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Wieder einmal hat man Chief Inspector Blake und seinen Kollegen McGinnis zur Lösung eines Falles angefordert. Doch in der Angelegenheit, um einen verschwundenen Professor, der vermissten Tochter eines Bankiers und einer blutleeren Leiche, kommen auch sie nicht recht voran. Erst als der Privatgelehrte Anthony Kincaid Kontakt mit ihnen aufnimmt, zeichnet sich eine Wende ab. Gemeinsam schmieden sie einen Plan, aber ehe sie an die Ausführung gehen können wird auch seine Schwester entführt. Begleitet von Intrige und Verrat beginnen die drei mit der lebensgefährlichen Jagd auf ihren mächtigen und gnadenlosen Gegner ...
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Seitenzahl: 227
Veröffentlichungsjahr: 2019
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Kreaturen der Nacht
Kreaturen der Nacht
Mystery-Thriller
von
Anna-Lena & Thomas Riedel
Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar
2. Auflage (überarbeitet)
Covergestaltung:
© 2019 Susann Smith & Thomas Riedel
Coverfoto:
© 2019 depositphoto.com
ImpressumCopyright: © 2019 Anna-Lena & Thomas RiedelDruck und Verlag: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.deISBN siehe letzte Seite des Buchblocks
»Ich geb‘ dir was dir fehlt,
eine Reise auf den Flügeln der Nacht,
in die wahre Wahrheit,
in den Rausch der Dunkelheit.«
Graf von Krolock, Tanz der Vampire
Kapitel1
W
ie ein dunkles Betttuch war die Nacht langsam über das Land gekrochen und hatte sich auf die Highlands, deren Dörfer, Flüsse, Seen und Sumpfgebiete ausgebreitet. Es war Mitternacht. Die weiße Scheibe des Mondes tauchte Inverness in ein silbrig schimmerndes Licht. Ein lauer Wind trieb vereinzelte Wolkenbänke von den Bergen herüber. Von Zeit zu Zeit schoben sie sich vor den fast vollen Mond. Von ›St. Andrews‹, der alten im gotischen Stil erbauten Kathedrale der ›Scottish Episcopal Church‹, dröhnten dumpf zwölf hallende Glockenschläge über die im Schlaf liegende Stadt.
Der alte Dunmore hatte reichlich gebechert. Schwankenden Schrittes stolperte er aus dem ›Highlander‹ auf die Straße hinaus. McCullough hatte ihn und einige seiner engsten Freunde zu seiner Geburtstagsfeier eingeladen. Siebzig Jahre war der alte James heute geworden. Nächstes Jahr würde auch er zum siebten Mal runden.
»Heilige St. Anna«, murmelte er mit schwerer Zunge vor sich hin, »was für eine Sauferei!« Er schüttelte sich und grinste. »In der Menge, die ich getrunken habe, hätte man eine Katze baden können.«
Ihm fröstelte. Es war kühl geworden, der Alkohol zeigte seine Wirkung und er spürte, wie eine bleierne Müdigkeit von ihm Besitz ergriff. Dunmore schlug den Kragen seiner Jacke hoch, zog den Reißverschluss bis zum Hals hinauf und vergrub seine Hände tief in den ausgebeulten Taschen. Jetzt war es höchste Zeit für ihn, dass er nach Hause kam.
Der alte Dunmore zitterte, wenn er an Professor Argyll dachte. Schon seit vielen Jahren diente er ihm als Faktotum. Er wusste, dass es der Professor nicht gern sah, wenn er sich mit einer Flasche Whisky vergnügte, und noch weniger, wenn er dazu das Grundstück verließ.
»Er braucht von meinem Ausflug gar nichts zu wissen«, machte er sich Mut, während die Furcht vor seinem Herrn in ihm hochkroch.
Dunmore kannte den Professor lange genug, um zu wissen, wie gemein und bösartig er werden konnte. Oft schon hatte er das alte Scheusal verflucht und darüber nachgedacht, einfach zu verschwinden. Jetzt hoffte er inständig, dass sein nächtliches Verschwinden unbemerkt geblieben war.
Mühsam suchte er seine Schritte zu beschleunigen. Es fiel ihm nicht leicht, denn der reichlich genossene Alkohol schien seinen Füßen ein sehr spezielles Eigenleben verliehen zu haben. So sehr er sich auch konzentrierte, sie machten einfach nicht, was er von ihnen verlangte. Es dauerte eine Weile, ehe er die ›Glenurquhart Road‹ erreichte, an der sich der ›Tomnahurich Cemetery‹ befand.
