An Liebe führt kein Weg vorbei - Anne Sanders - E-Book

An Liebe führt kein Weg vorbei E-Book

Anne Sanders

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Beschreibung

Verliebt, verlobt und ... völlig verlassen?

Lucy Dixon, personifizierte Fröhlichkeit aus Texas, ist der Liebe wegen in die Chestnut Road gezogen. Aber jetzt verzögert sich der Umzug ihres Verlobten, sodass sie allein dasteht. Und das fast wortwörtlich, weil zudem der Container mit ihrem Hab und Gut auf hoher See verschwunden ist. Als Lucy denkt, schlimmer kann es nicht werden, hört sie plötzlich seltsame Geräusche in ihrem Apartment – spukt es hier etwa? In einem Anflug von Panik greift sie sich den erstbesten Nachbarn, der ihr im Treppenhaus begegnet: Spiele-Entwickler Oliver Bellingcourt. Er, das genaue Gegenteil von Lucy, wird ihr Rettungsanker in mehrfacher Hinsicht. Und schon bald ist das ganze Haus überzeugt: An Liebe führt bei diesen beiden kein Weg vorbei!

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 310

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Cover for EPUB

Zum Buch:

Oliver Bellingcourt wohnt schon länger in der Chestnut Road, auch wenn die anderen Hausbewohner das vermutlich kaum bemerkt haben. Denn er verbringt die meiste Zeit in seinem Apartment und vor dem Computer. Leider mit Blockade, weil ihm einfach nichts Überzeugendes für die Fortsetzung seines extrem erfolgreichen Spiels Catmosphere einfallen will. Da kommt ihm im Grunde gelegen, dass die neue Nachbarin aus den USA immer öfter seine Hilfe braucht. Wenn er in Lucys blaue Augen sieht, könnte er auch so leicht alles andere vergessen … Sollte er aber auf keinen Fall, denn sie wartet schließlich auf ihren Verlobten!

Zur Autorin:

Anne Sanders arbeitete als Journalistin unter anderem für die Süddeutsche Zeitung, bevor sie sich 2014 voll und ganz für die Schriftstellerei entschied. Ihre Liebe zu den Britischen Inseln zieht sich durch so gut wie all ihre Romane – auch durch die Jugendbücher, die sie unter anderem Namen verfasst. Die Bestsellerautorin lebt mit Mann und Katzen im Großraum München.

Lieferbare Titel:

An Liebe führt kein Weg vorbei (Chestnut-Road-Reihe 3)

Liebe und all das Theater (Chestnut-Road-Reihe 2)

Liebe kann doch jedem mal passieren (Chestnut-Road-Reihe 1)

Anne Sanders

An Liebe führt kein Weg vorbei

ROMAN

HarperCollins

Originalausgabe

© 2025 by HarperCollins in der

Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH

Valentinskamp 24 · 20354 Hamburg

[email protected]

Covergestaltung und Motiv von Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich

E-Book Produktion von GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 9783749908790

www.harpercollins.de

Jegliche nicht autorisierte Verwendung dieser Publikation zum Training generativer Technologien der künstlichen Intelligenz (KI) ist ausdrücklich verboten. Die Rechte der Autorin und des Verlags bleiben davon unberührt.

1 Lucy

Liebe Edna,

lass uns bitte den Part überspringen, in dem du behauptest, du hättest es mir gleich gesagt, in Ordnung? Das ist nicht nett (war es die letzten 20 Jahre übrigens auch nicht) und hat noch nie den kleinsten Millimeter weitergeholfen. Wenn ich es recht bedenke, will ich mich auf eine derartige Diskussion ohnehin nicht einlassen – was geschehen ist, ist geschehen, nicht mehr rückgängig zu machen, es gibt nichts zu bereuen. Hatte ich mir den Umzug nach England ein kleines bisschen romantischer vorgestellt? Schon möglich. Hätte ich vorher vielleicht etwas weniger Bridgerton schauen sollen, dafür ein paar mehr Folgen von dieser Serie … wie hieß sie noch? Über diese sozial schwache Familie in Manchester, bei der alle auf einmal zu Alkoholikern werden oder so ähnlich? Gut, egal, lassen wir das. Sagen wir einfach: Ein bisschen mehr Realismus würde manchmal ganz sicher nicht schaden. Allerdings ist Manchester nicht Brighton, und Brighton ist wirklich fabelhaft, Brighton ist …

Ein dumpfes Rumpeln lässt mich zusammenzucken, und erschrocken blicke ich auf. Das kam aus dem Wohnzimmer. Glaube ich zumindest. Es ist meine erste Nacht hier, das Apartment ist neu und fremd und die Geräusche in diesem alten englischen Haus sind es ebenfalls. Ich lausche in die Stille.

Nichts.

Ich lege den Kopf schief.

Immer noch nichts.

Ich … sollte nachsehen, nehme ich mal an.

Also klappe ich das Tagebuch zu und lege es neben mich auf das Fensterbrett, auf dem ich gerade noch gesessen habe. Ein Halleluja für diese geräumige Küchenfensterbank, die mir wenigstens eine Sitzgelegenheit offeriert in diesen ansonsten gähnend leeren Räumen. Gerade wollte ich Edna davon erzählen, dass die Möbel nun leider doch nicht pünktlich angekommen sind, allerdings hatte ich vor, es ihr schonend beizubringen. Für ein Tagebuch kann Edna ziemlich rechthaberisch sein. Und nachdem sie mich von Anfang an vor diesem Umzug quer über den Globus gewarnt hat, sollte ich die schlechten Nachrichten besser häppchenweise präsentieren.

Auf Zehenspitzen schleiche ich vom Fenster in Richtung Küchentür, die weit offen steht. Ich mag geschlossene Türen nicht, denn sie vermitteln mir das Gefühl, nicht zu wissen, was dahinter passiert, und das beunruhigt mich. Dunkelheit übrigens auch, weshalb ich mehr als dankbar dafür bin, dass in diesem nicht-möblierten, bis auf eine abgenutzte Küchenzeile sehr leer geräumten Apartment immerhin zwei Glühbirnen den Ausräumwahn meiner Vormieter überlebt haben. Eine davon baumelt von der Küchendecke, die andere befindet sich im Gang. Dort lege ich den Schalter um und halte dann einige Sekunden inne.

