Andalusisches Requiem - Robert Wilson - E-Book

Andalusisches Requiem E-Book

Robert Wilson

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Beschreibung

Der 4. Fall für Inspektor Javier Falcón aus Sevilla

Inspektor Javier Falcón versucht fieberhaft, die genauen Hintergründe eines blutigen terroristischen Anschlags in Sevilla aufzuklären. Doch eines Nachts wird er zu einem tödlichen Autounfall gerufen. Bei dem Toten handelt es sich um Wasili Lukjanov, einen russischen Mafioso. Diesem werden enge Verbindungen zur sogenannten katholischen Verschwörung nachgesagt, die Falcón als Drahtzieher hinter dem Attentat vermutet. Dann erfährt Falcón jedoch, dass einige seiner marokkanischen Verwandten in die Angelegenheit verwickelt sind, und der Fall droht ihm völlig zu entgleiten …

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Buch

Während Inspektor Javier Falcón versucht, die genauen Hintergründe eines blutigen terroristischen Anschlags in Sevilla aufzuklären, dem viele unschuldige Menschen zum Opfer fielen, wird er zu einem tödlichen Autounfall gerufen. Im Wagen des Toten befinden sich 7,8 Millionen Euro und mehrere DVDs, auf denen hochrangige Männer aus Wirtschaft und Politik beim Sex mit Prostituierten zu sehen sind. Falcón findet schnell heraus, dass es sich bei dem Toten um Wasili Lukjanov handelt, einen russischen Mafioso, der im Begriff war, innerhalb der Mafia die Seiten zu wechseln und zum Paten Juri Donstov überzulaufen. Diesem werden enge Verbindungen zur sogenannten katholischen Verschwörung nachgesagt, die Falcón als Drahtzieher hinter dem blutigen Attentat von Sevilla vermutet. Er hat schon länger den Verdacht, dass die fundamentalistischen Christen den Anschlag inszeniert haben, um ihn islamistischen Kräften anzulasten und so die rechtskonservative Partei Fuerza Andalucía zu stärken. Als Falcón aber erfährt, dass einige seiner eigenen marokkanischen Verwandten in die Angelegenheit verwickelt sind, droht ihm der Fall zu entgleiten. Und sein Chef, Comisario Elvira, denkt laut über Falcóns Suspendierung nach …

»Die reizvolle und morbide Atmosphäre von Sevilla nimmt den Leser gefangen und passt hervorragend zu Wilsons fast schon poetischem Schreibstil.« kulturnews

»Wilson schreibt mit einer psychologischen Differenziertheit, die ihn vor allen anderen Autoren des Genres auszeichnet. Seine Schreibstil wirkt mühelos, ist intelligent, humorvoll und voller großartiger Bilder, seine Sprache ist formvollendet, treffsicher in den Dialogen, anschaulich in den Beschreibungen – und bisweilen einfach nur wunderschön.« Scotland on Sunday

Inhaltsverzeichnis

WidmungEINSZWEIDREIVIERFÜNFSECHSSIEBENACHTNEUNZEHNELFZWÖLFDREIZEHNVIERZEHNFÜNFZEHNSECHZEHNSIEBZEHNACHTZEHNNEUNZEHNZWANZIGEINUNDZWANZIGZWEIUNDZWANZIGDREIUNDZWANZIGVIERUNDZWANZIGFÜNFUNDZWANZIGSECHSUNDZWANZIGSIEBENUNDZWANZIGACHTUNDZWANZIGNEUNUNDZWANZIGDREISSIGEINUNDDREISSIGZWEIUNDDREISSIGDANKSAGUNGCopyright

FÜR JANE

Sevilla – Donnerstag, 14. September 2006, 19.30 Uhr

Der eiskalte Wodka rann durch Wasili Lukjanovs Kehle, während der Verkehr auf der neuen Autobahn von Algeciras nach Jerez de la Frontera an dem Parkplatz vorbeidonnerte. In der Hitze hatten sich sofort Schweißperlen in seinem dunklen Haar gebildet, als er neben dem offenen Kofferraum des Range Rover Sport stand. Er wartete auf die einbrechende Dunkelheit, weil er das letzte Stück bis Sevilla nicht bei Tageslicht fahren wollte. Er trank, rauchte, aß und dachte an die vergangene Nacht mit Rita. Die Erinnerung an ihren unglaublichen Mund erregte ihn sofort wieder. Mein Gott, sie wusste, wie sie es ihm zu besorgen hatte. Es tat ihm leid, sie zurückzulassen. Sie war perfekt abgerichtet.

Das Blut pulsierte heftig durch seine Halsschlagader, als er zu dem schwarzen Samsonite-Koffer blickte, der aufrecht neben der offenen Kühlbox mit den Champagner- und Wodka-Flaschen stand. Er nahm einen weiteren Bissen von seinem bocadillo, riss den Schinken genussvoll mit den Zähnen ab und schwenkte seinen eiskalten Wodka. Eine weitere sinnliche Impression der vergangenen Nacht mit Rita blitzte vor seinen Augen auf. Ihre celloartige Taille, die karamellfarbene Haut, weich wie ein Sahnebonbon unter seinen knetenden Fingern. Ein Krümel des Brötchens rutschte ihm in die Luftröhre. Er schnappte nach Luft, seine Augen traten hervor, bis er zuletzt würgend hustete. Ein zerkauter Klumpen Schinken und Brot segelte über das Dach des Range Rover. Ganz sachte, dachte er. Jetzt bloß nicht auf einem Autobahnparkplatz neben vorbeidonnernden LKWs ersticken, wo seine ganze Zukunft doch vor ihm lag.

Pepe Navajas hatte gerade die Stahlstangen, die zwanzig Säcke Zement und die Holzbretter für den Bau der verstärkten Betonsäulen verladen, die er neben dem Klempnerwerkzeug, der Sanitärkeramik und den Wand- und Bodenfliesen gestapelt hatte. Er würde für seine Tochter und seinen Schwiegersohn einen Anbau errichten, weil sie gerade Zwillinge bekommen hatten und in ihrem kleinen Haus in Sanlúcar de Barrameda mehr Platz brauchten. Außerdem hatten sie kein Geld. Also hatte Pepe das gesamte Material so billig wie möglich gekauft und erledigte, weil sein Schwiegersohn handwerklich völlig unbegabt war, an Wochenenden auch die Arbeiten selber.

Pepe parkte den schwer beladenen Laster vor einem Restaurant in Dos Hermanas, ein paar Kilometer vor dem Anfang der neuen Autobahn nach Jerez de la Frontera. Er hatte ein oder zwei Bier mit den Jungs vom Baumarkt getrunken. Jetzt wollte er früh zu Abend essen und auf die Dämmerung warten, weil er sich vormachte, dass die Guardia Civil zwischen Dämmerung und Dunkelheit weniger aufmerksam war und erst später mit ihren Fahrzeugkontrollen begann, wenn wahrscheinlich mehr Leute betrunken am Steuer saßen.

Kurz nach 23 Uhr schaltete Wasili zum ersten Mal an diesem Tag sein Handy an. Er hatte der Versuchung widerstanden, bis er die Mautstelle auf dem letzten Stück Autobahn nach Sevilla passiert hatte, weil er wusste, was kam. Es war schon eine Weile her, seit er zum letzten Mal einen ganzen Tag für sich verbracht hatte, und er platzte förmlich vor Mitteilungsbedürfnis. Der erste Anruf ging nur Sekunden später ein und kam wie erwartet von seinem alten Waffenbruder Alexej.

»Bist du allein, Wasja?«, fragte Alexej.

»Ja«, sagte Wasili mit vom Wodka schwerer Zunge.

»Ich will dich nicht beunruhigen«, sagte Alexej. »Sonst fährst du noch in den Graben.«

»Rufst du an, um mich zu beunruhigen?«, fragte Wasili.

»Wie wär’s damit?«, erwiderte Alexej. »Leonid ist aus Moskau zurück.«

Schweigen.

