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-Werde Teil der Bewegung, werde Teil von Anakonda-Im Jahre 2140 n. Chr. streifte ein Asteroid die Erdumlaufbahn. Kontinente prallten aufeinander und unsere Welt veränderte sich für immer. Ein letzter, zerstörerischer Krieg sorgte für enorme Verluste auf allen Seiten. Doch die Menschheit hat dazu gelernt und sich für eine gemeinsame Regierung und einen einheitlichen Lebensstil entschieden. Nicht zuletzt wegen Norwick, dem Geheimdienst der Regierung.Lynn träumt von einer Karriere bei Norwick. Doch der Geheimdienst ist nur für Männer vorgesehen und operiert im Verborgenen. Bereits ihr Bruder Logan wurde von diesem Geheimnis verschluckt und sie hat ihn seitdem nicht mehr gesehen. Kurz nachdem sie ihren Berufswunsch der Regierung mitgeteilt hat, trifft sie auf Ivo. Der nicht nur undurchschaubar, sondern auf den ersten Blick, auch unausstehlich wirkt. Als dann noch Logan auftaucht, überschlagen sich die Ereignisse. Lynn findet sich in einer Welt voller Geheimnisse, Intrigen und unmittelbarer Gefahr wieder. Doch wem kann sie wirklich vertrauen?
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Seitenzahl: 321
Veröffentlichungsjahr: 2022
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„Das Leben ist eine Verkettung ganz verrückter Ereignisse. Man muss sie alle gelebt haben um am Ende das Ganze betrachten zu können. Wenn auch nur ein winziger Teil fehlt, ändert sich Alles. Dann ist man nicht mehr, wer man vorher war!“
- Ivo
Prolog
Kapitel 1
Auftrag 162215 "Timewarp"/ Eintrag 01
Kapitel 2
Kapitel 3
Auftrag 162215 " Timewarp"/ Eintrag 28
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Auftrag 162215 " Timewarp"/ Eintrag 30
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Auftrag 162215 " Timewarp"/ Eintrag 32
Kapitel 11
Kapitel 12
Auftrag 162215 " Timewarp"/ Eintrag 35
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Auftrag 162215 " Timewarp"/ Eintrag 47
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Epilog
Schwer atmend lehne ich mich an die Überreste des Wohnhauses. Wir sind in einen Hinterhalt geraten und stehen jetzt buchstäblich mit dem Rücken zur Wand, während uns eine Reihe von fünfzehn Gegner gegenübersteht. Ich atme tief durch und lausche auf die Geräusche in der Umgebung.
„3356 an Leader, ich bin bei Position Alpha. Benötige neue Instruktionen“, flüstere ich, während ich den Knopf in meinem Ohr betätige. „Leader an 3356, bleiben Sie auf Position. Evakuierung eingeleitet.“ Seufzend löse ich mich von der Wand und gehe an der gegenüberliegenden Seite in die Hocke. Angewidert schaue ich auf das Mauerstück vor dem ich gerade noch in Deckung gegangen bin. -Das Parlament ist Geschichte! Die neue Zeitrechnung beginnt mit uns! Sei auch Du Teil der Revolution- In Giftgrün leuchtet mir die Botschaft entgegen. Wie überall, in der zum größten Teil zerstörten Stadt Die Einstellung, die den Verstand vieler Menschen infiziert hat und sie dazu gebracht hat, dass Parlament in Frage zu stellen. Darüber der giftige Blick dieser Schlange, das Symbol der Gemeinschaft, der Bewegung, ANAKONDA. In der Nähe steigt zischend die Leuchtrakete in die Höhe und sofort folgen Schüsse von der gegnerischen Seite. Geduckt laufe ich in die Abschussrichtung und dort zu dem kleinen Konvoi unserer Fahrzeuge. Innerhalb weniger Minuten sind wir auf dem Weg zum Hauptgebäude und raus aus der Gefahrenzone.
15.06.2230 n. Chr.
Logbuch; Eintrag 1065/734
Start der Mission Timewarp! Agent 3356 hat sich in den letzten drei Monaten ausgiebig vorbereitet und ist nun bereit, die Reise anzutreten. Die letzten Tests haben gute Ergebnisse gebracht, so dass wir grünes Licht geben können. Seine zentrale Aufgabe wird es sein, die Entstehung der Untergrundorganisation "ANAKONDA" zu unterbinden. Besonders wichtig sind dabei die Namen der Anführer und die eventuelle Eliminierung dieser Personen. Wir setzen sehr große Stücke in dieses Unternehmen. Agent 3356 ist unsere letzte Hoffnung, die Welt rückwirkend vor dieser Machtübernahme zu bewahren.
-Ende des Eintrags-
Die Zeilen wackeln vor meinen Augen hin und her, während ich sie erneut lese. Das Zittern meiner Hände will einfach nicht aufhören. Trotz der ganzen Vorbereitungen schlägt mir mein Herz bis zum Hals. Es ist das Adrenalin das durch meine Adern schießt und sich einen Spaß daraus macht, meine Nerven zu reizen. Heute soll es soweit sein! Und meine Gedanken spielen mir einen Streich. Ich weiß, dass ich ausgiebig Trainiert habe und doch stelle ich mir die Frage, ob ich wirklich bereit bin? Ich erinnere mich noch genau an den Moment, als Kyle den Auftrag vorgestellt hat. Es war eine dieser langweiligen Teamsitzungen. "Die Vereinte Regierung sucht einen Freiwilligen für einen Geheimauftrag...", setzte er an und noch bevor er den Satz beenden konnte, schnellte meine Hand in die Höhe.
Es gab immer wieder Momente in denen ich mich gefragt habe, warum gerade in diesem Augenblick mein Tatendrang schneller sein musste, als mein Verstand. Wahrscheinlich lag es an der Mischung aus Langeweile und Übereifer. Der wurde uns „Neuen“ schon von Beginn an antrainiert. Nach etlichen Virtual-Reality Trainingseinheiten dauerte es mehrere Wochen, bis wir endlich in die Außenwelt durften nach den großangelegten Simulationen, folgten endlich kleine Einsätze. Meine ganze Kopfhaut kribbelte bei der Vorstellung, endlich einen realen Auftrag durchzuführen. Kurz darauf begleitete ich Kyle in den Nebenraum, um die Details des Auftrags zu erfahren. Rückwirkend betrachtet war mein Enthusiasmus schnell verebbt, als Kyle endlich mit der Sprache rausgerückt ist.
