Kalt fließt die Mosel - Petra Reategui - E-Book

Kalt fließt die Mosel E-Book

Petra Reategui

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  • Herausgeber: Emons Verlag
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2023
Beschreibung

Das Moseltal im Schatten der Nachkriegszeit – aufrüttelnd, nachdenklich und brillant recherchiert. 1945: Vier Monate nach Kriegsende wird oberhalb der Mosel eine hochschwangere Frau gefunden, die unter mysteriösen Umständen einen Berghang hinabgestürzt ist. Während das Kind gerettet werden kann, stirbt die Mutter an ihren Verletzungen. Fast zur selben Zeit wird ein Mann im nahen Steinbruch ermordet. Hängen die beiden Fälle zusammen? Gemeinsam mit dem Hilfsgendarm Buchheim und einem französischen Besatzungsoffizier stellt die junge Hebamme Ello Nachforschungen an – die sie auf die Spur eines dunklen Geheimnisses führen.

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Seitenzahl: 366

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Petra Reategui, geboren in Karlsruhe, war nach dem Dolmetscher- und Soziologiestudium Redakteurin bei der Deutschen Welle. Heute lebt und arbeitet sie als freie Autorin in Köln. Sie schreibt überwiegend zu historischen Themen.

www.petra-reategui.de

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig. Der Anhang enthält ein Glossar sowie Literatur- und Quellenangaben.

© 2023 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer unter Verwendung der Bildmotive shutterstock.com/Andi111, shutterstock.com/ischte, shutterstock.com/Werner Baumgarten

Lektorat: Dr. Marion Heister

E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-98707-010-5

Historischer Kriminalroman

Originalausgabe

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Der Weltkrieg begann,und wir sahen Gott und Sterne sterben im Abendland.

Aus den Aufzeichnungen von Willy Peter Reese, in: Mir selber seltsam fremd. Die Unmenschlichkeit des Krieges. Russland 1941–44, hrsg. von Stefan Schmitz, München 2003

1

DIE FRAU

Sonntag, den 19. August 1945

Der Himmel war von sattdunklem Blau. Von einem so gleichmäßigen satten Blau, dass es fast unnatürlich wirkte. Es war noch früh am Vormittag, doch über Feldern und Weinbergen lastete bereits hochsommerliche Hitze.

Der steile Aufstieg vom Tal zur Ruine der alten Wallfahrtskirche auf dem Bleidenberg fiel ihr schwerer, als sie gedacht hatte. Der Schweiß rann ihr über Rücken und Arme. Die Bluse, die einzige, die sie besaß, klebte an der Haut. Immer wieder musste sie haltmachen und sich auf ein Terrassenmäuerchen oder eine der schmalen Treppen setzen, die zu den Rebstöcken führten.

Plötzlich ziepte und krampfte es in ihr. Sie erschrak, aber dann beruhigte sie sich. Es konnten noch keine Wehen sein. Bis zum errechneten Geburtstermin waren es ihrer Meinung nach noch ungefähr drei Wochen.

»Hab noch ein bisschen Geduld«, murmelte sie und streichelte ihren Leib.

Vielleicht war es leichtsinnig, dass sie sich mit ihrem Hummelchen im Bauch noch eine solche Bergwanderung zumutete. Bequemer wäre ein Spaziergang unten am Fluss gewesen. Aber sie hatte sich nun mal die Wallfahrtskirche in den Kopf gesetzt, von der Schwester Hildegard immer erzählte. »Die Ruhe dort oben, die weite Sicht. Da musst du mal hin.«

Und Ruhe war es, was sie im Augenblick brauchte. Den Fluss entlang gab es viel zu viele Leute, vor allem an einem Sonntag wie heute, und sie wollte allein sein, allein mit sich und dem Hummelchen in ihr. Wollte niemanden sehen, mit niemandem reden, wenigstens für einen Tag. Es war eine Flucht, eine Reaktion auf die unerwartete Begegnung vom Tag zuvor. Noch immer steckte ihr der Schreck in den Gliedern.

Am Anfang hatte sie die Kirche auf dem Berg nicht interessiert. Eine Ruine, die seit Menschengedenken in der Landschaft herumstand, na und! Sie hatte in den letzten Jahren genügend Zerstörung gesehen, verwüstete Ortschaften, zerbombte Schulen und Krankenhäuser. Das reichte für ein ganzes Leben. Da musste sie sich nicht auch noch eine Kirchenruine antun. Aber als sie am Morgen Kloster Kühr verließ, war ihr eingefallen, was die Nonne gesagt hatte: »Wenn du Stille suchst, dort oben findest du sie. Eine unermessliche Stille.«

Wenigstens hatte Schwester Hildegard nicht auch noch den Heiligen Geist beschworen. Dann wäre sie nie im Leben hier hoch gegangen. Aber wahrscheinlich hatte die Nonne selbst schon längst den Glauben an einen Allmächtigen verloren, der seine Hand schützend über alles hielt. Gott, wenn es denn jemals einen gegeben hatte, lag stumm und bleich auf den Schlachtfeldern.

Sie schaute den Pfad zurück, auf dem sie gekommen war. Nimm dir Zeit, ermahnte sie sich, du musst keinen Wettlauf gewinnen. Der lang gezogene Ruf eines Milans schallte durchs Tal. Als hätte auch das kleine Wesen in ihr den Ruf gehört, boxte ein winziges Füßchen energisch gegen ihre Bauchwand. Befreit lachte sie auf. Sie mochte es, wenn das Kind sich auf diese Weise meldete. Als wolle es ihr »Guten Morgen« sagen und: »Hab keine Angst, ich mach mich auch ganz leicht.«

»Guten Morgen, kleine Hummel«, antwortete sie. »Du hast recht, wir beide schaffen das.« Und langsam stapfte sie weiter bergauf. Nach einem kurzen Stück durch ein lichtes Wäldchen lag die letzte Strecke des Wegs bis zur Wallfahrtskirche wieder in der prallen Sonne. Als sie das Plateau erreichte, war sie erschöpft, aber auch stolz. Als hätte sie den Himalaja bestiegen. »Guck, Hummele, da sind wir.«

Sie sah sich um. Weit und breit kein Mensch. Aber Vogelgezwitscher, Bienensummen, das sanfte Lied des Winds und ein grenzenloser Himmel. Drunten auf dem Fluss glitt, wie von Geisterhand geschoben, ein Nachen übers Wasser, eine Fähre oder ein Fischer in seinem Kahn. Leise begann sie zu summen, »ich weiß nicht, was soll es bedeuten« … Ihre Worte verhallten, unten floss nicht der Rhein, sondern die Mosel.

Es war wirklich schön hier oben. Gut, dass sie gekommen war. Hinter ihr lag der Hunsrück, drüben auf der anderen Seite des Tals das Maifeld. Dort am Horizont erwuchs aus bläulichem Morgendunst eine hügelige Bergkette. Davor dehnten sich Felder, unterbrochen von kleinen Wäldchen und Baumreihen. Sie vermutete Obstbäume, Äpfel, Birnen, Mirabellen, Walnüsse. In Sichtweite ein Dorf. Es lag so friedlich da. Noch kein halbes Jahr zuvor waren dort Panzer durchgerollt.