»Hast du mich gehört, Wasja? Ich breche nicht zusammen oder irgendwas. Aber Leonid Revnik ist in Marbella.«

»Er sollte doch erst nächste Woche wieder hier sein.«

»Er ist früher zurückgekommen.«

Wasili öffnete das Fenster einen Spalt und schnupperte die warme Abendluft. Es war stockfinster, flache Felder zu beiden Seiten der Straße, in der Ferne nur Rücklichter, kein Gegenverkehr.

»Was hatte Leonid denn zu sagen?«, fragte er.

»Er wollte wissen, wo du bist. Ich hab ihm gesagt, du wärst im Club, aber von da kamen sie gerade«, berichtete Alexej. »Sie haben dein Büro verschlossen und Kostja bewusstlos auf dem Boden gefunden.«

»Bist du im Augenblick allein?«, fragte Wasili argwöhnisch.

»Leonid weiß schon, dass du zu Juri Donstov übergelaufen bist.«

»Und was soll dann der Anruf? Eine Warnung?«

»Ich wollte mich selbst vergewissern, dass Leonid nicht lügt.«

Schweigen.

»Etwas aus deinem Büro fehlt«, sagte Alexej. »Das hat er mir auch erzählt.«

Wasili schloss das Fenster wieder und seufzte. »Es tut mir leid, Aljoscha.«

»Rita hat schwer Prügel für dich bezogen. Ich habe sie nicht gesehen, aber Leonid hatte das Tier bei sich – du weißt schon, der Typ, mit dem nicht mal die moldawischen Mädchen mitgehen.«

Wasili schlug fünf Mal auf das Lenkrad. Die Hupe plärrte laut in die Nacht.

»Ganz ruhig, Wasja.«

»Es tut mir leid, Aljoscha, verdammt leid. Was kann ich sonst noch sagen?«

»Na, das ist immerhin etwas.«

»So sollte es nicht ablaufen. Leonid sollte erst nächste Woche zurückkommen. Ich wollte mit Juri reden und seine Erlaubnis einholen, dich mit an Bord zu holen. Du solltest dabei sein. Das weißt du doch. Ich musste bloß …«

»Das ist ja gerade der Punkt, Wasja. Ich wusste es nicht.«

»Ich konnte es dir nicht erzählen. Du bist zu dicht dran, Aljoscha«, sagte Wasili. »Juri hat mir ein Angebot gemacht, das Leonid mir in einer Million Jahren nicht gemacht hätte.«

»Aber ohne mich. Du wolltest nicht, dass ich dir den Rücken freihalte … aber das ist jetzt auch scheißegal«, fügte Alexej noch hinzu und schwieg dann. »Was war das, Wasja?«

»Nichts.«

»Ich hab es gehört. Du heulst.«

Schweigen.

»Na Scheiße, schönen Dank auch«, sagte Alexej. »Wenigstens bist du verdammt noch mal traurig, Wasja.«

Pepe war ein wenig später als geplant und mit ein paar mehr Drinks intus als beabsichtigt wieder auf der Straße, alles bloß wegen dem Fußball: Der FC Sevilla hatte ein UEFA-Cup-Spiel in Athen gewonnen, und er hatte sich von der Euphorie nach dem Spiel anstecken lassen und sein Abendessen mit Wein und einem Weinbrand zum Abschluss genossen. Jetzt hatte er das Autoradio voll aufgedreht und sang laut mit, als sein Lieblingsflamencosänger El Camarón de la Isla aus den Boxen dröhnte. Was für eine Stimme. Sie machte ihn wehmütig.

Vielleicht fuhr er ein wenig zu schnell, aber es herrschte kaum Verkehr, und die Spuren der Autobahn wirkten so breit und hell erleuchtet wie die Rollbahn eines Flughafens. Die Musik übertönte das Geklapper der Stahlstangen. Er war glücklich, hüpfte auf seinem gefederten Sitz auf und ab und freute sich, seine Tochter und die Babys wiederzusehen. Seine Wangen waren tränenfeucht.

Und genau in diesem Augenblick, auf dem Gipfel seiner Glückseligkeit, platzte ein Reifen. Das Geräusch war so laut, dass es die Fahrerkabine durchdrang. Ein gedämpftes Rumpeln wie von fernem Geschützfeuer, gefolgt von dem eigentlichen Riss, mit dem sich der Reifen von der Felge löste und um den Radkranz schlug. Pepes Magen sackte mit dem Wagen, der nach links ausscherte. In einer Pause der Musik hörte er, wie Reifenfetzen gegen die Seite des Lasters schlugen und blankes Metall auf dem Asphalt kreischte. Der Strahl seiner Scheinwerfer, der stetig zwischen den Spuren ausgerichtet gewesen war, schlingerte über den weißen Streifen, und obwohl sich alles zu verlangsamen schien, sodass seinen weit aufgerissenen Augen kein Detail entging, sagte ihm sein Instinkt, dass er bedrohlich schnell in einem Fahrerhäuschen mit sehr schwerer Last auf der Ladefläche unterwegs war.

Ein Gefühl der Angst bohrte sich in seine Eingeweide, doch mit dem Alkohol im Blut war er gerade noch geistesgegenwärtig genug, das Lenkrad zu packen, das eigene Kräfte entwickelte. El Camarón fing gerade wieder an zu singen, als Pepes Laster in die Leitplanke des Mittelstreifens krachte. Erst mit diesem abrupten Stopp wurde ihm das volle Ausmaß seiner Geschwindigkeit bewusst, als er durch die Windschutzscheibe in die warme Abendluft katapultiert wurde. Über der klagenden Stimme von El Camarón hörte er das letzte Geräusch, das sein verwirrter Verstand noch zu verarbeiten in der Lage war: Stahlträger, die sich gelöst hatten und wie eine Batterie Speere in einen Tunnel herannahenden Lichts geschleudert wurden.

Wasili weinte, weil er gerade das außergewöhnliche menschliche Geschenk erlebt hatte, ein ganzes Leben in einem einzigen emotionalen Augenblick zu komprimieren. In sechs Jahren Dienst in Afghanistan hatte Alexej ihm sieben Mal die Haut gerettet. Und nachdem er jahrelang alle Kämpfe gegen die Paschtunen überlebt hatte, würde Alexej jetzt in einem Waldstück an der Costa del Sol von seinen eigenen Leuten mit einem Schuss in den Hinterkopf erledigt werden, nur weil er Wasili Lukjanovs beschissener bester Freund war.

»Sag Leonid …«, setzte er an, als er irgendetwas Blitzendes wahrnahm, das auf ihn zusauste, eine eigenartige Unruhe in der Luft. »Was zum Henker …?«

Die Stahlstangen schossen mit erwartungsvoll zitternden Enden wie von seinem Scheitelpunkt angezogen in den Lichtkegel.

Und schlugen mit explosiver Wucht ein.

Reifen schmierten Gummispuren auf die dunkle Straße und stießen auf ein unsichtbares Hindernis. Der Range Rover hob in die unergründliche Dunkelheit der jenseits liegenden Felder ab. Einen Moment lang war es ganz still.

»Wasja?«

EINS

Falcóns Haus, Calle Bailén, Sevilla –Freitag, 15. September 2006, 3.00 Uhr

Das Telefon vibrierte unter dem Atem der brutal heißen Nacht.

»Diga«, sagte Falcón, der mit einer der zahllosen Ermittlungsakten über den Bombenanschlag vom 6. Juni in Sevilla auf den Knien im Bett saß.

»Sie sind wach, Javier«, stellte sein Chef, Comisario Elvira, fest.

»Um diese Nachtzeit habe ich meine besten Ideen«, erwiderte Falcón.

»Ich dachte, die meisten Menschen in unserem Alter sorgen sich nur über ihre Schulden und den Tod.«

»Ich habe keine Schulden … jedenfalls keine finanziellen.«

»Jemand hat mich gerade geweckt, um über den Tod zu sprechen … über einen Tod«, sagte Elvira.

