Die Legenden des Wolkenreiches - Carina Raedlein - E-Book

Die Legenden des Wolkenreiches E-Book

Carina Raedlein

4,7

Beschreibung

Das Wolkenreich wartet Das Leben der 15-jährigen Eva ist nach der Scheidung ihrer Eltern durcheinandergeraten. Da trifft es sich gut, dass sie eines Abends von dem geheimnisvollen Louis in eine Welt mitgenommen wird, die innerhalb der Wolkengrenze liegt. Verrückt, denkt Eva, und fragt sich die ganze Zeit, ob das alles wirklich passiert. Die beiden Teenager aus verschiedenen Welten sind vom ersten Moment an ineinander verliebt. Doch leider geht es im Wolkenreich nicht gerade idyllisch zu. Unversehens ist Eva von brutalen und verschlagenen Gestalten umgeben, die nur ein Ziel haben: den sagenumwobenen Schatz der schwarzen Grotte zu heben. Eva gerät in die Fänge des Bösen, und Louis muss sogleich seine Liebe beweisen, indem er das eigene Leben riskiert. Dies sind weit größere Abenteuer, als Eva es sich gewünscht hat! Denn nicht nur die erste Liebe scheint ein Abenteuer mit ungewissem Ausgang zu sein. Da ist noch mehr, das sich anfühlt, als ginge es um Leben oder Tod!

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Seitenzahl: 297

Veröffentlichungsjahr: 2016

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Für meine wundervoll - chaotische Familie und meine absolut lebensbereichernde zusätzliche Familie

Weißt du, man kann sich seine Familie nicht aussuchen, aber es gibt die Möglichkeit, sich eine zusätzliche Familie zu erschaffen, durch Liebe und Freundschaft. Sie kann die Blutsverwandtschaft nicht ersetzen, aber sie kann dein Leben um einiges verschönern, erleichtern und bereichern.

Eva

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Epilog

Leseprobe

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Prolog

Wir sind schon seit Tagen unterwegs, und die Reise scheint kein Ende zu nehmen. So langsam sehe ich nichts als Wolken, egal wo ich hinschaue. Warum wollte Feuerbart unbedingt diese Schatzkiste finden? Was soll denn in so einer Holztruhe schon versteckt sein? Münzen und Juwelen wahrscheinlich. Davon haben wir doch eigentlich genug. Ich glaube, Feuerbart hat es sich zur Aufgabe gemacht, einfach jeden dieser versteckten Schätze zu finden, der in den Archiven in Piemont beschrieben ist. Oder er versucht, Pietie in den Wahnsinn zu treiben. Der macht immer ein furchtbares Theater, seine Geistergeschichten sind manchmal wirklich anstrengend. „Das birgt eine große Gefahr! Wenn wir diese Goldmünzen nehmen, sind wir alle verflucht! Schon andere sind bei der Suche nach diesem verlorenen Schatz gestorben! Wir werden auch alle sterben!“ Und immer sein erschrockenes Gesicht dazu. Er sieht dann aus wie ein Verrückter, das ist echt zum Totlachen. Es fehlt dann nur noch, dass er schreiend und mit den Armen fuchtelnd über das Deck rennt. Ich muss grinsen bei dem Gedanken an dieses Bild.

Diego und ich genießen gerade die letzten Sonnenstrahlen, bevor die Sonne ganz untergegangen ist. Wir haben hier mitten im Nirgendwo angehalten, um ein paar Sachen richtig zu verstauen und kurz etwas zu essen. Feuerbart legt immer großen Wert darauf, dass wir alle gemeinsam essen. Ich glaube, er will den Zusammenhalt der Mannschaft stärken. Allerdings heißt das auch, dass wir auf unseren Reisen immer mal wieder irgendwo anhalten müssen. So werden aus Reisen, die normalerweise einen Tag dauern sollten, schnell mal zwei oder drei Tage. Das macht es meistens richtig anstrengend. Außerdem kapiere ich nicht so ganz, was er damit erreichen will. Meiner Meinung nach könnte der Zusammenhalt dieser Mannschaft nicht noch enger sein, wir könnten uns nur noch näherkommen, wenn wir eine Liebesbeziehung eingingen. Ich bin froh, dass wir jetzt erst mal auf dem Weg zurück nach Piemont sind. Ich freue mich darauf, Rosa wiederzusehen und endlich mal wieder woanders als im Speisesaal des Schiffes etwas zu essen. Ich meine, ich bin wirklich gerne auf dem Schiff und ich mag Feuerbart und die anderen, aber manchmal ist es schön, etwas ohne sie zu tun.

Ich bin völlig in Gedanken versunken, daher merke ich zu spät, dass Diego nicht mehr auf meiner Schulter sitzt.

Ich sehe mich an Deck um, doch keine Spur von ihm. Ich beuge mich über den Rand und sehe, wie der kleine Kerl gerade in der Dunkelheit verschwindet. Oh nein! Ich schnappe mir ein Seil und schwinge mich über die Reling. Ich lasse mich daran heruntergleiten und tauche ebenfalls in das schwarze Nichts. Ich rutsche immer tiefer, jeden Augenblick müsste ich auf der Erde ankommen. Ich löse meine Hände von dem Seil, als ich mit den Füßen einen weichen Untergrund erreiche. Es schnellt direkt wieder in die Höhe. Das ist eine Sicherheitsvorkehrung, damit niemand der Erdenmenschen auf die Idee kommt, daran hochzuklettern. Zumindest wurde mir das so erzählt. Ich sehe mich in der Gegend um. Die Wiese, auf der ich stehe, ist rundherum von einer großen Hecke eingerahmt. Etwas entfernt befindet sich eine gepflasterte Terrasse, die zu einem Haus führt. Als ich meinen Blick weiter über die Wiese schweifen lasse, entdecke ich ein schlafendes Mädchen. Sie ist wunderschön, ihre langen dunklen Haare sind zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, der neben ihrem Kopf im Gras liegt, und dichte schwarze Wimpern umrahmen ihre großen Augen.

