An einem Freitag in Colombo - Petra Reategui - E-Book

An einem Freitag in Colombo E-Book

Petra Reategui

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Beschreibung

Sieben Geschichten vom Leben und Sterben. Wir haben sie alle – Wünsche, Ziele und Sehnsüchte, die unser ganzes Leben bestimmen, bis zum letzten Tag. Laut und fordernd können sie sein, aber auch leise und fast unbemerkt im Hintergrund wirken. Manche Träume werden wahr, wie die des jungen Mannes, der in der Nacht des Mauerfalls in Berlin einen weißen Turnschuh findet und sich auf die Suche nach dem Gegenstück macht. Andere Wünsche lösen sich auf oder zerschlagen sich, wie es der Mann aus der titelgebenden Geschichte erfährt, als er in der srilankischen Hauptstadt einen Neuanfang wagt. Oder jener Wasseringenieur, der sich Hals über Kopf in einen blonden Engel verguckt hat. Dass der Tod erbarmungslos sein kann, erzählt die Geschichte von dem Kind, das sterben muss, noch bevor es seine Träume kennt. Aber er kann auch anders, der Tod – jeck und mit Narrenkappe erfüllt er einer alten Dame einen Herzenswunsch.

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Seitenzahl: 72

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Inhalt

Kyoto

Pierre oder die Liebe in DIN A4

Entwicklungshilfe oder der Traum von Weihnachten

Afrikanisches Souvenir

No Time to Die

Neapel sehen und sterben

An einem Freitag in Colombo

Über die Autorin

Kyoto

Langsam wandert das alte Ehepaar durch den Stadtwald. Von der nahen Kirche weht Glockengeläut herüber. Es hat zu schneien angefangen, aber die Flocken bleiben nicht liegen. Unter Baumgruppen, wo die Wipfel den Himmel verdecken, sind die Wege feucht und matschig. Dort fassen sich die Frau und der Mann an den Händen, um sich gegenseitig zu stützen.

Unsere Schritte haben sich angepasst in bald fünfzig Jahren Ehe, denkt der Mann, während er sich die Schildmütze ein wenig tiefer ins Gesicht zieht, damit der Schnee ihm nicht direkt in die Augen weht.

Er blinzelt und beobachtet, wie ihre Füße sich in gleichmäßigem Rhythmus vorwärts bewegen. Links, rechts, links, rechts. Er lächelt, das war nicht immer so gewesen. Ilse war immer gern vorwärts gestürmt, früher, als sie verlobt waren, und in den ersten zwanzig Jahren ihrer Ehe. Er war ihr nie schnell genug. Doch irgendwann war ihm aufgefallen, dass sie immer häufiger gleich schnell gingen.

Und inzwischen gleich langsam.

Habe ich mich Ilse angepasst oder sie sich mir?

Wo der Weg leicht ansteigt, fasst er sie fester am Arm. Sie sprechen nicht. In bald fünfzig Jahren Ehe ist fast alles gesagt. Er findet es nicht traurig, eher beruhigend. Sie wissen alles voneinander, und wenn tatsächlich der eine vor dem anderen noch ein altes Geheimnis haben sollte, dann ist es jetzt nicht mehr wichtig.

Er denkt zurück an den Wintertag vor über fünfzig Jahren, als er seine Großmutter im Rollstuhl durch den Park fuhr. Das war zu Hause gewesen. In Kyoto. Auch damals schneite es, und er hatte sich über ihre Schulter beugen müssen, um ihre Worte zu verstehen.

»Ich weiß, du wirst nicht auf mich hören, Junge, aber erzähl’ mir später nicht, ich hätte dich nicht vor dieser Heirat gewarnt.«

Er sah, dass sie weitersprach, aber der Wind nahm die Worte mit, und er verstand nur Fetzen wie »… die Mädchen dort in Europa …«, »… andere Kultur …«, »… später im Alter …«. Er war vierundzwanzig und verliebt, und das Alter interessierte ihn nicht.