"Ich freue mich, dass du dich freiwillig gemeldet hast Ivo. Insgeheim habe ich gehofft, dass sich ein neuer, junger Agent findet. Ganz unter uns gesprochen, war ich nicht dafür den Auftrag überhaupt durchzuführen, aber das liegt nicht in meiner Hand", sagte er und musterte mich dabei aufmerksam, als wollte er alle meine Gefühlsregungen genau verstehen. Seit Einstieg in den Geheimdienst habe ich mich nicht so bestätigt gefühlt, wie in diesem Moment. Was auch immer er mir hier unterbreiten würde, konnte nicht wirklich eine schwierige Geschichte sein. Mein innerstes hungerte ja sowieso schon nach einem Abenteuer. "Ich will es kurz machen. Du musst in die Vergangenheit reisen und dort die Entstehung von ANAKONDA verhindern", sagte er trocken und ich fühlte mich wie ein Hund, dem man gerade mit den Worten "Da, nimm!" einen riesigen Brocken hingeworfen hatte. Nicht einen Moment ließ er mich aus den Augen, während er sprach und ich versuchte, so gut es ging seinem Blick Stand zu halten. Genau das war der Moment an dem ich das Gefühl hatte meine Kinnlade klappt runter, wie bei einer Comicfigur. Mein Kopf war schlagartig wie leer gefegt.
"Wa..was?", stammelte ich schließlich. Über sein Gesicht huschte ein Grinsen, bevor er antwortete: "Mach dir keine Sorgen, wir werden dich ausgiebig auf diesen Auftrag vorbereiten. Jetzt ist es März und die Ausführung des Auftrags ist für den 15. Juni angesetzt. Also haben wir drei Monate um dich zu trainieren." Er lächelte mich an, doch das Lächeln wirkte nicht nur aufmunternd, es schien fast schon hämisch. Kurz dachte ich darüber nach, den Auftrag abzublasen und einfach zu den Anderen zurückzugehen. Aber dann wäre ich gescheitert und das schon bei dem ersten Auftrag der, wenn man es genau betrachtet, vermutlich einer der Größten sein wird, den ich in meiner Karriere jemals machen werde. Und trotzdem kroch die Unsicherheit unaufhaltsam durch meinen Körper. Ich schüttele die Gedanken ab und schaue auf das Blatt in meinen Händen. Das Zittern hat nachgelassen und Kyle mustert mich über seine Brille hinweg. Er hat gegenüber auf dem Lehnsessel Platz genommen.
"Wann geht es denn genau los?", frage ich mit ruhiger Stimme. Die Unsicherheit ist auch nach dem Training, noch immer ein Teil dieses Auftrages. Es ist die Zeitreise die mir weiterhin Sorgen macht. Wenn auch mittlerweile ausgiebig erforscht, würde so etwas doch wohl jeden nervös machen, oder? "In einer halben Stunde wirst du abgeholt und musst dann auf die untere Ebene. Dort wartet dein Trainer auf dich. Ich bin überzeugt, dass du es schaffen wirst. Schau nur, was aus dir geworden ist", antwortet er freundlich und weist träge mit der Hand auf meinen Körper. Natürlich hat er Recht. Als ich vor drei Monaten das Training begonnen habe, sah ich aus wie er, groß und schlank, eher wie ein Büroangestellter. Jetzt habe ich richtig definierte Muskeln und wesentlich mehr Kraft. Vielleicht hat auch der kleine Wachstumsschub dazu beigetragen.
"Ja, ich denke, ich bin bereit", sage ich laut und spare mir das "zumindest körperlich". Er muss nicht alles wissen. Die halbe Stunde ist fast um, als ich mich von Kyle verabschiede und das Büro verlasse. Draußen lehne ich mich an die Wand aus massivem Stein und versuche mit ruhigen Atemzügen mein Puls zu regulieren. An die drückende Atmosphäre in unserem Hauptquartier werde ich mich wahrscheinlich niemals gewöhnen. Wirklich alles hier befindet sich unter der Erde in Tunneln, die während des dritten Weltkrieges gegraben wurden. Ich bewundere immer noch den Wagemut der Europäischen Regierung und das sie dachten Angriffe über dieses Untergrundsystem wären eine gute Alternative. Immerhin konnten sie ein paar Treffer landen, bevor der Krieg zu Ende war.
Das dumpfe Geräusch von Schritten reißt mich aus meinen Gedanken. Als die Kollegen aus der Wachabteilung mit ihren sauberen Anzügen, den Sonnenbrillen und zurückgegelten Haaren mich erreicht haben, mustern sie mich kurz. Ich nicke resigniert, bevor ich mich von der Steinwand löse und hinter ihnen einreihe. Diese Typen betreuen nur die wichtigsten Aufträge innerhalb der Regierungsgebäuden. Alles was mit der internationalen Sicherheit zu tun hat. Wir machen uns meistens über sie lustig, weil sie sich nie selbst die Hände schmutzig machen, "Sie sorgen für ein makelloses Erscheinungsbild des Geheimdienstes, für die Bevölkerung." Hat Kyle in einer der Unterrichtsstunden erzählt und dabei die Augen verdreht. Wie im Gänsemarsch laufen wir durch die Flure, Treppen hinunter und enge Gänge entlang. Je weiter wir in den unteren Bereich vordringen, desto schwerer fällt mir das Atmen. Der Druck, der sich hier auf meine Ohren legt hinterlässt ein stetiges Echo meiner schweren Atemzüge in meinem Kopf. Schließlich bleiben meine Begleiter vor der Tür zum Trainingsraum stehen und bilden eine kleine Gasse.