Immer wenn er hier vorbeikam, begann er seine zunehmende innere Beklemmung mit einem Lied zu verscheuchen. Auch heute machte er es nicht anders. Er kannte viele alte schottische Folksongs und entschied sich für Dougie MacLeans ›Caledonia‹.
»I don’t know if you can see, the changes that have come over me. In these last few days I’ve been afraid, that I might drift away ...«, krächzte er mit heiserer Stimme.
Nach wenigen Minuten lag der Friedhof zu seiner Rechten. Er hatte gerade die Zufahrt passiert. Das leise Rauschen des Windes in den hohen Pappeln und die huschenden Lichtreflexe auf den steinernen Denkmälern ließen ihn innerlich schaudern. Er wagte es nicht den Blick offen über die niedrige weiße Umfassungsmauer auf das Gräberfeld zu richten. Jedes Mal, wenn er hier vorbeikam, hatte er dasselbe unheimliche Gefühl. Ein Empfinden des Schreckhaften. Ein Gemisch aus Angst und Grauen. Ohne es zu wollen zuckte er zusammen, als sich dieses Gefühl noch durch das Heulen eines Hundes aus der Nachbarschaft verstärkte.
Dunmore atmete auf, als er dieses Stück des Weges endlich hinter sich hatte. Ganz allmählich wurde ihm etwas wohler. Die kühle Nachtluft tat ihm gut und sein Kopf wurde langsam wieder frei. Die letzten dreihundert Yards fielen ihm schon wesentlich leichter. Schon bald konnte er die ersten Bäume und Sträucher des stark verwilderten Grundstücks erkennen, in dessen Mitte sich das Haus des Professors befand.
Als er vor dem mächtigen, verrosteten Parktor zur Villa stand, begann wie so oft das Suchen nach dem Schlüssel. Er musste alle Taschen durchwühlen, ehe er ihn, nach vielen durch die Zähne gequetschten leisen Flüchen, endlich fand. Mit zitternden Fingern schloss er auf und ging mit wankenden Schritten über den stark von Unkraut übersäten Weg auf das kleine, unscheinbare Nebengebäude zu, in dem schon seit ewigen Zeiten immer das Personal gewohnt hatte.
Die Fassade der großzügig angelegten Villa glänzte wie geschliffener weißer Marmor im hellen Licht des Mondes. Vom ›Tomnahurich Cemetery‹ drangen die klagenden Rufe eines Käuzchens herüber.
Dunmore hatte die Tür seiner Behausung erreicht und wollte gerade öffnen, als er plötzlich eine eisige Kälte spürte. Sie wehte von hinten auf ihn zu und war dabei ihn völlig zu durchdringen.
Reflexartig drehte er sich um seine Achse und wäre fast dabei gestrauchelt. Der Anblick, der sich ihm bot, ließ ihm vor Angst das Blut in den Adern gefrieren.
Vor dem hohen Portal der Villa, stand eine in bleiches Licht getauchte, riesige schwarze Gestalt. Ihre rötlich glühenden Augen musterten ihn scharf.
Dunmore fühlte die Aura der kalten, tödlichen Drohung, die von diesem Wesen ausging. Er kam nicht dazu weiter über das unheimliche Geschöpf nachzudenken, denn urplötzlich stand es, nach einer unmenschlichen schnellen Bewegung, direkt vor ihm.
Panik machte sich in ihm breit. Er wollte schreien, brachte aber keinen Ton heraus. Als er den Kopf hob und in das dämonische Antlitz über sich starrte, weiteten sich seine Augen in ungläubigem Staunen.
Nein, das konnte einfach nicht sein. Das war doch völlig unmöglich, schoss es ihm durch den Kopf.
Dann passierte es. Die unheimliche Gestalt beugte sich über ihn. Der alte Dunmore spürte noch den scharfen, saugenden Schmerz an seinem Hals, bevor sein Bewusstsein in schwarzer, endloser Tiefe versank.
Eine Weile hielt die Gestalt des alten Mannes eng umschlungen, ehe sie sich wieder von ihm löste. Spielerisch hob sie den erschlafften Körper an und stieß ihn kraftvoll von sich. Krachend schlug er gegen die Holztür, klappte wie ein Taschenmesser in sich zusammen und fiel auf den steinernen Boden.
Das Wesen verharrte noch einen Augenblick, dann trat der Helfer des Teufels einen Schritt zurück, drehte sich um und öffnete seine unheimlichen riesigen Flügel. Gleich darauf erhob er sich mit mächtigen Schlägen in die sternenklare Nacht und tauchte lautlos in deren Schwärze ein.