»Und warum hat man Sie und nicht mich angerufen?«

»Kurz vor 23.35 Uhr, als der Vorfall gemeldet wurde, hat sich auf der Autobahn von Jerez nach Sevilla bei Kilometer 38 auf der Spur in nördlicher Richtung ein Autounfall ereignet. Genauer gesagt, in beiden Richtungen, aber die Toten hat es in nördlicher Richtung gegeben. Man hat mir berichtet, dass es sehr übel aussieht, und ich möchte, dass Sie dorthin fahren.«

»Irgendetwas, was die Guardia Civil nicht regeln kann?«, fragte Falcón und blickte auf seine Uhr. »Die haben sich ja Zeit gelassen.«

»Die Sache ist kompliziert. Zunächst ging man davon aus, dass nur ein Fahrzeug in den Unfall verwickelt war, ein Laster, der in die Begrenzung auf dem Mittelstreifen gerast ist und seine Ladung verloren hat. Erst später hat man unterhalb von ein paar Kiefern am Rand einer Böschung auf der anderen Seite der Autobahn ein zweites Fahrzeug entdeckt.«

»Nach wie vor kein Grund, die Mordkommission einzuschalten.«

»Der Fahrer des in nördlicher Richtung fahrenden PKW wurde als Wasili Lukjanov identifiziert, russischer Staatsbürger. Bei der Durchsuchung seines Kofferraums hat man einen aufgerissenen Koffer mit einem Haufen Geld gefunden … einem Riesenhaufen Geld. Meines Wissens sprechen wir von mehreren Millionen Euro. Deshalb will ich, dass das Fahrzeug komplett kriminaltechnisch untersucht wird, und obwohl es offensichtlich ein Unfall war, möchte ich, dass du in dem Fall ermittelst, als würde es sich um einen Mord handeln. Möglicherweise gibt es Verbindungen zu anderen Ermittlungen im Land. Und vor allem will ich, dass das Geld vollständig gezählt und sichergestellt wird. Ich schicke einen Sicherheitstransporter, sobald ich irgendjemanden geweckt kriege.«

»Also haben wir es mit einem Mitglied der Russenmafia zu tun«, stellte Falcón fest.

»So ist es. Ich habe bereits mit der Koordinationsstelle Organisierte Kriminalität gesprochen, die diesen Verdacht bestätigt hat. Spezialgebiet: Prostitution. Schwerpunkt der Aktivitäten: die Costa del Sol. Ich habe auch schon Kontakt mit Inspector Jefe Casado aufgenommen – erinnern Sie sich an ihn? Der Typ von der GRECO, der dortigen Spezialeinheit zur Bekämpfung des Organisierten Verbrechens?«

»Er hat im Juli eine Präsentation zur Einrichtung einer GRECO-Einheit in Sevilla zur Bekämpfung der hiesigen Mafia-Aktivitäten gehalten«, sagte Falcón. »Und nichts ist passiert.«

»Es hat eine Verzögerung gegeben.«

»Und warum kann er sich nicht darum kümmern?«

»Das ist ja der Grund der Verzögerung, er ist in Marbella und leitet dort ungefähr zwanzig Ermittlungen gleichzeitig«, sagte Elvira. »Außerdem hat er auch noch gar nicht angefangen, sich in die Situation in Sevilla einzuarbeiten.«

»Er weiß auf jeden Fall mehr als wir und hat zudem Zugriff auf nachrichtendienstliche Informationen über Lukjanovs Aktivitäten an der Costa del Sol.«

»Deswegen schickt er uns ja auch einen seiner Leute, Vicente Cortés, der wiederum jemanden von der CICO, der Koordinationsstelle Organisierte Kriminalität, mitbringt.«

»Na, ich bin eh wach, dann kann ich auch hinfahren«, sagte Falcón und legte auf.

Die Rasur war der allmorgendliche Prozess, in dem er sich der Anklage seines stoppeligen Gesichts stellen musste. Dieselbe alte Geschichte mit ein paar neuen Falten, wo sich seine Zweifel und Ängste eingraviert hatten. Jeder hatte ihm erklärt, dass niemand die vollständige Aufklärung des Bombenanschlags in Sevilla von ihm erwartete. Das wusste er auch selbst. Er hatte andere Inspector Jefes gesehen, die ihre hässliche Arbeit in der Welt der Gewalt verrichteten und sie dann im Büro lassen konnten. Aber das gelang ihm nicht, nicht dieses Mal. Er strich mit der Hand über sein kurz geschorenes Haar. Die lebensumwälzenden Ereignisse der vergangenen fünf Jahre hatten aus dem melierten ein stählernes Grau gemacht, das er im Gegensatz zu manchen seiner Kollegen nicht färbte. Das Licht und die nicht ganz verblasste Sonnenbräune ließen seine braunen Augen bernsteinfarben schimmern. Er verzog sein Gesicht zu einer Grimasse, als er mit dem Rasierer Schneisen durch den Rasierschaum zog.

Gekleidet in ein dunkelblaues Poloshirt und Chinos verließ er das Schlafzimmer, stützte sich auf das Geländer der Galerie und beugte sich vor. Er blickte in den Innenhof des riesigen Hauses aus dem 18. Jahrhundert, das er von seinem entehrten Vater, dem Maler Francisco Falcón, geerbt hatte. Nur die Umrisse der Säulen und Bogen waren im gelblichen Licht einer einzelnen Lampe auszumachen, das auch die Bronzeskulptur des Jungen schimmern ließ, der barfuß über den Brunnen hüpfte, und bis in die Nischen hinter den Säulen auf der anderen Seite der Kolonnade fiel, wo noch immer eine längst zur vertrockneten Hülse verwelkte Pflanze stand. Er nahm sich zum hundertsten Mal vor, sie wegzuwerfen. Er hatte seine Haushälterin Encarnación schon vor Monaten darum gebeten, aber sie pflegte sonderbare Anhänglichkeiten: zu ihren tragbaren Jungfrauen, Kreuzwegstationen und dieser elenden Pflanze.

Toast mit Olivenöl, ein kleiner starker Espresso. Als er in den Wagen stieg, hatte das Koffein seine Reaktionen schon geschärft. Er fuhr durch die stickige, unruhige Stadt, die noch vom Tumult des Tages zu keuchen schien, der Asphalt aufgerissen, Pflastersteine auf den Bürgersteigen gestapelt, die Straßen wie umgepflügt, um ihr Innenleben zu entblößen, daneben Baumaschinen in Lauerstellung, bereit, jederzeit wieder loszulegen. Praktisch jede Straße war bis in alle Ewigkeit mit Bändern, Zäunen oder Pollern abgesperrt. Die Luft roch nach römischem Staub, der aus unterirdischen Ruinen aufgewirbelt worden war. Wie konnte irgendjemand bei dem Baulärm zur Ruhe kommen? Aber natürlich hatte alles einen Zweck. Und der hatte nichts mit den Bombenanschlägen von vor ein paar Monaten, sondern vielmehr mit den Anfang 2007 anstehenden Bürgermeisterwahlen zu tun. Die Bevölkerung sollte die Torturen der Wohltätigkeit spüren, die der Amtsinhaber über ihr ausschüttete.

Um diese Zeit, vier Stunden vor Sonnenaufgang, hatte Javier das Zentrum von Sevilla schnell hinter sich gelassen und den Fluss überquert. Er nahm den Umgehungsring und fuhr eine knappe Viertelstunde später auf der Autobahn nach Jerez de la Frontera. Kurz darauf sah er auch schon die Lichter: die OP-Saal-artige Beleuchtung der Halogenlampen, das ungesunde Blau, das irritierende Rot, das langsam rotierende kränkliche Gelb. Er hielt auf dem Standstreifen hinter einem großen Abschleppwagen. Leuchtwesten schwebten scheinbar körperlos durch die Dunkelheit. Es herrschte kaum Verkehr. Falcón überquerte die Autobahn. Der Lärm eines Generators für die Lampen, die die Szenerie grell beleuchteten, übertönte alles. Er sah drei grün-weiße Jeeps der Guardia Civil, zwei Motorräder, einen roten Feuerwehrwagen, einen neongrünen Krankenwagen, einen weiteren kleineren LKW, Halogenlampen auf Stangen, überall Kabel und eine Spur von Scherben der zerborstenen Windschutzscheibe des Lasters, die wie glitzernde Edelsteine auf den Standstreifen gerieselt waren.

