Der erste Mord im Gässchen - Petra Reategui - E-Book

Der erste Mord im Gässchen E-Book

Petra Reategui

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Beschreibung

Neun Geschichten mit überraschenden Wendungen, glücklichen, weniger glücklichen und mörderisch bösen. Da ist das Ehepaar, dessen gemeinsames Schicksal sich beim Fischessen entscheidet. Oder der Fundbürobeamte, den eines Tages ein folgenschwerer Ehrgeiz packt, während ein Fortsetzungsroman in der Zeitung ein kleines Mädchen auf einen glorreichen Gedanken bringt. Und dann ist da natürlich noch Der erste Mord im Gässchen, eine Erfolgsgeschichte ganz besonderer Art.

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Inhalt

Der erste Mord im Gässchen

Theodoras Reise ans Meer

Taschentuch mit rosa Spitze

Strippelmann

Mauerfall

Römerlay

Ein hautenges rotes Kleid

Biegen Sie links ab!

Die Gräte

Über die Autorin

Der erste Mord im Gässchen

Für Werner, der mir den Floh ins Ohr gesetzt hat.

Die Handlung dieser Geschichte ist frei erfunden; Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind rein zufällig.

In der Nacht zum 15. August 1978 wurde Erna Selius von dem schweren vergoldeten Rahmen des Ölportraits ihrer Mutter, das über ihrem Kopfteil des Ehebetts an der Wand gehangen hatte, erschlagen. Sie war dreiundsechzig Jahre alt.

Man hatte mich gerufen, um ihr die Sterbesakramente zu erteilen. Aufgeregt wie ich damals als ganz junger Pfarrer noch war, versprach ich mich ein paar Mal. Aber ihr Mann schien meine Unsicherheit nicht zu bemerken. Mit hängenden Armen stand er, ich weiß es noch genau, in seinem grau-blau gestreiften Pyjama im Schlafzimmer und starrte auf seine Frau. Sie starb um sieben Uhr elf in der Frühe, zwei Minuten bevor Doktor Huth eintraf. Ich stammelte ein paar tröstende Worte, aber Selius senior schien weder mich wahrzunehmen noch seinen Sohn Norbert und dessen Frau, die heftig schluchzte, und so war es wohl besser, mich zu verabschieden, am Nachmittag wollte ich wiederkommen. Ich spürte, dass ich der Familie keine Hilfe war, und fühlte mich elend.

Umso dankbarer war ich Frau Erpelenz, die mich aus dem Haus der Familie Selius kommen sah und mich zu einer Tasse Kaffee einlud. Frau Erpelenz wohnt auf der anderen Straßenseite, und sie hatte durchs Küchenfenster bemerkt, dass etwas passiert sein musste.

»Ein tragisches Unglück«, bestätigte ich und wusste nicht, ob ich am ganzen Körper zitterte, weil es der erste Todesfall in meiner gerade begonnenen seelsorgerischen Laufbahn war oder weil ich noch kein Frühstück gehabt hatte. Frau Erpelenz nickte ernst, nachdem ich ihr erzählt hatte, was geschehen war.

»Ein tragisches Unglück«, wiederholte sie. Ob sie Frau Selius gekannt habe, fragte ich. Frau Erpelenz lächelte nachsichtig und schenkte mir endlich Kaffee ein. Natürlich hatte sie Frau Selius gekannt, alle in Bachwasser kennen sich. Ich aber lebte damals erst seit einer Woche in Bachwasser und kannte noch niemanden. Bevor mich das Bistum hierher geschickt hatte, dachte ich, Bachwasser läge unten im Tal am Grünbach. Jeder, der fremd in der Gegend ist, glaubt das. Aber Bachwasser liegt oben auf dem Plateau, und einen Bach gibt es weit und breit nicht. Wie die Gemeinde zu ihrem Namen gekommen ist, weiß allein der liebe Gott.

