Anders frei als du - Christine Fehér - E-Book

Anders frei als du E-Book

Christine Fehér

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Beschreibung

Die 16-jährige Malina hat sich nie groß für Religion interessiert, als sie sich in den türkischen Jungen Tarik verliebt. Die Besuche bei seiner Familie offenbaren ihr eine völlig neue Welt der Rituale, Traditionen und des Zusammenhalts. Der Islam gibt ihrem Leben eine ungekannte Tiefe und bei Malina entsteht der Wunsch, Muslima zu werden – auch als die Beziehung zu Tarik zerbricht. Doch ihr Umfeld reagiert mit Unverständnis und Ablehnung ...

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Seitenzahl: 340

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DIE AUTORIN

Foto: © Random House/Isabelle Grubert

Christine Fehér wurde 1965 in Berlin geboren. Neben ihrer Arbeit als Lehrerin schreibt sie seit Jahren erfolgreich Kinder- und Jugendbücher und hat sich einen Namen als Autorin besonders authentischer Themenbücher gemacht. Für ihr zuletzt veröffentlichtes Jugendbuch »Dann mach ich eben Schluss« wurde sie 2014 mit dem Buxtehuder Bullen ausgezeichnet.

Von der Autorin sind außerdem bei cbt erschienen:

Dann mach ich eben Schluss

Ausgeloggt

Vincent, 17, Vater

Elfte Woche

Dann bin ich eben weg

Schwarze Stunde

Dornenliebe

Christine Fehér

Anders frei

als du

Mit Nachworten von

Dr. Martin Mahmud Kellner

und Sabine Stierle

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
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Kinder- und Jugendbuchverlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe
Dieses Buch ist ein Roman. Mit Ausnahme der zeitgeschichtlichen Figuren sind die Charaktere in dieser Geschichte reine Fiktion. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind nicht beabsichtigt und rein zufällig.
© 2016 by cbt Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München. Alle Rechte vorbehalten Umschlaggestaltung: init | Kommunikationsdesign, Bad Oeynhausen Umschlagmotiv: © Gettyimages/Eduardo Estéllez mi · Herstellung: kw Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach ISBN: 978-3-641-16760-8V002
www.cbt-buecher.de

1.

»Malina fehlt«, stellt Herr Bischoff, der Englischlehrer, fest, als er seinen Blick über die 11b schweifen lässt und seine Augen an dem leeren Stuhl neben Nele hängen bleiben. Er schreibt einen entsprechenden Vermerk ins Klassenbuch. »Weiß jemand etwas von ihr, ist sie länger krank? Nele?«

Allgemeines Schulterzucken. Die Sommerferien sind noch nicht lange vorbei, die Schule nervt, fast alle sind in Gedanken noch im Urlaub. Wieder am Strand liegen, das wäre es jetzt. Englisch reden, okay, aber lieber mit der Sommerliebe oder anderen Jugendlichen, die man auf dem Campingplatz oder im Hotel getroffen hat. Locker vor sich hin plaudern über Themen, die alle interessieren, oder einfach nur Blödsinn labern, ein wenig stolz darauf sein, wie gut das schon klappt. Englisch ist cool, solange es sich nicht um das dreht, was im Buch steht.

»Klar ist sie krank«, tönt Marvin aus der letzten Reihe. »Die ist doch nicht mehr normal, ganz komisch ist sie geworden, seit sie mit Kopftuch herumläuft. An die kommt keiner mehr ran.« Zustimmendes Nicken von allen Seiten.

»Nesrin fehlt auch. Die Moslems sind heute alle nicht da«, weiß Jannik zu berichten. »Heute ist doch das Ende des Ramadan, da haben sie Fastenbrechen und feiern den ganzen Tag. Malina ist bestimmt bei irgendwelchen Türken zu Gast oder kriecht in der Moschee auf dem Teppich rum.«

»Es heißt Muslime, nicht Moslems«, korrigiert Nele. Früher war Malina ihre beste Freundin. Eine Ewigkeit scheint das her zu sein, manchmal erscheinen Monate wie Jahre. Die alte Malina fehlt ihr, manchmal fehlt sie ihr so sehr, dass sie schreien könnte. Wenn sie sich neue Klamotten gekauft hat und sie ihr gern zeigen würde. Wenn ein süßer Junge ihr auf Facebook eine Freundschaftsanfrage geschickt hat, aber keine Nachricht dazu sendet. Wenn die zickige Bemerkung einer Mitschülerin sie verletzt oder wenn sie sich über ihre Eltern nur noch aufregen könnte. Aber nicht mit der neuen, so sehr veränderten Malina. Mit ihr geht nichts mehr, zwischen ihnen ist eine Mauer entstanden, die jedes unbefangene Miteinander unmöglich macht. Und eine neue beste Freundin findet sich nicht so leicht. Es stimmt nicht, dass jeder Mensch ersetzbar ist, auch wenn das oft behauptet wird. Die alte Malina, Neles engste Vertraute, kann niemand ersetzen.