Ich gehe an ihnen vorbei und betrete den Raum ohne anzuklopfen. Mit einem Plopp löst sich der Druck und ich atme erleichtert ein. Dieser Raum ist der einzige hier unten, dem künstlich Sauerstoff zugeführt und in dem der Druck ausgeglichen wird. "Willkommen zurück am besten Ort zweihundertfünfzig Meter unter der Erdoberfläche!", begrüßt Ryan mich freundlich. Ich muss schmunzeln, da er genau damit geworben hat, als wir uns das erste Mal begegnet sind. "Hi, schön dich zu sehen", antworte ich und klopfe ihm auf die Schulter. "Bist du bereit?", fragt er so leise, dass nur ich ihn hören kann. "Ehrlich gesagt hab ich einen riesen Respekt vor dieser Zeitreise und würde am liebsten alles abblasen und mich irgendwo verstecken. Außerdem bin ich sicher, dass unser ganzes Training völlig umsonst war, denn mal im Ernst, ich kann bei diesem ganzen Mist nur drauf gehen", stammelt die unsichere Stimme in meinem Hinterkopf. "Ja klar, lass uns beginnen", antworte ich stattdessen laut und ringe mir ein Lächeln ab. Kneifen ist keine Option! Er lächelt zurück und schiebt mich sanft vor sich her in die Mitte des Raumes.
Der Platz, auf dem eigentlich die Matte zum Ringen liegt, wird jetzt von zehn dicken Eisenstäben eingenommen, die kreisförmig angeordnet sind und mindestens ein Meter in die Höhe ragen. Sie alle werden durch ein Kabel verbunden, dass am hinteren Ende des Raumes in einen Glaskasten führt. Drei Männer in weißen Kitteln stehen dort und drücken irgendwelche Knöpfe, während sie immer wieder den Trainingsraum mustern. "Eigentlich haben wir alles besprochen. Du musst in der Mitte des Kreises stehen und so gut wie möglich still halten. Du landest dann an genau dieser Stelle, nur eben fünfzehn Jahre zuvor. Hast du noch eine Frage?" Ryan klingt ruhig. Mir gehen zu viele Fragen durch den Kopf. Was ist, wenn mir niemand glaubt? Was, wenn ich dort sterbe? Aber keine davon möchte ich ihm jetzt stellen.
Er würde mich sowieso nur daran erinnern, dass wir alles schon hundertmal besprochen haben. Ich schüttele schließlich den Kopf. "Gut. Hier in dem Koffer sind die technischen Geräte, die du brauchen wirst, um zurück zu kommen. Aber erst, wenn der Auftrag erledigt ist. Viel Glück", sagt er mit Nachdruck und reicht mir einen schwarzen Koffer.
"Danke für alles", antworte ich und Ryan umarmt mich überraschend, bevor er sich zu den Männern in den Glaskasten begibt. Nach einem tiefen Atemzug setze ich mich in Bewegung. Genau in der Mitte der Eisenstangen ist ein rotes Kreuz auf den Boden geklebt. Ich stelle mich darauf und schließe die Augen. Um mich herum erwacht die Apparatur surrend zum Leben. "Es wird alles gut", wiederhole ich mein Mantra im Kopf und versuche ruhig zu bleiben. Das Surren wird zu einem scheußlichen Pfeifton. Ich kämpfe gegen den Reflex an, mir die Hände auf die Ohren zu drücken. Dahin sind meine Ruhe und mein Mantra. Je schmerzhafter das Pfeifen wird, desto mehr kriecht die Angst durch meinen Körper. Sie breitet sich aus wie eine warme Flüssigkeit, von meinen Füßen bis hinauf in mein Gesicht. Plötzlich wird es eiskalt. Es nimmt mir die Luft und fühlt sich an, als würde ich gefrieren. Dann spüre ich tausend kleine Nadelstiche auf meiner Haut. Der Schmerz wird unerträglich und ich kann einen Schrei nicht unterdrücken. Dann ist alles weg, der Schmerz, meine Stimme, das Surren... einfach alles. Ein kräftiger Ruck wirft mich vornüber und ich reiße die Augen auf. Meine Hände treffen auf eine weiche Unterlage. Ich versuche, meinen Atem zu beruhigen und stütze mich schließlich hoch. Um mich herum erkenne ich den Trainingsraum, ich stehe auf einer Matte in der Mitte. Ansonsten ist der Raum leer und nur schwach beleuchtet. Über der Tür hängt die Zeitanzeige. 15.06.2215 09:06 Uhr steht dort in leuchtendem Grün.
"Es hat wirklich funktioniert, ich bin in der Vergangenheit", stammele ich vor mich hin und fange hysterisch an zu kichern. "Es hat geklappt und ich lebe noch!", schreie ich lauter und hüpfe dabei auf und ab. Ich muss aussehen wie ein Verrückter, schießt es mir durch den Kopf und ich reiße mich zusammen. Ich packe mir den Koffer und mache mich dann gezielt auf den Weg zur Tür. Erstmal hier raus orientieren, mögliche Ziele erfassen und einen Unterschlupf organisieren. Meine Gedanken sind im Agentenmodus, es wird Zeit den Auftrag auszuführen. Ohne noch einmal zurück zu schauen, verlasse ich den Trainingsraum.
15.06.2215 n. Chr.
Eine schrille, viel zu aufgekratzte Stimme weckt mich. Es ist eigentlich Zeit aufzustehen, aber ich habe überhaupt keine Lust. Meine zwei Wochen Freiheit sind zu schnell vergangen. Ich drehe mich auf die andere Seite und drücke mir mein Kissen aufs Ohr. Diese furchtbare Radiostimme! „Guten Morgen, heute ist der 15. Juni 2215, es ist 10:00 Uhr und wir wünschen Ihnen einen schönen Tag“, sagt sie quietschend und wird durch ein schnulziges Liebeslied abgelöst. Seufzend strecke ich mich noch einmal auf meinem Bett aus und starre an die Decke. Gerade mal zwei Tage ist mein sechzehnter Geburtstag her, aber heute muss ich mich für den Beruf entscheiden, den ich den Rest meines Lebens ausüben möchte. Schon seit Jahren predigt mir meine Mutter immer wieder, dass ich mich vorbereiten soll mir überlegen soll, was ich machen möchte, um der wunderbaren Regierung einen Dienst zu erweisen. „Eine Regierung, die uns nährt und den Frieden auf der Welt erhält.“ Dieser Satz meiner Mutter hat sich eingebrannt. Ich weiß was ich tun will. Die Frage ist nur, ob sie mich auch lassen. Ich vermisse Logan, seit er vor zwei Jahren Norwick, dem Geheimdienst der Regierung, beigetreten ist. Die Regel für alle talentierten männlichen Wesen: sie müssen für immer verschwinden! Ich verdrehe die Augen bei dem Gedanken daran. Obwohl ich genau weiß, dass da meine Eifersucht mitspielt, ich würde gerne dazugehören.