Kaum war der Dämon fort, folgte eine Reihe ungeheurer Explosionen, die die Villa und das Nebengebäude dem Erdboden gleichmachten.
Dunmore spürte von alle dem nichts mehr. Sein Geist war bereits in die eisigkalten Niederungen des Todes hinabgestiegen.
Kapitel 2
M
it voller Wucht erfasste die heftige Detonation das nahegelegene Nachbarhaus der Familie Drummond. Eine enorme Druckwelle fegte über die im viktorianischen Stil erbaute Villa des Börsenmaklers hinweg. Wie von einer riesigen, alles zerstörenden Faust wurde das Gebäude durchgeschüttelt. Zuerst traf es die großzügig angelegte Fensterfront. Mit einem ohrenbetäubenden Lärm zerplatzten sämtliche Glasscheiben. Dann folgten die Türen, die mit spielerischer Leichtigkeit aus den Füllungen herausbrachen, bevor es die Verstrebungen des Daches mit hässlichem Knirschen aus den Verankerungen riss. Unmittelbar darauf wirbelte es die Ziegel hoch in die Luft, die in weitem Umkreis wenige Sekunden später unter dumpfem Aufprall um das Haus auf dem Boden niedergingen und in tausend Stücke zersprangen.
Als die gewaltige Druckwelle die Villa erfasste, wurde Alice Drummond unsanft aus ihrem Bett geschleudert. Abrupt aus dem Tiefschlaf gerissen, richtete sie sich völlig benommen auf und begann sich verwirrt im Zimmer umzusehen. Ihr Verstand weigerte sich mit Macht, das sich ihr bietende Bild der Zerstörung zu begreifen. Nichts von alledem, was sie sah, konnte real sein. Es musste sich um eine schreckliche Illusion handeln. Sie war sich sicher, dass ihr Verstand ihr einen bösen Streich spielte.
Ungläubig starrte sie mit weit aufgerissenen Augen auf die breiten, in den Mauern klaffenden Risse. Nur allmählich registrierte sie die auf den Boden umgestürzten Möbelstücke, und sah das aus seiner Verankerung gerissene Fenster. Auch die Zimmerdecke wirkte irgendwie seltsam schief.
»Das kann doch gar nicht sein«, kam es fast unhörbar über ihre Lippen. »Ich träume das alles nur. Es muss ein schrecklicher Traum sein. Ganz bestimmt werde ich gleich aufwachen.«
Alice Drummond fühlte die eindringende kalte Luft und spürte, wie sie in ihrem dünnen Nachthemd am ganzen Körper zu zittern anfing.
Erst jetzt nahm sie den stechenden Schmerz an ihrem linken Oberschenkel wahr. Unbewusst suchte ihre Hand tastend die Stelle. Gleich darauf fühlte sie die warme, klebrige Feuchtigkeit an ihren Fingerspitzen. Blitzartig wurde ihr bewusst, dass es sich nicht um einen Albtraum handeln konnte. Die überall verstreut herumliegenden Glassplitter mussten sie verletzt haben.
Schlagartig überkam sie eine panische, nicht enden wollende Angst. Gellend schrie sie auf, doch niemand reagierte darauf. Kein Mensch im Haus schien ihr verzweifeltes Rufen zu hören.
Wo steckten denn bloß ihre Eltern?
Sie mussten sie doch hören!
Nur langsam kam sie auf die Füße. Sie fühlte ihren heftig schlagenden Puls. Wie wild pochte es in ihrem Kopf. Wankend und mit weichen Knien schleppte sie sich langsam zur Tür. Sie musste unbedingt aus dem Zimmer hinaus, dachte sie. Einfach nur raus, bevor die Villa endgültig in sich zusammenstürzte. Als sie den Türdrücker erreichte und öffnen wollte, durchfuhr sie kaltes Entsetzen. Sie konnte die Tür nicht öffnen. So sehr sie sich auch bemühte und mit ihrem Körper dagegenstemmte, sie brachte die Zimmertür einfach nicht auf. Offensichtlich hatte die sich infolge der starken Erschütterungen in der Zarge verklemmt.
Hastig blickte sie sich um. Jetzt gab es für sie nur noch einen Fluchtweg. Sie musste durch das klaffende Loch, wo sich noch kurz zuvor das Fenster befunden hatte. Ohne auf die am Boden liegenden Glassplitter zu achten, lief sie darauf zu. Aber sie schaffte keine drei Yards, denn plötzlich geschah etwas Unheimliches.