Das Hauptportal der Kirche war verriegelt, der Türbeschlag vom Rost zerfressen. Doch der Eingang an der Nordseite stand offen. Aber anders als erhofft, schlug ihr keine angenehme Kühle entgegen. Die Sonne, die das dachlose Innere des Gebäudes durchflutete, hatte den schmucklosen Raum aufgeheizt. Hinter einem der mächtigen Pfeiler entdeckte sie einen Stuhl. Sie säuberte ihn notdürftig und setzte sich. Wieder verspürte sie ein Ziehen im Unterleib. »Hummelchen«, sagte sie begütigend und streichelte in kreisrunden Bewegungen ihren Bauch, »nicht hier!« Und als hätte das Kind sie gehört, gab es Ruhe.

Sie entspannte sich.

Zwischen den Säulen flirrte die Luft. Lichtflecke huschten über den nackten Geröllboden. In den milchigen Schwaden tanzten Heerscharen von Mücken. Spatzen schossen kreuz und quer. Auf einem steinernen Altar in einer Nische gewahrte sie eine einsame Marienfigur, scheinbar vergessen von Gott und den Menschen. Wind und Wetter hatten der Skulptur zugesetzt. Das Holz war morsch. Vom Gesicht blätterte die Farbe ab. Die Haare bedeckten Schmutz und Vogelkot. Einzig der Mantel der Madonna erstrahlte in frischem Blau, in einem Blau, so leuchtend wie der Himmel über ihr und der Heiligen. Wer war in diesen Zeiten, in denen es nichts zu essen und zu beißen gab, nur auf die Idee gekommen, dem Gewand der Muttergottes einen neuen Farbanstrich zu verpassen?

Die kleine Pause hatte ihr gutgetan, die Müdigkeit war verflogen, und auch das gestern Erlebte bedrückte sie nicht mehr so sehr. Plötzlich war sie überzeugt, dass sich eine Lösung finden würde. Bestimmt. Wenn sie heute Abend ins Kloster zurückkäme, würde sie einen Brief schreiben.

»Weißt du was, Hummelchen? Wir gehen noch nicht zurück, sondern wandern noch ein Stück weiter.«

Sie stand auf und verließ das Gotteshaus. Von der Kirche gingen mehrere Wege ab. Sie nahm den breiteren, der anscheinend flach am Hang entlangführte. Grasbüschel säumten ihn. Hin und wieder blitzte rechter Hand die Mosel auf, doch meist verdeckten Gesträuch und Bäume die Aussicht. Irgendwo würde es einen Abzweig hinunter ins Tal geben.

Vor ihr zeichneten sich Reifenspuren im Sand ab. In einer jähen Kurve liefen sie auf die Böschung zu und verloren sich im Nichts. Die Pneus hatten tiefe Kerben in den von altem Laub bedeckten Rand der Piste gegraben. Drum herum aufgewühlte Erde, geknickte Sträucher, gesplitterte Äste.

Sie blieb stehen. Hier also war es passiert.

Vor acht Tagen war der französische Feldwebel Sergeant-Chef Roger Gentile mit seinem Auto in den Abgrund gerast und dabei ums Leben gekommen. Es gab allerdings einige, die glaubten, dass es ein Sabotageakt gewesen sei, denn die Franzosen waren unbeliebt.

Nur einen Monat zuvor, im Juli, hatten sie von den Amerikanern die Verwaltung der Zone übernommen, und allen im Land war klar gewesen, dass die neuen Herren die Verlierer nicht mit Samthandschuhen anpacken würden. Ganz im Gegenteil. Nichts war vergessen. Der Krieg von 1870/71 nicht und nicht das Gezerre um Elsass und Lothringen. Vor allem aber nicht der Einmarsch der Wehrmacht in Paris. Jetzt drehten die Franzosen den Spieß um. Die uralte deutsch-französische Feindschaft erlebte einen neuen Höhepunkt. Die Franzosen machten es sich in Schulen und Hotels bequem, die hohen Offiziere logierten in den schönsten Häusern entlang der Mosel. Vieh, Wein und Weißzeug, Fleisch, Milch, Butter und Mehl, Maschinen, Fahrräder, Fotoapparate, alles, was die Besatzer selbst gebrauchen konnten, wurde konfisziert. Fast überall wehte auf den Marktplätzen die Trikolore und musste gegrüßt werden. Wehe, ein deutscher Mann unterließ es, seinen Hut oder die Mütze vom Kopf zu ziehen! Und von Schokolade, wie die Amerikaner sie gern verteilten, konnten die Kinder nur träumen.

Die Leute beschwerten sich.

Die Unsrigen haben in den eroberten Gebieten viel schlimmer gewütet, hätte sie ihnen am liebsten entgegengehalten. Sie wusste es, hatte sie es doch mit eigenen Augen gesehen, in Polen, in der Ukraine, in Russland. Aber sie sagte nie etwas. Obwohl der Krieg zu Ende war, wagte sie noch immer nicht, den Mund aufzumachen.

Es hätte ihr ja egal sein können, aber ihr war ein Stein vom Herzen gefallen, als sich herausstellte, dass der tödliche Sturz des französischen Feldwebels tatsächlich ein Unfall gewesen war. Die Scheune des Bauernhofs nahe der Wallfahrtskirche hatte gebrannt. Vielleicht war es auch der Stall gewesen. Auf jeden Fall drohte das Feuer auf den dahinterliegenden Wald überzugreifen, und um eine Katastrophe zu verhindern, war französisches Militär zum Brandherd gejagt. Eventuell hatte dieser Gentile sogar selbst am Steuer gesessen und auf der tückischen Strecke die Kontrolle über seinen Wagen verloren.

Sie machte drei, vier große Schritte über die Reifenabdrücke hinweg, als befürchtete sie, den Frieden des Sergeanten zu stören, wenn sie die Spuren des Unfallautos mit den Schuhen zertrat. Noch einmal schaute sie zurück, dann drehte sie sich um und schritt zügig voran. Hinter einer Wegbiegung kam ihr ein Spaziergänger entgegen.

2

ELLO

Sonntag, den 19. August 1945

Sie hastete durch nicht enden wollende Kellergänge, Kisten versperrten den Weg, Säcke, Regale, alle vollgestopft mit Maschinengewehren, Schaufeln, Hacken. Und mit Brot. Ello wunderte sich über das viele Brot. Als sie in einen der Laibe hineinbeißen wollte, war er hart wie Stein. Sie warf ihn fort. Er explodierte in einem Feuerregen, Mauern stürzten ein, doch unbeirrt eilte sie weiter. Durch weiß gekachelte Flure mit schwarzen Läufern. Dann plötzlich waren da olivgrüne Tapeten und rote Teppiche. Türen standen auf, in den Räumen saßen Männer und Frauen an Tischen und aßen. Niemand beachtete sie. In den Wänden steckten rostige Nägel, an denen blutige Uniformmäntel hingen, dazwischen das Gemälde einer Gebirgslandschaft. Die Ölfarbe tropfte von der Leinwand, floss über den Goldrahmen und klatschte in hagelgroßen Tropfen auf den Betonfußboden. Und Ello rannte. Sie wusste, dass die Mutter auf sie wartete, der Vater, der Bruder, die Frau ohne Gesicht. Alle warteten auf sie. Am Ende einer langen Promenade umringte sie eine undurchdringliche Menschenmenge. Und in schriller Kakofonie zerbrach die Erde unter ihr. Ello schreckte im Bett hoch.