Als ich näher an sie heranschleiche, kann ich sehen, dass ihr Mund leicht geöffnet ist.

Ihre Lippen sind schmal und blutrot.

Ich erwische mich bei dem Gedanken, wie es wäre, sie zu küssen. Lächelnd schüttele ich den Kopf – das wäre wirklich absurd. Ich höre ihr Schnarchen, es ist ganz leise. Irgendwie ist sie echt süß. Ich suche weiter nach Diego, bewege mich aber so leise wie möglich, damit sie nicht aufwacht. Das Letzte, was ich jetzt brauchen kann, ist eine Auseinandersetzung mit einem Erdenmenschen – noch dazu mit einem Mädchen. Zudem wäre es das erste Mal seit fünfzig Jahren, dass jemand aus dem Wolkenreich offiziell mit einem Erdenmenschen zu tun hätte. Zumindest steht es so in den alten Aufzeichnungen, ich glaube nicht wirklich daran. Ich denke auch nicht, dass sie gefährlich sind oder so, gerade das Mädchen hier auf der Wiese wirkt nicht bedrohlich. Sie wäre bestimmt begeistert, wenn sie das Wolkenreich sehen könnte. Die Einzigen, die regelmäßig nach unten gehen, sind ein paar Händler, um Flugrouten zu aktualisieren oder Medikamente zu besorgen, die sie dann zu horrenden Preisen verkaufen. Allerdings sind wir alle darauf angewiesen, also bezahlt auch jeder. Ich selbst war nur einmal auf der Erde.

Dass ich hier nicht hingehöre, hat damals niemand gemerkt.

Ich glaube, die Menschen hier unten sind viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um auf alles und jeden um sie herum zu achten.

Ich habe den ganzen Garten abgesucht, als mein Blick auf die Tür fällt, die ins Haus führt. Sie steht offen, also ist Diego vielleicht da drin. Ich bin einen Moment unachtsam und trete auf einen Ast, der geräuschvoll unter meinem Gewicht zerbricht. Das Mädchen schreckt sofort hoch, und ich gehe instinktiv ein paar Schritte rückwärts, um mich im Gebüsch zu verstecken. Ich nehme mir fest vor, Diego den Hals umzudrehen, wenn ich ihn in die Finger kriege.

1

G ing es euch auch schon mal so, dass ihr in den Himmel geschaut habt und dachtet: Irgendwas stimmt da nicht? Irgendwie ist es anders als sonst? Seit einiger Zeit geht es mir so. Ich habe das ständige Gefühl, mich beobachtet etwas oder jemand von dort. Nicht Außerirdische oder so, an so etwas glaube ich gar nicht. Nein, es wirkt eher freundlich, als wäre da jemand, der mich unbedingt kennenlernen möchte. Dieses Gefühl begann, kurz nachdem sich meine Eltern scheiden ließen. Ich bin nicht traurig über die Trennung, es war Zeit. Meistens haben sie nur noch gestritten. Am Ende konnten sie es nicht mal mehr zusammen in einem Raum aushalten, ohne sich Gemeinheiten an den Kopf zu werfen. Klar, Scheidungskind zu sein, ist nicht wirklich super, aber Mitglied einer kaputten Familie zu sein, ist für mich wesentlich schlimmer gewesen. Mein Vater ist dann sehr schnell ausgezogen. Ich lebe nun immer zwei Wochen bei meiner Mutter in unserem alten Haus und dann zwei Wochen bei meinem Vater und seiner neuen Flamme in ihrem Appartement am anderen Ende der Stadt.

Diese Regelung war meine Idee. Ich wollte mich für keinen der beiden entscheiden.

Allerdings habe ich nun das Problem, nirgendwo wirklich hinzugehören. Meine Mutter ist immer unterwegs. Sie arbeitet viel und wirklich hart. Ich glaube, das war mit ein Grund, warum sich die zwei immer wieder so viel gestritten haben.

„Dir ist deine Karriere immer wichtiger als unsere Familie“, hat mein Vater ihr bei einem Streit, den ich belauscht habe, mal vorgeworfen.

„Das ist nicht wahr! Ich kann nichts dafür, dass du keinen Ehrgeiz hast, um in deinem Job aufzusteigen“, war ihre patzige Antwort. Ich habe mich damals gefragt, wann man entscheidet, so gemein zu jemandem zu sein, den man eigentlich liebt. Als ich kleiner war, hat meine Mutter mir immer Märchen vorgelesen. Damals habe ich immer geglaubt, dass man glücklich ist, sobald man die wahre Liebe gefunden hat. Diese Märchenfiguren hatten nie Streit und waren nie gemein zueinander. Sie hatten sich gefunden, waren glücklich bis ans Ende aller Tage. Die Realität sieht wohl ganz anders aus.

Ich kann mich nicht beschweren: Für meine Mutter bin ich immer noch der Mittelpunkt ihres Lebens, also abgesehen von ihrer Karriere. Sie ist manchmal überfürsorglich.

Mein Vater ist eigentlich das genaue Gegenteil.