Mit einem Mal verschwanden die eindringenden silbrigen Lichtfinger des Mondes, so, als hätte man sie abgeschnitten, und an ihre Ohren drang das Schlagen mächtiger Flügel. Wie erstarrt blieb sie stehen. Ihr angstvoller Blick war auf die vor ihr im Raum stehende schwarze Gestalt gerichtet.
»Das ist doch Wahnsinn!«, schrie sie völlig verzweifelt. »Ich muss verrückt geworden sein! Mom! Dad!«
Alice Drummond schaffte es nicht ihre Augen von dem düsteren Wesen zu lösen, das sich auf eine unfassbare Weise vor ihr zu verwandeln begann. Die Konturen des höllischen Geschöpfes zerflossen, lösten sich auf und gingen gleich darauf in einen rötlich schimmernden Nebel über. Dann erfasste die seltsame Prozedur auch den restlichen Körper der dämonischen Erscheinung.
Immer noch stand sie wie versteinert da. In ihren Augen spiegelte sich das nackte Grauen. Die rötliche, heftig pulsierende Wolke schien sich zunehmend zu verdichten.
Plötzlich zuckte ein greller Blitz durch das Zimmer. Die unheimliche Erscheinung war verschwunden. Alice Drummond glaubte ihren Augen nicht zu trauen. An der Stelle, an der zuvor noch die teuflische Kreatur gestanden hatte, stand nun die, in einen tiefschwarzen Umhang gehüllte, große gebieterische Erscheinung eines Mannes. Seine dunklen Augen richteten sich in machtvoller Stärke auf das junge Mädchen.
»Komm zu mir!«, hörte sie eine seltsame melodische Stimme.
Verwundert stellte sie fest, dass sich die Lippen des unheimlichen Mannes nicht bewegten.
»Komm zu mir!«, ertönte es wieder, diesmal sehr viel fordernder.
Sie verstand sich selbst nicht mehr. Plötzlich hatte sie keine Angst mehr vor dem fremden Mann. Es war eine eigentümliche schwere Süße, die von ihrem bebenden Körper Besitz ergriff. Mit unwiderstehlicher Macht trieb es sie auf den geheimnisvollen Mann im schwarzen Umhang zu.
Mit glasigen Augen trat sie an ihn heran. Sie sah, wie sich der Überwurf öffnete. Sie machte noch einen Schritt auf den Mann zu und das Cape schloss sich um sie. Wie eine rasende Woge der Wollust durchfuhr es ihren Körper, von den Haarspitzen bis in die kleinen Zehen, als die teuflische Gestalt sich über sie beugte und ihren Hals suchte.
Tiefer und tiefer neigten sich, in der nicht enden wollenden Umarmung, ihre hellen, blonden Locken dem Fußboden entgegen. Auch ihr Bewusstsein tauchte tiefer in ein Meer aus ekstatischer Luft ein, bis der intensive Gefühlsrausch nach und nach verebbte, wie eine wundervolle, sanft verklingende Harmonie.
Alice Drummond hatte das Gefühl, als flöge sie hoch über die weiten Highlands, Dörfer, Flüsse und Seen hinweg.
In der Ferne erblickte sie, inmitten einer düsteren Felsenlandschaft, die drohenden hoch aufragenden Türme einer alten Burg. Dann verlor sie das Bewusstsein und es wurde dunkel um sie herum.
Kapitel 3
M
issmutig starrte Detective Chief Inspector Isaac Blake aus dem Fenster seines momentanen Büros in der ›Burnett Road Police Station‹, welches ihm und Detective Sergeant Cyril McGinnis vom ›Area Commander‹-Police Chief Inspector Mark Higgins zugewiesen worden war. Wieder einmal waren er und sein Kollege, im Rahmen der Amtshilfe, zur Lösung eines Falles angefordert worden. Inzwischen kannten die beiden in Inverness und den umliegenden Highlands gut aus. Blake erinnerte sich noch ausgezeichnet an den Fall der Familie Mackay in Tongue [1]. Sein nachdenklicher Blick nahm keinerlei Notiz von dem im Hochland so seltenen blauen Himmel, der sich makellos über Inverness wölbte. Das imposante Bild des hoch über dem schäumenden ›River Ness‹ aufragenden repräsentativen Burgschlosses ›Inverness Castle‹, auf dem im 11. Jahrhundert der schottische König MacBeth, weniger grausam wie von William Shakespeare geschildert, regiert hatte, nahm er ebenfalls nicht wahr.
Blake war im höchsten Maße unzufrieden.