Die Kirche Sankt Antonius steht mitten im Ort, umgeben vom alten Friedhof und einer öffentlichen Grünfläche, und eigentlich ist die Kirche viel zu groß für das 800-Seelen-Dorf. Aber der Bau, fast ist man versucht von einer Kathedrale zu sprechen, stammt aus dem 12. Jahrhundert, aus einer Zeit also, als die Menschen ihr Heil noch im Wort Gottes suchten und nicht im Fernsehen. Sie mussten damals in Scharen nach Bachwasser gepilgert sein, die Menschen. Angeblich, weil der Heilige Willibrord dort einst auf seinem Weg nach Echternach durch Handauflegen das einzige Schaf eines armen Bauern heilte; es war von einem Wolf angefallen worden.

Zwar habe ich während meiner Ausbildung zum Priester Willibrords Leben studiert und nichts über diese Begebenheit gefunden, aber später entdeckte ich in der Kirchenchronik von Bachwasser ein zweiseitiges Dokument, in dem einer meiner Vorgänger aus dem 18. Jahrhundert von dieser Geschichte berichtete. Man konnte meinen, er sei dabei gewesen. Danach, so schrieb er weiter, habe ein Massenansturm von Gläubigen auf die Bachwasser’sche Kirche eingesetzt, und diese habe vergrößert werden müssen, da von überall her Ritter, Bauern, Tagelöhner und Marktfrauen mit lahmen Pferden, verletzten Kühen, humpelnden Schäferhunden und kranken Hühnern gekommen seien. Tatsächlich fällt auf, dass das Eingangsportal von Sankt Antonius sehr viel breiter ist als das anderer Kirchen, und der steinerne Fußboden zwischen Schiff und Altarraum wirkt seltsam zerkratzt und ausgetreten. Ich mochte die große Kirche von Anfang an, und sie gefällt mir noch immer, auch wenn die wenigen Gläubigen, die sonntags zur Messe kommen, sich in der Weite des Raums fast verlieren.

Bis heute klingt mir Frau Erpelenz’ warme Stimme in den Ohren, mit der sie an jenem 15. August 1978 »… ein tragisches Unglück« sagte. Wir saßen in ihrer Küche, sprachen über Bachwasser und die Familie Selius, ich trank drei Tassen Kaffee, bekam eine Scheibe Brot mit Käse und beruhigte mich allmählich.

Die Nachricht von Frau Selius’ Tod verbreitete sich wie ein Lauffeuer durch den Ort. Aber anders als Frau Erpelenz zerrissen sich die meisten Bachwasserer den Mund und zogen über den armen Herrn Selius her, der angeblich fest geschlafen haben wollte. Er habe nichts von allem mitbekommen, sagte er der Polizei. Weil er nach einem anstrengenden Arbeitstag auf dem Feld tief geschlafen habe. Als er gegen fünf aufgewacht sei, habe er die Bescherung – Bescherung!, so stand es später im Verhörprotokoll – gesehen. Da habe seine Frau noch gelebt, er habe sofort den Pfarrer und den Arzt gerufen und dann seinen Sohn Norbert geweckt, der mit Frau und zwei Buben auch auf dem Hof wohnt.

»Das kann mir keiner erzählen, dass man so fest schläft und nicht hört, wie die Schwiegermutter runterkracht«, höhnte der Bäcker, und die Kundschaft im Laden pflichtete ihm bei. »Von wegen Feldarbeit«, posaunte ein anderer herum, »der hat am Abend vorher zu viel gesoffen.« »Na, wenn er’s nicht mal selber war, der den Nagel in der Wand gelockert hat. Zwischen den beiden Alten gab’s doch schon seit langem Krach«, argwöhnte ein Dritter hämisch, und so wie dieser dachten viele. Die Polizei aber konnte dem alten Selius nichts nachweisen, weder vorsätzlich noch fahrlässig. Ein Sachverständiger war beauftragt worden, das Loch in der Wand zu prüfen, und kam zu dem Schluss, dass sich der alte Bilderhaken sehr wohl von allein gelockert haben konnte, da in den Tagen zuvor in dem Raum neben bewusstem Schlafzimmer Umbauarbeiten stattgefunden hatten, die möglicherweise in dem alten Gemäuer zu Spannungen und Verschiebungen führten.