Der Lehrer nickt nachdenklich und legt seinen Kugelschreiber hin.

»Dass sie sich verändert hat, ist mir auch aufgefallen«, sagt er. »Nicht nur äußerlich. Auch auf mich wirkt sie unnahbar. Im Unterricht macht sie allerdings so gut mit wie immer. Habt ihr schon mal versucht, mit ihr zu reden?«

»Wie denn, wenn sie sich so isoliert?«, ereifert sich Lydia und knetet mit der Hand ihre langen roten Locken. »Malina ist so anders geworden. Ausgerechnet sie, der früher kein Rock kurz genug sein konnte. Jetzt rennt sie dauernd in die Moschee und verhüllt ihren Körper.«

»Ihren sexy Körper«, witzelt Enzo, der in der Klasse das Sagen hat, und formt mit den Händen weibliche Rundungen nach.

»Halt die Klappe, du Wichser«, faucht Nele. »Solche Typen wie du sind vielleicht mit schuld daran. Es steht nun mal nicht jede auf Typen, die nur an das Eine denken. Vielleicht hat Malina eure dusseligen Sprüche einfach nur satt.«

»Hör mal, auf wessen Seite stehst du eigentlich?«, ereifert sich Noel, der vor Monaten mal mit Malina zusammen war, ganz kurz nur, kaum der Rede wert. Damals war sie ein bisschen flatterhaft gewesen, hatte es nie lange mit jemandem ausgehalten. Zumindest glaubten das alle.

»Können wir bitte sachlich bleiben«, mahnt der Lehrer. »Ihr meint also, Malina fühlt sich zum Islam hingezogen? Oder wird sie da von ihrem Freund bevormundet?«

»Hingezogen? Sie ist konvertiert, gehört längst zum Islam. Wussten Sie das nicht?«, wundert sich Neles Zwillingsbruder Luca, der die gleichen blonden Haare und graublauen Augen hat wie seine Schwester, aber viel sanfter und ruhiger in seinem Wesen ist. Herr Bischoff schüttelt den Kopf.

»So weit ist es schon? Nein, das war mir nicht klar. Ich habe damit gerechnet, dass das ein Thema werden wird«, gibt er zu. »Dass sie schon konvertiert ist … nein, das wusste ich nicht. Hat denn keiner von euch vorher mit ihr reden können? Ihr Zwillinge kennt sie doch näher, seid ihr nicht Nachbarn? Aber die Frage geht natürlich an die ganze Klasse.«

Nele sieht ihn an, als ob er ihr die erste Mondlandung als Neuigkeit vermitteln wollte.

»Sie liest im Koran, hat sich einer islamischen Gemeinde angeschlossen und geht regelmäßig in die Moschee«, antwortet sie. »Andere Musliminnen bezeichnet sie als Schwestern. Noch Fragen?«

»Mit Malina kann man nicht reden«, springt Bastian ihr bei. Er spielt an seinem Kreuz aus Edelstahl herum, das er an einem Lederband um den Hals trägt. »Die hat ’ne Gehirnwäsche hinter sich, mindestens. Drehung um hundertachtzig Grad. Ein ganz anderer Mensch ist sie geworden.«

»Man kommt nicht an sie ran«, meint auch Luca. »Wir sind alle mit unserem Latein am Ende. Malina hat sich da in was ganz Schlimmes verrannt. Irgendwann haut sie vielleicht noch ab nach Syrien, es soll ja immer mehr Mädchen geben, die so drauf sind. Die finden es toll, die Frau eines islamistischen Selbstmordattentäters zu sein, der sich im Dschihad in die Luft sprengt. Ich mache mir echt Sorgen.«

»Dann gibt sie die trauernde Witwe, während ihr Kerl sich im Paradies mit zweiundsiebzig Jungfrauen amüsiert«, tönt Marvin wieder von hinten. »Schön blöd.« Ein Blick von Nele lässt ihn verstummen.