Die Feuerwehrleute waren mit ihren Schneidegeräten einsatzbereit, warteten jedoch auf die Ankunft der Gesetzeshüter. Nach Falcón trafen weitere Wagen ein und parkten auf der anderen Seite. Er stellte sich vor, genau wie nach ihm der zuständige Ermittlungsrichter, Jorge und Felipe von der Spurensicherung und der Médico Forense. Der Beamte der Guardia Civil schilderte den von ihnen rekonstruierten Ablauf des Unfalls.

»Der Range Rover fuhr auf der Überholspur von Jerez nach Sevilla mit einer geschätzten Geschwindigkeit von 140 Stundenkilometern. Der Laster war auf der rechten Spur von Sevilla nach Jerez unterwegs, als sein linker Vorderreifen platzte. Der Laster geriet ins Schleudern, scherte auf die Überholspur aus und raste mit circa 110 Stundenkilometern in die Schutzplanke auf dem Mittelstreifen. Durch den Aufprall wurde der Fahrer durch die Windschutzscheibe geschleudert, die Ladung aus Stahlstangen, Holzbrettern und Metallrohren löste sich und flog auf die Überholspur der Gegenfahrbahn. Der Fahrer des LKW wurde über die Fahrbahn geschleudert und landete an der Schutzplanke des gegenüberliegenden Standstreifens. Dreißig Meter hinter der Stelle, wo der Laster die Begrenzung des Mittelstreifens durchbrochen hatte, wurde der Range Rover von zwei Stahlstangen getroffen. Die erste schlug durch die Windschutzscheibe und durchbohrte die Brust des Fahrers, den Vordersitz, die Rückbank und den Boden des Fahrzeugs, wobei sie den Tank nur um Millimeter verfehlte. Die zweite Stange drang durch das Heckfenster und bohrte sich in den Kofferraum. Dabei wurde wahrscheinlich auch der Koffer mit dem Geld aufgerissen. Der Fahrer des Range Rover war auf der Stelle tot, das Fahrzeug außer Kontrolle. Der Wagen ist wahrscheinlich auf einen Teil der verlorenen Ladung des Lasters geprallt und abgehoben, über die Leitplanke geschossen, durch eine Gruppe Kiefern gebrochen und in den Feldern am Fuß der Böschung gelandet.«

»Wenn die Stahlstange den Fahrer mit der kombinierten Geschwindigkeit von 250 Stundenkilometern getroffen hat«, bemerkte der Médico Forense, »würde es mich überraschen, wenn noch etwas von ihm übrig ist.«

»Was von ihm übrig ist, ist kein schöner Anblick«, entgegnete der Beamte der Guardia Civil.

»Ich sehe ihn mir mal an«, sagte der Gerichtsmediziner, »dann können Sie anfangen, ihn herauszuschneiden.«

Felipe und Jorge schlossen eine erste Inspektion des Unfallorts ab und machten Fotos. Danach gesellten sie sich wieder zu Falcón, während der Gerichtsmediziner seine Arbeit erledigte.

»Was zum Teufel machen wir hier?«, fragte Felipe und gähnte breiter als ein Hund. »Es ist kein Mord.«

»Er ist Russe, und wir haben sehr viel Geld gefunden«, erklärte Falcón. »Alle Indizien, die wir sicherstellen, könnten für zukünftige Ermittlungen von Nutzen sein. Fingerabdrücke auf dem Geld oder dem Koffer, ein Handy, ein Adressbuch, vielleicht finden wir sogar einen Laptop …«

»Auf der Rückbank liegt ein Aktenkoffer, der von den Stahlstangen nicht getroffen wurde«, sagte der Beamte der Guardia Civil. »Und auf dem Beifahrersitz steht eine Kühlbox. Beides haben wir noch nicht geöffnet.«

»Ein Beweis mehr, dass wir in Sevilla eine Sondereinheit zur Bekämpfung der Organisierten Kriminalität brauchen«, sagte Jorge.

»Für den Augenblick liegt die Ermittlung in unseren Händen. Sie schicken jemanden von der GRECO Costa del Sol und einen Nachrichtenoffizier von der CICO«, erklärte Falcón. »Schauen wir uns das Geld mal an. Elvira hat mich unterwegs angerufen und gesagt, er habe einen Prosegur-Transporter losgeschickt.«

Der Beamte der Guardia Civil öffnete den Kofferraum, um den sich unvermittelt alle drängten.

»Joder«, sagte einer der Motorradpolizisten.

Das sichtbare Geld bestand aus benutzten 100-Euro- und 50-Euro-Scheinen, die nach ihrem Nennwert zu Päckchen gebündelt waren. Einige der Päckchen waren durch den Aufprall der Stahlstange aufgeplatzt, aber um das Fahrzeug lagen keine losen Scheine.

»Wir brauchen ein bisschen Platz«, sagte Falcón. »Und zieht euch Handschuhe an. Nur die Kriminaltechniker und ich berühren das Geld. Jorge, hol ein paar Mülltüten, für jede Sorte Schein eine.«

Beobachtet von gierigen Augen zählten sie die Geldbündel. Weiter unten in dem Koffer befanden sich mehrere Schichten mit 200-Euro-Scheinen, auf seinem Boden zwei Lagen 500-Euro-Scheine. Jorge holte zwei weitere Mülltüten. Falcón überschlug die Summe.

»Ohne die losen Scheine sind es sieben Millionen sechshundertfünfzigtausend Euro.«

»Das ist garantiert Drogengeld«, vermutete der Beamte der Guardia Civil.

»Wahrscheinlich eher Menschenhandel und Prostitution«, sagte Falcón und rief Elvira an.

Während er noch Bericht erstattete, hielt der Prosegur-Transporter hinter dem letzten Nissan-Jeep. Falcón legte auf. Felipe hatte die Säcke mit den Geldbündeln zu kompakten schwarzen Bündeln zusammengeklebt und versah jetzt jeden Müllbeutel mit einem weißen Klebeetikett. Sie verstauten die vier Packen in dem Kofferraum des Transporters, der mit zwei Schlüsseln abgeschlossen wurde, von denen einer gegen Unterschrift an Falcón ausgehändigt wurde.

Nachdem das Geld abtransportiert war, entspannte sich die Stimmung am Unfallort.

Falcón nahm die Kühlbox heraus und öffnete sie. Krug-Champagner und mehrere Flaschen Stolichnaya zwischen schmelzenden Eisblöcken.

»Ich nehme an, acht Millionen Euro sind Anlass genug für eine kleine Feier«, sagte der Beamte der Guardia Civil. »Mit diesem Koffer hätten wir alle in Pension gehen können.«

Während die Mannschaft eines Feuerwehrwagens begann, die Stahlstangen aus dem Wagen zu winden, machte sich die Mannschaft des zweiten daran, zunächst durch das Seitenfenster den Airbag aufzuschneiden und dann mit Gasschweißbrennern den Türrahmen in Angriff zu nehmen. Wasili Lukjanovs Leiche wurde in mehreren Teilen aus dem Wagen geborgen und in einen offenen Leichensack auf einer Trage gelegt. Seine Arme und Schultern sowie sein Kopf waren intakt, genau wie Beine, Hüften und Unterleib. Der Rest war verdampft. Tiefe rote Furchen zeichneten das Gesicht, wo das Glas der Windschutzscheibe die Haut zerfetzt hatte. Sein linkes Auge war geplatzt, ein Teil seiner Kopfhaut fehlte, und sein rechtes Ohr war ein verstümmelter Lappen aus Knorpel. Seine teilweise weggerissenen Lippen waren zu einem grausamen Grinsen verzogen, einige Zähne aus dem Zahnfleisch gerissen. Sein Schoß war dunkel von seinem eigenen Blut. Seine Schuhe waren brandneu, die Sohlen noch kaum angekratzt.