Seit jenem unseligen Tag sind nun bald dreißig Jahre vergangen, und ich frage mich immer wieder, warum Gott dieser Familie seine Gnade zu entziehen scheint, ja, sie bis heute auf grausame Weise auf die Probe stellt. Und wenn mich Gemeindemitglieder darauf ansprechen, stehe ich wieder so hilflos da wie damals als junger, unerfahrener Pfarrer und finde keine Worte. Denn seit jenem bedauerlichen Tag ist bis auf den Sohn Norbert die ganze Familie Selius zu Tode gekommen. Und obwohl es keinerlei Beweise gibt, sind die Leute überzeugt: »Das mit der alten Erna Selius, das war der erste Mord im Gässchen.« Wer kann, meidet die Hundsgasse, in der das Haus der Selius’ steht, als ob dort der Antichrist sein Unwesen treibe. Meiers rechterhand sind nach dem dritten Todesfall weggezogen, Klagenbergs nach dem vierten, nur Frau Erpelenz lässt sich nicht beirren. Sie und Norbert Selius sind heute die letzten Bewohner im Gässchen.

Als Priester ist mir die Existenz Satans nicht fremd, dennoch weigere ich mich, ihn mit dem seltsamen Geschehen in Verbindung zu bringen, und bitte Gott um Erleuchtung. Auch Polizeihauptkommissar Säger, der drei Monate vor mir von der Kreisstadt nach Bachwasser versetzt worden war, kann sich keinen Reim darauf machen.

Vielleicht weil wir uns beide lange Zeit als die einzigen Fremden inmitten dieser gewachsenen Dorfgemeinschaft gefühlt haben – Säger ist außerdem noch für die Sicherheit und Ordnung in acht weiteren Dörfern zuständig –, hat sich zwischen uns eine gewisse Freundschaft entwickelt. Und wenn wir hin und wieder bei einem abendlichen Schoppen zusammensitzen, kommen wir stets auf die Tragödie der Familie Selius zu sprechen. Aber der Reihe nach.

Zwei Jahre nach dem Tod der seligen Frau Selius fand Norbert seinen Vater zwischen seinem Maisfeld und dem Bahndamm. Tot. Es war wieder ein fünfzehnter August. Der Regionalzug, der pünktlich um achtzehn Uhr sieben Hintereichen in Richtung Bachwasser verlassen hatte, musste ihn erwischt und, wie die Spurensicherung feststellte, etliche Meter mitgeschleift haben. Der Lokführer habe nichts bemerkt, erzählte mir Säger später.

»Kann er gestoßen worden sein?«

Säger zuckte die Schulter. »Möglich, aber auf dem Schotter waren keine Spuren auszumachen. Nur Kaugummipapierchen, Plastiktüten, leere Zigarettenschachteln. Ich frage mich, ob die Leute blind sind und die Abfallbehälter in den Waggons nicht sehen.«

Säger tippte auf Selbstmord, einen Abschiedsbrief gab es nicht.

Auch die anderen Mitglieder der Familie kamen unglücklich ums Leben. Immer im Monat August, immer an einem fünfzehnten, wenn auch nicht in aufeinanderfolgenden Jahren. Zwischen dem Tod des alten Selius und dem seiner Schwiegertochter Ingrid, der Frau von Norbert, lagen zehn Jahre. Sie starb am fünfzehnten August 1990. Weil sie, wie es so viele Hausfrauen tun, Putzmittel in die Sprudelflasche abgefüllt und dann anscheinend nicht mehr daran gedacht hatte. Natürlich kann das mit dem fünfzehnten August Zufall gewesen sein, aber merkwürdig ist es doch, und seither steigt jedes Jahr vor diesem Datum die Anspannung in Bachwasser ins Unerträgliche. Dann knistert die Luft.