Seit mehreren Tagen beschäftigten sie sich nun schon mit der Angelegenheit um das rätselhafte Verschwinden von Professor Helmsdale und der jungen Miss Drummond, doch letztlich mussten sie sich beide eingestehen, dass sie nicht das Geringste hatten herausfinden können. Nicht die allerkleinste Spur hatte sich ihnen gezeigt. Die durch die starke Explosion völlig zerstörte Villa des spleenigen Professors, die scheußlich zugerichtete Leiche des alten Hausdieners und das spurlose Verschwinden des Mädchens gaben ihnen schier unlösbare Rätsel auf.
Im besonderen Grade ärgerte sich Blake über die schlechte Presse der ›Scottish Daily Mail‹. Die verdammten Lohnschreiber bewarfen ihn jeden Tag mehr mit ihrem Schmutz. Auch wenn sich Blake bereits daran gewöhnt hatte, nervte es ihn. Es war ihm bewusst, dass er als gebürtiger Londoner keine Freunde unter den ränkeschmiedenden Provinzschotten hatte. Sicher, die ›Daily Mail‹ und ihr schottischer Ableger waren nur Boulevardblätter mit stark eingeschränkter Seriosität, und natürlich mussten deren Schreiberlinge mit Irgendetwas ihre Sixpence verdienen, doch dazu durfte einem nicht jede Schlagzeile recht sein. Im Augenblick erschienen sie ihm wie hungrige Schakale, die nach einer langen Fastenzeit endlich wieder die Spur eines ungefährlichen Wildes gefunden hatten und nun in der Verfolgung nicht mehr lockerließen. Das Widerwärtige an der Sache daran war nur, dass sie ihren leichtgläubigen, aber zumeist sensationsgierigen Lesern glauben machen wollten, sie wären einer äußerst gefährlichen Bestie auf der Spur.
Während Blake darüber nachdachte funkelte es wütend in seinen grauen Augen. Noch am Tag zuvor hatte ihm James Thornton, der Nachfolger des in den verdienten Ruhestand gegangenen langjährigen Chief Superintendent, unmissverständlich zu verstehen gegeben, dass er in dieser Angelegenheit schnellstens einen Erfolg erwartete. Schnelle Erfolge hatte auch der Dickwanst oder ›Fat Bloke‹, wie er liebevoll hinter vorgehaltener Hand von den meisten im Yard genannt worden war, verlangt, aber Thornton machte keinen Hehl daraus, dass er dessen Zögling Blake nicht mochte.
Abrupt drehte sich der Chief Inspector um und sah in das grinsende Gesicht seines Sergeants.
Detective Sergeant McGinnis war, bei einem Gewicht von dreihundertzwanzig Pfund und einer Größe von sechs Fuß fünf Inch, ein wahrer Bär von einem Mann. Er hatte das Aussehen eines Preisringers aus der Schwergewichtsklasse, und dennoch eine seltene Gemütlichkeit. Vor sechs Jahren hatte ihn Blake überzeugen können, vom Streifendienst zur Kriminalpolizei zu wechseln, und seit etwas mehr als fünf Jahren arbeiteten sie als Team. McGinnis wurde oft unterschätzt. Nicht jeder erkannte auf Anhieb, dass Sergeant McGinnis ein äußerst intelligenter Mann mit einem nahezu fotografischen Gedächtnis war, der sich blitzschnell auf neue Situationen einstellen konnte und passende Lösungen fand.
Obwohl er gerade erst seinen fünfunddreißigsten Geburtstag gefeiert hatte, fristeten nur noch wenige Haare ihr spärliches Dasein auf seinem kugeligen Schädel. Mit seinen treuherzigen vergißmeinichtblauen Augen sah er zu Blake hinüber.
Die beiden kannten sich bereits seit dem Tag, als McGinnis noch blutiger Anfänger beim Metropolitan Police Service war und auf Streife ging. McGinnis war damals in eine Bandenstreitigkeit geraten, eine Schießerei mit einer Schwerverletzten und drei Toten. Ein Pärchen war zufällig zwischen die Fronten geraten, und er hatte der lebensgefährlich verletzten jungen Frau das Leben retten können. Für ihren Partner und zwei der Gangmitglieder kam leider jede Hilfe zu spät. Blake war damals schon bei der Mordkommission und der frisch von der Polizeischule gekommene Constable war ihm gleich positiv aufgefallen. Allein McGinnis‘ präziser Aussage zum Ablauf des Geschehens, war es zu verdanken, dass die Schuldigen langjährige Haftstrafen erhielten.