„Mädchen können nicht in den Geheimdienst. Das ist so nicht vorgesehen!“, rügt mein Vater mich jedes Mal, wenn ich laut darüber nachdenke. Ich setze mich auf die Bettkante und versuche meine Argumente im Kopf vorzuordnen.
Natürlich werden sie es mir nicht erlauben, aber ich will es wenigstens versuchen. Heute spreche ich vor dem Kabinett, bestehend aus fünf superwichtigen und superreichen Regierungsmitarbeitern. Sie entscheiden, wer welche Arbeit bekommt, um dem Volk und der Regierung zu dienen. Meistens bekommt man seinen Wunsch erfüllt und nahezu jeder Beruf bietet die gleichen Annehmlichkeiten. Alles wird gleich gehalten, damit sich niemand aus der Masse abhebt. Natürlich abgesehen vom Geheimdienst, allerdings ist darüber so gut wie nichts bekannt.
„Jeder braucht eine Aufgabe im Leben, Lynn. Diese Aufgabe sorgt dafür, dass du deinen Platz in der Gesellschaft findest.“ Ich schüttele meinen Kopf, um die Stimme meiner Mutter endlich zu vertreiben. Langsam trotte ich ins Bad. „Licht an.“ Sofort erwacht die Neonlampe an der Decke zum Leben. Sie taucht das kleine Badezimmer in ein blasses Gelb. Als ich kleiner war, hatte ich immer riesige Angst vor den Schatten und den Monstern, die hinter ihnen lauerten. Jetzt muss ich dadrüber nur noch schmunzeln. Ich streife mein Lieblingspyjama ab und stell mich unter die Dusche. „Wasser 26 Grad“, sage ich laut und schon ergießt sich wohl temperiertes, klares Wasser über meinen Körper. Mich fasziniert diese Sprachsteuerung schon seitdem ich denken kann. Man kann ziemlich viel Unfug damit betreiben, wenn ein Haus komplett sprachgesteuert ist. Logan und ich haben früher zusammen die Wassertemperatur verändert, wenn unser Vater unter der Dusche stand oder die Küchengeräte gesteuert, um meine Mutter zu ärgern. Die Erinnerung an früher schmerzt. Die Regel, ihn gar nicht sehen zu können, macht mich irgendwann noch verrückt. „Ich kann auch verzichten und hier bleiben“, bot er damals an, als er meine Tränen gesehen hat. „Nein, du musst gehen“, habe ich geantwortet und mich bemüht, nicht mehr zu weinen. Es war immer sein Traum, das konnte ich ihm nicht weg nehmen.
Also wischte ich mir die Tränen weg, umarmte ihn nochmal ganz fest und ließ ihn gehen.
„Wasser aus“, sage ich laut, als der letzte Rest Schaum weggespült ist. Mit einer fließenden Bewegung schlinge ich ein Handtuch um meinen Körper und fasse meine nassen blonden Strähnen zu einem Pferdeschwanz zusammen. „Radio an“, murmele ich, kurz nachdem ich die Zahnbürste in meinen Mund gesteckt habe. Ich wippe im Takt der Musik hin und her. Im Nu bin ich im Badezimmer fertig und schlüpfe in die Klamotten, die meine Mutter mir für den Anlass rausgesucht hat. Die hellgrüne Bluse hat sie mir zum Geburtstag geschenkt, mit einem stolzen Lächeln und der Aussage: „Deine Augen haben dieselbe Farbe.“ Schnell schlüpfe ich in die dazu passende, schwarze Hose. „Lynn, bist du fertig?“, ruft meine Mutter gedämpft durch die Zimmertür. „Komm rein!“ Langsam drehe ich mich im Kreis: „Na, was denkst du?“
„Du siehst wunderbar aus. So erwachsen“, antwortet sie leise und strahlt mich an. Ich merke, wie ich rot werde. Komplimente entgegen zu nehmen war noch nie einfach für mich. „Wollen wir uns noch um deine Haare kümmern?“, fragt meine Mutter und ich nicke.
Sie zieht den Stuhl an meinem Schreibtisch zurück. Nachdem ich mich darauf gesetzt habe, greift sie nach meiner Bürste und beginnt, meine Haare zu frisieren. In Gedanken gehe ich erneut den Plan für heute durch. Ganz oben auf der Liste steht, das Kabinett zu überzeugen, mich in den Geheimdienst zu lassen. Falls das nicht funktioniert, muss ich davon ausgehen, dass ich mit meinen Eltern in den Gewächshäusern arbeiten werde. Das wäre zwar nicht das Schlimmste, aber toll wäre es auch nicht. Ich muss sie einfach überzeugen.