Oben angekommen, bleiben sie ein paar Minuten auf dem Weg stehen und schauen hinunter auf die breite, weißglitzernde Lichtung, wo Kinder einen Schneemann bauen. Ilse atmet schwer. Er schaut sie von der Seite an, sie muss in letzter Zeit oft schwer atmen. Ihre Wangen sind von der Luft gerötet, sie hat die Augen zu schmalen Schlitzen zusammengekniffen, um sie vor den stärker wirbelnden Flocken zu schützen. Genau wie seine Großmutter damals, auf der Anhöhe im Park, von der aus man auf Kyoto blickte, das im Schnee versank. Er tritt näher zu seiner Frau und legt den Arm um sie.

Sie haben geheiratet und drei Kinder bekommen. Einen Sohn und zwei Töchter, die in Deutschland wegen ihrer glänzend schwarzen Haare auffielen und beim Besuch in Japan wegen ihrer großen runden Augen. Die jüngste, Hitomi, hat sogar die blauen Augen ihrer Mutter geerbt. Irgendwann, hatte er sich am Anfang ihres gemeinsamen Lebens vorgenommen, irgendwann wollte er mit Ilse und den Kindern zurück nach Kyoto gehen. Aber dann hatte die Firma, für die er arbeitete, eine Niederlassung in Düsseldorf eröffnet, und er blieb in Deutschland.

Manchmal lag ihm die »andere Kultur« schwer im Magen. Manchmal ging er allein auf die Anhöhe im Stadtwald, von wo man auf die Wiese schaute, auf der die Kinder herumtollten, und er sah seine Heimatstadt vor sich liegen, Kyoto mit seinen Schnellstraßen, seinen Hochhäusern, Kyoto im Sommer, Kyoto im Schnee. Und er beugte sich über die Schulter seiner Großmutter.

»Im Alter sehnt man sich wieder zurück in die Kindheit«, sagt sie.

Er wurde vierzig, dann fünfzig. Mit sechzig schaute er seinen Enkeln hinterher, die unten auf der Wiese Fangen spielten, und er dachte ans Alter. Nicht immer war die Ehe leicht gewesen, Ilse war immer so schnell. Aber dann waren sie plötzlich Großeltern, und ihre Schritte hatten einen gemeinsamen Rhythmus gefunden.

Manchmal begleitet Hitomis Sohn sie in den Stadtwald, dann packt der Enkel die Großmutter und trabt mit ihr den Weg hinauf bis dorthin, wo sie jetzt stehen. Hoch über der Lichtung, von wo er immer Kyoto sieht. Meist bleibt er dann ein paar Schritte zurück, damit sie nicht merken, dass er weint.

Er spürt, wie seine Frau ihn von der Seite anschaut.

»Es ist kalt«, sagt sie, »du darfst dich nicht erkälten.«

Geschäftig bindet sie ihm den grauen Schal, den eine der Töchter ihm zu Weihnachten geschenkt hat, fester um den Hals und zieht den Stoff an den Ohren ein wenig in die Höhe. Sie lächelt.

»Du erinnerst mich an meinen Vater. Habe ich dir eigentlich schon mal gesagt, dass ihr euch jetzt im Alter immer ähnlicher seht?«

Sie hakt sich bei ihm ein, und er führt sie vorsichtig den Weg hinunter. Ihre Füße bewegen sich im gleichen Rhythmus. Langsam und bedächtig. Links, rechts. Links, rechts.

Pierre oder die Liebe in DIN A4

Können Sie Französisch?

Zu schwer, meinen Sie? Nie Gelegenheit zum Lernen gehabt?

Schade, wo Französisch doch die Sprache der Verliebten ist, die Sprache der Liebe. Und Hand aufs Herz, haben Sie nicht auch schon immer von einem romantischen Wochenende in Paris geträumt?

Geben Sie sich also einen Ruck, es gibt tausendundeine Möglichkeiten, diese schönste aller schönen Sprachen der Welt zu lernen. Fangen Sie gleich jetzt an, noch heute. Sie werden sehen, es ist gar nicht so schwer, wie Sie glauben.