Nach wie vor ist alles ruhig, dem Himmel sei Dank. Das Geräusch vorhin, es kam vermutlich von den alten Holzdielen, die ganz von allein knarzen und knirschen, weil Holz nun mal ganz von selbst knarzt und knirscht, richtig? Oder von den Rohren, die vor sich hin quietschen, wenn irgendwer irgendwo im Haus die Spülung betätigt? Wahrscheinlich kam es von draußen, denn die Kassettenfenster sind auch schon ziemlich in die Jahre gekommen, weshalb die Gespräche von den Restauranttischen unterm Schlafzimmerfenster künftig vermutlich als Gutenachtgeschichten durchgehen werden.

Ich atme einmal tief durch. Dann gehe ich den Gang hinunter ins Wohnzimmer, das leer ist, zurück ins Schlafzimmer, das ebenfalls leer ist, bevor ich die Tür zum dritten Raum öffne, den Dan als Arbeitszimmer nutzen wird. Die Wohnung ist groß. Und sie ist very british, mit ihren warmen Holzdielen, den schnörkeligen Erkern und hohen Fenstern, die man nach oben schieben muss, um sie zu öffnen. Ich mag diese Räume. Und erst mal eingerichtet, werden wir uns hier unglaublich wohlfühlen, davon bin ich überzeugt. Doch im Augenblick … Ich seufze. Ursprünglich war nicht geplant, dass ich die ersten Wochen in diesem neuen Leben allein verbringen würde, allerdings kann ich mich nicht beschweren, schließlich bin ich selbst schuld daran.

Ein letztes Mal öffne ich die Tür zum Schlafzimmer, greife mir die Luftmatratze, die ich dort an die Wand gelehnt hatte, und trage sie in die Küche. Diese erste Nacht werde ich hier schlafen, beschließe ich, bevor ich mein improvisiertes Lager unter dem Fenstersims aufschlage, Edna auf dem Schoß, Stift in der Hand.

Brighton ist genauso, wie ich es mir vorgestellt habe – nur ein kleines bisschen kälter vielleicht. Ja, ich weiß, ich weiß, auch das hätte ich mir denken können. England ist nicht Texas, und dieser Temperaturunterschied von sage und schreibe achtzehn Grad … hoffen wir einfach, ich werde diesen Sommer nicht erfrieren. Haha. Falls ich es doch tue, habe ich zumindest jeden Tag das Meer gesehen, denn oh, mein Gott, an der Küste zu wohnen ist grandios, nahezu himmlisch! Die Stadt schmiegt sich an den Strand wie zwei Tangotänzer aneinander, und das auf einer Länge, die schier unbegreiflich ist. Ich werde nichts anderes tun, als die Promenade auf- und abzumarschieren, und das in jeder freien Minute. Von denen ich allerdings nicht allzu viele haben werde, denn auch wenn bislang kaum etwas glattgegangen ist bei diesem Umzug, so habe ich immerhin meinen Job! Ha!

Ich blicke auf die Zeilen vor mir und muss unwillkürlich grinsen. Dass es mir tatsächlich gelungen ist, eine Festanstellung zu ergattern, noch bevor ich überhaupt einen Fuß auf diese Insel gesetzt habe, ist unglaublich und fantastisch zugleich. Wer hätte gedacht, dass es in England einen Bedarf an Tanzlehrerinnen gibt, die so etwas Profanes wie Linedance unterrichten?

Ich muss aufhören, es ist schon spät, schreibe ich, bevor ich Edna eine gute Nacht wünsche und das Tagebuch zuklappe. Meine Armbanduhr zeigt 17:10 Uhr an, und mein Lächeln vertieft sich. Dan hat mir die Uhr geschenkt, lange bevor wir beschlossen haben, gemeinsam von den USA nach England zu ziehen. Als hätte er damals schon geahnt, dass es einmal wichtig für mich sein würde, die Zeit im Blick zu behalten, die wir voneinander getrennt sind. Sechs Stunden im Augenblick – er nachmittags in Texas, ich kurz nach elf Uhr nachts in Brighton. Während ich nach dem Handy greife und seinen Kontakt aufrufe, rapple ich mich von meinem Luftmatratzenlager auf und laufe ans andere Ende der Küche, wo mein Koffer aufgeklappt auf dem Boden liegt. Er ist das Einzige, was ich aus Tomball mitgenommen habe, und – nachdem der Container mit unseren Möbeln und Kisten sich verspätet – das Einzige, was ich derzeit besitze.

Ich krame zwischen meinen Kleidern nach einem Pyjama, den ich glücklicherweise eingepackt habe, obwohl es zu Hause gerade viel zu heiß ist, um an Flanell auch nur zu denken. Was fehlt, ist eine Decke, doch für eine Nacht muss es wohl ohne gehen. Ich bin dabei, meinen Kulturbeutel aus einem der Seitenfächer zu ziehen, als Dans Stimme erklingt.

»Lucy? Hi. Ich hab nicht viel Zeit, es ist ein Meeting angesetzt. Was gibt es denn?«

Was gibt es denn? Für einige Sekunden halte ich inne, Waschbeutel in der Hand. »Na ja, fangen wir doch mal damit an, dass ich gut angekommen bin, und dass …«

»… der Transporter mit den Möbeln nicht da ist. Ja, das hattest du geschrieben.« Es entsteht eine Pause, in der ich Dan halblaut mit jemandem sprechen höre.