„Ok, fertig“, sagt meine Mutter schließlich und hält einen Spiegel hoch, damit ich ihr Werk bewundern kann. Sie hat meine Haare in zwei französisch geflochtene Zöpfe zusammengefasst, die jetzt auf meinen Schlüsselbeinen aufliegen. Die Frisur lässt mich erwachsener wirken und irgendwie Taff, fast schon wie eine Kriegerin aus den alten Büchern. Vielleicht genau das richtige Aussehen für den Kampf, der vor mir liegt. „Es sieht wirklich gut aus, Danke“, sage ich strahlend und meine Mutter lächelt übers ganze Gesicht. „Ich sehe dich dann unten.“ Sie verlässt das Zimmer. Jetzt werde ich noch nervöser. Wenn ich diesen Raum verlassen habe, meinen sicheren Hafen, muss ich mich mit der Realität auseinandersetzen. Zum ersten Mal, ganz alleine und unwiederbringlich. Diese Erkenntnis trifft mich hart. Ich denke kurz darüber nach zurück in mein Bett zu kriechen und mich tot zu stellen. Nein, ich schaffe das! Ein letzter Blick schweift durch mein Zimmer und ich atme tief durch. Zögernd gehe ich durch den Flur und die Treppe hinunter. „Dann kann es ja los gehen“, freut sich mein Vater, als ich unten ankomme. Er war noch nie der Mensch für große Gefühlsbekundungen und insgeheim bin ich wirklich froh darüber. Er hält uns die Tür auf und wir verlassen das Haus. Meine Eltern haben heute den halben Tag frei, was wirklich untypisch ist. „Zu solch besonderen Anlässen sind die Familienangehörigen immer von ihren Pflichten entbunden“, erklärte meine Mutter mir bereits vor zwei Jahren, als Logan zu seinem Gespräch musste. Damals hatte ich einen Tag schulfrei, was mich nicht wirklich gestört hat.
Meine Mutter und ich steigen in das Taxi, das vor unserem Haus wartet. Mein Vater nimmt auf dem Beifahrersitz Platz und erklärt, wo wir hin wollen. Leise und sanft gleitet das Auto durch die Luft. Immer, wenn ich in einem dieser Dinger sitze, muss ich an meine Großmutter denken.
Sie erzählte mir oft von früher, von der Welt vor dem Krieg und der Zusammenführung der Kontinente. Scheinbar gab es damals noch Autos, die auf der Erde gefahren sind und sich in langen Schlangen durch die Landschaften und Städte drängten. Das muss wirklich anstrengend gewesen sein. „Das ist heute mit den fliegenden Dingern schon viel angenehmer“, sagte sie oft. Ich kann mich noch an ihr freudiges Gesicht erinnern, wenn dann doch mal eines der älteren Modelle an uns vorbei gefahren ist. Es gibt sie noch, die fahrenden Schrottlauben, nur eben ganz selten. Doch das Meiste aus der Zeit vor dem Krieg, ist von der Erdoberfläche verschwunden. Manchmal wirkte meine Großmutter so, als würde sie die vergangene Zeit vermissen. Vor sechs Jahren ist sie gestorben. Seitdem habe ich viele Geschichtsbücher gelesen, um mehr über die alte Welt zu erfahren. Letztendlich steht für mich fest, dass jede Zeit ihre Vor- und Nachteile hat.
Während ich an die alten Straßen voller Autoschlangen denke, zieht die wirkliche Welt an meinem Fenster vorbei. Unendlich viele Häuser reihen sich dicht an dicht und alle sehen gleich aus. „Zweckdienlich, nicht individuell! Das ist wichtig“, wiederholte Logan einmal einen Slogan der Regierung und verzog dabei das Gesicht. Damals hatte ich nicht verstanden, was er meinte. Doch jetzt kann ich es auch sehen. Alles ist gleich, von den Fassaden bis hin zum Baum auf der kleinen Rasenfläche vor dem Haus. Es scheint aber auch niemanden zu interessieren, sonst wäre es sicher schon geändert worden. Bald werden die tristen Häuser von den großen Gewächshäusern abgelöst. Die gläsernen Fassaden glitzern im Sonnenlicht und lassen überall bunte Muster tanzen. Jedes ist mindestens zehn Meter hoch und beherbergt alle Pflanzen-, Gemüse- und Obstsorten, die man überhaupt anbauen kann. Ich bin praktisch hier aufgewachsen und kenne jeden der Klimabereiche in- und auswendig.
Am meisten gefällt mir der Tropische Bereich, dort riecht es immer wunderbar nach Früchten und es gibt die schönsten Blumen. Außerdem kann man sich in dem Dschungel toll verstecken.
„Lynn, geht es dir gut?“ Meine Mutter reißt mich aus meinen Gedanken und legt sanft eine Hand auf meine Schulter. Ich drehe mich zu ihr um und lächele. Es fühlt sich zwar mehr an wie eine Fratze, aber es scheint zu funktioniere. „Ja, es ist alles in Ordnung.“ Ich greife nach ihrer Hand und drücke sie fest.
„Ich vermisse ihn auch, jeden Tag. Genauso, wie ich dich vermissen werde, falls du uns verlassen solltest.“
Sie schaut mich aufrichtig an und versucht nicht, ihren Schmerz und ihre Sorge zu verstecken. Manchmal finde ich es faszinierend, wie genau eine Mutter auf ihre Kinder achtet. Ohne, dass ich etwas sagen muss, scheint sie genau zu wissen, was mich bewegt. Ich drücke erneut ihre Hand, dann wende ich mich wieder dem Fenster zu. Mittlerweile sind wir in der Stadt angekommen und die großen Sandsteingebäude, in denen die Schule und die Ausbildungszentren untergebracht sind, ragen über uns auf. Es gibt so gut wie keine Fenster. Nur ein paar rote Akzente, die die beigen Mauern unterbrechen. Auch von Innen hat meine Schule immer wie ein Gefängnis gewirkt. In den letzten zehn Jahren, die ich dort verbringen durfte, habe ich das Sonnenlicht wirklich zu schätzen gelernt.
Nach ein paar weiteren Minuten bleibt das Taxi stehen und mein Vater reicht dem Fahrer seine Geldkarte. „Wir müssen raus, Lynn“ Meine Mutter stupst mir gegen die Schulter. Auf dem Platz vor dem Regierungsgebäude herrscht ein wildes Getümmel.