Eine Fliege surrte durch die Mansarde. Sie blinzelte, spürte unterm Bettlaken ihren schweißgebadeten Körper und jeden einzelnen ihrer Knochen, als sei sie tatsächlich die ganze Nacht hindurch gerannt. Es war immer der gleiche Traum. Dass die Mutter auf sie wartete, der Vater, der Bruder, die Frau ohne Gesicht und Namen. Doch sosehr sie sich auch anstrengte, nie erreichte sie die Familie, jedes Mal erwachte sie vorher.

Steh auf, befahl sie sich, du musst aufstehen. Aber sie rührte sich nicht. Die Alptraumbilder des Kriegs hatten sie fest im Griff, die Augen der Mutter, die die ihren suchten, während die Welt unterging, damals in Köln, in jener Juninacht 1943. Nur dass anders als in ihren Träumen im Keller keine Teppiche gelegen hatten und die Luft unerträglich stickig gewesen war, verbraucht vom Atem und den Ausdünstungen der Menschen, die hierher geflüchtet waren.

Dicht aneinandergedrängt hocken sie auf Bänken und Stühlen. Manche kauern auf dem kalten Fußboden. Ello gegenüber sitzt die Mutter und hat den Arm um die Schwiegertochter gelegt, die doch noch so jung ist und am ganzen Leib zittert. Neben Mutter und Schwägerin haben sich Schmitzens vom Parterre breitgemacht. Sie streiten sich, sie streiten sich ständig. Über Gott und die Welt und die dort oben in Berlin. »Der Führer weiß, was richtig ist, wir müssen das alles auf uns nehmen, fürs Vaterland«, grölt der Mann. »Watt bes do für ’ne Blötschkopp«, wettert seine Frau und sieht sich, Zustimmung heischend, um. Die Leute in ihrer unmittelbaren Umgebung ducken sich weg, der Luftschutzwart tut, als habe er nichts gehört. Frau Weiland, die als Zehnjährige schon den 70/71er und dann den Großen Krieg 1914 bis 1918 erlebt hat, presst ihr Sofakissen an sich. Ihre Lippen bewegen sich unablässig.

Da kracht es. Die Wände beben, die Stille, die folgt, ist unheimlich.

Ello sieht, wie der Vater nach der freien Hand der Mutter greift und die Eltern sich festhalten. Die Augen der Mutter suchen sie. Ello nickt, alles in Ordnung!, und streicht dem Nachbarsjungen, der auf ihren Schoß geklettert ist, die Haare aus der Stirn. Seine Mutter hat nur im Nebenraum noch Platz gefunden.

Schon geht das Getöse wieder los, heftiger als zuvor. Über ihnen zischt es, knallt, jault. Kinder schreien, Frau Weiland betet jetzt laut. »Fürs Vaterland!«, kreischt Frau Schmitz und schlägt mit der Handtasche auf ihren Mann ein. »Stirb doch für dein verdammtes Vaterland!« Mauern brechen, Gebälk knirscht, Ellos Hand blutet. Aber sie drückt das Kind fest an sich, wiegt es schützend in ihren Armen. Wieder suchen sie die Augen der Mutter. Ihre Blicke treffen sich, als ein erneuter Donnerschlag die Welt in Stücke reißt. Der Mutter entgleitet die Hand des Vaters, um Ello wird es schwarz.

Wie sie ins Freie gekommen ist, wer ihr die Wunde an der Hand verbunden hat – sie weiß es nicht. Das Erste, was sie sieht, als sie wieder zu sich kommt, ist der Dom, der trotzig in den Himmel ragt. Sie selbst findet sich mit angezogenen Knien auf der Erde kauernd, ihre Finger umklammern den Tragriemen des Rucksacks, der Wäsche und Ausweispapiere enthält, ihr Zeugnis und das Lehrbuch der Hebammenschule. Eine Rotkreuzschwester beugt sich zu ihr herunter und hält ihr einen Becher Wasser an die Lippen.

»Die anderen? Wo sind die anderen?«, will Ello wissen, und als die Frau nicht antwortet, wiederholt Ello ihre Frage: »Wo sind sie?«, und weigert sich zu trinken.

»Tot«, sagt die Frau. »Fast alle sind tot.«

»Und das Kind? Der Albert?«

»Das auch. Seien Sie dankbar. Der Junge hat Ihnen das Leben gerettet, ein Granatsplitter. Sonst wären Sie jetzt tot. Gehen Sie zur Sammelstelle! Dort wird man Ihnen helfen.« Und schon eilt die Frau zum nächsten Verwundeten.

Oh ja, sie tun ihr Bestes in der Sammelstelle. Bieten ihr einen Stuhl an, eine dünne Bouillon, ein Handtuch, Kernseife, damit sie sich Hände und Gesicht waschen kann, wenn sonst schon alles verloren ist. Ob sie Verwandte habe, Freunde, Bekannte, wo sie Zuflucht finden könne? Ello verneint, dann fällt ihr die Tante ein, Therese Scheidter. Eigentlich eine Tante ihrer Mutter. Sie kenne die Frau nicht. Sie wohne irgendwo an der Mosel. Wenn sie überhaupt noch lebt. Und ob die Frau sie aufnehmen wolle, wisse sie auch nicht.

Von »wollen« könne ja in diesen Zeiten keine Rede sein, sagen sie in der Sammelstelle und schicken sie zur Kleiderkammer, wo sie das Notwendigste erhält. Eine Bluse, einen Rock, etwas Geld. »Erkundigen Sie sich, ob irgendwann ein Zug fährt!«

In einer alten Montagehalle, in der Hunderte von Ausgebombten und Evakuierten untergebracht sind, wird ihr ein Schlafplatz zugewiesen.

»Ich kann doch nicht einfach die Eltern hier zurücklassen und fortfahren«, sagt Ello am Abend zu der Frau vom Bett neben ihr. Sie sollte doch … Müsste sie nicht …? Zumindest ein Grab …?

»Vergessen Sie es«, sagt die andere. Ihre harte Stimme erschreckt Ello. »Seien Sie froh, dass Sie überlebt haben.«

Schon wieder soll sie froh sein. Dankbar und froh! Wofür?

Am Tag danach geht sie zu der Stelle, an der ihr Haus gestanden hat. Als sie die vielen Menschen sieht, die zwischen stinkenden, glimmenden und verkohlten Ruinen nach Resten ihres Hab und Guts wühlen, wird ihr übel. Was hofft sie denn zu finden? Aber sie überwindet sich.