Natürlich ist er auch immer besorgt um mich, ich glaube, als Elternteil kann man das auch nicht ablegen. Aber er ist mehr mit seiner neuen Freundin beschäftigt. Also bestanden die letzten zwei Wochen bei ihm hauptsächlich aus Ausflügen und Abendessen mit Silke. Er versucht, uns einander näherzubringen. Ich hoffe, das zwischen denen ist nichts Ernstes. Aber jetzt habe ich ja erst mal zwei Wochen Ruhe bei meiner Mutter.

Nach dem Mittagessen setzt mich mein Vater noch bei Mila ab. Sie ist meine beste Freundin, schon seit dem Kindergarten.

„Ich hoffe, du hattest Spaß mit uns, Schatz. Wir freuen uns auf dich, in zwei Wochen.“ Er beugt sich zu mir herüber und küsst mich auf die Stirn.

„Ja klar, danke für alles, bis dann“, antworte ich, während ich meine Tasche von der Rückbank angele und dann das Auto verlasse. Jetzt redet er schon in der Mehrzahl.

Na super! Mila wartet vor ihrer Haustür und winkt meinem Vater nach, während der davonfährt. „Hi“, murmele ich, als ich die letzten Stufen zu ihrer Haustür hochlaufe. Auf der obersten setze ich mich direkt neben sie.

„Was ist denn mit dir passiert?“, fragt sie leicht entsetzt, nimmt eine meiner Haarsträhnen zwischen die Finger und begutachtet sie genau.

Ich schubse etwas zu fest ihre Hand weg, aber das ist gerade wirklich ein wunder Punkt. „Silke ist passiert! Die Neue von meinem Vater. Sie wollte mich unbedingt frisieren. Beim Make-up habe ich aber den Riegel vorgeschoben. Das hier war schon zu viel. Schau dir mal an, wie ich jetzt aussehe“, antworte ich und deute mit übertriebenen Gesten auf die Lockenpracht, die meinen Kopf umgibt. Meiner Meinung nach sehe ich aus wie eine explodierte Klobürste. Mila mustert mich und kann sich dabei das Lachen kaum verkneifen.

Wie kann ich auch erwarten, dass sie mich versteht. Sie putzt sich ja auch immer so raus für die Schule. Doch das ist einfach nicht mein Ding. Ich bin morgens viel zu faul, um früher aufzustehen und mich mit Make-up oder überhaupt meinem Äußeren viel zu beschäftigen. Ich verdrehe die Augen bei dem Gedanken daran.

„Mann, Eva, jetzt hab dich mal nicht so! Es gibt wirklich Schlimmeres, als Wert auf sein Äußeres zu legen“, antwortet sie unwirsch, weil sie davon ausgeht, dass ich sie verurteile.

„Wie ist denn die Neue sonst so?“, fragt sie etwas milder. Ich atme tief durch, sonst schaffe ich es nicht, mit ihren Stimmungswechseln mitzuhalten.

„Ach, an sich ganz nett. Nur, dass sie aussieht wie eine blonde Barbiepuppe und viel zu jung ist für ihn. Aber das ist ja nicht meine Entscheidung. Er wirkt auf jeden Fall ziemlich glücklich.“ Die letzten Worte versuche ich so überzeugend wie möglich rüberzubringen. Natürlich freue ich mich, dass es meinem Vater gut geht und er jemand Neues gefunden hat, doch trotzdem tut es auch ein bisschen weh. Nicht, weil ich hoffe, dass er zurück zu meiner Mutter geht. Nein, das wäre keine gute Idee. Sondern weil ich nicht mehr die Nummer eins für ihn bin. Ich weiß, dieser Gedanke ist furchtbar kindisch, doch ich glaube, so denkt jede Tochter irgendwann mal.

„Na, das klingt doch ganz gut“, antwortet Mila und ich nicke. „Okay, jetzt mal zu meinem Wochenende. Ich war gestern im Schwimmbad und habe dort den süßesten Typen überhaupt gesehen.“ Die nächsten anderthalb Stunden verbringt Mila damit, mir alle Vor- und Nachteile von diesem Kerl aufzuzählen, die sie sich in ihrem Kopf zurechtgelegt hat. Das ist immer so, egal was wir besprechen. Mila legt sich erst mal eine Liste in ihrem Kopf – oder manchmal sogar auf Papier – zurecht. Dann müssen diese Punkte immer wieder besprochen werden, bis ich irgendwann zu viel davon bekomme und sie anschnauze.

Dann ist sie kurz beleidigt und das Ganze geht wieder von vorne los. Meistens kommen wir am Ende aber doch auf eine Lösung, mit der sie dann zufrieden ist. Ich hab sie trotzdem lieb. Wenn ich sie brauche, ist sie immer für mich da, auch wenn sie manchmal etwas nervt. Nachdem ich auf die Uhr geschaut habe, unterbreche ich Mila mit der Ausrede, dass ich noch ein paar Hausaufgaben erledigen müsse. Sie scheint zwar überrascht, entlässt mich dann etwas missmutig. Doch das ist mir jetzt erst mal egal. Im Moment will ich mich nicht weiter mit ihren Launen auseinandersetzen. In den nächsten Tagen mache ich das irgendwie wieder bei ihr gut.

Ich schaffe die zwei Straßen, die unsere Häuser voneinander entfernt sind, in gerade mal fünfzehn Minuten und stehe schließlich vor unserem Haus. Als ich die Tür aufschließe, ist es ganz still. Irgendwie bin ich froh, wieder bei meiner Mutter zu sein. Ich laufe die Treppe hoch in mein Zimmer. Nichts hat sich verändert. Na gut, was soll sich in zwei Wochen schon tun? Ich schmeiße meine große schwarze Reisetasche aufs Bett. Auspacken kann ich später noch.