Ich lege den Kopf in den Nacken, um das Ausmaß des Gebäudes ganz in mich aufzunehmen. Es ist riesig und im Gegensatz zu den Schulgebäuden ganz aus weißem Marmor errichtet. In die vordere Fassade sind vier rote Säulen eingelassen. Es ist auf einschüchternde Art und Weise, ein wirklich schönes Gebäude. „Lasst uns gehen“, fordert mein Vater uns auf, als er endlich zu uns aufgeschlossen hat. Wir fassen uns an den Händen und schlängeln uns durch die Menschenmenge. Ich stoße mit zahlreichen Leuten zusammen und murmele immer wieder eine kurze Entschuldigung, doch die meisten nehmen keine Notiz von mir. Das Ziel, das sie vor Augen haben, scheint wichtiger als alles andere. Wir erreichen schließlich die Tür und ich erhasche einen kurzen Blick auf die goldenen Ornamente, die in den Türrahmen eingelassen sind. Sie sind die Symbole der ehemaligen Kontinente. Leider kenne ich sie nicht alle, nur den Adler für Nordamerika und den Stern für Europa. Ich hätte zu gerne genauer hingesehen, doch die Menschenmenge drückt uns weiter ins Innere des Gebäudes.
Drinnen ist es warm und trotz der vielen Menschen, die hier ihren Arbeiten nachgehen, ist nur ein leises Gemurmel zu hören. Ich halte einen Moment inne und schnuppere gespannt.
In der Schule haben sie uns erklärt, dass man in diesem Gebäude immer genau das riecht, was man am liebsten mag. Sie reichern dafür den Sauerstoff mit einer Chemikalie an, die das Geruchszentrum im Gehirn anspricht und dann für dieses besondere Erlebnis sorgt. Logan erzählte mir, dass sie sowas nur machen, um die Leute bei Laune zu halten, die den ganzen Tag hier arbeiten müssen. Ich frage mich, warum sie das nicht in den Schulen machen. Dann wäre ich sicher lieber dorthin gegangen.
Doch egal warum sie es machen, für mich riecht es nach meinen Lieblingsblumen und nach den Keksen, die meine Großmutter früher mit uns gebacken hat. Mein Vater steuert gerade auf einen der weißen Marmortresen zu, hinter dem ein Mann, ebenfalls ganz in Weiß, steht. Nur durch seine schwarzen Haare und seinen dunkleren Teint kann man ihn von der Umgebung unterscheiden.
Ich lasse meinen Blick durch die pompöse Eingangshalle schweifen. Wirklich alles hier ist weiß, die Wände, der Boden, sogar jedes Möbelstück. Alle Angestellten des Gebäudes sind in Weiß gekleidet, nur die Regierungsmitarbeiter tragen schwarze Anzüge. Mitten in der Halle befindet sich das 3D Modell der Vereinten Welt. Es wurde aus einem Stück Granit gemeisselt und man kann darauf jeden Menschen als kleinen Lichtpunkt finden. Natürlich weiß man nicht, welcher Lichtpunkt welche Person ist, aber es ist schon spannend zu erkennen, wo sich die meisten Menschen befinden. Vor der Vereinten Welt gab es ganz viele unabhängige Länder. Doch nachdem der Asteroid die Umlaufbahn der Erde gestreift und zahlreiche Erdbeben die Kontinente verschoben hatten, wusste niemand, wo er hin gehörte. Alles hatte sich verändert. Das muss wirklich verrückt sein, wenn plötzlich alles anders ist, als man es kennt. Kein Wunder also, dass auf die Erdbeben Panik folgte und auf die Panik der Krieg. Erst nach zwanzig Jahren Kampf und Verlust auf allen Seiten kam man endlich zu dem Entschluss, sich zusammen zu tun. Aus jedem der ehemaligen Kontinenten wurde ein Mitglied auserwählt, um in der Regierung der Vereinten Welt Platz zu nehmen. Wie es vorher gewesen ist, geriet schnell in Vergessenheit. Das ist die einzige Welt, die ich kenne. Versonnen starre ich das Modell an, welches den größten Teil der Halle einnimmt. Etwas weiter hinten kann ich mehrere Aufzüge erkennen, die in verschiedene Etagen führen. Langsam schlendere ich zu meinem Vater hinüber.
„Was ist der Zweck ihres Besuches?“, krächzt der Mann hinter dem Tresen mir entgegen und meine Mutter stößt mir unsanft den Ellenbogen in die Seite.
„I.. Ich muss zu meinem Berufswahl-Gespräch“, murmele ich zurück und reibe mir dabei die Stelle, die meine Mutter erwischt hat. „Fünfzehnter Stock, Zimmer 1562. Die Aufzüge sind im hinteren Teil der Halle“, erklärt der Mann und sein lächelt wirkt dabei mechanisch. Wie ein eingeübter Ablauf den er mehrmals täglich wiederholt. „Hier müssen wir uns verabschieden. Wir warten vor der Tür auf dich, bis du fertig bist.“ Meine Mutter zieht mich in eine feste Umarmung. „Viel Glück Lynn, Ich hab dich lieb.“ Sie löst sich von mir und geht einen Schritt zurück. „Du schaffst das schon.“ Mein Vater klopft mir auf die Schulter. Er nimmt meine Mutter in den Arm und schiebt sie sanft in Richtung Ausgang. Ich schaue ihnen noch einen Moment nach, bis die Menschenmenge sie endgültig verschluckt hat. Plötzlich fühle ich mich ganz verlassen. Aber das Gespräch ist wichtiger als meine Gefühle. Ich bahne mir einen Weg durch die Menschen und es dauert nicht lange, bis ich vor den Aufzügen stehe. Ein lautes Ping kündigt das Ankommen der Kabine an und ich mache mich bereit einzusteigen, sobald die Türen aufspringen. Als sie sich öffnen gehe ich ein paar Schritte vorwärts, doch plötzlich stoppt mich ein ausgestreckter Arm auf Höhe meines Bauches. Ich folge dem Arm mit meinem Blick und treffe auf ein Paar blaue Augen, die mich aufmerksam mustern. Die Augen gehören zu einem markanten Gesicht, umrahmt von dunklen Haaren. Ich muss gestehen, dass er wirklich gut aussieht, doch das entschuldigt nicht, dass er mich aufhält.