Unter Schutt und Trümmern gräbt sie tatsächlich Vaters Sakko aus und gleich darauf Mutters Notköfferchen mit Dokumenten, einem Fotoalbum und den zwei in Seidenpapier eingeschlagenen silbernen Serviettenringen, die die Eltern zur Hochzeit geschenkt bekommen haben. »Elsa« steht eingraviert auf dem einen, »Peter« auf dem anderen. Am Abend schreibt sie dem Bruder an die Front. Jedes Wort wird ihr zur Qual.

Als Kurt zu den Soldaten ging, ist sie unermesslich stolz auf ihn gewesen. Ihr Bruder kämpfte für Führer, Volk und Vaterland. Doch nachdem aus der Wohnung über ihnen die Seeligs abgeholt worden waren und sich im Haus ein Schleier des Schweigens über das Geschehen gelegt hatte, wich ihr Stolz einer dumpfen Beklommenheit. Die zur Angst anwuchs, als der neue Bewohner, prahlerisch und lautstark, ein Foto herumzeigte, auf dem sein Sohn in schwarzer Uniform einem alten Mann mit Pelzmütze, vielleicht ein Kosake, vielleicht ein Tatar, eine Pistole an die Schläfe hielt. »Die gehören alle erschossen«, brüllte der neue Nachbar, »alle, durch die Bank durch! Gucken Sie sich nur diese tumben Bauerngesichter an. Sind das Menschen? Nein, Tiere sind das, wilde Tiere.«

Hoffentlich hat die Bombe ihn erwischt, denkt Ello, während sie, auf der Kante ihres Schlafplatzes sitzend, den Umschlag mit dem Brief an den Bruder zuklebt. Sie beißt sich auf die Lippen. Darf man so denken?

Tage vergehen. An einem Morgen ist die Frau mit der harten Stimme fort, ein junges Mädchen bekommt ihren Platz. Es weint. Ello hat nicht die Kraft, es zu trösten. Als sie hört, dass ein Zug nach Koblenz fahren soll, schenkt sie dem Mädchen das Sakko ihres Vaters zum Abschied. »Tausch es gegen einen Mantel!«

Irgendwie schafft sie es, sich in einen der überfüllten Waggons hineinzuquetschen, ohne in der Menge der Leute ihren Rucksack und Mutters Lederkoffer zu verlieren. Sie hat nicht geglaubt, dass sie jemals ankommen würde. Aber nach zwei Tagen erreicht sie die Mosel und Alken, wo die Großtante wohnt, und fragt sich zur Hintergasse durch.

»Endlich«, begrüßt sie die ältere Frau, die ihr die Haustür aufmacht. »Da bist du ja endlich. Ich bin Oma Tres’chen, die Schwester der Mutter deiner Mutter. Lass dich anschauen! Du siehst Elsa zum Verwechseln ähnlich. Komm rein, du hast sicher Hunger und Durst.«

3

ELLO

Sonntag, den 19. August 1945

Ello hatte sich unter dem verschwitzten Laken zur Seite gedreht und die Beine bis zum Bauch hochgezogen wie ein Kind im Mutterleib. Noch immer sah sie vor ihrem inneren Auge die Alptraumbilder des Kriegs, sie verblassten nur allmählich. Durch die offene Dachluke drang das Schwatzen der Nachbarinnen aus den Häusern gegenüber zu ihr herauf. Eine Karre näherte sich, rumpelte vorüber und entfernte sich wieder. Unermüdlich surrte und summte die Fliege. Der selten gewordene Geruch von Bohnenkaffee stieg ihr in die Nase. Sie hörte Oma Tres’chen die Treppe heraufsteigen und an ihre Mansardentür klopfen.

»Bist du wach, Kind? Komm frühstücken, ich han Kaffee jekriecht. Echten.«

Ello war versucht, so zu tun, als schlafe sie noch und höre nichts. Doch Oma Tres’chen war nicht schuld an ihren Alpträumen, und außerdem hatte sie recht. Es war spät, sie durfte Kathrin Würths nicht warten lassen.

»Ich komme«, nuschelte Ello und zwang sich, die Augen zu öffnen. Stahlblauer Himmel blitzte durchs Fenster.

Stahlblau? Nein, kornblumenblau, meeresblau. Auch ultramarin, azur, indigo. Alles, nur nicht stahlblau wie Panzer, Geschütze, Helme. Ellos Füße bahnten sich einen Weg unter dem zerknüllten Betttuch hervor. Sie stand auf.

»Ich han jewart, bis die Kowelenzerin mit ihren Kindern zur Kirch jange is, dann han ich für uns zwei den goode Kaffee offjeschütt«, erklärte Oma Tres’chen, als Ello hinunter ins Wohnzimmer kam. Die Großtante wechselte wie selbstverständlich vom Hochdeutschen ins Platt und wieder zurück. Ello hatte sich daran gewöhnt. Sie mochte es, wenn sich die Sprachen mischten, und nach zwei Jahren an der Mosel kam es nur noch selten vor, dass sie mal ein Wort nicht verstand. Dann fragte sie halt nach.

»Das alte Zimmer von meinem Sohn han ich ihr und ihren Kindern ja gern frei gemacht. Es ist ja schon schlimm, wenn man alles verliert und plötzlich ohne ein Dach über dem Kopf dasteht. Awa den goode Kaffee muss ich ihr ja net auch noch anbiete, nur weil sie ausgebombt wurde, meinst du net auch?«

Während die Großtante Ello einschenkte, kicherte sie wie ein junges Mädchen, das beschlossen hatte, die Stelle auf der Wange, wo es den ersten Kuss bekommen hatte, nie mehr zu waschen.

»Na, wie findest du ihn?«, fragte sie erwartungsvoll.

Ello nippte an ihrer Tasse. »Ja, doch« murmelte sie.

»Du hast wieder geträumt«, stellte Oma Tres’chen fest. Es war keine Frage, und Ello ging auch nicht darauf ein.

»Von woher ist er? Aus Belgien?«, lenkte sie ab.

»Ich waaß net. Wat ich net waaß, mischt mich net haaß«, befand Oma Tres’chen pragmatisch und schmunzelte. »Hauptsache, Kaffee aus echten Bohnen. Schließlich ist nur einmal in der Woche Sonntag.«

Eine Zeit lang waren nur die Essgeräusche der beiden Frauen zu hören und aus dem Haus nebenan das Gackern von Hennes Friedrichs Hühnern. Bis plötzlich von der altehrwürdigen Standuhr an der rückwärtigen Zimmerwand ein schwerfälliges Ächzen ertönte, so als rüstete sich das alte Möbel zu einem Kampf gegen einen übermächtigen Gegner. Gleich darauf klirrte es im Gehäuse, und unter Bummern und Gerassel setzte das Schlagwerk ein. Als Ello das erste Mal hier in der Stube gestanden hatte, war ihr bei dem unerwarteten Scheppern und Dröhnen, von dem sie nicht gewusst hatte, woher es kam, das Blut aus dem Gesicht gewichen. Die Knie hatten ihr so sehr gezittert, dass sie sich hatte setzen müssen und Oma Tres’chen mit einem Hefebrand herbeigerannt kam. »Wirst sehen, der bringt dich wieder auf die Beine.«

Die Uhr schlug zehn. Der letzte Schlag verklang mit überraschend sanftem Nachhall. Ello räumte Butterfässchen, Birekraut und das Geschirr in die Küche und machte sich mit ihrem Hebammenköfferchen, dem aus den Trümmern geretteten rotbraunen Lederkoffer der Mutter, auf den Weg zu Kathrin Würths.