Bevor ich das Zimmer wieder verlasse, stelle ich mich vor meinen großen Spiegel.

Mit meiner Bürste versuche ich, die Locken auszukämmen, und fasse dann meine langen braunen Haare zu einem Pferdeschwanz zusammen. Schon viel besser, das sieht mehr nach mir aus. Schließlich mache ich mich auf den Weg nach unten, zu meinem Lieblingsplatz im Garten. Am liebsten liege ich im Gras und beobachte die Wolken, wie sie vorbeiziehen. Ich habe mich schon oft gefragt, warum sie alle unterschiedlich aussehen. Nie haben sie die gleiche Form, und irgendwie wirken sie auf mich beruhigend. Es ist schon später Nachmittag, als ich mich endlich auf meinen Stammplatz im Gras niederlasse. Die Sonne geht schon langsam unter, trotzdem ist es noch angenehm warm für September. Die letzten Sonnenstrahlen zaubern die Wolken rosarot. Es ist so ruhig und wunderschön, dass ich eindöse.

Ein Geräusch in der Hecke lässt mich hochschrecken. Die Sonne ist mittlerweile ganz untergegangen. Ich blinzele in die Dunkelheit, um zu erkennen, wo das Geräusch herkommt. Langsam stehe ich auf und gehe in Richtung Veranda zurück. Sofort geht summend die Lampe an der Hauswand an, ausgelöst durch den Bewegungsmelder.

Da sehe ich in der dunklen Ecke des Gartens eine Gestalt stehen. Es scheint ein Mensch zu sein.

Direkt kommt mir wieder dieses seltsame Gefühl in den Sinn, dass mich jemand beobachtet.

„Wer ist da?“ Meine Stimme zittert ein wenig. Mir schießen sofort Bilder aus etlichen Horrorfilmen durch den Kopf, und alle Härchen meines Körpers stellen sich auf. Instinktiv verschränke ich meine Arme vor dem Körper, um mich wenigstens etwas zu schützen. „Mein Name ist Louis“, antwortet eine Stimme aus der Dunkelheit. So weit, so gut, denke ich mir. Die Mörder in den Horrorstreifen verraten nie ihren Namen. „Was machst du da im Dunkeln? Komm doch hier ins Licht, damit ich dich sehen kann.“ Meine Stimme zittert immer noch. Mann, ich muss das in den Griff kriegen. Wenn ich ihn sehen könnte, wäre meine Angst vielleicht völlig unbegründet. „Komm du doch ins Dunkel, dann kannst du mich auch sehen“, antwortet er gereizt.

Na prima, ein aufmüpfiger potenzieller Mörder in meinem Garten. Das kann auch nur mir passieren.

„Aber im Dunkeln kann ich doch gar nichts erkennen“, gebe ich zurück. Endlich finde ich meine innere Stärke wieder, und das Zittern in meiner Stimme verschwindet.

Wenn er mir wirklich etwas tun wollte, wäre es sicherlich schon längst passiert.

„Na gut, ich komme zu dir. Bleib, wo du bist, und heb deine Hände hoch, damit ich sie sehen kann, ja? Ich hab nämlich keine Lust darauf, dass du etwas nach mir wirfst, und ich dann noch ein blaues Auge bekomme. Mädchen sind immer so schreckhaft.“ Langsam verdrehe ich die Augen und hebe meine Hände nach vorne ausgestreckt in die Höhe. Also definitiv kein Mörder, denke ich mir. Langsam kommt er aus dem Schatten ins Licht, der Junge kann kaum älter sein als ich, vielleicht sechzehn oder siebzehn. Zudem ist er ungefähr einen Kopf größer, trägt eine kurze, abgewetzte Hose, ein paar schwarze Lederstiefel und ein dunkelblaues Shirt. Seine kurzen schwarzen Haare werden von einem braunen Tuch gehalten. Doch der absolute Wahnsinn sind seine hellgrünen Augen. Noch nie habe ich solche Augen gesehen. Ich bemerke zu spät, dass ich ihn mit offenem Mund anstarre. Oh Mann, wie peinlich! Er ertappt mich dabei und grinst schelmisch.

Ich merke, wie mir die Röte ins Gesicht steigt. Toll, jetzt brauche ich ganz dringend ein Loch, in dem ich versinken kann.

„Wer bist du?“, stammle ich, während ich langsam meinen Mund weiter öffne, um so zu tun, als würde ich gähnen.

Doch sein Gesichtsausdruck verrät mir, dass er meinen Täuschungsversuch durchschaut. Sein Lachen wird nur noch breiter.

„Wer bist du denn?“ Jetzt bemerke ich, dass er mich von oben bis unten mustert.

„Mein Name ist Eva.“ Verlegen schaue ich zu Boden.

„Meinen Namen hab ich dir ja schon gesagt. Also, was willst du denn sonst noch wissen?“, fragt er mit einem Seufzen. Ich frage mich, warum er so genervt ist, schließlich ist er in meinen Garten eingedrungen und nicht ich in seinen.

„Ich möchte eigentlich nur wissen, was du hier machst. Und wo du herkommst. Eigentlich kann hier nämlich niemand rein“, blaffe ich ihn an und bereue es sofort. Das war vielleicht ein bisschen zu unfreundlich. Er sieht mich etwas verdutzt an.