Beginnen wir also mit ein paar ganz einfachen Grundbegriffen:

B-O-N-J-O-U-R

Das haben Sie sicher verstanden.

Und wie sieht es damit aus?

C-H-E-R-I-E

Oder damit:

A-M-O-U-R

Sehen Sie, es ist ganz einfach, und wenn wir mit Großbuchstaben anfangen, ist es besonders einfach, weil man sich da gar nicht erst mit den lästigen Akzenten abgeben muss, die zugegebenermaßen die schönste aller schönen Sprachen manchmal zum Ärgernis machen. Bei Großbuchstaben darf man die nämlich weglassen.

Auch Sabine hatte nicht lange über Akzente nachgedacht, als sie anfing, die Buchstaben des Alphabets mit einem dicken schwarzen Stift auf DIN-A4-Seiten zu malen. Sabine könnte auch Helene geheißen haben oder Evelyn, Ursula oder Petra. Wie Mädchen eben so hießen Mitte der 60er Jahre des vergangenen Jahrhunderts. Aber ich nenne sie nun einmal Sabine.

Mitte der 60er Jahre des vergangenen Jahrhunderts war Sabine so um die sechzehn. Ein gefährliches Alter und besonders gefährlich, wenn man gegenüber einer Kaserne wohnt, noch dazu einer französischen.

O-L-A-L-A!

Seit einem Jahr hatte Sabine Französisch in der Schule. Aber vielleicht, weil sie nun mal von Liebe oder von A-M-O-U-R noch nicht allzu viel verstand, tat sie sich schwer mit dieser für unsere deutsche Zunge hin und wieder doch etwas komplizierten Sprache. Sie war nicht die einzige in der Klasse, die sich nicht merken konnte, ob die französische Sonne männlichen oder weiblichen Geschlechts war; die darüber stöhnte, dass das Wetter nicht heiß war, sondern heiß machte. Machte! Pourquoi – warum um alles in der Welt? – fait-il chaud? Ganz abgesehen von der langatmigen Frageform »Est-ce qu’il fait chaud? – Ist es, dass es heiß macht?« oder der umständlichen Schreibweise des O, des einfachen Lauts O, den der Franzose zwar manchmal tatsächlich mit dem Buchstaben o wiedergibt, besonders gern aber, und um ausländisch sprechende und schreibende Menschen zu ärgern, mit der Vokalkombination a-u oder gar e-a-u. Was die Sache mit den auf DIN-A4-Blättern gemalten Buchstaben erschweren wird – aber ich greife vor.

Sabine war also schlecht in Französisch, überhaupt war die ganze Klasse schlecht in Französisch. »Üben, meine Damen, üben!«, beschwor die Lehrerin die Mädchen tagtäglich, was bei den jungen Damen zum einen Ohr hinein und zum anderen wieder hinausging. (An dieser Stelle muss erwähnt werden, dass es sich bei Sabines Schule um ein reines Mädchengymnasium handelte, was möglicherweise auch dazu beitrug, dass Sabine in Sachen Amour noch nicht sehr bewandert war.)

Üben, predigte Frl. Rommel also, »… und hören Sie Radio, wir leben nahe dem Elsass, da empfangen Sie französische Sender. Und lesen Sie! Lesen Sie Racine! Voltaire! Frankreich besitzt so wundervolle Klassiker!«

Racine! Voltaire! Die Ohren der Mädchen standen auf Durchzug, und bei der nächsten Klassenarbeit hagelte es wieder einmal Vierer und Fünfer.

Sabine schrieb eine Fünf.

An jenem Nachmittag, als sie missgelaunt von der Schule nach Hause radelte, das Arbeitsheft mit der dicken, fetten Fünf in der Mappe – die hätte die doofe Kuh auch etwas dezenter schreiben können! – an jenem Nachmittag also schien die Sonne – la soleil oder le soleil? – strahlend vom blauen Himmel, und in allen, na