Obwohl Sergeant McGinnis sehr bullig aussah, war er dennoch sehr rücksichtsvoll. Zwischen ihm und Blake hatte sich eine unterschwellige Freundschaft entwickelt. Eigentlich war es längst an der Zeit sich zu duzten, aber sie taten es nicht. Blake siezte ihn weiterhin, sprach ihn aber oft mit dem Vornamen an, umgekehrt blieb es ebenfalls beim Sie und einem dienstlichen Sir. Doch letztlich konnte, mit den vielen Jahren der engen Zusammenarbeit, der eine nicht mehr ohne den anderen auskommen.
Chief Inspector Blake lief mit unruhigem Schritt und verärgerter Miene im Raum hin und her.
In McGinnis‘ Augen trat ein besorgter Ausdruck. »Wie sieht es mit einem ordentlichen Frühstück aus?«, fragte er mit seiner Tenorstimme.
»Nein!«, kam es knurrend zurück.
»Sie sollten aber etwas zu sich nehmen!«, verlangte McGinnis energisch. »Ich werde Miss Maddows bitten, uns einen starken Kaffee zu bringen. Und ein paar ordentliche Sandwiches wären sicher auch nicht schlecht.« Ohne eine Antwort abzuwarten, ging er aus dem Zimmer.
Chief Inspector Blake setzte derweil seine unruhige Wanderung durch den Büroraum fort. Er war ein mittelgroßer Mann, von schlanker Statur, mit einem energischen, aber attraktiven Gesicht, das von zwei skeptischen kühlen, grauen Augen unter ungewöhnlich stark ausgeprägten Augenbrauen beherrscht wurde. Er war jetzt dreiundvierzig alt und ›immer noch zu haben‹, wie er manchmal in spöttischer Selbstironie bemerkte.
Blake hatte zur Klärung diverser Aufsehen erregender Fälle entschieden beigetragen und war deshalb in bestimmten Kreisen recht gefürchtet. Nur in diesem speziellen Fall wollte ihm einfach nichts gelingen.
Es war eigentlich nicht seine Art zu fluchen, aber heute war ihm danach.
Urplötzlich kroch der verführerische aromatische Duft starken Kaffees in seine Nase. Er sah auf und bemerkte, wie Miss Maddows, mittelgroß, schlank und immer auf ein gepflegtes Äußeres bedacht, ein Tablett mit Tassen, Kanne, Milch, Zucker und einigen Sandwiches auf seinem Schreibtisch absetzte.
Die Enddreißigerin mit dem frechen Kurzhaarschnitt lächelte ihn schüchtern an.
»Wünsche den Herren einen guten Appetit!«, sagte sie freundlich. »Eine kleine Stärkung wird Ihnen sicher guttun.«
Dann verließ sie mit klappernden Absätzen und gekonntem Hüftschwung das Büro.
»So, jetzt setzen Sie sich endlich und frühstücken!«, forderte McGinnis, der inzwischen wieder an seinem Tisch Platz genommen hatte, seinen Vorgesetzten auf. »Sie werden sehen, wenn Sie etwas im Magen haben, denkt es sich wesentlich leichter.«
Blake schmunzelte. Die Logik dieser Worte schien ihm nicht so recht einzugehen. Widerstrebend setzte er sich hin und begann zu essen. Allmählich breitete sich ein Gefühl behaglicher Wärme in seinem Körper aus. Nach und nach verschwanden die Unmutsfalten von seiner Stirn.
»Was mich verwundert ist, dass es wohl kaum eine Stelle in den beiden Häusern gibt, die wir nicht buchstäblich auf den Kopf gestellt hätten«, begann Blake nachdenklich, »und nichts gefunden haben, außer der völlig zerschmetterten Leiche Dunmores. Da war nichts, einfach gar nichts, das uns auch nur den geringsten Anhaltspunkt über das rätselhafte Verschwinden dieses verrückten Helmsdale hätte geben können.«
»Wenn der Professor in seiner Villa gewesen wäre, hätten wir zumindest Überreste von ihm finden müssen«, bestätigte McGinnis. »Und was ist mit diesem jungen Mädchen?«
»Aus dem Gespräch mit der Mutter weiß ich, dass ihre Tochter von einem Besuch bei einer Freundin gegen zehn Uhr abends zurück war und direkt nach oben in ihr Zimmer gegangen ist.« Blake nippte an seinem Kaffee, den ihm McGinnis eingeschenkt hatte. »Laut ihrer Mutter war sie erst seit ein paar Tagen von einer schweren Grippe genesen und daher noch etwas anfällig. Sie sagte, sie sei gegen elf Uhr noch einmal im Zimmer ihrer Tochter gewesen, und da habe diese bereits tief und fest geschlafen. Kurz nach Mitternacht hat es dann fürchterlich geknallt und die halbe Villa ging dabei zu Bruch.«
Blake nahm einen weiteren Schluck Kaffee. Dann klopfte er eine Zigarette aus dem vor sich auf dem Tisch liegenden Päckchen und zündete sie an.