Ein junger Feuerwehrmann übergab sich in die Oleanderbüsche am Straßenrand. Notärzte verstauten Lukjanov in dem Leichensack und zogen den Reißverschluss zu.

»Die arme Sau«, sagte Felipe und steckte den Koffer in einen Plastiksack. »Acht Millionen im Kofferraum, und dann wird man von einer herumfliegenden Stahlstange aufgespießt.«

»Da ist es noch wahrscheinlicher, dass man im Lotto gewinnt«, meinte Jorge, musterte das Zahlenschloss des Aktenkoffers, versuchte vergeblich, ihn zu öffnen, und nahm ihn dann ebenfalls zu den Beweismitteln. »Er hätte sich ein Los kaufen und zu Hause bleiben sollen.«

»Da haben wir’s doch«, sagte Felipe, der gerade das Handschuhfach geöffnet hatte. »Eine Neun-Millimeter-Glock plus Ersatzmagazin für unseren freundlichen russischen Genossen.«

Er ging die Wagen- und Versicherungspapiere durch, während Jorge einen Packen Mautquittungen durchblätterte.

»Und etwas, um den Tag aufzuhellen«, sagte Jorge und schwenkte ein Plastiktütchen mit weißem Pulver, das zwischen den Quittungen herausgefallen war. »Da kleben noch Blut und Haare dran.«

»Er hat ein Navigationssystem.«

»Hat irgendjemand die Autoschlüssel?«, fragte Felipe über die Schulter.

Der Beamte der Guardia Civil gab ihm den Schlüssel, und sie starteten die Elektrik des Wagens. Felipe spielte mit dem GPS-Gerät herum.

»Er kam aus Estepona und wollte in die Calle Garlopa in Sevilla Este.«

»Das engt den Bereich auf ein paar tausend Wohnungen ein«, sagte Falcón.

»Wenigstens war als Ziel nicht Rathaus, Plaza Nueva, Sevilla eingegeben«, meinte Jorge.

Alle lachten und verstummten gleich wieder, als läge der Gedanke vielleicht gar nicht so weit von der Wahrheit entfernt.

Nach einer weiteren Stunde hatten sie den Wagen vollständig durchsucht. Die Tüten mit den gesicherten Beweismitteln in der Hand überquerten sie die Autobahn, luden sie in ihren Transporter und fuhren davon. Falcón beaufsichtigte noch die Verladung des Range Rover auf den Abschleppwagen.

An den Rändern der Welt brach das erste Licht durch, als er zu der Stelle zurückging, wo der Laster gegen die Leitplanke geprallt war und eine große Beule hinterlassen hatte. Der Laster war auf den Standstreifen geschleppt und von einem Abschleppwagen auf den Haken genommen worden. Falcón rief Elvira an, um zu melden, dass der Prosegur-Transporter unterwegs war, und um sich zu vergewissern, dass jemand in der Jefatura das Geld in Empfang nehmen würde. Es musste noch kriminaltechnisch untersucht werden, ehe man es zur Bank schicken konnte.

»Was noch?«, fragte Elvira.

»Ein verschlossener Aktenkoffer, eine Pistole, ein blutüberströmter Totschläger, Krug-Champagner, Wodka und ein paar Gramm Kokain«, sagte Falcón. »Wasili Lukjanov hat wohl gern wilde Partys gefeiert.«

»Oder was man so wilde Partys nennt«, erwiderte Elvira. »Im Juni wurde er unter dem Verdacht festgenommen, ein sechzehnjähriges Mädchen aus Málaga vergewaltigt zu haben.«

»Und er ist ungeschoren davongekommen?«

»Die Vorwürfe gegen ihn und einen weiteren Schläger namens Nikita Sokolov wurden fallen gelassen, was man, wenn man Fotos von dem Mädchen gesehen hat, nur als Wunder bezeichnen kann«, sagte Elvira. »Aber ich habe in Málaga angerufen und erfahren, dass das Mädchen mit seinen Eltern in ein funkelnagelneues Haus mit vier Schlafzimmern in einem Neubaugebiet am Stadtrand von Nerja gezogen ist, wo ihr Vater kürzlich ein Restaurant eröffnet hat … in dem seine Tochter jetzt arbeitet. In dieser neuen Welt komme ich mir alt vor, Javier.«

»Da draußen gibt es eine Menge wohlgenährter Leute, die immer noch hungrig sind«, sagte Falcón. »Sie hätten die Reaktionen auf das ganze Geld im Kofferraum des Russen sehen sollen.«

»Aber Sie haben doch alles sichergestellt, oder?«

»Wer weiß, ob nicht ein paar Bündel verschwunden sind, bevor ich angekommen bin …«

»Ich rufe Sie an, wenn Vicente Cortés hier ist, dann treffen wir uns in meinem Büro«, sagte Elvira. »Vielleicht sollten Sie nach Hause fahren und noch ein paar Stunden schlafen.«

Sie kamen kurz vor Anbruch der Dämmerung, um Alexej zu holen, und kriegten ihn erst nicht wach. Der eine musste an der Seite der Villa über eine flache Mauer in den Garten klettern und das Schloss der Terrassentür aufbrechen, um seinem Freund die Tür zu öffnen. Der zog sofort seine Stechkin APS, die Pistole, die er behalten hatte, als er Anfang der 90er Jahre den KGB verlassen hatte.

Sie gingen nach oben. Alexej lag, eine Flasche Whisky neben sich, in ein Laken gewickelt wie tot auf dem Boden des Schlafzimmers. Als sie ihn mit Tritten traktierten, kam er stöhnend zu sich.

Sie steckten ihn unter die Dusche und ließen das kalte Wasser laufen. Alexej stöhnte, als würde er immer noch getreten. Die Muskeln unter seinen Tätowierungen zitterten. Ein paar Minuten richteten sie den kalten Strahl auf ihn, dann ließen sie ihn heraus. Er rasierte sich mit den beiden Männern im Spiegel und nahm ein paar Aspirin, die er mit Leitungswasser schluckte. Sie führten ihn ins Schlafzimmer, wo sie zusahen, wie er seinen besten Sonntagsanzug anlegte. Der Ex-KGB-Mann saß auf dem Bett und ließ seine Stechkin APS zwischen den Knien baumeln.

Sie gingen nach unten und hinaus in die Hitze. Die Sonne war gerade erst aufgegangen, das Meer war blau, bis auf die Vögel am Himmel rührte sich praktisch nichts. Sie stiegen in den Wagen und fuhren den Hügel hinunter.

Zehn Minuten später saßen sie in Wasili Lukjanovs Büro im Club, nur dass hinter dem Schreibtisch Leonid Revnik thronte und eine H.-Upman-Coronas-Junior-Zigarre rauchte. Er hatte millimeterkurz geschorenes graues Haar und ausgeprägte Geheimratsecken. Seine breiten Schultern steckten in einem sehr teuren Hemd aus der Jermyn Street.

»Hast du gestern Abend mit ihm gesprochen?«, fragte Revnik.

»Mit Wasili? Ja, ich habe ihn irgendwann erreicht«, sagte Alexej.

»Wo war er?«

»Auf dem Weg nach Sevilla. Ich weiß nicht, wo genau.«

»Was hatte er zu sagen?«, fragte Revnik.

»Dass Juri Donstov ihm ein Angebot gemacht hat, das du ihm in einer Million Jahren nicht gemacht hättest.«

»Da hat er allerdings recht«, sagte Revnik. »Was noch?«

Alexej zuckte mit den Schultern. Revnik blickte auf. Eine harte Faust traf Alexejs Schläfe und riss ihn mitsamt dem Stuhl zu Boden.

»Was noch?«, wiederholte Revnik.

Sie hoben Alexej und seinen Stuhl wieder in die Vertikale. Auf einer Seite seines Gesichts konnte man bereits eine Schwellung erkennen.

