langsam herum. Eine Weile hatte er nachdenklich aus dem Fenster im sechzehnten Stock auf die Straße hinuntergesehen. Es hatte wie schon die Tage zuvor wieder leicht zu schneien angefangen. Zarte Schneeflocken sanken in die Tiefe hinab. Sein Blick hatte auch die einladende Bar gestreift, die sich an der gegenüberliegenden Straßenseite befand. Der große und einflussreiche Zeitungsmagnat Colin Oliver Louis Gardener würde sie nicht mehr aufsuchen.
»Möchten Sie vielleicht einen Whisky, Miss Thompson?«, fragte er die junge Frau.
Sie schüttelte ablehnend den Kopf. Fröstelnd rieb sie sich über die Arme.
»Nein, danke, Chief Inspector«, erwiderte sie bedrückt. Ihre Stimme war sanft, mit einem warmen Unterton. Sie gehörte zu denen, die bei anderen Menschen direkt Wohlbehagen und Gefühle auslösten. »Lieber ein Wasser.«