Ich warte. Ich kann nicht verstehen, was gesagt wird, doch Dan klingt gereizt. Er klingt schon seit Wochen gereizt, um ehrlich zu sein, ganz egal, ob er im Büro eine Unterhaltung führt oder mit mir. Die Vorbereitungen für den Umzug nach England, die aufwändige Organisation, die die Eröffnung der Außenstelle hier mit sich bringt – seit Monaten arbeitet Dan unter Hochdruck, und das scheint schlimmer zu werden, je näher der Tag seines Abflugs rückt. Der in etwa zwei Wochen geplant ist, so alles glattgeht. Während mein Job in der Tanzschule in zwei Tagen beginnt, startet Dan offiziell erst einige Wochen später, ergo meine frühere Ankunft. Allein.

Es raschelt in der Leitung, dann ist Dan wieder da. »Hör mal, es ist gerade ziemlich stressig hier. Kann ich dich später anrufen? In ein, zwei Stunden?«

»Dann ist es hier ein Uhr nachts, und …«

»Dann morgen, okay? Ich muss jetzt wirklich los. Ich freu mich, dass du gut angekommen bist. Ist es schön in der Wohnung? Gefällt sie dir?«

»Ja, sie ist …«

»Ja. Ja, ich komm ja schon! Alles klar. Liebling? Ich muss Schluss machen. Schlaf gut, okay? Wir hören uns morgen.«

»Ist gut. Ich hoffe, es geht nicht mehr allzu lange bei dir. Du fehlst mir. Ich … Dan? Dan?«

Die Verbindung ist längst getrennt. Und der Stich, den ich verspüre, kurz und schnell beiseitegeschoben.

Es stimmt, die vergangenen Wochen und Monate vor unserem Umzug haben sich angespannter angefühlt als die zwei Jahre davor. Aber: Ich hatte beschlossen, nicht länger darüber nachzugrübeln. Dan hat es gerade wahrlich nicht leicht. Seit der Beförderung steht er unter immensem Druck, und der Wechsel nach England, wo eine Riesenaufgabe auf ihn wartet, unter den wachsamen Augen aller – sagen wir einfach, es ist kein Wunder, dass er gestresst ist. Nicht mehr ganz so liebevoll. Öfter mal schlecht gelaunt. Kurz angebunden.

Ich seufze. Lege den Kulturbeutel zurück und ziehe stattdessen eine Handvoll Pullover aus dem Koffer, bevor ich mich hinlege, einen Knäul Sweater im Arm. An irgendetwas muss man sich schließlich festhalten können.

Alles wird gut, Lucy! Mein neues Mantra. Und ich glaube fest daran. Wenn wir erst mal beide hier sind, inklusive unserer Möbel, wenn wir die Wohnung zu unserem Zuhause gemacht haben und uns darüber freuen können, so etwas Aufregendes zu erleben wie einen Neustart in einem völlig fremden Land, in dieser kleinen, schnuckeligen Stadt, am Meer, dann wird tatsächlich alles, alles gut sein. Ganz sicher.

Über diesen Gedanken döse ich ein. Die Luftmatratze ist nur halb so unbequem wie gedacht. Und unter der hübschen Ansammlung Pullover, mit der ich mich zudecke, höre ich sogar auf, vor Kälte zu zittern.

Alles wird gut, Lucy! Der Gedanke flirrt durch meinen Traum, bis mich das Läuten meines Handys daraus aufschrecken lässt.

Es ist Morgen, und es ist nicht Dan, sondern die Umzugsfirma, und – formulieren wir es mal so: Heute wird noch nicht alles gut werden, so viel steht fest.

2 Oliver

»Also, Oliver, womit kannst du mich an diesem sonnigen Montagmorgen erfreuen? So, wie du aussiehst, müsstest du das Ding längst fertig haben, liege ich richtig?«

»Was meinst du damit, so, wie ich aussehe?«, frage ich, hauptsächlich, um von der eigentlichen Thematik abzulenken. Dass ich nichts für Yunai habe. Dass das Ding weit davon entfernt ist, fertig zu sein. Dass es absolut nichts nützt, sich jeden Montag zu einem Online-Meeting zu verabreden, weil es die Entwicklung auch nicht schneller voranbringt.

Yunai seufzt. Dann greift sie nach ihrer Zigarettenschachtel, zündet sich eine an und bläst den Rauch ungeduldig in Richtung Computercam.

»Du siehst aus, als hättest du die Sonne länger nicht zu Gesicht bekommen«, erklärt sie schließlich, »was allerdings nichts Neues ist und absolut nicht mein Problem. Der Umstand, dass du dich seit Wochen in diesem düsteren Kabuff einsperrst und dennoch nichts für mich hast, das ist mein Problem. Die Zeit wird allmählich knapp, Ollie. Und falls ich dich daran erinnern darf: Es sind nicht mehr nur wir beide hier. Ich bin nicht die Einzige, die ungeduldig darauf wartet, dass du verdammt noch mal deinen Kreativmotor zum Schnurren bringst und endlich fertig wirst mit diesem Baby.«

Ich widerstehe dem Drang, nach vorne zu greifen und den Bildschirm mit einem kurzen Klicken schwarz zu färben. Es ist nicht Yunais Schuld, dass wir seit Wochen, eigentlich Monaten, dieselbe Unterhaltung führen. Oder dass sie wirklich schlecht darin ist, passende Metaphern zu finden. Dieses Computerspiel ist schon lange nicht mehr mein Baby – ungefähr seit der Zeit nicht mehr, als wir Leute ins Boot geholt haben, um noch ein bisschen größer zu werden, es noch ein bisschen weiter zu schaffen. Ich frage mich, ob es Tage gibt, an denen sie unsere Entscheidung bereut. Ich weiß, dass ich es tue, öfter als mir lieb ist, bevor mich genauso vehement das schlechte Gewissen überrollt. Gerade ich sollte dankbar dafür sein, was wir erreicht haben. Gerade ich. Weil es mir die Möglichkeit gibt, Menschen, die mir nahestehen, unter die Arme zu greifen, falls es notwendig werden sollte.