»Wartet nicht auf mich mit dem Mittagessen«, sagte sie und drückte Oma Tres’chen einen Kuss ins graue Haar.

Es war Kathrins zweites Kind. Beim ersten, dem kleinen Walter, habe ihr noch Maria Escher, die vorige Hebamme aus Oberfell, beigestanden, hatte Kathrin sie bei ihrem Antrittsbesuch informiert. Die Geburt sei komplikationslos gewesen. Es gab auch jetzt keinen Grund zur Besorgnis. Ello untersuchte die Schwangere, fühlte den Puls, kontrollierte mit dem Hörrohr die Herztöne des Kindes, tastete den Bauch ab, maß den Leibumfang. Nach der Größe des Embryos und der Lage des Köpfchens im Becken zu urteilen, dürfte es in ungefähr sechs Wochen so weit sein.

Sie spürte, dass Kathrin reden wollte. Die meisten Frauen wollten reden. Über die Sorgen um den Mann, der nach dem Heimaturlaub wieder an die Front hatte müssen. Über kranke Familienangehörige, für die es keine Medikamente gab. Über grantelnde Schwiegermütter, herrschsüchtige Väter und heranwachsende Söhne, die plötzlich nachts nicht mehr nach Hause kamen. Und über die schweren Zeiten.

Doch Ello war selten nach Reden zumute und nach Alptraumnächten wie der letzten schon gar nicht. Manche Frauen in den Dörfern nahmen ihr das übel. Warum Ello denn jedes Mal gleich wieder davonlaufe? Ob das so üblich sei in Köln? Die Leute dort hätten wohl nie Zeit? Maria Escher sei immer noch auf ein Schwätzchen geblieben, auch schon mal auf einen Schnaps. Aber leider habe sie zu ihrer kranken Mutter in den Hunsrück müssen, leider, leider, und es sehe nicht so aus, als ob sie wieder zurückkäme. Es gab Ello jedes Mal einen Stich.

Der Krieg, dachte sie, dieser verfluchte Krieg. Früher war sie nicht so reserviert gewesen.

Die Nacht auf der Entbindungsstation des Kölner Krankenhauses, in dem sie damals gearbeitet hatte, fiel ihr ein. Ausgerechnet während eines Luftangriffs hatte es sich ein Kind in den Kopf gesetzt, den schützenden Bauch der Mutter zu verlassen. »Sie haben so wundervoll warme, beruhigende Hände«, hatte die Mutter zu ihr gesagt, als sie nach Stunden voller Angst und Strapazen endlich einen gesunden Jungen an sich drücken konnte. Sie hatten sich in den Armen gehalten, sie und die Frau, hatten gelacht und geweint, erleichtert, glücklich und zutiefst dankbar, dass die Flieger das Krankenhaus verschont hatten.

Doch seit dem Junibombardement, als Albert in ihren Armen und vor ihren Augen die Mutter, der Vater, die Schwägerin starben, war nichts mehr wie vorher. Ihre Hände waren nicht mehr warm und beruhigend, sondern kalt. So kalt, dass Ello befürchtete, das Ungeborene zu erschrecken, wenn sie die Mutter untersuchte. Sie musste sich jedes Mal ermahnen, vorher ihre Handflächen aneinanderzureiben.

Kathrin holte sie in die Gegenwart zurück. »Alles in Ordnung mit dir? Du bist blass.«

»Ja, ja, alles in Ordnung.«

Ello verabschiedete sich schnell. Wenigstens Kathrin Würths schien nicht beleidigt zu sein, dass sie schon wieder aufbrach. Eigentlich eine sympathische Frau. Sie dürften gleichaltrig sein.

Ello verließ den Winzerhof der Familie und ging hinunter zur Mosel. Dort, wo die große Trauerweide stand, setzte sie sich hin. Sie kam gern an diesen Platz. Er gab ihr Ruhe, wenn sie sich verloren fühlte.

Aber heute fand sie keine Ruhe. Kalt gleißend lag der Fluss im Mittagslicht. Die Zacken der Wellen schimmerten bläulich weiß, erstarrte Eiskristalle. Ein Milan drehte seine einsamen Kreise, verlor sich über dem Bleidenberg. Flussaufwärts saß ein Angler auf einem umgedrehten Eimer, unbeweglich. Und Ello fror.

»Hören Sie auf zu denken!«, hatte die Frau mit der harten Stimme in der Notschlafstelle zu ihr gesagt. »Davon wird niemand mehr lebendig. Et es, wie et es.«

Nicht mehr denken, einfach nicht mehr denken. Es hörte sich so leicht an. Nur wie machte man das? Sie dachte ununterbrochen. An die Eltern, die versucht hatten, einander zu halten. An Albert, dem sie ihr Leben verdankte. An den Bruder, der ihren Brief vermutlich nie bekommen hatte, dafür aber ein Heldengrab nahe Dniprowokamjanka. So hatte man es sie in einem förmlichen Schreiben wissen lassen.

Ein Heldengrab! Nahe Dniprowokamjanka. Wo lag das?

Was musste man geleistet haben, damit einem die Ehre eines Heldengrabs zuteilwurde? Greise in Pelzmützen abknallen?

Ello fühlte Leere in sich. Als gäbe es sie selbst nicht mehr. Es wäre besser, sie wäre tot. Gestorben in der Kölner Bombennacht wie die anderen.

Sie rieb ihre Hände aneinander, dann tauchte sie die rechte ins Wasser, zerwirbelte einen Schwarm winziger Fische, sodass die Tierchen auseinanderstoben. Als sie sie wieder herauszog, rannen ihr die Tropfen wie Perlen kühl zwischen den Fingern hindurch und fielen schmatzend zurück in die Wellen. Ein Ästchen schwamm vorüber, wurde von einem Strudel erfasst, kreiselte unschlüssig, als überlege es, wohin es wolle, und driftete dann gemächlich weiter. Am Ufer gegenüber planschten Kinder im flachen Wasser, ihr Johlen und Jauchzen schallte über den Fluss. Irgendwo dort drüben hatte sich einmal ein Mann von einer Lay hinabgestürzt. Sie erinnerte sich nicht mehr, wer ihr das erzählt hatte.

»Ello!«, hörte sie plötzlich jemanden rufen. »Ello!« Aber erst beim dritten Mal drehte sie sich in die Richtung, aus der die Stimme kam.