»Was soll’s«, sagte Alexej. »Er hatte einen Unfall.«

Das weckte Revniks Aufmerksamkeit. »Erzähl mir davon.«

»Wir haben geredet, und plötzlich sagte er: ›Was zum Henker ist das …‹ Und dann hörte man ein Krachen, quietschende Reifen, einen Aufprall, und die Verbindung war tot.«

Revnik schlug auf den Schreibtisch. »Warum hast du uns das nicht schon gestern Abend erzählt, verdammt noch mal?«

»Ich war besoffen. Ich war völlig hinüber.«

»Du weißt, was das heißt?«, sagte Revnik zu niemand Bestimmtem und wies mit der Hand quer durch den Raum. »Es heißt, dass das, was vorher da drin war, jetzt in den Händen der Polizei ist.«

Alle starrten auf den leeren Safe.

»Schafft ihn weg«, sagte Revnik.

Sie brachten ihn zurück zum Wagen und fuhren ein Stück in die Berge. Nach der kühlen Nacht hing ein satter Kieferngeruch in der Luft. Sie führten ihn in den Wald, wo der Ex-KGB-Mann endlich seine Stechkin APS einsetzen konnte.

ZWEI

Stadtrand von Sevilla – Freitag, 15. September 2006, 8.30 Uhr

Die Sonne war vor fünfundzwanzig Minuten über den flachen Feldern der Flutebene des Guadalquivir aufgegangen. Als Falcón um 8.30 Uhr zurück in die Stadt kam, herrschten schon Temperaturen von 30 Grad. Zu Hause legte er sich vollständig bekleidet bei laufender Klimaanlage aufs Bett und versuchte einzuschlafen. Es war zwecklos. Er trank einen weiteren Kaffee und machte sich auf den Weg ins Büro.

Die kurze Fahrt führte ihn am Fluss entlang, vorbei an den von Speerspitzen gekrönten Zäunen und Toren der Maestranza, der großen Stierkampfarena mit ihrer weißen Fassade, glatt und glänzend wie die Glasur eines Kuchens, den bullaugenartigen Fenstern, dunkelroten Türen und ockerfarbenen Läden. Die Dattelpalmen unweit des Torre del Oro ließen unter einem schon jetzt ausgeblichenen Himmel die Wedel hängen, und als er über die San-Telmo-Brücke fuhr, war das träge fließende Wasser des Flusses beinahe grün und bar jedes herbstlichen Glanzes.

Die Plaza de Cuba und die abgehenden Einkaufsstraßen waren wie leer gefegt und erinnerten daran, dass immer noch eine sommerliche Hitze auf die längst geschlagene Stadt eindrosch. Als die Sevillanos aus den Augustferien heimgekehrt waren, war ihre frische Vitalität schnell in stickigen Wohnungen verpufft, von Stromausfällen strapaziert und der schwülen, kaum zu atmenden Luft in der Innenstadt ausgelaugt worden. Die Stürme zum Ende des Sommers, die die Pflastersteine sauber schrubbten, die dankbaren Bäume gossen, die uninspirierte Atmosphäre wegspülten und Licht an den verblassten Himmel zurückbrachten, waren noch nicht gekommen. Seit Mai hatte es keine Atempause gegeben, und die Fächer der Damen öffneten sich nicht mehr mit dem gewohnt entschlossenen Klacken, sondern flatterten in resignierter Schüttellähmung bei dem Gedanken an einen weiteren Monat endlosen Gewedels.

Um 10.15 Uhr war noch niemand im Büro. Um seinen Schreibtisch stapelten sich nach wie vor kniehoch die Akten zu dem Bombenanschlag vom 6. Juni. Der Prozess gegen die beiden überlebenden Verdächtigen würde Monate, vermutlich sogar Jahre dauern, und es gab absolut keine Erfolgsgarantie. Die Wandtafel mit Namen und Verbindungslinien, die gegenüber von Falcóns Schreibtisch hing, sagte alles – in dem, was die Medien mittlerweile die Katholische Verschwörung nannten, gab es eine Lücke oder besser gesagt eine Sackgasse.

Jedes Mal, wenn er sich an seinen Schreibtisch setzte, sah er sich mit denselben fünf Fakten konfrontiert:

1. Obwohl man beiden in Untersuchungshaft sitzenden Verdächtigen eine Verbindung zu den Rädelsführern der Verschwörung hatte nachweisen können – alle vier waren rechtsgerichtete, stramme Katholiken, daher der Name in der Presse –, hatte keiner von beiden eine Ahnung, wer die Bombe gelegt hatte, die am 6. Juni einen Wohnblock und einen angrenzenden Vorschulkindergarten von Sevilla zerstört hatte.

2. Die Anführer der Verschwörung, Lucrecio Arenas und César Benito, waren ermordet worden, bevor man sie verhaften konnte. Ersterer war erschossen worden, als er gerade in seinen Swimmingpool in Marbella springen wollte, Letzterem hatte man in einem Hotelzimmer in Madrid einen derart brutalen Handkantenschlag gegen den Hals versetzt, dass er erstickt war.

3. In den letzten drei Monaten hatten auf Veranlassung des Vorstands verschiedene Dienststellen die Büroräume der Banco Omni in Madrid durchsucht, deren Generaldirektor Lucrecio Arenas gewesen war. Sie hatten sämtliche seiner alten Kollegen und Geschäftspartner befragt, seine Privatgrundstücke durchsucht und seine Familie gründlich vernommen, jedoch nichts gefunden.

4. Desgleichen hatte man das Bürogebäude der Horizonte-Gruppe in Barcelona, wo César Benito als Architekt und Direktor der Immobilienabteilung tätig gewesen war, sowie seine Wohnungen und Häuser an der Costa del Sol und sein Atelier durchsucht und jeden befragt, der ihn gekannt hatte, ebenfalls ergebnislos.

5. Sie hatten versucht, sich Zutritt zur Zentrale der I4IT (Europa) in Madrid zu verschaffen, der europäischen Dependance einer amerikanischen Investment-Gruppe, die von zwei wiedergeborenen Christen aus Cleveland, Ohio, geführt wurde, die letztendlich auch Eigentümer der Horizonte-Gruppe waren. Aber die Amerikaner hatten mit dem Argument, die Polizei habe kein Recht, ihre Büros zu betreten, und Hilfe eines Teams hoch bezahlter Rechtsanwälte erfolgreich alle Ermittlungen abgeblockt.

Jedes Mal, wenn Falcón sich auf seinen Bürostuhl fallen ließ, sah er diese Wandtafel und die harte Backsteinmauer dahinter.

Die Welt hatte sich weitergedreht, das Leben war wie immer weitergegangen, selbst nach New York, Madrid und London, aber Falcón konnte nicht anders, als auf der Stelle zu treten und ziellos durch das Labyrinth von Gängen zu wandern, zu dem die Verschwörung in seinem Kopf geworden war. Und wie immer verfolgte ihn dabei das Versprechen, das er den Menschen von Sevilla am 10. Juni vor zahllosen Fernsehkameras gegeben hatte: Er würde die Täter des Bombenanschlags finden, und wenn es den Rest seiner beruflichen Laufbahn dauern würde. Dem musste er sich jedes Mal stellen, wenn er allein im Dunkeln aufwachte, auch wenn er das Comisario Elvira gegenüber nie zugeben würde. Er war ins Herz der Verschwörung vorgedrungen, hatte es geschafft, die schwarze Burg zu betreten, war jedoch nicht belohnt worden und konnte jetzt nur noch hoffen, auf eine »Geheimtür« oder einen »verborgenen Gang« zu stoßen, die ihn zu dem führen würden, was er nicht sehen konnte.

Ihm war aufgefallen, dass er in diesen langen drei Monaten in seinen Gedanken immer wieder auf eine Person zurückgekommen war: den entehrten Staatsanwalt Esteban Calderón und damit auch auf dessen Freundin, die kubanische Holzschnitzerin Marisa Moreno.