»Es tut mir leid«, sage ich also und höre selbst, wie müde das klingt. Ich bin müde. So müde, ich kann kaum mehr geradeaus sehen. »Ich weiß, dass du den Druck mehr spürst als ich, weil sie dir im Nacken sitzen.«

»Und ich sitze dir im Nacken«, grollt sie, aber es klingt nur halb so bedrohlich, wie Yunai es sich erhofft.

»Mit dir werde ich fertig.«

»Werd fertig mit dem Spiel, Ollie. Okay?«

Über unsere Bildschirme starren wir einander an, und ich stelle fest, ich bin nicht die einzige ausgelaugte Nachtgestalt mit Augenringen hier. Yunai sieht fertig aus, daran können weder ihr bunter Strickpullover noch die farbigen Bänder, die sie sich in ihren rabenschwarzen Bob gewebt hat, etwas ändern.

»Wie geht es deinem Bruder?«, frage ich, und augenblicklich wird ihr Gesichtsausdruck weich.

»Es geht ihm gut. Danke, dass du fragst. Wie geht es deinem Vater?«

»Den Umständen entsprechend. Danke.«

Sie lächelt, und ich lächle ebenfalls. Zwei alte Freunde aus Kindertagen, die gemeinsam so viel erreicht haben, lächeln sich an, weil ihnen mit einem Mal bewusst wird, weshalb sie getan haben, was sie taten. Und warum all das die Mühe wert ist.

Als wir Catmosphere das erste Mal hochluden, zu Testzwecken und für eine winzige Community, von der wir uns Spielberichte und Feedback erhofften, waren wir zwei nerdige Teenager, die sich mit Programmieren und dem Zeichnen von Schnapsideen die Zeit vertrieben. Bis zu dem Tag, an dem wir uns Cat und ihrer Welt erneut widmeten, hatten wir beide ein abgeschlossenes Studium in der Tasche und so viel Büroerfahrung, dass uns die launigen Ideen von damals wie eine Art Regenbogen am Horizont der realen Tristesse erschienen. Yunai, weil die 14-Stunden-Tage sie in der Grafikagentur an die Grenzen ihrer Kräfte brachten. Mir, weil ich in der IT-Abteilung der Computerfirma, für die ich damals arbeitete, einen qualvollen Tod der Langeweile zu sterben begann. Für uns beide schien die Flucht in die Fantasie die einzig praktikable Lösung, also kehrten wir in Cats Welt zurück, nichts ahnend, was wir da eigentlich entwickelten. Ein Spiel, das durch seinen weltweiten Erfolg unser beider Leben um 180 Grad drehen würde, und zwar in einem galaktischen Tempo.

»Ich werde versuchen, noch mal einen Aufschub zu erwirken, aber Ollie? Ich weiß nicht, wie lange ich dir noch dabei zusehen kann, wie du … ich weiß nicht. Dich selbst eingräbst. Du musst raus aus diesem Loch, in das du dich da eingebuddelt hast. Es gibt keinen Grund, daran zu zweifeln, dass die Fortsetzung von Catmosphere genauso brillant sein wird wie ihr Vorläufer. Du musst es nur zulassen.«

Der Vorläufer, denke ich trocken, den wir gut gelaunt und ohne Druck in der Garage meiner Eltern entwickelt haben, bevor das ganze Ding durchstartete wie eine Rakete und wir durch den Schubstrahl aus der Bahn katapultiert wurden.

»Du klingst wie eine von ComGAs Marketing-Leuten«, sage ich schließlich, was Yunai geflissentlich ignoriert. Stattdessen durchbohrt sie mich mit diesem Blick, der Eisberge zum Schmelzen bringen kann. So lange, bis ich seufzend einknicke.

»Ich setze mich wieder dran«, sage ich ihr, weil es mehr wirklich nicht zu sagen gibt.

»Geh zwischendrin mal an die Luft.«

»Ja, Mum.«

»Oder zieh zumindest die Vorhänge auf.«

Ich verdrehe die Augen.

Und dann klingt Yunai mit einem Mal wieder absolut ernst, weich und wie die Freundin, die sie mir schon immer gewesen ist.

»Kann ich irgendetwas für dich tun?«, fragt sie. »Dann sag es mir bitte, und ich überschlage mich, um dich zu unterstützen, das weißt du. Ein Brainstorming? Wo genau steckst du fest? Wo genau liegt das Problem, um die Handlung voranzutreiben? Oder …« Sie überlegt einige Sekunden lang, und ich bin mir ziemlich sicher, ich weiß, was jetzt kommt. »Oder sollen wir mal gemeinsam zu deinen Eltern fahren? Ich habe sie ewig nicht gesehen. Sie würden sich sicherlich freuen. Vielleicht würde die Situation dadurch etwas leichter?«

Ich starre Yunai an, die Antwort steht mir ziemlich sicher ins Gesicht geschrieben. Nein, was meine Eltern betrifft. Und keine Ahnung, wo es hakt. Wenn ich das wüsste, wäre ich der Erste, der sich mit der Problemlösung beschäftigt, und sie die Erste, die davon erfährt.

Seufzend greift Yunai nach ihrer Zigarettenschachtel. Ich hoffe wirklich, dass ich nicht auch noch dafür verantwortlich sein werde, dass sie sich zur Kettenraucherin entwickelt. Wenn ich schon alles andere verbocke.

»Rauch nicht so viel«, sage ich, bevor ich mich vorbeuge, um unsere Verbindung zu trennen.

»Geh raus«, erwidert sie, bevor sie mir eine Kusshand zuwirft. Dann ist sie weg.

Ich lasse mich in meinen Stuhl zurückfallen, als hätte ich gerade einen Marathon absolviert und nicht nur ein Zoom-Meeting mit meiner Geschäftspartnerin. Mein Blick fällt auf das Plakat hinter meinem Rechner – Catmosphere in DIN-A1, das in einem altertümlichen Goldrahmen steckt. Ein Geschenk der Gesellschafter von ComGA, nachdem wir den Kooperationsvertrag unterschrieben hatten.