Margit, die Älteste der vier Kinder der Koblenzerin, kam wild winkend die Uferstraße herbeigerannt. Die Haare flogen ihr ums Gesicht, das Band, das den Schopf zusammenhalten sollte, hatte sich gelöst und hing herunter.

Das Mädchen zeigte zur Burg Thurant, wo schwarzverrußt die Ruine des Herrenhauses hervorstach, das die Amerikaner fünf Monate zuvor bei der Besetzung des Orts in Brand geschossen hatten.

»Du musst sofort kommen«, keuchte Margit, als sie schwer atmend vor ihr stand. »Dort oben ist eine Frau abgestürzt, und dabei hat sie ein Kind gekriegt.«

4

ELLO

Sonntag, den 19. August 1945

Als Ello mit Margit nach Hause kam, lag die Frau auf dem Sofa im Wohnzimmer. In ihren Armen schlief das Neugeborene, das von Oma Tres’chen und Anna Belchers, der Bäuerin, die die Verunglückte im Steilabhang am Bleidenberg gefunden hatte, bereits gewaschen und versorgt worden war.

»Es ist ein Mädchen«, verkündete Oma Tres’chen.

»Mein Hummele«, flüsterte die junge Frau. Sie strahlte, obwohl sie sichtlich erschöpft war. »Es tut nur so weh, wenn ich atme.« Sie deutete auf die rechte Seite ihres Brustkorbs.

Ello knöpfte die zerrissene Bluse auf. Die Haut darunter war böse aufgeschürft und blutunterlaufen. Vorsichtig untersuchte Ello die Stelle, ertastete gebrochene Rippen. Beim Sturz musste die Frau sich an etwas Spitzem verletzt haben. An einem Baumstumpf oder einer Felskante, oder sie war auf scharfkantige Schrottteile gefallen. Die lagen seit den Kämpfen überall in der Gegend herum. Eigentlich gehörte die Frau in ein Krankenhaus. Nur dass Ello nicht wusste, wie sie sie ohne Auto auf die Schnelle nach Koblenz bekäme. Jemand müsste zum Arzt nach Brodenbach laufen oder zur französischen Kommandantur dort und fragen, ob sie helfen könnten. Aber bis ins Nachbardorf waren es drei Kilometer. Es würde unendlich lang dauern.

Hostmann hatte neulich seine kranke Frau die zwanzig Kilometer bis zum Koblenzer Krankenhaus vor sich auf der Stange seines Fahrrads balanciert. Die Arme hatte die Quälerei sogar überlebt. Aber an einen solchen Transport war bei einer Rippenverletzung nicht zu denken, ganz abgesehen davon, dass die Fahrräder in Alken von den Besatzern beschlagnahmt worden waren. Auch Hostmanns hinterher. Ello wusste sich keinen anderen Rat, als Margit zum Lehrer zu schicken, damit dieser nach Brodenbach ginge. Danach solle das Mädchen durchs Dorf gehen und schauen, ob irgendjemand einen Plattwagen besäße, am besten einen mit Gummirädern. Aber das Kind kam unverrichteter Dinge zurück. Beim Lehrer sei keiner zu Hause gewesen, und sie habe niemanden mit einer Karre gefunden.

Ello hatte unterdessen die vielen Blessuren der Verunglückten mit Hennes Friedrichs selbst gebranntem Hefeschnaps gesäubert und desinfiziert, eine Tortur, die die junge Frau tapfer über sich hatte ergehen lassen. So gut sie konnte, verband Ello jetzt die Wunden mit den Stoffstreifen, die Oma Tres’chen aus einem Bettlaken gerupft hatte. Danach schien es der jungen Frau besser zu gehen. Sie atmete ruhiger, wisperte ein »Danke schön« und streichelte das Neugeborene.

Ein paar Minuten wartete Ello noch, dann ging sie aus dem Zimmer, um sich in der Küche schnell ein Glas Wasser zu holen.

Sie war noch in der Diele, als sie durch die offene Stubentür hinter sich plötzlich einen tiefen Seufzer hörte. Ello lief zurück. Der Kopf der Frau war zur Seite gesunken. Die Unbekannte hatte zu atmen aufgehört. Ello wollte es nicht wahrhaben.

Die Standuhr schlug acht, als sie der jungen Frau die Augen schloss und ihr ein zusammengefaltetes Handtuch unters Kinn schob. Für den Bruchteil einer Sekunde durchzuckte Ello der Gedanke, dass man beten müsste. Aber sie strich der Verstorbenen nur über die Wangen, über die Haare, löste behutsam den Säugling aus ihren Armen und bettete ihn in den mit Tüchern ausgepolsterten Waschkorb. Dann legte sie die Hände der Toten übereinander. Oma Tres’chen schluchzte.

»Den Krieg überlebt und dann so etwas …« Die Koblenzerin, die im Türrahmen stand und sich nicht in die Stube hineinwagte, schüttelte ungläubig den Kopf. Margit hatte sich an sie geschmiegt. Vom Efeugestrüpp über dem Hofeingang des Hauses gegenüber schrillte das abendliche Gezeter der Spatzen.

Was eigentlich passiert sei, wollte Ello Anna Belchers fragen, aber sie brachte kein Wort heraus. Ihr Mund war trocken, ihr wurde schwindlig. Sie musste sich setzen.

»Margit …«, rief Oma Tres’chen, »geh und hol Ello ein Glas Wasser aus der Küche!«

Anna Belchers war dabei, die schmale Gestalt mit einem Laken zuzudecken, das Gesicht ließ sie frei. Als sie fertig war, murmelte sie ein Vaterunser und begann danach das »Gegrüßet seist du, Maria, voll der Gnade …«. Oma Tres’chen und die Koblenzerin fielen mit ein:

»… und gebenedeit ist die Frucht deines Leibes …«

Wieder und wieder sprach Anna Belchers die alten Worte. War sie am Ende angekommen, begann sie von Neuem.

»Gegrüßet seist du, Maria …«

Der rhythmische Singsang beruhigte Ello, und nachdem Margit ihr das Wasser gebracht und sie davon getrunken hatte, ging es ihr besser. Anna Belchers hatte das Mädchen, das scheu ans Sofa getreten war, bei der Hand genommen.

»Ja, guck du nur und bet mit uns für die arme Seele«, sagte sie, und gemeinsam beendeten sie die Fürbitte: »… und in der Stunde unseres Todes. Amen.«

Von der Tür kam die Stimme der Koblenzerin: »Meine Großmutter vom Westerwald wär jetzt die sieben Fußfälle gegangen.«

Anna Belchers drehte sich zu ihr um. »In der Eifel, wo ich groß geworden bin, da haben das die Kinder gemacht. Das Gebet der Kinder dringt durch die Wolken, hat der Pastor immer gesagt.« In Erinnerung an alte Zeiten begannen ihre Augen zu leuchten. Sie setzte sich zu Ello an den Tisch und nahm Margit auf ihren Schoß.