„Ich suche jemanden, und ich komme von dort.“ Er hebt seinen Zeigefinger über seinen Kopf. Langsam folge ich seinem Finger und schaue in den dunklen Abendhimmel.

„Du meinst also, du kommst aus dem Weltraum? Bist du ein Außerirdischer?“, frage ich mit unüberhörbarem Sarkasmus in der Stimme.

Das wäre ja wohl der absolute Kracher, wenn er das jetzt behauptet.

„Ein Außer-was? Nein, nie gehört von denen. Ich komme aus den Wolken“, antwortet er kopfschüttelnd.

Mir bleibt kurz die Luft weg, da er das wirklich voller Überzeugung sagt.

„Du willst mir also erzählen, dass du in den Wolken lebst? Das klingt ziemlich verrückt, wenn du mich fragst.“ Der ist wohl völlig irre.

Vielleicht ist er aus einer Anstalt ausgebrochen. Sollte ich dann nicht besser die Polizei rufen?

„Ich frag dich ja gar nicht!“ Auf seinem Gesicht erscheint ein wütender Ausdruck. Oh Mann, der wird aber schnell wütend. Irgendwie erinnert mich dieser schnelle Stimmungswechsel an Mila. Ich verdrehe die Augen beim Gedanken an die unterschiedlichsten Situationen, in denen sie mich mit ihren Stimmungsschwankungen schon zur Weißglut gebracht hat.

„Okay, nehmen wir mal an, du lebst wirklich in den Wolken. Was willst du dann hier unten?“, versuche ich ihn zu besänftigen. Bei Mila klappt es auch immer am besten, gar nicht auf die Stimmungsumschwünge einzugehen. Sein Gesichtsausdruck wird weicher und er sieht fast besorgt aus.

„Ich suche Diego. Ich glaube, er versteckt sich hier“, sagt er schließlich.

„Diego? Wer ist das?“, frage ich in einem Anflug von Panik. Ist hier etwa noch jemand? Kommt derjenige gleich aus der Dunkelheit auf mich zugesprungen?

So unauffällig wie möglich versuche ich mich im Garten umzusehen.

„Er ist mein Hund“, murmelt er, während er schmunzelnd meinen Blicken folgt. Shit! Mein Umsehen ist wohl doch aufgefallen.

„Oh, okay, wie sieht er denn aus? Vielleicht kann ich dir suchen helfen“, biete ich an. Ob er dann einfach verschwindet, wenn er seinen Hund gefunden hat? Will ich, dass er verschwindet? Du musst dich vor Fremden in Acht nehmen, höre ich meine Mutter sagen. Aber er ist jetzt ja kein Fremder mehr, oder? Immerhin kenne ich seinen Namen, und er steht in unserem Garten.

Außerdem spüre ich diesen Drang: Ich will mehr von seiner Geschichte hören, wissen, wo er herkommt und was es dort gibt. Ich will bei ihm sein, also kann ich ihn nicht einfach gehen lassen.

„Du kennst dich hier wohl am besten aus von uns zweien, also wäre es sehr hilfreich, wenn du mitsuchst. Er ist weiß und klein. Ich vermute, er ist im Haus“, sagt er nach kurzem Überlegen.

„Wie kommst du denn darauf?“, frage ich verwirrt.

„Na, hier draußen habe ich ihn schon gesucht, während du geschlafen hast“, erklärt er mit einem zwinkern. Oh nein! Hat er mir etwa beim Schlafen zugesehen?

Ist er vielleicht nur ein Irrer, der auf der Suche nach Opfern nachts durch irgendwelche Gärten streift? Doch ein Blick in sein Gesicht wischt diese Gedanken sofort aus meinem Kopf. In seinen Augen steht echte Besorgnis um seinen Hund und nichts anderes. Wenn er mich aber wirklich beim Schlafen beobachtet hat, ist mir das megapeinlich.

Vielleicht habe ich geschnarcht oder – schlimmer noch – gesabbert. Ich merke, wie ich rot werde. Wenigstens kann er das nicht sehen, da er schon auf dem Weg zum Haus ist und ich hinter ihm herlaufe. Wir betreten das Wohnzimmer durch die weit offen stehende Terrassentür. Louis legt seinen Zeigefinger an den Mund. „Pssst!“ Ich bin still.

Das Einzige, was ich höre, ist das stetige Schlagen meines Herzens und seinen leisen Atem. Ich bin so fasziniert von seinen ruhigen Atemzügen, dass ich fast selbst vergesse zu atmen. Dann klappert es in der Küche. Wir beide schauen zur Küchentür. Mit ein paar großen Schritten haben wir den Raum durchquert. Langsam öffne ich die Tür.

Mit einem Affenzahn kommt ein kleiner weißer Knäuel auf mich zu, macht eine Kurve um mich herum und landet direkt in Louis’ Armen. Das muss dann wohl Diego sein. Er schleckt ihm das ganze Gesicht ab.

„Diego, Schluss jetzt! Wir müssen sofort los, das Schiff wartet nicht mehr lange.“ Diego hört abrupt auf mit seiner Schleckerei, krabbelt auf Louis’ Schulter, und beide wenden sich zum Gehen. Als sie ungefähr die Hälfte des Raumes durchquert haben, dreht Louis sich noch mal zu mir um.

Ich stehe immer noch wie angewurzelt auf der Türschwelle zur Küche. „Hey, danke für deine Hilfe!", ruft er mir zu und lächelt dabei.

2

Ich nicke nur, während er sich auf den Weg zurück in den Garten macht. Er ist schon an der Terrassentür, als ich endlich meine Stimme wiederfinde.