Es gab eine Zeit, da bestanden meine Tage aus nichts anderem als der kribbelnden Freude, mit meinem Computer Welten zu erschaffen, fantastisch, abenteuerlich, groß. Es gab eine Zeit, da hat mir das, was ich tue, unendlich viel Spaß bereitet. Ich bin nicht sicher, wann genau sich das Gefühl in Luft aufgelöst hat, aber ich habe so einen Verdacht.

Der Bildschirm wird schwarz, und ich sitze im Dunkeln. Yunai hat recht – ich habe mich in eine Höhle eingegraben, und je tiefer ich mich hineinfallen lasse, desto schwerer fällt es mir, das Licht am Ende des Tunnels zu sehen. Um bei den schlechten Metaphern zu bleiben. Also hieve ich mich seufzend aus dem Stuhl, gehe zum Fenster und ziehe die schweren Vorhänge auf. Für eine Sekunde bin ich geblendet, so hell ist es draußen. Tatsächlich scheint die Sonne, Yunai hatte recht.

Ich schiebe das Fenster hoch und lasse kühle, salzige Sommerluft ins Zimmer. Unten, auf den Stufen zu unserer Eingangstür, sitzt eine Frau und tippt wie wild auf ihrem Handy herum. Vielleicht hat sie das Ruckeln des Rahmens gehört oder sie spürt meinen Blick, jedenfalls sieht sie nach oben, und dann lächelt sie mich an.

Und weil ich zu perplex bin und nun noch ein bisschen mehr geblendet, lächle ich zurück, auch wenn es sich eher wie eine Grimasse anfühlt.

3 Lucy

»Entschuldige, kann ich dir irgendwie helfen?«

»Wie bitte?« Ich wende den Blick ab von dem Fenster im zweiten Stock und dem jungen Mann dahinter. Er sah ein kleines bisschen blass aus, und sofort muss ich wieder an das Knarzen und Poltern gestern Abend in meiner Wohnung denken. Ein Schauer rieselt durch meinen Körper. Ich bin nicht sicher, ob der Gedanke an etwaige Gespenster, das Telefonat heute Morgen oder die britische Sonne ihn verursacht hat. Ich meine, kann es kälter sein an einem so strahlenden Tag wie heute? Ich denke nicht.

»Suchst du jemanden? Vielleicht kann ich helfen, ich wohne hier.«

»Oh. Nein. Nein, danke.« Mit der Hand schütze ich meine Augen gegen das grelle Licht und erwidere das offene Lächeln der Fremden, die vor mir steht. Sie ist etwa in meinem Alter, schätze ich, blond und sehr hübsch, und sie trägt ein geblümtes Sommerkleid mit Spaghettiträgern, bei dessen Anblick allein ich zu frieren beginne. »Ich wohne auch hier«, fahre ich fort. »Seit gestern, um genau zu sein.«

»Oh! Wow! Okay!« Und nun hebt sie erstaunt die Brauen. »Apartment 3B?«

»Stimmt! Woher … Ah, es ist vermutlich das einzig freie Apartment hier, richtig?«

»Richtig. Und es ist …« Abrupt hält sie inne, bevor sie den Mund zuklappt, dann wieder öffnet. »Ich bin Hannah«, sagt sie und streckt mir die Hand entgegen. »Hannah Lewis. Ich wohne unter dir.«

»Lucy Dixon.« Ich stehe auf, um Hannahs Hand zu schütteln. »So schön, dich kennenzulernen. Ich bin gestern erst abends angekommen und habe noch niemanden aus dem Haus getroffen.« Das Gesicht hinter dem Fenster fällt mir ein. Es zählt nicht, nehme ich an.

»Und ich habe gar nicht mitbekommen, dass jemand eingezogen ist. Vermutlich war ich gerade in der Redaktion, als der Möbelwagen hier war.«

»Nun ja.« Ich verziehe das Gesicht. »Die Möbel hätten eigentlich schon vor einigen Tagen ankommen sollen, die Hausverwaltung wollte sich netterweise darum kümmern. Aber wie sich nun herausstellt, ist der Transporter noch gar nicht hier gewesen. Erst dachte ich, das ist sicher nur eine kleine Verzögerung – doch so wie es aussieht, ist der Container mit unseren Sachen irgendwo auf dem Weg über den Atlantik verschollen.«

»Wie bitte?« Hannah gibt ein ungläubiges Lachen von sich. »Das gibt es doch nicht! So etwas passiert wirklich?«

»Sieht ganz danach aus.« Ich seufze. »Die Umzugsfirma hat mich heute mit dieser Hiobsbotschaft aus dem Schlaf gerissen. Ich muss mich erst mal sortieren, um zu überlegen, was als Nächstes zu tun ist.«

Hannah schüttelt den Kopf.

Und dann sprechen wir beide gleichzeitig.

»Woher kommst du genau?« »Du arbeitest bei einer Zeitung?« »Texas!« Und dann müssen wir beide lachen, und mit einem Mal fühle ich mich um so vieles besser als noch fünf Minuten zuvor.

»Du kommst aus Texas?«, fragt Hannah, während sie sich auf die Stufen vor unserem Haus niederlässt und mir bedeutet, mich ebenfalls wieder zu setzen. »Wie aufregend! Wie ist es dort? Gott, was für eine Frage! Als könnte man das in ein paar Sätzen beantworten. Was hat dich hierher verschlagen? Und wie lange bleibst du?«

Ich muss lachen. »Es ist vor allem heiß«, erwidere ich, »fast zwanzig Grad wärmer als hier. Wenn ich dich nur ansehe, fange ich an, vor Kälte zu zittern.« Wie zum Beweis ziehe ich die dicke Strickjacke enger um meine Schultern. Es ist mir ein echtes Rätsel, warum Hannah in diesem dünnen Sommerkleid nicht blau anläuft.