„Was soll das?“, frage ich ziemlich genervt. „Du musst erst mal die Leute aussteigen lassen. Ansonsten wirst du nur über den Haufen gerannt. Eigentlich habe ich dir dein Leben gerettet. Also gern geschehen!“
Der Typ betritt vor mir den Aufzug. Ich öffne den Mund um etwas zu erwidern, finde aber auf die Schnelle keine schlagfertige Antwort, die auf diese Frechheit passen würde. Also betrete ich einfach den Aufzug. Ich versuche, so weit wie möglich von dem Kerl entfernt zu stehen, was sich als äußerst schwierig erweist, da die Kabine sehr eng und voller Menschen ist. Der Aufzug beginnt sich zu bewegen. In jedem Stockwerk steigen Leute aus und irgendwann bin ich alleine mit dem Kerl mit den blauen Augen. Kurz denke ich darüber nach, auch auszusteigen und den nächsten Aufzug zu nehmen, aber es wäre wirklich lächerlich, sowas zu tun, nur wegen einem Typ. Ich versuche ihn nicht anzugucken, obwohl ich seinen Blick auf mir spüre.
Er scheint keinerlei Anstand zu besitzen, wenn er fremde Menschen einfach so anstarrt! Haben seine Eltern ihm denn gar nichts beigebracht? Langsam wird es mir doch zu dumm und ich hebe den Blick, doch genau in dem Moment, in dem ich ihn anschaue, sieht er weg. Obwohl ich eigentlich direkt wieder wegschauen möchte, macht mein Körper seinen eigenen Plan. Selbstständig beginnen meine Augen seine Gesichtszüge zu mustern, sein markantes Kinn, die schwarzen Haare, die zwar wuschelig aber nicht ungepflegt aussehen. Bevor sie langsam an seinem Körper hinuntergleiten. An breiten Schultern und muskulösen Armen vorbei, bis hin zu den definierten Brustmuskeln und dem flachen Bauch die sich ganz klar unter dem viel zu engen T-Shirt abzeichnen. „Gefällt dir was du siehst?“ Sofort wende ich den Blick starr nach vorne und spüre die Hitze auf meinem Gesicht. Wann sind wir endlich im fünfzehnten Stock? So unauffällig wie möglich rücke ich näher an die Wand, um etwas mehr Platz zwischen uns zu bringen, doch der Aufzug wird irgendwie immer kleiner.
„Du bist wirklich hübsch.“ Seine Stimme kommt erneut aus dem Nichts. Mit entsetztem Blick drehe ich ihm den Kopf zu. „Ja klar, hast du mal in den Spiegel geschaut?“ Mist! Was sollte das denn gerade? Ich starre auf meine Füße und merke, wie meine Wangen erneut ganz heiß werden. „Danke für das Kompliment... Berufswahl, oder?“, fragt er nach einem kurzen Moment und ich bin ihm dankbar, dass er nicht auf meiner Aussage rumreitet. „Ja, ist das so offensichtlich?“ Auf seinem Gesicht liegt ein kleines Schmunzeln als ich ihn direkt anschaue und in meinem Körper beginnt es zu kribbeln. Ich kann mich nicht erinnern, jemals so etwas gefühlt zu haben. Tausend kleine Käfer krabbeln in meinem Magen, aber auf eine wundervoll, angenehme Art und Weise. „Naja, du scheinst noch nicht oft hier gewesen zu sein und du siehst so aus, als hättest du etwas Wichtiges vor. Außerdem willst du in den fünfzehnten Stock. Da oben gibt es nur die Berufswahl-Büros, soweit ich weiß.“ Er zuckt mit den Achseln und streift sich dann mit der rechten Hand durch die Haare. „Arbeitest du hier?“ Kurz erscheint in seinen Augen ein erschrockener Ausdruck, bevor er wieder lächelt. „Nein, nicht wirklich. Ich besuche hier jemanden.“ Er weicht meinem Blick aus und ich werde das Gefühl nicht los, dass er mich gerade belogen hat. Er ist auf jeden Fall älter als ich und müsste auf seiner Arbeitsstelle sein. Niemand bekommt einfach so frei. Zumindest habe ich so etwas noch nie gehört.
Natürlich ist er nicht verpflichtet, mir die Wahrheit zu erzählen, aber diese offensichtliche Lüge sitzt jetzt wie ein Stachel in meinem Hinterkopf und lässt mich vorsichtig werden. Kurz darauf durchbricht das erneute Ping des Aufzuges meine Gedanken und ich schiele auf die Ziffern oberhalb der Tür. Der fünfzehnte Stock wird angezeigt und ich bin erleichtert. Egal, was dieses Kribbeln in meinem Inneren ausgelöst hat, jetzt ist es weg und ich möchte etwas Abstand zwischen uns beide bringen.
„Hier muss ich raus, bis dann.“ Ich verlasse die Kabine, ohne mich nochmal umzudrehen. „Ciao Lynn, bis bald.“ Ich bleibe wie angewurzelt stehen. Woher kennt er meinen Namen? Ich habe ihm nicht gesagt, wie ich heiße! Mein Gesicht beginnt wieder zu glühen und Unsicherheit breitet sich rasend schnell in meinem Körper aus. Jetzt drehe ich mich doch noch einmal zu ihm um. Unsere Blicke treffen sich und er grinst spitzbübisch. Bevor ich fragen kann, woher er meinen Namen kennt, schließen sich die Aufzugtüren. Erst, als ich mein eigenes Spiegelbild auf der silbernen Tür erkenne, wende ich mich ab. Was habe ich da gerade verpasst? Warum kennt ein wildfremder Typ meinen Namen? Ich bin absolut sicher, dass ich ihn nie zuvor gesehen habe. Ich atme tief durch und sammele meine Gedanken. Ich darf mich jetzt nicht ablenken lassen, ich muss mich auf mein Vorhaben konzentrieren. Wahrscheinlich sehe ich ihn sowieso nie wieder, ein Gedanke der für einen kurzen Moment mehr wehtut als ich dachte. Langsam laufe ich den Flur entlang und lese die kleinen Schilder an den Türen. „1550, 1552, 1554“, murmele ich leise vor mich hin und stehe schließlich vor der Tür mit der Nummer 1562. Es kostet mich all meine Kraft, die Hand zu heben um anzuklopfen. Ich kann meinen Herzschlag in meiner Kehle spüren und versuche, mich ein wenig zu beruhigen. „Sie werden mich anhören und vielleicht klappt es ja auch“, flüstere ich mir selbst zu. Mit festem Blick trete ich einen Schritt vor und klopfe gegen die Tür. Das Geräusch verhallt und von Innen folgt ein dumpfes „Herein“. Meine Finger legen sich um den Knauf und ich drehe daran, bis das klicken des Türstifts zu hören ist. Langsam trete ich ein. Wer oder Was mich hier auch immer erwartet, das ist meine einzige Chance, mein Schicksal in die Hand zu nehmen, es zu verändern. Um nichts in der Welt will ich diese Gelegenheit verpassen.