»Es gibt noch einen weiteren Beweis dafür, dass diese Alice zur fraglichen Zeit in ihrem Zimmer war. Auf dem mit Glassplittern bedeckten Fußboden wurden Blutspuren entdeckt, die unzweifelhaft von ihr stammen«, ergänzte McGinnis zwischen zwei Bissen in sein Schinken-Sandwich. »Die Jungs von der ›Fatal Accident Inquiry‹ haben im Labor einen Test gemacht und dabei festgestellt, dass dieses Blut dieselbe seltene Blutgruppe hat wie die der Mutter. AB Rhesus negativ. Kommt nur bei einem Prozent der Bevölkerung vor.«
Chief Inspector Blake nickte und nahm einen Zug von seiner Zigarette. »Aber wo ist sie geblieben?« Er zuckte ahnungslos die Schultern. »Wir wissen, dass sie nicht zu Tür hinaus konnte. Die hatte sich verkeilt. Logischerweise bleibt also nur noch das Fenster. Doch draußen war nicht die geringste Blutspur zu entdecken ...«
»Und was ist mit der Wunde am Hals des alten Dunmore?«, unterbrach ihn Sergeant McGinnis. »Doktor Witherspoon fand die Wunde recht seltsam. Seinem Bericht zufolge ähnelt es Kanüleneinstichen.« Er stopfte sich einen weiteren Bissen in den Mund und spülte direkt mit einem Schluck Kaffee nach. »Erinnert mich verdammt an den Fall Tongue! Diesen Möchtegern-Vampir von ›Varrich Castle‹!« Er warf Blake einen seltsamen Blick zu. »Russel Mackay wird doch nicht von den Toten wiederauferstanden sein?«
Blake lächelte, wippte aber im nächsten Augenblick ratlos mit dem Kopf. »Nachdem was wir beide bereits erlebt haben, kann man das nicht ausschließen, aber ich halte es für sehr unwahrscheinlich«, meinte er. »Im Augenblick kann ich mir jedenfalls keinen Vers daraus machen.« Unzufrieden klopfte er mit zwei Fingern auf die Tischplatte. »Die Spuren auf der steinernen Balustrade des Balkons, vor dem Schlafzimmer des Mädchens, sind ebenfalls sehr mysteriös. Als ich die Fotos der Spurensicherung gesehen habe, war mein erster Gedanke, dass es sich um die Abdrücke eines riesigen Raubvogels handelt, der seine Fänge in den Stein geschlagen hat.«
»Ist das nicht ein wenig weit hergeholt?«, lächelte McGinnis.
Blake schüttelte entschieden den Kopf. »Ganz und gar nicht«, stellte er fest. »Ähnliche Spuren habe ich vor Jahren während eines Urlaubs in Lanslebourg-Mont-Cenis in den französischen Alpen gesehen.«
McGinnis sah ihn neugierig an.
»Damals hatte ein mächtiger Steinadler seine Fänge so in eine Felsspalte verklemmt, dass er aus eigener Kraft nicht mehr herauskam. Das Tier war schon völlig erschöpft, als wir es zufällig bei unserer Kletterei fanden und aus der tödlichen Umklammerung befreien konnten. Ich erinnere mich noch gut daran, dort vergleichbare, wenn auch wesentlich kleinere Kratzspuren gefunden zu haben. Verursacht wurden sie durch die verzweifelten Befreiungsversuche des Tieres.« Er nahm sich einen Schluck Kaffee. »Aber damit kommen wir auch nicht weiter.« Blake gab sich einen Ruck. Der nachdenkliche Ausdruck in seinem Gesicht verschwand, und in seinen Augen funkelte es energisch. »Es ist einfach nicht anders denkbar! Alice Drummond hat nach ihrem schrecklichen Erwachen einen solchen Schock erlitten, dass sie ihr Gedächtnis verloren hat und sich irgendwo versteckt hält, oder es liegt ein Verbrechen vor, dass mit der Explosion in unmittelbarem Zusammenhang steht.« Er drückte den Rest seiner Zigarette in den vor ihm stehenden Aschenbecher.