»Ich weiß gar nicht, was du willst«, erwidert sie grinsend. »Es sind über zwanzig Grad. Ein herrlich sommerlicher Tag. Wenn ich heute kein Kleid trage, wann dann?«

Ich schüttle mich.

Hannah grinst. »Bestimmt gewöhnst du dich dran.«

»Das hoffe ich. Und ich bete, dass mein restliches Gepäck bald auftaucht. Auf Wintersachen war ich nämlich nicht unbedingt eingestellt.« Ich werfe einen Blick auf mein Smartphone, das ich nach wie vor in der Hand halte. Immer noch keine Nachricht von Dan. Bis Hannah mich ansprach, hatte ich einen halben Roman in unseren Chat getippt, um ihm von dem Anruf der Transportfirma zu erzählen. Und ja, ich weiß, es ist noch sehr früh in Austin, noch nicht einmal fünf, aber Dan ist eben auch Dan und normalerweise schon auf dem Weg ins Fitnessstudio. Und davor … davor hätte er ruhig mal einen Blick auf sein Telefon werfen können, etwa nicht? Um nach seiner Verlobten zu sehen, die beinah 8000 Kilometer entfernt gar nicht mal so kleine Startschwierigkeiten hat, und für die er sich nicht zum ersten Mal weniger Zeit nimmt als für seine Beinpresse.

All das ärgert mich mehr, als ich zugeben möchte, selbst wenn ich ehrlich bemüht bin, diese negativen Gefühle von mir wegzuschieben. Auch Dan befindet sich gerade in einer Ausnahmesituation. Es ist nicht fair von mir, ihn zusätzlich unter Druck zu setzen. Ich trage viel weniger Verantwortung als er.

»Lucy?«

»Oh, sorry.« Ich hebe den Blick und sehe in Hannahs fragendes Gesicht. »Ich bin kurz abgedriftet, tut mir leid. Es ist nur …« Ich klappe den Mund zu. Schlucke den Satz, den ich eigentlich sagen wollte, hinunter, denn etwas Negatives soll nicht das Erste sein, was Hannah über Dan hört. »Ich habe meinen Verlobten noch nicht erreichen können«, sage ich also, und dann lache ich, obwohl mir nicht zum Lachen ist, bei dem Versuch, die Situation herunterzuspielen. »Er hat noch keine Ahnung von dem Chaos hier, aber zu Hause ist es noch sehr früh, also …« Ich zucke die Schultern. Hannah sieht mich an, als hätte sie meine Verharmlosung mehr als durchschaut, doch sie kommentiert sie nicht.

»Dann bist du schon mal vorgeflogen, sozusagen?«, fragt sie stattdessen. »Und dein Verlobter kommt nach?«

Ich nicke. »So der Plan. Dan soll die Leitung der britischen Dependance seiner Firma übernehmen, und, ja … das hat den Umzug nach England notwendig gemacht. Und eigentlich«, fahre ich fort, »wollten wir zusammen herkommen, aber dann habe ich glücklicherweise auch gleich einen Job gefunden, und der geht schon morgen los. Außerdem sollte irgendjemand hier sein, wenn unsere Sachen angeliefert werden, und nun bin ich also in Brighton, im Gegensatz zu unserem Hausrat.« Ich lächle. Es fühlt sich angestrengt an.

»Das ist Mist«, sagt Hannah. »Du Arme. Kann ich irgendetwas für dich tun?«

»Wenn du nicht zufällig gerade einen verloren gegangenen Container aus der Tiefsee gefischt hast? Dann nein, ich fürchte nicht.«

»Eine Sache vielleicht.« Sie steht auf und steigt über den niedrigen schmiedeeisernen Zaun, der unsere Treppe von dem Außenbereich des Restaurants trennt, das im Erdgeschoss dieses Mietshauses untergebracht ist. Ein Italiener, denke ich. Die rot-weißen Fensterläden und die gleichfarbige Markise mit dem Little-Italy-Schriftzug lassen wenig Zweifel aufkommen.

Hannah schlängelt sich zwischen schmiedeeisernen Tischen und Stühlen hindurch zu einer Glastür, klopft an die Scheibe, und es dauert keine fünf Sekunden, bis die Tür geöffnet wird und ein kleiner, gemütlich wirkender älterer Mann heraustritt. Er breitet die Arme aus, als wollte er Hannah hineinziehen, und ruft: »Hannah! Was für eine schöne Überraschung an diesem herrlichen Morgen!«

Um ganz ehrlich zu sein – das klang ein kleines bisschen theatralisch.

Hannah scheint das genauso zu sehen. »Du hast gelauscht, oder? Gib es zu, Orlando, ich sehe es dir an der Nasenspitze an!«

»Was stimmt mit meiner Nasenspitze nicht?«, sagt der Mann, der offenbar Orlando heißt, bevor er sich an Hannah vorbeischiebt und in meine Richtung kommt. Ich stehe auf, um ihn zu begrüßen, schon hat er über den Zaun hinweg nach meinen Händen gegriffen.

»Aaaah, ciao bella! Was für ein herrlicher Anblick an diesem fantastischen Morgen! Du musst Lucy sein.«

»Ja, ich … das bin ich tatsächlich!« Ich werfe Hannah einen überraschten Blick zu, und die rollt mit den Augen.

»Lucy, das ist Orlando«, beginnt sie, als sie sich zu uns stellt. »Wirt des fantastischen Little Italy, in dem du unbedingt essen solltest, solange deine Kochutensilien noch auf hoher See schwimmen.«

»Mindestens«, wirft Orlando ein.

»Mindestens. Orlando, das ist Lucy. Sie ist aus Texas und mit ihrem Verlobten hergezogen, der allerdings noch im Land der tausend Möglichkeiten weilt. Die beiden wohnen künftig in 3B.«

»In 3B? Hm-hm.« Ein letztes Mal drückt Orlando meine Hände, dann lässt er sie los. »Und der Container mit deinen Sachen ist verloren gegangen? Mio dio, so ein Unglück. Darf ich euch beide dafür auf einen Cappuccino einladen? Das schreit ja geradezu nach einem tröstenden Stück Gebäck dazu.«

»Du hast gelauscht, das war so klar!«, ruft Hannah hinter Orlando her, der sich fröhlich auf den Weg ins Innere seines Lokals gemacht hat.