»Bei uns im Dorf«, erklärte sie dem Mädchen, »gab es nur vier Kreuze, für die letzten drei mussten wir über die Felder bis ins Nachbardorf laufen.« Unvermittelt begann sie zu giggeln. »Wir Mädchen haben gern für die Sterbenden und Toten gebetet, die Jungen nicht. Die sind nur mitgegangen, weil sie wussten, dass es hinterher Bonbons gab.«

Sie blickte durchs Fenster hinaus in den noch hellen Abendhimmel. Dann seufzte sie herzerweichend und schaute Oma Tres’chen bedeutungsvoll an.

»Und danach hat es im Sterbehaus immer Kaffee und Streuselkuchen gegeben.«

Aber Oma Tres’chen tat, als hätte sie den Wink mit dem Zaunpfahl nicht gehört. Das kleine Wesen in seinem Waschkorbbettchen schniefte. Jetzt, wo die Schmerzen vorüber waren, wirkte das Gesicht der Verstorbenen entspannt. Dunkelbraune Locken umrahmten es. Eine hübsche Frau, trotz der Schrammen und Abschürfungen, irgendwie jungfräulich, dachte Ello. Ein passenderes Wort fiel ihr für die zierliche Person unter dem weißen Tuch nicht ein. Es war, als läge ein Lächeln auf ihren Lippen. »Mein Hummele«, hatte sie noch einmal kaum vernehmlich gesagt, bevor sie starb, »mein Hummele, ich bin so froh, dass du da bist.«

Oma Tres’chen hatte sich schließlich doch erbarmt und Kaffee aufgebrüht. Muckefuck. Streuselkuchen gab es keinen. Die Frauen saßen um den Küchentisch herum, der Waschkorb mit dem Säugling stand neben ihnen auf einem Stuhl.

»Habt Ihr gesehen, wie sie gestürzt ist?«, konnte Ello Anna Belchers endlich fragen.

»Nix han ich iseen, Ello, gar nix. Ich war auf dem Weg zum Wingert, do lag die Frau in der Böschung. Ierscht daacht ich, die is dot, weil se sich net gerührt hat. Dann han ich wat jehört, so ein Wimmern, und bin runtergeklettert. Ich han überhaupt net nachgedacht, ich han mich einfach von Busch zu Busch gehangelt. Einmal bin ich selwa ausgerutscht, ogottogott, han ich ischriee, aber irgendwie konnt ich mich noch festhalte.«

Sie schaute in der Runde herum, aber nur Oma Tres’chen nickte ihr anerkennend zu.

»Und dann war ich bei der Frau. Wie die mich aniguckt hat, ihr kinnt äich dat net viastelle, dat es mir durch Mark un Baan jange.«

Das Kind, erzählte Anna Belchers weiter, habe auf dem Bauch der jungen Frau gelegen, noch ganz schmierig und nur notdürftig mit einem Zipfel des Rocks zugedeckt. »Dat woar noch kaa Stun ahl.«

Sie habe dann die Nabelschnur abgebunden und durchgetrennt. »Ein Messer und irgendwelche Bindfäde han ich jo imma in de Scheatz.«

Und höchstwahrscheinlich alles rostig und unhygienisch! Ello stöhnte innerlich. Doch was hätte die gute Anna Belchers anders machen sollen? Die Verhältnisse waren selten so, wie die Lehrbücher es vorschrieben, und immerhin besaßen die Bäuerinnen jede Menge Erfahrung, vielleicht nicht unbedingt mit kleinen Menschlein, aber doch mit Ziegen und Kälbern, und in der Not wussten sie sich allemal zu helfen. Es blieb ihnen auf den abgeschiedenen Höfen auch meist nichts anderes übrig.

»Das Kind lag ganz still do …«, hörte Ello Anna Belchers weiterreden, »… ich daacht immer nur, wie kreen ich die zwei häi de Hang roff? Ich han mich net itraut, se allein da lieje ze loose, um Helf ze holle.«

»Wen hätten Sie denn auch schon holen können?«, warf die Koblenzerin bissig ein. »Es gibt im Dorf ja nichts, keinen Arzt, keinen Fernsprecher, nicht mal eine Apotheke. Was ist, wenn mal eines meiner Kinder …?« Sie guckte vorwurfsvoll Oma Tres’chen an, als lägen ihre vier Kinder gerade eben verletzt im Hang und die alte Frau sei schuld, dass nirgendwo Rettung in Sicht wäre.

»In Koblenz …«, fuhr sie fort, aber Ello unterbrach sie mit einer unwilligen Handbewegung. Das ewige Genörgle der Koblenzerin, dass in der Stadt alles besser sei, ging ihr auf die Nerven. Warum packte sie dann nicht ihre Siebensachen und kehrte zurück ins ausgebombte Haus? Selbstredend hätte sie dort jede Menge funktionierender Fernsprecher, den Arzt gleich um die Ecke und einen Schritt weiter das gute Leben, Cafés und Restaurants, Kaviar und Champagner! Ello zwang sich, einmal tief durchzuatmen.

»Was habt Ihr dann gemacht?«, fragte sie Anna Belchers und ignorierte die Koblenzerin, die mit der protestierenden Margit im Schlepptau eingeschnappt die Küche verließ und in ihr Zimmer im ersten Stock ging.

»Ischriee han ich«, berichtete Anna Belchers weiter, »ischriee, so laut ich konnt. Ich waaß net, wie lang ich ischriee han, bis do die Männer vom Schocke Alwis vom Feld jekom säin. Es war doch recht, dass ich denne isoot han, dat se die Frau und dat Kind zur dir bringe solle? Mir is sonst kaane annere enjifalle, du bist schließlich die Hebamm.«

»Das war schon richtig«, bestätigte Ello zerstreut. Während die Bäuerin erzählte, war ihr der Gedanke gekommen, dass die Unbekannte bestimmt noch nicht mit der Geburt ihres Kindes gerechnet hatte. Die Wehen hatten sie völlig überrascht, sie hatte sich wahrscheinlich hingehockt und dabei das Gleichgewicht verloren. So könnte es gewesen sein.

Oma Tres’chen trank ihre Tasse aus, schaute nach der Uhr und sagte energisch: »So! Dann geh ich mal zum Ortsvorsteher und danach zum Pastor. Die müssen Bescheid wissen.«

»Und auf dem Rückweg kommst du bei mir vorbei. Ich melk die Ziege. Wir wollen das Würmchen ja net verhungern lassen.«

Als in der Nacht alles schlief und Ello mit dem Kind allein war, konnte sie nicht widerstehen. Sie nahm es in den Arm, krümmte ihren rechten Zeigefinger und hielt ihn dem Säugling an den winzigen Mund. Und tatsächlich, das kleine Wesen, die kleine Hummel, spitzte die Lippen, fand die Haut, fasste danach und fing zu saugen an. Wie viele Kinder hatte Ello schon auf die Welt gebracht, ohne der Versuchung nachzugeben, einem von ihnen ihre Finger zum Nuckeln hinzuhalten! Das, fand sie, war Vorrecht der Mütter.