„Louis!“, brülle ich viel zu laut. Mein Herz rast, ich höre das Blut in meinen Ohren rauschen. Was mache ich hier? Ich folge einem potenziell Wahnsinnigen in irgendein kurioses Abenteuer? Wenn meine Mutter oder mein Vater das sehen könnten, würden sie mich an den Haaren zum nächsten Psychiater zerren. Ich kann jedoch an nichts anderes denken als an diesen Jungen und dass ich ihn näher kennenlernen möchte. Louis ist im Türrahmen stehengeblieben. Lässig lehnt er daran, während er mich fragend ansieht. „Ähm … gibt es eine Möglichkeit, dass ich mit euch kommen kann?“, frage ich schnell, bevor mich der Mut verlässt. Er schaut verdutzt, dann breitet sich ein Lächeln auf seinem Gesicht aus. „Willst du das wirklich?“, fragt er zurück. Gute Frage! Will ich wirklich mitgehen, oder soll ich ihn gehen lassen? Vielleicht ist seine Geschichte wahr. Was gäbe es Spannenderes als eine Welt über den Wolken? Ich muss es einfach versuchen. Dieses Hin und Her in meinem Kopf macht mich noch wahnsinnig.

„Ja, ich würde gerne mitgehen!“, sage ich schließlich. „Na gut. Dann los, wir müssen uns beeilen!“ Louis geht durch die Terrassentür hinaus in den Garten – Diego immer noch auf seiner Schulter. Ich schnappe mir eine Jacke und folge ihnen nach draußen. Louis und Diego stehen mitten auf der Wiese und starren in den dunklen Nachthimmel. Er steckt zwei Finger in den Mund. Es ertönt ein schriller Pfiff. Ich schaue mittlerweile auch ganz gespannt an die gleiche Stelle am Himmel, aber ich kann nichts erkennen, alles ist dunkel. Doch was ist das denn? Wie aus dem Nichts schlängelt sich ein Stück Wolke vom Himmel hinunter. Es sieht aus wie ein Seil, ganz aus weicher, flauschiger Zuckerwatte. Kurz bevor es den Boden berührt, hält es an. „Na, können wir los?“, fragt er und streckt mir seine Hand entgegen, dabei schaut er mir direkt in die Augen. „Hält das überhaupt? Das sieht mir nicht sonderlich stabil aus“, flüstere ich und mein Herz schlägt mir bis zum Hals.

„Ich bin daran schon tausendmal hoch- und runtergeklettert, das wird uns schon halten“, antwortet er lässig, dann greift er mit einer Hand nach dem Seil und hält mir die andere noch immer hin.

„Kommst du jetzt oder nicht? Ich muss echt los. Keine Angst, du kannst mir vertrauen“, drängelt er, und aus irgendeinem Grund vertraue ich ihm wirklich.

„Okay, ich bin bereit. Lass mich aber nicht fallen!“, murmele ich und meine Hand gleitet langsam in seine. In mir breitet sich eine Wärme aus. Sie verteilt sich von meinem Herzen aus in alle Richtungen. Es fühlt sich unheimlich gut an, so als hätte da vorher etwas gefehlt. Er hält meine Hand ganz fest, wirbelt mich einmal herum und drückt meinen Rücken fest an seine Brust. Ich kann seinen Atem spüren, fühle, wie sich seine Brust gleichmäßig hebt und senkt. Er zieht kurz an dem Seil. Mit einem kräftigen Ruck heben wir vom Boden ab und fliegen in Richtung Nachthimmel. Wir steigen immer höher. Der Wind peitscht mir ins Gesicht. Hier oben ist es richtig kalt. Ich habe keine Ahnung, wo wir hinfliegen, ich spüre nur Louis’ festen Griff um meinen Bauch. Nach kurzer Zeit stoppt das Seil: Wir steigen nicht mehr. Jetzt schweben wir irgendwo zwischen Himmel und Erde. Oh Mann, worauf hab ich mich da nur eingelassen? Wir werden einfach sterben, und das nur, weil irgendein süßer, netter Typ mir irgendwelche Geschichten erzählt hat und ich so neugierig war!

„Jetzt kommt das Beste! Halt dich an meinem Arm fest!“ Louis ist ganz nah an meinem Ohr. Ich kralle meine Finger in seinen Arm. Das Seil schwingt plötzlich nach vorne und dann mit einem Ruck wieder zurück. Louis löst seine Hand vom Seil und zieht mich mit sich. Wir machen einen Salto, und ich krache mit dem Hintern auf einen festen Untergrund.

Ich habe meine Augen fest geschlossen, also taste ich mit den Händen den Boden ab. Es fühlt sich an wie Holz. Ich höre Schritte rechts von mir und spüre eine Hand auf meinem Rücken. „Na, alles gut? ’tschuldige die unsanfte Landung. Hast du dich verletzt?“ Sorge liegt in seiner Stimme. Ich schüttele den Kopf. „Warum pfetzt du deine Augen dann so zu?“, fragt er verwundert. Langsam öffne ich sie und blinzele in ein helles Licht. Louis beugt sich vor und hält mir seine Hand entgegen. Ich ergreife sie und mit einem Ruck stehe ich wieder auf meinen Füßen. „Willkommen auf der Dragonfly! Dem schönsten und schnellsten Schiff im Wolkenreich!“, sagt er und strahlt über das ganze Gesicht. Langsam drehe ich meinen Kopf.

Wow, es ist wirklich ein Schiff. Wir stehen genau in der Mitte, auf dem Hauptdeck. Am Heck hinten führen zwei Treppen nach oben zu einem großen Steuerrad.