»Inspector Jefe?«

Falcón blickte von der dunklen Grube seines Bewusstseins in das strahlend offene Gesicht einer seiner besten jungen Kolleginnen, der Ex-Nonne Cristina Ferrera. Nichts an Cristina ließ sie besonders attraktiv erscheinen – die kleine Nase, das breite Lächeln, die kurzen, matt blonden Haare, alles auf Anhieb nicht gerade umwerfend. Aber ihre inneren Werte – ein großes Herz, eine unerschütterliche moralische Überzeugung und außergewöhnliches Mitgefühl – waren ihr trotzdem irgendwie anzusehen, und das hatte Falcón bereits bei dem Vorstellungsgespräch für den Job, den sie jetzt hatte, so anziehend gefunden.

»Ich dachte mir schon, dass Sie hier sind«, sagte sie, »aber Sie haben nicht geantwortet. Früh auf den Beinen?«

»Ein schillernder Russe wurde von einer fliegenden Stahlstange auf der Autobahn getötet«, sagte Falcón. »Haben Sie etwas für mich?«

»Sie haben mich vor zwei Wochen gebeten, mir die Freundin von Staatsanwalt Calderón mal genauer anzusehen und herauszufinden, ob diese Marisa Moreno irgendwelchen Dreck am Stecken hat«, sagte Ferrera.

»Was für ein Zufall, ich habe gerade an sie gedacht«, erwiderte Falcón. »Weiter.«

»Machen Sie sich keine allzu großen Hoffnungen.«

»Ich sehe an Ihrem Gesicht«, sagte Falcón, und sein Blick schweifte wieder zu der Wandtafel, »dass es in jedem Fall ein mageres Ergebnis für zwei Wochen Arbeit ist.«

»Keine konzentrierte Arbeit, und Sie wissen ja, wie das hier in Sevilla läuft: Alles braucht seine Zeit«, entgegnete Ferrera. »Dass sie keinen Eintrag im Strafregister hat, wussten Sie ja schon.«

»Und was haben Sie herausgefunden?«, fragte Falcón, der ihren veränderten Tonfall bemerkt hatte.

»Nachdem ich etliche Menschen bewegen konnte, in den lokalen Polizeiarchiven zu graben, habe ich eine Referenz entdeckt.«

»Eine Referenz?«

»Sie hat jemanden vermisst gemeldet. Ihre Schwester Margarita, im Mai 1998.«

»Vor acht Jahren?«, fragte Falcón und blickte zur Decke. »Ist das von Interesse?«

»Es ist das Einzige, was ich finden konnte«, antwortete Ferrera achselzuckend. »Margarita war siebzehn und schon von der Schule abgegangen. Die lokale Polizei hat nichts weiter unternommen, als einen Monat später noch einmal nachzufragen, worauf Marisa berichtete, ihre Schwester wäre gefunden worden. Offenbar hatte das Mädchen die Stadt zusammen mit ihrem Freund verlassen, von dem Marisa nichts wusste. Sie waren in Madrid, bis ihnen das Geld ausging, und sind dann zurückgetrampt. Das war’s. Ende der Geschichte.«

»Nun, das bietet mir zumindest einen Vorwand, Marisa Moreno zu besuchen«, sagte Falcón. »Ist das alles?«

»Haben Sie die Nachricht des Gefängnisdirektors gesehen? Ihr Termin mit Esteban Calderón heute um eins ist bestätigt worden.«

»Perfekt.«

Ferrera ging, und Falcón war in seinem Kopf wieder allein mit Marisa Moreno und Esteban Calderón. Es gab einen naheliegenden Grund, warum er immer wieder auf Calderón zurückkam: Man hatte den brillanten, aber arroganten Staatsanwalt, der die Ermittlungen wegen des Bombenanschlags vom 6. Juni leitete, in einem absolut entscheidenden Moment der Untersuchung dabei ertappt, wie er versuchte, die Leiche seiner Frau Inés im Guadalquivir zu versenken. Inés war in erster Ehe mit Javier Falcón verheiratet gewesen, der als Leiter der Mordkommission zum Tatort gerufen worden war. Als man das Leichentuch vom Kopf der Toten entfernt hatte, hatte er unvermittelt in Inés’ schönes, lebloses Gesicht geblickt und war ohnmächtig geworden. Unter den gegebenen Umständen hatte man die Untersuchung des Mordes einem Außenstehenden übertragen, Inspector Jefe Luis Zorrita aus Madrid. Bei der Befragung von Marisa Moreno hatte Zorrita herausgefunden, dass Calderón sie in der fraglichen Nacht spät verlassen, ein Taxi nach Hause genommen und mit seinem Schlüssel die zweifach verschlossene Wohnung betreten hatte. Zorrita hatte eine erdrückende Fülle grausiger Details zusammengetragen, darunter häusliche Gewalt und sexuellen Missbrauch, und einem wie betäubten Calderón ein Geständnis entlockt, worauf dieser angeklagt worden war. Seitdem hatte Falcón nur einmal mit dem Staatsanwalt gesprochen, in einer Arrestzelle kurz nach der Tat. Jetzt war er nervös, nicht weil er ein Wiederaufleben alter Gefühle befürchtete, sondern weil er nach seinem Aktenstudium hoffte, einen winzigen Spalt zum Herz der Verschwörung entdeckt zu haben.

Das Telefon klingelte auf einer internen Leitung. Comisario Elvira informierte Falcón, dass Vicente Cortés von der GRECO Costa del Sol eingetroffen war. Falcón fragte kurz bei der Spurensicherung nach, die bisher nur Fingerabdrücke von Wasili Lukjanov gefunden hatte. Man wollte jetzt mit der Untersuchung des Geldes beginnen, wofür man Falcóns zweiten Schlüssel brauchte. Er ging nach unten in die kriminaltechnische Abteilung.

»Sagt mir Bescheid, wenn ihr fertig seid, dann stecke ich das Geld in den Safe, bis wir es zur Bank bringen lassen können«, sagte Falcón. »Was ist mit dem Aktenkoffer?«

»Das Interessanteste waren die gut zwanzig CD-ROMs und DVDs«, antwortete Jorge. »Wir haben eine abgespielt. Sah aus wie Aufnahmen einer versteckten Kamera, irgendwelche Typen, die koksten und Sex mit jungen Frauen hatten, ein bisschen SM und so.«

»Aber ihr habt sie noch nicht auf Computer überspielt, oder?«

»Nein, wir haben sie einfach auf einem DVD-Player laufen lassen.«

»Wo sind die CDs und DVDs jetzt?«

»Sie liegen auf unserem Safe.«

Falcón schloss das Material ein und nahm den Fahrstuhl zu Comisario Elviras Büro, wo er Vicente Cortés von der Sondereinheit zur Bekämpfung des Organisierten Verbrechens und Martín Díaz von der CICO vorgestellt wurde, der Koordinationsstelle Organisierte Kriminalität. Beide waren junge Männer von Mitte dreißig. Cortés war ein gelernter Buchhalter, dessen muskulöse Schultern und Arme, die sich unter seinem weißen Hemd abzeichneten, jedoch davon zeugten, dass er ein paar Hindernisparcours absolviert haben musste, seit er sein Examen im Erbsenzählen abgelegt hatte. Er hatte braunes, nach hinten gekämmtes Haar, grüne Augen und Lippen, die immer wie zu einem herablassenden Grinsen verzogen waren. Díaz war Computer-Experte und Linguist, der mit arabischen und russischen Sprachkenntnissen aufwarten konnte. Er trug einen vermutlich maßgeschneiderten Anzug, denn der Mann war knapp zwei Meter groß. Er spielte Basketball auf beinahe professionellem Niveau. Er hatte dunkles Haar und braune Augen und stand leicht gebeugt, vermutlich eine Folge seines Bemühens, seiner einen halben Meter kleineren Frau zuzuhören. So sah heute die Realität der Bekämpfung des organisierten Verbrechens aus – Buchhalter und Computer-Freaks statt Spezialeinheiten und Scharfschützen der Polizei.