Fünf Jahre nach Ingrid Selius’ Tod fiel am fünfzehnten August 1995 der ältere Sohn Lars die steile Stiege von Frau Erpelenz’ Speicher hinunter und brach sich das Genick. Er hatte der alten Dame helfen wollen, das Gerümpel unterm Dach wegzuräumen. Frau Erpelenz fand den Jungen, als sie mit einer extragroßen Tüte Nugatschnittchen vom Bäcker zurückkam. Säger, der gleichzeitig mit mir eintraf, denn Frau Erpelenz hatte auch mich gerufen, schaute sich den mit verdrehten Gliedern daliegenden Toten lange an. Dann warf er seinem Kollegen, den ich nicht kannte, einen bedeutsamen Blick zu, und sie machten sich daran, die Treppenstufen, die Schuhe des Toten und den Karton zu untersuchen, den Lars geschleppt haben musste, als er stürzte. Denn um ihn herum lagen die aufgerissene Pappschachtel und eine Unmenge von Büchern, vergilbte Schinken, zum Teil noch aus dem 19. Jahrhundert, und eine vollständige Brockhaus Enzyklopädie. »Die Schrift kann ich gar nicht mehr lesen«, brummte Säger und legte Band für Band auf die Seite. Sie fanden nichts Verdächtiges.

Ganz Bachwasser hatte sich zur Beerdigung von Lars um das offene Grab herum versammelt, dazu viele Leute aus den Nachbardörfern, aus Siebenich, Hintereichen und Pommerich, Dörfer, die ich mittlerweile auch seelsorgerisch betreue, weil wir zu wenig Priesternachwuchs haben. Norbert Selius starrte mit versteinertem Gesicht vor sich hin, Lars’ jüngerer Bruder Sascha war weiß wie ein Leintuch und biss sich ununterbrochen auf die Lippen. Mit Tränen in den Augen stand Frau Erpelenz neben ihm und hatte ihren Arm um seine Schultern gelegt, was er anscheinend dankbar akzeptierte. Vielleicht fühlte sie sich schuldig, weil der Unfall in ihrem Haus passiert war.

Es war ein bewegendes Begräbnis. Gleichzeitig aber, und erfreut war ich nicht darüber, hörte ich die Leute nun nicht mehr von Zufall reden, sondern von höherer Gewalt, von göttlichem Willen. Allerdings konnte ich danach eine signifikante Zunahme der Gläubigen in der sonntäglichen Messe beobachten. Sogar in Sankt Margaretha in Siebenich, wo stets nur dieselben drei alten Frauen gekommen waren, sitzen seit Lars’ Tod nun manchmal bis zu zehn Gläubige in den Kirchenbänken. Ich muss dem Jungen fast dankbar dafür sein, auch wenn das jetzt zynisch klingen mag.

Ein Jahr später fuhr Sascha lange vor dem fünfzehnten August nach England und kehrte, weil es dort ständig geregnet hatte, bleich aber gesund erst Anfang September wieder nach Bachwasser zurück. Doch im Jahr darauf, am fünfzehnten August 1997, wurde er hinterrücks von einem Pfeil, wie man ihn vom Sportbogenschießen kennt, an der rechten Schläfe getroffen, als er auf der Oberen Grünbachwiese zwischen Hintereichen und Pommerich half, Zelte für das kirchliche Jugendferienlager aufzubauen.

»Endlich mal ein sauberer Mord«, bemerkte Kommissar Säger trocken, als wir das nächste Mal beisammen saßen. Die Kollegen von der Rechtsmedizin hatten bestätigt, dass der Tod sofort eingetreten war, aber die ungewöhnliche Mordwaffe blieb ein Rätsel, denn in der ganzen Umgebung wusste man von keinem einzigen Bogenschützen. Wie sein Bruder Lars zwei Jahre zuvor war der arme Sascha nur zweiundzwanzig Jahre alt geworden.