»In dem Fall neige ich allerdings mehr zur letzteren Annahme«, sagte McGinnis.
»Ich auch, Cyril, ich auch!«, nickte Blake. »Auf jeden Fall habe ich sämtliche Dienststellen im gesamten Distrikt alarmiert. Sie haben alle eine genaue Beschreibung des Mädchens.« Sein markantes Gesicht wurde hart. »Im Augenblick stochern wir zwar noch im Nebel herum ... aber auch der löst sich irgendwann einmal auf.«
Sergeant McGinnis, der sein Frühstück bereits vertilgt hatte, warf einen fragenden Blick auf die noch vor Blake liegenden Sandwiches.
Ohne ein Wort zu sagen, schob sie ihm der Chief Inspector zu.
»Danke«, grinste McGinnis und griff direkt zu. »Wenn die Explosion im Haus des Professors nicht das zufällige Ergebnis eines wahnwitzigen Versuchs gewesen ist, sondern das Produkt eines Verbrechens, und wenn weiterhin das eigentümliche Verschwinden von Alice Drummond damit zusammenhängen sollte, dann wird es Zeit, dass wir herausfinden, wie das alles miteinander zusammenhängt.« McGinnis schien gesagt zu haben, was abschließend gesagt werden musste, denn jetzt wandte er sich hungrig dem nächsten Sandwich zu und schwieg.
Chief Inspector Blake hatte noch einen Schluck Kaffee zu sich genommen und war dann unvermittelt aufgestanden. »Sie halten hier die Stellung, bis ich wieder zurück bin, Cyril! Ich werde mir draußen ein wenig die Füße vertreten. Vielleicht bekomme ich bei einem Spaziergang einen klaren Kopf. Möglicherweise schaue ich auch noch auf einen Sprung bei Doktor Witherspoon vorbei. Ich habe da noch so einige Fragen.« Er lächelte seinem Kollegen zu, schlüpfte in seinen Mantel, griff nach seinem Hut und ging.
McGinnis blickte ihm schmunzelnd nach. Dann betrachtete er das Sandwich in seiner Hand an. »Na, Kleines? Du willst doch, dass ich dich beiße ... Komm sag es mir ... oh, jaaaaaa.« Herzhaft biss er hinein. Mit dem Sandwich in der Hand stand er auf und öffnete ein wenig das Fenster. Die frische Morgenluft tat gut. Nachdenklich sah er Blake unten vor dem Polizeikomplex auf dem Gehweg nach, bis der Chief Inspector um eine Ecke verschwand. Der Fall schien wirklich sehr verzwickt zu sein. Mit Verwunderung bemerkte McGinnis, dass ihn ein leichter Schauder erfasste, als er an die düsteren Ereignisse der letzten Tage dachte.
Kapitel 4
W
ährend sich Sergeant McGinnis im Büro über die letzten Sandwiches hermachte und seinen tiefsinnigen Betrachtungen nachhing, stand Chief Inspector Blake gedankenversunken am ›River Ness‹, von dem sich der Name der Stadt ableitete. Interessiert beobachtete er dabei die eifrigen Versuche eines rothaarigen Dreikäsehochs, der mit stolzer Besitzermiene sein ferngesteuertes Modellschiff in unmittelbarer Nähe des Flussufers herum manövrierte. Helle Freude glänzte in dem sommersprossigen Gesicht des höchstens Fünf- bis Sechsjährigen, als das kleine Schiffchen nach einem gelungenen Wendemanöver wieder auf ihn zukam.
Blake war gerade im Begriff, dem Jungen bei der Bergung des Nachbaus eines Feuerlöschbootes zu helfen, als er hinter sich eine tiefe, sonore Stimme vernahm, die ihn ansprach.
»Detective Chief Inspector Blake?!«
Blake richtete sich auf und fuhr herum. Vor ihm stand ein großer, schlanker Mann mit einem scharf geschnittenen Wikingergesicht und einem Schopf weißblonder Haare. Zwei leuchtende graugrüne Augen sahen ihn an.
Schnell überwand Blake seine Verblüffung. Es war nicht das erste Mal, dass ihn wildfremde Menschen direkt mit Dienstrang und Namen ansprachen. Insbesondere in London kam es immer wieder vor, dass ihm irgendjemand um Schutz vor seinen Ganovenkollegen bat, oder man ihm einen Hinweis geben wollte. Aber der Mann, der ihm jetzt gegenüberstand passte weder in die eine noch in die andere Kategorie.