Aber dieses Kind hatte keine Mutter.

Zuerst verspürte Ello einen warmen Kitzel, als die Lippen des kleinen Mädchens an ihrem Finger suchten. Dann wurde daraus ein sachtes Saugen, ein Lutschen und zuletzt ein ungeduldiges Schlotzen. Mit schlechtem Gewissen, weil sie das Kind derart narrte, schob Ello dem Mädchen die Flasche mit Anna Belchers’ Ziegenmilch ins Mündchen. Das Kind schmeckte die ersten warmen Tropfen, leckte zögerlich, hielt inne, leckte wieder, schmatzte und begann, in winzigen Schlucken zu trinken. Ello strich ihm über die langen, schwarzglänzenden Haare, streichelte die rosigen Wangen, das zierliche Stupsnäschen.

»Armes Ding, so ganz allein auf der Welt. Was wird nur aus dir werden? Und kannst du mir verraten, wer deine Mutter ist?«

Dass die Tote drüben in der Stube ohne Papiere auf dem Bleidenberg unterwegs gewesen war, hatte Ello nicht überrascht. Sie nahm auch nicht den halben Hausstand mit, wenn sie nur einen Spaziergang machte. Aber dass sie die junge Frau nie zuvor zu Gesicht bekommen hatte, erstaunte sie, meinte sie doch, alle Schwangeren in der Umgebung mehr oder weniger gut zu kennen. Die Frau war sicher fremd hier, war irgendwo zu Besuch oder erst kürzlich zugezogen, vermutlich aus Schlesien oder Pommern oder aus dem Saarland. Hatte sie irgendeinen Dialekt gesprochen? Aber sie hatte kaum reden können.

Dem kleinen Mädchen war der Kopf zur Seite und das Fläschchen aus dem Mund gerutscht, das Näschen zitterte. Ello wartete eine Weile. Dann wechselte sie die Stoffstreifen, die als Windeln fungierten, und zog dem Säugling ein Hemdchen über. Woher Anna Belchers neben zwei Saugfläschchen auch noch Strampler und Windeltücher aufgetrieben hatte, war Ello ein Rätsel.

Bevor sie das Mädchen frisch wickelte, betrachtete sie besorgt die Blutergüsse am Steiß des kleinen Mädchens. Die zwei Flecke waren ihr schon bei der ersten Untersuchung aufgefallen, doch da hatte sie sie nicht weiter beachtet. Sie war mehr um die Mutter besorgt gewesen. Jetzt aber erschienen Ello die seltsamen Male eine Spur größer und dunkler. Das Kind musste bei der Geburt auf ein Steinchen oder einen Ast gefallen sein. Sie nahm sich vor, die Sache zu beobachten.

5

SANAN

Sonntag, den 19. August 1945

Das Eingangsportal stand weit offen, Sanan trat hinaus ins Freie. Vor ihm erstreckte sich das Tälchen, das er vom großen Krankensaal aus sehen konnte. Nach rechts ging die Straße hinunter nach Rankweil. Hinter ihm stieg das Gelände an, ein Weg führte in den Wald hinein. In der Luft lag der Geruch von Heu, Hitze und Sonne. Roch die Sonne hier anders als in der Heimat?

Vor den traurig verdorrten Beeten am Ende des Vorplatzes blieb er stehen. Im Frühling hatte es hier bunt geblüht, doch außer den Tulpen, die jedes Jahr im Mai auch die Steppe zu Hause in ein wildes, prallrotes Farbenmeer verwandelten, hatte er keine einzige der anderen Blumen gekannt. Beim Pfiff eines Vogels fuhr er zusammen. Noch immer reagierte er auf jedes Geräusch, das ihm nicht vertraut war, wie ein Tier, das gejagt wurde. Dabei war der Krieg zu Ende, und im Vergleich zu seinen Kameraden, die in alliierten Kriegsgefangenenlagern hausten, lebte er hier wie im Paradies.

Lange würde der idyllische Zustand allerdings nicht mehr andauern. Er sei nicht mehr ansteckend, hatte der Arzt, ein Franzose, ihm am Vormittag mitgeteilt, er würde bald entlassen werden. Zumindest hatte Sanan den Doktor so verstanden. Dessen Akzent, der manchmal spöttische Ton und die vielen medizinischen Begriffe, mit denen der Arzt um sich warf, verunsicherten ihn. Aber solange der Mann Wunden versorgen, Verbände anlegen und von der Tuberkulose zerfressene Lungen heilen konnte, hatte Sanan es bisher immer dabei belassen und darauf vertraut, dass der Arzt wusste, was er tat. Aber vielleicht hätte er nun doch einmal fragen sollen, was auf ihn nach der Entlassung aus dem Krankenhaus zukäme. Französische Kriegsgefangenschaft oder Heimkehrerlager der Roten Armee? Beide Möglichkeiten bereiteten Sanan Bauchschmerzen.

Wieder stieß der Vogel seinen hohen, lang gezogenen Ruf aus. Die Schwingen weit ausgebreitet, suchte er Aufwind, erreichte die Baumwipfel, gewann weiter an Höhe. Bald wurde er kleiner und kleiner, bis er nur noch ein schwarzer Punkt am Himmel war und in den Wolken verschwand. In der Ferne meinte Sanan einen Ton zu hören, einen vertrauten Klang. Er schloss die Augen und lauschte …

Vernimmt den Wind, der die Saiten der Dombra zupft, langsam zuerst, zärtlich und voller Sehnsucht, dann von Minute zu Minute schneller, leidenschaftlicher. Im Takt der Melodie macht er die ersten Schritte, geht in die Knie, hebt die Arme. Schwingt sie auf und ab, majestätisch wie der Adler über dem weiten Land. Dreht sich im Kreis der alten Freunde. Und tanzt den Tanz des Königs der Lüfte.

Mit einem Mal hielt Sanan inne, um ihn drehte sich alles. Sein Kopf kreiste, der Magen. Er hatte sich zu viel zugemutet, er war nach der langen Krankheit noch zu schwach. Oder war es die Erinnerung an das Leben vor diesem, die ihm in die Knochen gefahren war? Die ständigen Zweifel, ob er richtig gehandelt hatte? Ob es nicht besser gewesen wäre, er wäre geblieben, statt mit dem Kalmückischen Kavalleriekorps mitzuziehen und an der Seite der Wehrmacht zu kämpfen?

Eine Krankenschwester eilte an ihm vorbei. Sie rief ihm etwas zu, das Sanan nicht verstand, aber er meinte, das Wort »Spaziergang« herausgehört zu haben, und lächelte schräg. Als er am Rande der vertrockneten Rabatten eine Bank entdeckte, setzte er sich. Drunten im Tal stand das Gras grün und saftig. Ein Bauer, die Sense über der Schulter, wanderte eben die Böschung hinunter, stoppte kurz, wie um zu überlegen, wo er mit Mähen anfangen sollte, und setzte dann seinen Weg fort bis zu dem kleinen Flüsschen, das durch die Wiese mäanderte.