Ich lasse meinen Blick weiterschweifen und entdecke drei große Masten. Die sechs großen Segel sind eingeholt. Weiter vorne am Bug erkenne ich eine Verzierung. Sie schimmert golden im Licht der vielen Laternen, die überall aufgehängt sind. Die Reling ist dunkelrot angestrichen, alles andere dunkelbraun. Wunderschön – selbst in diesem schwachen Licht.

„Willst du mir deine Freundin vorstellen?“, fragt jemand hinter mir und die dunkle Stimme lässt mich zusammenzucken.

„Ähm, natürlich!“, antwortet Louis fröhlich und ich höre einen belustigten Unterton in seiner Stimme. Ich drehe mich langsam um, um den Fremden anzusehen. Vor mir steht ein Mann mit schwarzem Mantel, schwarzen Hosen, schwarzem Hut. Ein kupferroter Vollbart umsäumt seinen schmalen Mund und endet erst auf seiner Brust. Der Mann ist mindestens zwei Meter groß. Oh, das muss der Kapitän sein. Ich schaue ihm direkt in die Augen. Wow, was ist das nur mit den Augenfarben? Seine sind so blau wie das Meer.

Sie leuchten im schwachen Licht der Laternen. Sein Blick ist neugierig und freundlich.

„Das ist Eva. Diego hatte sich bei ihr versteckt, und als ich ihn mit ihrer Hilfe gefunden hatte, wollte sie unbedingt mit. Also hab ich sie mitgebracht. Geht doch klar, oder?“, fragt Louis in die Stille hinein. Der Kapitän mustert mich von oben bis unten und lächelt mich dann an.

„Eva, es ist mir eine Freude, dich kennenzulernen! Ich bin Kapitän Feuerbart. Willkommen auf der Dragonfly. Fühl dich wie zuhause. Solange du uns begleitest, erwarte ich jedoch, dass du dich hier nützlich machst. Louis wird dir morgen alles zeigen. Jetzt solltet ihr schlafen gehen!“, begrüßt er mich freundlich. Er erinnert mich an meinen Großvater. Wenn er mir früher Gute-Nacht-Geschichten vorgelesen hat, habe ich mich immer geborgen und sicher gefühlt.

„Danke Käptn.“ Louis antwortet für mich. Ich bekomme kein Wort heraus und nicke ihm einfach nur zu. Er wendet sich noch mal an Louis.

„Gute Nacht!“, sagt Feuerbart mit Nachdruck, schaut Louis in die Augen und lächelt. Jetzt grinsen sie beide wie kleine Jungs. Was läuft da nur zwischen den beiden? Kaum ist der Kapitän weg, dreht sich Louis zu mir.

„Alles gut bei dir? Hast du dir auf die Zunge gebissen?“, herrscht er mich an.

„Was? Nein! Wieso?“, stammele ich verwirrt. Warum ist er denn auf einmal so unfreundlich?

„Na ja, ich dachte nur, weil du nicht mehr gesprochen hast, seit wir hier sind. Hab mir nur Sorgen gemacht“, erklärt er und schaut verlegen auf seine Füße, während er spricht. Er hat sich wohl wirklich nur Gedanken um mich gemacht, und diese Tatsache gibt mir ein gutes Gefühl. Ich bin ihm anscheinend wichtig.

„Es geht mir gut, danke. Ich war nur etwas überfordert. Ich dachte nicht, dass es hier wirklich ein Schiff gibt“, antworte ich, denn natürlich habe ich gehofft, dass er mir nicht irgendeine verrückte Idee auftischt, aber ein echtes Schiff aus Holz ist doch eine Überraschung.

„Was hast du denn dann gedacht?“, fragt er mich mit großen Augen. „Keine Ahnung!“ Und das stimmt. Ich habe keine Ahnung, was ich eigentlich erwartet habe.

„Möchtest du zurück?“ Seine Stimme klingt besorgt. Will ich wirklich zurück und ihn gehen lassen? Will ich dieses Abenteuer verpassen? Was erwartet mich schon zuhause? Die Eintönigkeit des Alltags. Meine Mutter wird es ein paar Tage ohne mich aushalten, falls sie überhaupt bemerkt, dass ich nicht da bin. Und ich würde Louis nie wiedersehen.

„Nein!“, antworte ich voller Überzeugung. Ich will wissen, wo mich dieses Abenteuer hinführt. Und ich will bei ihm sein.

„Wir sollten schlafen gehen. Ich zeige dir, wo du schlafen kannst“, murmelt er und nimmt meine Hand. Behutsam zieht er mich mit sich zum hinteren Teil des Schiffes. Wir gehen durch eine große Holztür und eine schmale Treppe hinunter. Dann stehen wir in einem schwach beleuchteten Flur mit vielen Türen. Er zieht mich weiter den Flur entlang und hält schließlich vor einer kleineren Holztür an. Auf der Tür ist ein kleines goldenes Schild angebracht, auf dem „Louis“ eingraviert ist. Als er die Tür öffnet, hüpft Diego sofort von seiner Schulter und flitzt in den Raum. Ich hatte ganz vergessen, dass er noch da war. Louis dreht einen Hebel an einer Öllampe, die direkt neben der Tür hängt, und die Flamme wird stärker. Schließlich erhellt sie den ganzen Raum. Ich gehe hinein und er schließt die Tür hinter uns.