»Dante«, hören wir ihn rufen. »Due cappuccini und ein bisschen dolce, und zwar rapido!«

»Komm, wir setzen uns in die Sonne«, sagt Hannah, und genauso machen wir es. Und mit einem Mal ist dieser erste Montagmorgen in diesem fremden Land um so vieles heimeliger geworden, als ich mir das vor einer Stunde noch hätte vorstellen können.

Wir sitzen auf der kuschligen kleinen Terrasse, trinken exquisiten Kaffee und essen noch bessere Cantuccini, während Hannah mir davon berichtet, dass sie für eine Lokalzeitung namens Argus arbeitet und mit einem Schauspieler liiert ist.

»Ein Schauspieler?«, frage ich aufgeregt. »Kenne ich ihn?«

»Vielleicht?« Hannah grinst. »Er ist vorwiegend in England bekannt, aber demnächst womöglich auch in Texas.« Sie sieht über allen Maßen stolz aus und so verliebt, dass ich lachen muss.

»Wirklich? Was ist seine nächste Rolle? Spielt er einen Ölbaron?«

»Fast.« Hannah nippt an ihrem Cappuccino, bevor sie ihr Handy hervorzieht. »Er spielt John Keats. Hier, es gibt einen ersten Teaser, willst du ihn sehen?«

Sie zeigt ihn mir. Der Filmteaser dauert in etwa zwanzig Sekunden und dreht sich um einen jungen Mann mit braunen Locken und warmen Augen, der offenbar ein berühmter britischer Dichter war. »Und dein Freund heißt Viktor de Ruiter?«, frage ich überflüssigerweise, weil ich das gerade in dem kurzen Abspann lesen konnte.

Hannah nickt.

»Den Namen werde ich mir merken«, sage ich, und Hannah grinst mich an, wohl wissend, dass ich damit nur überspielen wollte, bisher nie von ihm gehört zu haben.

»Dante«, erklärt plötzlich eine tiefe Stimme neben mir. Ich blicke auf und sehe einem noch jüngeren Mann ins Gesicht, mit noch dunkleren Augen und pechschwarzem Haar – er sieht aus wie aus einem Katalog über römische Gottheiten, und er scheint sich darüber sehr wohl im Klaren zu sein. »Meinen Namen solltest du dir unbedingt auch merken«, gurrt er, bevor er mir zublinzelt und sich dann an Hannah wendet: »Du kannst nicht zufällig heute Abend für mich einspringen? Ich würde unserer neuen Nachbarin zu gern ein bisschen die Stadt zeigen.« Sein Blick, der sicher verführerisch sein soll, trifft mich erneut, als er hinzufügt: »Wie ich höre, bist du noch nicht lange in Brighton? Ich bin ein exzellenter Reiseführer, und falls du …«

Hannahs lautes Stöhnen unterbricht diese ungewöhnliche Bewerbung, bevor sie aufsteht und besagten Dante in Richtung Tür schiebt. »Wieso heißt eigentlich dein Bruder Romeo, und nicht du, hm?«, fragt sie, bevor sie ihn ins Innere scheucht. »Sssh, sssh, los mit dir, geh die Tische decken oder was auch immer.«

»Wir sehen uns, texanische Schönheit«, ruft er mir über die Schulter zu, bevor Hannah die Glastür hinter ihm zuwirft.

»Entschuldige«, sagt sie. »Das war Dante, einer von Orlandos Söhnen. Ignorier ihn einfach. Er ist penetrant, aber harmlos.«

Ich lache. »Gut zu wissen.«

Hannah verdreht die Augen. »Penetrant, harmlos und nicht sehr zuverlässig, was die Arbeit im Restaurant angeht. Falls du also einen Job suchst … Orlando ist mehr als dankbar für jeden, der im Notfall hier einspringen kann.«

Bei dem Wort Job wird mein Grinsen automatisch noch ein Stück breiter, bevor ich Hannah glücklich erkläre: »Wie schon gesagt – ein Job ist vermutlich das Einzige, was ich gerade nicht brauche, denn den habe ich schon!«

4 Oliver

Ich sitze genau da, wo ich die vorangegangenen Wochen auch gesessen habe: An meinem Schreibtisch, vor meinem Computer, in meinem abgedunkelten Arbeitszimmer, ohne zu wissen, welcher Monat, welcher Tag, geschweige denn welche Uhrzeit es ist. Die Stunden fließen zusammen wie Wasser, mein ganzes Leben scheint aus einem Pool nicht zu greifender Substanzen zu bestehen. Das Gespräch mit Yunai fühlt sich an, als sei es Jahre her, dabei sind es sicher erst ein paar Stunden. Ich fluche. Lehne den Kopf nach hinten, starre die Decke an, blicke zurück auf den blinkenden Cursor vor rabenschwarzem Hintergrund. Ich kann mich kaum daran erinnern, wie es zu Anfang war, wie spielerisch ich den Zugang zu Catmosphere gefunden habe, wie leicht mir alles fiel. Seit Cat nicht mehr das ist, was es zu Beginn war – ein Spiel hauptsächlich für mich und Yunai, etwas, das wir gemeinsam kreiert, geliebt und gelebt haben –, kommt es mir vor, als wäre dort, wo es einst herkam, nichts mehr zu holen. Da ist nur noch Leere. Was unglücklich ist, gemessen daran, wie viele Menschen mittlerweile darauf warten, dass ich performe. Und jetzt stöhne ich auch noch, laut und hemmungslos ins Nichts dieses Gefängnisses, das sich mein Arbeitszimmer nennt, bevor mich das Lärmen meines Handys aus der Misere rüttelt.