Falcón erstattete den drei Männern Bericht. Elvira mit seinem dunklen, wie mit dem Laser gescheitelten Haar rückte die ganze Zeit Akten auf seinem Tisch zurecht und nestelte an dem perfekten Knoten seiner blauen Krawatte herum. Er war konservativ, konventionell und hielt sich immer streng an die Vorschriften, ein Auge auf seinem Posten, das andere auf seinem Vorgesetzten, dem Jefe Superior Andrés Lobo.

»Wasili Lukjanov führte eine Reihe von puti clubs an der Costa del Sol und an den Hauptstraßen rund um Granada«, sagte Cortés. »Menschenhandel, Sexsklaverei und Prostitution waren seine Haupt-«

»Sexsklaverei?«, fragte Falcón.

»Heutzutage kann man ein Mädchen für eine beliebige Dauer mieten. Sie macht alles für einen, von der Hausarbeit bis zum Sex. Wenn man ihrer überdrüssig ist, gibt man sie zurück und besorgt sich eine Neue. Das kostet fünfzehnhundert Euro die Woche«, sagte Cortés. »Die Mädchen werden auf regelrechten Märkten gehandelt. Sie kommen aus Moldawien, Albanien oder auch Nigeria und werden bis zu zehn Mal gekauft und wieder verkauft, bevor sie überhaupt hier landen. Der übliche Preis liegt bei etwa dreitausend Euro, je nach Aussehen. Bis ein Mädchen in Spanien eintrifft, sind als Kaufpreis womöglich Summen von insgesamt dreißigtausend Euro zusammengekommen – die sie abzahlen muss. Ich weiß, dass das unlogisch ist, aber nur für Sie und mich, nicht für Leute wie Wasili Lukjanov.«

»Wir haben in seinem Wagen Kokain gefunden. Ist das ein Nebengeschäft oder …?«

»Er ist kürzlich in den Vertrieb von Kokain eingestiegen. Oder genauer gesagt, sein Bandenchef hat einen Deal für Ware abgeschlossen, die über Galicien ins Land kommt, und man hat auch irgendein Agreement mit den Kolumbianern bezüglich ihrer Aktivitäten an der Costa del Sol getroffen.«

»Und wo stand Lukjanov in der Hierarchie?«, fragte Elvira.

Cortés nickte Díaz zu.

»Schwer zu sagen, und wir fragen uns auch, was es zu bedeuten hat, dass er mit fast acht Millionen Euro in einem Wagen auf dem Weg nach Sevilla war«, sagte Díaz. »Er ist wichtig. Die Russen machen zurzeit riesige Profite mit dem Sex-Geschäft, im Moment mehr als mit Drogen. Die Hierarchie war im vergangenen Jahr problematisch, weil wir 2005 die Operation Avispa durchgeführt haben und der georgische Boss der russischen Mafia in Spanien nach Dubai geflohen ist.«

»Nach Dubai?«, fragte Elvira.

»Dorthin geht man heutzutage als Verbrecher, Terrorist, Waffenhändler, Geldwäscher …«

»Oder Bauunternehmer«, beendete Cortés den Satz. »Es ist die Costa del Sol des Nahen Ostens.«

»Ist dadurch hier in Spanien ein Machtvakuum entstanden?«, fragte Falcón.

»Nein, seine Position wurde von Leonid Revnik eingenommen, der aus Moskau geschickt wurde, um die Kontrolle zu übernehmen. Das kam bei den Mafia-Soldaten im Feld nicht besonders gut an, vor allem weil er als Erstes zwei führende Mafia-›Direktoren‹ einer der Moskauer Brigaden hinrichten ließ, die sein Territorium verletzt hatten«, sagte Díaz.

»Sie wurden beide gefesselt, geknebelt und mit einem Schuss in den Hinterkopf in der Sierra Bermeja gefunden, zehn Kilometer nördlich von Estepona«, sagte Cortés.

»Wir nehmen an, dass es sich um eine alte Fehde aus dem Moskau der 90er Jahre handelt, aber es hat für enorme Nervosität unter den Soldaten gesorgt, weil sie fortan nicht nur ihre Geschäfte abwickeln, sondern auch noch vor Racheakten auf der Hut sein mussten. In diesem Jahr sind bereits vier Personen ›verschwunden‹. Ein solches Maß an Gewalttätigkeit ist ungewöhnlich. Keine der anderen Mafia-Gruppen – die Türken und Italiener, die den Heroinhandel kontrollieren; die Galicier, die die Hand auf dem Kokain haben; die Marokkaner, die Menschen und Haschisch schmuggeln – verübt hierzulande spektakuläre Gewalttaten, wie sie in ihren jeweiligen Heimatländern gang und gäbe sind, weil Spanien als sicherer Zufluchtsort gilt. Diese Banden sind unseren alten Freunden, den arabischen Waffenhändlern gefolgt, die ihre globalen Geschäfte von der Costa del Sol aus führen. Die ist für alle nur eine gigantische Geldwaschmaschine, weshalb auch niemand Aufmerksamkeit erregen will. Den Russen hingegen scheint das vollkommen egal zu sein.«

»Haben Sie irgendeine Ahnung, warum Wasili Lukjanov mit acht Millionen Euro im Kofferraum auf dem Weg nach Sevilla war?«, fragte Elvira.

»Leider nein. Was die Aktivitäten in Sevilla betrifft, bin ich nicht auf dem Laufenden. Möglicherweise hat die CICO in Madrid nachrichtendienstliche Erkenntnisse über die hiesigen Vorgänge. Ich habe schon eine Anfrage gestellt«, sagte Díaz. »Es würde mich allerdings nicht überraschen, wenn sich hier eine Konkurrenzgruppe breitmachen wollte. Leonid Revnik ist zweiundfünfzig und ein Vertreter der alten Schule. Ich vermute, er hat einen Mann wie Wasili Lukjanov mit Argwohn betrachtet, weil der nicht im russischen Gefängnissystem aufgestiegen ist, sondern ein Veteran des Afghanistan-Krieges war, der sich in die Hierarchie eingekauft und mit Frauen gearbeitet hat, die Revnik ungeachtet der Rentabilität vermutlich für minderwertig hält.«

»Wie rentabel?«, fragte Elvira.

»Wir haben in Spanien vierhunderttausend Prostituierte, die einen Umsatz von 18 Milliarden Euro machen«, sagte Díaz. »Spanien hat die meisten Freier und den höchsten Kokainkonsum in ganz Europa.«

»Sie glauben also, dass Leonid Revnik Wasili Lukjanov verachtet hat, weshalb dieser für Angebote offen war, die seine Erfahrung in einem äußerst profitablen Geschäftsbereich nutzen wollten?«

»Könnte sein«, antwortete Díaz. »Revnik war in Moskau. Wir haben ihn erst nächste Woche zurückerwartet, aber er ist früher wiedergekommen. Vielleicht hat er gehört, dass Lukjanov aktiv werden wollte. Eins kann ich sicher sagen: Lukjanov hätte so etwas bestimmt nicht auf eigene Faust riskiert. Er brauchte Schutz, aber wer ihn unterstützt hat, weiß ich nicht.«

»Und die acht Millionen?«, fragte Elvira, immer noch unzufrieden.

»Das ist eine Art Eintrittsgeld. Damit war Lukjanov gezwungen, alle Brücken hinter sich abzubrennen«, erklärte Cortés. »Nachdem er eine solche Summe gestohlen hatte, konnte er unmöglich wieder zu Revnik zurückkehren.«

»Die CDs und DVDs in dem Koffer, die ich in meinem ersten Bericht erwähnt habe«, sagte Falcón. »Aufnahmen mit versteckter Kamera, ältere Männer mit jungen Frauen …«

»So machen die Russen ihre Geschäfte. Sie korrumpieren jeden, mit dem sie in Kontakt kommen«, sagte Cortés. »Vielleicht erfahren wir ja bald, wie unsere Stadtplaner, Stadträte, Bürgermeister und vielleicht sogar leitende Polizisten ihre Sommerferien verbringen.«

Comisario Elvira strich über sein perfekt gescheiteltes Haar.

DREI

Gefängnis von Sevilla, Alcalá de Guadaira –Freitag, 15. September 2006, 13.05 Uhr

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