Das Zimmer ist überraschend groß. Hier steht ein Schreibtisch, davor ein Stuhl mit rotem Samtbezug. In der Ecke neben dem Bett steht ein Körbchen. Es scheint Diegos Platz zu sein, denn er hat sich bereits eingerollt und gibt ein ohrenbetäubendes Schnarchen von sich. Ich drehe mich zu Louis um.

„Du kannst das Bett haben. Ich schlafe auf dem Sofa“, sagt er mit einem Schulterzucken und zeigt auf das große Bett. Es hat wunderschöne Schnitzereien am Kopfteil. Es ist mir unangenehm, ihm seinen Schlafplatz wegzunehmen. Doch die Vorstellung, in den weichen Kissen zu liegen, gibt mir gerade ein wirklich gutes Gefühl.

„Ich kann auch auf dem Sofa schlafen! Das ist ja schließlich dein Zimmer“, biete ich ihm an.

„Nein, das ist schon gut so. Ich würde mich besser fühlen, wenn du es nimmst“, antwortet er knapp und ich nicke. Ich bin auf einmal viel zu müde, um mit ihm darüber zu streiten. Außerdem bin ich insgeheim froh, dass ich nicht auf dem Sofa schlafen muss. Es ist ebenso mit rotem Samt bezogen und sieht echt gemütlich aus, aber das Bett ist schon wesentlich besser. Langsam gehe ich darauf zu und krabbele unter die Decke.

Es riecht so anders, irgendwie nach ihm, eine Mischung aus Holz und Regen. Ein Regen, der nach einer langen Trockenzeit fällt, den man schon riechen kann, bevor er da ist. Einfach himmlisch.

Kurz kommt mir der Gedanke, ihm anzubieten, mit in dem Bett zu schlafen. Dieser Gedanke lässt mein Herz höher schlagen, doch ich denke, das wäre eindeutig zu früh. Ich kenne Louis ja kaum.

Im Halbschlaf beobachte ich, wie er die Kissen auf dem Sofa zurechtrückt und sich darauf legt. Dann löscht er die Lampe.

„Gute Nacht, Eva“, flüstert er in der Dunkelheit. Das ist das erste Mal, dass ich mit einem fremden Jungen im selben Zimmer schlafe. Irgendwie fühlt es sich so wunderbar verboten an, auch wenn wir gar nichts Verbotenes tun.

„Hmm.“ Mehr bekomme ich nicht mehr raus, denn ich schlafe sofort ein.

3

Das Lächeln meiner Mutter sieht so glücklich aus, als sie meinem Vater tief in die Augen schaut. Irgendwie ist es peinlich, sie zu beobachten, als wäre ich hier ein Eindringling. Ich drehe mich kichernd weg. Dabei fällt mein Blick auf mein Spiegelbild in der blankgeputzten Oberfläche des Kühlschranks. Ich bin erst zehn, denn ich kann die Zöpfe erkennen, die mir meine Mutter immer gemacht hat. Das hier muss ein Traum sein! Ich drehe mich wieder meinen Eltern zu und genieße den Moment. Diesen Tag werde ich wohl nie vergessen. Es war einer unserer Ausflugstage. Wir sind auf den Bauernhof gefahren, und ich durfte das erste Mal auf einem Pferd reiten. Ich war so aufgeregt. Meine Eltern liefen neben dem Pony her, als ich darauf saß. Dieser Tag war wunderschön! Plötzlich verschwindet alles. Eine Dunkelheit zieht auf. Ich bin wieder fünfzehn. Meine Mutter steht etwas entfernt von mir. Sie telefoniert. Mein Vater steht noch weiter weg und hält Silke im Arm. Die beiden drehen sich weg und gehen davon, ohne ein Wort zu sagen.

Ich rufe ihnen nach, doch meine Worte verhallen in der Umgebung.

Ich spreche meine Mutter an, doch auch sie scheint mich nicht zu hören.

Langsam laufe ich auf sie zu. Je näher ich an sie herantrete, desto mehr weicht sie zurück. Ich kann sie nicht erreichen. Eine tiefe Traurigkeit ergreift mich. Dieselbe Traurigkeit, die ich schon seit der Scheidung fühle. Grüne Augen leuchten in der Dunkelheit. Sie machen mir keine Angst. Sie machen mir Hoffnung.

Irgendetwas Nasses reißt mich aus dem Schlaf und ich schrecke auf. Zwei kleine schwarze Knopfaugen starren mich an. Ich schreie und schlage wild um mich. Zuerst weiß ich nicht, wo ich mich befinde. Verwirrt lasse ich meinen Blick durch das Zimmer schweifen. Dann bleibe ich am Sofa hängen und die Erinnerung an das Ende des Traumes erscheint vor meinem geistigen Auge.

„Wa… Was ist los?“ Louis rappelt sich langsam vom Sofa auf und schaut mich verschlafen an. „Oh Mann, Diego! Kommst du her!“, ruft er, als er die Situation erfasst hat. Der Kleine verkriecht sich unter dem Bett. Wahrscheinlich ist er auch ganz schön erschrocken.

Jetzt schwebt er mit hängenden Ohren zu Louis herüber, versteckt sich aber gleich unter dem Sofa. Moment, er schwebt? Das ist mir gestern gar nicht aufgefallen. Hunde fliegen doch nicht! Er sieht auch viel flauschiger aus. Im Licht wirkt er fast wie eine kleine Wolke.

„Was ist Diego eigentlich genau?“, frage ich ihn, während ich mir den Schlaf aus den Augen reibe.

„Wenn er das noch mal macht, bald tot!“, blafft Louis in Diegos Richtung und funkelt ihn böse an.