Die Welt hat sich in den letzten fünfzehn Jahren doch mehr verändert als vermutet. Selbst die alten Pläne in den Archiven scheinen unvollständig zu sein. Mehrmals führten Gänge in Sackgassen oder waren einfach nicht vorhanden (eine Verbesserung der Aufzeichnungen ist hier von Nöten). Nachdem ich mich mehrfach verlaufen hatte, wurde ich von einem jungen Agenten aufgegriffen. Er wirkte zwar skeptisch, führte mich dann aber ohne Widerworte zum Obersten Leiter. (Unbedingt Kontrollen der Sicherheit verschärfen!!!) Das Gespräch mit Rupert verlief außergewöhnlich gut. Zunächst war er etwas verwirrt, aber dann hat er mir freie Hand bei dem Auftrag zugesichert. Allerdings will er täglich einen Bericht. Nach dem Gespräch sollte ich Rupert dann ins Regierungsgebäude begleiten. Heute sind dort die Berufseingliederungen (ätzend). Wir waren zum Mittagessen verabredet, zwischendurch musste ich frische Luft schnappen. Als ich am Empfang vorbei kam, wurde ich hellhörig, weil ein Name fiel, der in den Aufzeichnungen vermerkt ist. Das könnte eine erste Spur zu der Organisation sein. Ich bleibe dran!
Der Raum ist nur schwach beleuchtet und meine Augen brauchen einen Moment, um sich daran zu gewöhnen. Hinter mir fällt die Tür lautstark zu. Zeitgleich gehen mehrere Deckenlampen an und erleuchten den Raum mit grellem Licht. Ich blinzele hektisch. Die Wände und Decken, ja sogar der Boden sind in einem schmutzigen Grauton gehalten. Einen absoluten Kontrast dazu bilden die vier Menschen hinter einem langen, ebenfalls grauen Tisch. Zwei Frauen und zwei Männer. Die Blusen der Frauen erstrahlen in einem hellen Blau und die Hemden der Männer sind gelb. „Hallo, wer bist du?“, trällert die Frau auf der linken Seite und ich gehe näher heran. „Mein Name ist Lynn."
„Und deine Nummer?“, fragt sie daraufhin mit genervtem Unterton. Ihre Freundlichkeit ist unvermittelt verschwunden und ihre Augen mustern mich kalt. „Ähm... Nummer: 21567389/16“, lese ich laut vor. Ich kann mir diese blöde Nummer nie merken, obwohl ich sie schon seit meiner Geburt trage. Zum Glück habe ich sie mir heute Morgen auf die Handfläche geschrieben. „Nimm Platz“, bittet einer der Männer und zeigt auf einen silbernen Metallstuhl, der ungefähr in der Mitte des Raumes steht. Der Stuhl quietscht, als ich mich hinsetze, und ich schaue entschuldigend zu den vier Menschen herüber. Irgendwie habe ich mir das hier anders vorgestellt. Meine Hoffnung schwindet mit jeder Sekunde. „Lynn Benary, Tochter von Richard und Katherine Benary, Schwester von Logan Benary. Lebt in den Außenbezirken der Stadt. Eltern sind beide als Gärtner eingeteilt, der Bruder ist im Geheimdienst.“ Während die Frau meine Daten mit geifbarer Gleichgültigkeit vorliest, versuche ich mich abzulenken.
Die Zahl auf meiner Handfläche ist mittlerweile nur noch ein verschmierter, schwarzer Fleck und die Haut darunter fühlt sich wund an und brennt.
„Laut ihrer Lehrer ist sie unheimlich wissbegierig und hinterfragt oft den Lernstoff. Sie scheint jedoch nie wirklich mit den Gedanken bei der Sache zu sein, wenn es um Prüfungen geht, denn da schneidet sie nur durchschnittlich ab.“, beendet die Frau ihre Aufzählung und bedenkt mich mit einem herablassenden Blick. Am liebsten würde ich ihr die Zunge herausstrecken, doch statt dessen befeuchte ich nur meine Oberlippe und wende den Blick von ihr ab.
Ich muss mich unbedingt zusammenreißen, wenn ich hier etwas erreichen will. Der Mann in der Mitte beobachtet mich neugierig. Er scheint mir gegenüber keine Vorurteile zu haben, zumindest wirkt es so. Vielleicht habe ich mit meinem Anliegen bei ihm eine Chance. Die nächsten Sekunden verstreichen, ohne dass jemand spricht. Sie kommen mir vor wie eine Ewigkeit. „Also Lynn, hast du dir Gedanken gemacht über deinen Berufswunsch?“, fragt der zweite Mann freundlich. „Ja, ich hätte da schon eine konkrete Vorstellung“, antworte ich vorsichtig. „Deine Noten sprechen nicht wirklich für eine glänzende Karriere“, säuselt die Frau rechts außen und mustert mich abschätzig. Ich frage mich kurz, ob man als Frau hier einen Kurs belegen muss, mit dem Titel „Wie bin ich am ekligsten zu anderen Menschen“.
„Ich weiß, dass meine Noten nicht die besten sind, allerdings können Sie selbst sehen, dass ich besonders in Sport und Technikwissen sowie in Kampf- und Strategiekunde herausragend gute Noten habe“, sage ich und mache eine kurze Pause, um zu sehen, ob sie mir auch genau zuhören. Die Männer schauen in die Unterlagen und nicken zustimmend.