Bis ich das Telefon gefunden habe, hat es aufgehört zu läuten, Sekunden später ploppt eine Nachricht meiner Mutter auf. Sie bringt mich dazu, nur noch lauter zu stöhnen. Es gibt niemanden, der meine Schuldgefühle mehr triggert als meine Mutter, und das, obwohl es mit Sicherheit das Letzte ist, was sie möchte. Ihr Verständnis dafür, dass ich bestimmt zu beschäftigt sei, um mich zu melden, dass sie das nachvollziehen könne und absolut nicht stören, nur sagen wolle, dass es meinem Vater besser gehe und er sich unglaublich freuen würde, mich bald mal wiederzusehen. Dass beide mächtig stolz auf mich seien.

Jede einzelne ihrer Nachrichten beendet meine Mutter damit, mir zu sagen, wie sehr sie mich liebt. Und alles, was ich fühle, wenn ich ihre Texte lese, ist Gram, ein regelrechter Schmerz, und dieses verdammte schlechte Gewissen, weil ich der mieseste Sohn aller Zeiten bin. Und darüber hinaus. 

Ich bin gerade dabei, mich mental selbst zu zerfleischen, als es an der Tür läutet. Die Post, vermute ich, ohne die Uhrzeit auf dem Schirm zu haben, aber der Paketbote ist normalerweise der Einzige, der bei mir vorstellig wird.

Ich gehe zur Tür, drücke auf den Summer, da klopft es. Als ich die Tür öffne, lehnt Dante, der Sohn des Italieners von unten, im Rahmen.

»Bist du gerade erst aufgestanden oder warst du überhaupt nicht im Bett?«, fragt er anstelle einer Begrüßung und so, als wäre es das Normalste der Welt, dass er hier vor meiner Tür steht und mich nach meiner Nacht fragt, wenn er in Wirklichkeit noch nie bei mir geläutet hat.

Verwirrt sehe ich ihn an, und ebenso verwirrt klingt vermutlich meine Antwort. »Keine Ahnung. Wie spät ist es?«

Und nun ist es an Dante, erstaunt die Brauen hochzuziehen. »Hast du kurz Zeit?«, fragt er.

Ich räuspere mich. »Ja, klar, wieso nicht, ich …«

»Wir haben ein neues Kassensystem, aber irgendwie funktioniert’s nicht. Kein Mensch steigt da durch, zumindest niemand von uns Technikidioten, und da dachte ich, du könntest es dir vielleicht mal ansehen. Du bist doch so ein Computerfreak, richtig?«

»Ich bin … IT-Techniker, falls du das meinst, allerdings bin ich nicht vertraut mit Kassensystemen, insofern weiß ich nicht …«

»Du bist am nächsten dran, glaub mir, Ol.«

Ol?

»Also. Kommst du?« Dante sieht mich abwartend an.

»Jetzt gleich?«

»Das ist super, danke.« Er klopft mir auf die Schulter und schiebt mich dabei wenig subtil aus der Haustür in Richtung Treppe.

»Ah … okay. Moment. Warte.« Resigniert mache ich mich von ihm los und greife mir zumindest noch meinen Schlüssel von der Kommode neben der Tür, bevor er mich aus meiner eigenen Wohnung ausschließt. Dante Esposito kann ziemlich überzeugend sein, das weiß ich nicht erst seit heute. Im Dezember überredete er mich im Vorbeilaufen, an dem Silvesterfest unten im Restaurant teilzunehmen, und obwohl es mir die folgenden Monate gelang, mich mehr oder weniger aus seinem Blickfeld zu stehlen, werde ich das Gefühl nicht los, dass er mich seitdem irgendwie auf dem Radar hat. Warum auch immer.

Ich folge ihm die zwei Stockwerke hinunter ins Erdgeschoss und dann durch die Tür, die vom Treppenhaus ins Restaurant führt. Der rote Kater sitzt davor. Ich bin nicht sicher, zu wem er gehört, außer zu dem Haus selbst, denn er läuft schon mindestens so lange hier herum, wie ich darin wohne. Er streicht um meine Beine, und ich beuge mich hinunter, um ihn zu streicheln. Sobald Dante die Tür geöffnet hat, saust der Kater wie ein Pfeil ins Restaurant, wo er nach rechts abbiegt, in Richtung Küche.

»Buon appetito«, ruft Dante dem Tier nach, bevor er weiter zum Tresen läuft und ich hinter ihm her. Das Lokal ist leer, die Stühle stehen noch auf den Tischen, die Türen sind geschlossen, doch es hängt ein schwerer Duft von Knoblauch und Zwiebeln in der Luft, und aus der Küche sind Gemurmel und Geklimper zu hören.

»Um zwölf machen wir auf«, sagt Dante, »du hast also circa noch vierzig Minuten, um das hier hinzukriegen. Das wäre super! Mille grazie!«

»Wie schon gesagt, ich bin kein Experte …«

Wir hören die Küchentür aufschwingen, schon taucht Dantes Vater Orlando auf, in seiner typischen Restauranttracht: weißes Hemd, schwarze Hose, darüber eine ebenfalls schwarze Schürze, die mittlerweile reichlich spannt, wie es aussieht.

»Signor Bellingcourt«, begrüßt er mich überschwänglich, »wie schön, Sie wiederzusehen! Wo haben Sie gesteckt das letzte halbe Jahr? Immer nur Arbeit, wie?«

»Könnte man so sagen, ja.« Ich klinge wie ein Roboter, und so etwas wie Mitleid flackert in Orlandos Augen auf, oder aber ich habe es mir nur eingebildet? Es ist beinah Mittag, und Dante hat richtig vermutet – ich war gestern nicht im Bett. Meine düstere Ahnung, wie fertig ich aussehen muss, spiegelt sich im Gesichtsausdruck des Wirts wider, und es kostet mich reichlich Anstrengung, keine Grimasse zu ziehen.

Ich fühle mich wie ein Wrack. Ich bin ein Wrack. Und alle können es sehen, nicht nur Yunai.