»Das glaube ich nicht.«, widerspricht sie. »Dazu kenne ich Malina zu gut und sie ist viel zu intelligent, um sich diesen Typen zu unterwerfen, die in der heutigen Zeit Regeln aufstellen, die im Islam vielleicht vor 1400 Jahren galten. Trotzdem wissen wir nicht weiter, Herr Bischoff. Sie hat sich von uns allen total entfremdet und isoliert und gibt sich nur noch mit Muslimen ab. Jetzt noch mit ihr reden – wie soll das gehen?«

»Sie demonstriert doch längst, was Sache ist«, meint auch Laura, die Klassensprecherin. Mit Malina hatte sie nie besonders viel zu tun, es stand aber auch keine Abneigung zwischen ihnen. »Deutlicher als durch ihre Kleidung kann sie kaum zeigen, dass sie nichts mehr mit uns zu tun haben will. Sie redet mit keinem von uns mehr, außer im Unterricht, wenn es nicht anders geht. Bei Gruppenarbeiten und so. Die einzige Ausnahme ist Nesrin, aber die ist ja selbst Muslimin.«

»Sie zeigt es auch sonst im Verhalten«, bemerkt Nele düster und Luca nickt. »Glaubt mir, ich weiß, wovon ich rede.«

»So abwegig finde ich es nicht, was Marvin sagt«, wirft Laura ein. »Sonst müsste sie sich nicht so von allem abschotten, was ihr mal wichtig war. Natürlich will sie nicht, dass jemand versucht, ihr den Islamismus auszureden, ist doch logisch.«

»Scheiß-Salafisten«, flucht Bastian. »Die breiten sich immer weiter aus, aber Deutschland kuscht vor ihnen, weil wir ja schließlich am Zweiten Weltkrieg und an Auschwitz schuld waren. Davon, dass durch den IS schon tausende Christen ermordet wurden, redet kaum jemand.«

»Es geht vor allem um Menschen«, erinnert die schmale, hübsche Jasmin. »Egal welcher Religion sie angehören oder ob sie Atheisten sind.«

»Okay, okay.« Herr Bischoff legt seine Fingerspitzen gegen die Schläfen und versucht sichtlich, sich zu sammeln. »Das führt uns jetzt zu weit, darum zurück zu Malina bitte, sie sollte unser Hauptthema bleiben. Wenn sie wirklich in den Fängen von Islamisten ist, dürfen wir sie nicht einfach aufgeben! Wir können nicht zusehen, wie sie in etwas Fatales hineingezogen wird, mitten aus einem ganz normalen Berliner Gymnasium heraus! Ich verstehe nicht ganz, warum ihr da noch nicht weiter gekommen seid, immerhin seid ihr alle jeden Tag mit Malina zusammen, sitzt gemeinsam im Unterricht, verbringt die Pausen in ihrer Nähe … ich meine, ein Mensch, den man jeden Tag um sich hat, jemand aus der eigenen Klasse … man muss doch irgendwas tun können!«

»Reden Sie doch mit ihr«, kontert Enzo. »Sie sind doch der Vertrauenslehrer hier.«

»Genau!« Lydias Gesicht erhellt sich, auch die Augen der anderen Mädchen blicken den Lehrer hoffnungsvoll an, nicht voller Vorwürfe und Trotz wie Enzo. »Auf Sie hört Malina vielleicht. Auf jeden Fall findet Sie sie nett, so viel weiß ich. Wenn sie morgen oder übermorgen wieder da ist … in der Freistunde vielleicht …«

»Moment, Moment«, sagt Herr Bischoff. Er versucht, sich sein Unbehagen nicht anmerken zu lassen. Mit Malina reden – was für eine Aufgabe. Niemand erklärt einem im Lehramtsstudium, wie man sich in einem solchen Gespräch verhält, und auch jetzt, nach über zwanzig Berufsjahren, weiß er es nicht. Konvertiert zum Islam, ja sogar offensichtlich in islamistischen Kreisen zugange – das ist etwas ganz Existenzielles. Da öffnet sich jemand nicht innerhalb einer ausgefallenen Mathestunde. »Was ist denn mit den Eltern? Ich meine, noch ist Malina nicht volljährig, da haben die doch das Sagen. Haben die denn nie versucht …«

»Mit vierzehn ist man religionsmündig«, unterbricht ihn Bastian. »Malina ist sechzehn.«

»Ihre Mutter hat nicht daneben gestanden und zugesehen«, sagt Luca. »Das können Sie mir glauben. Und Vater gibt es sowieso keinen.«

»Sie sucht nach dem großen Helden«, glaubt Noel zu wissen. »Nach Allah, nach Mohammed – oder einfach nur nach irgendeinem Typen, den sie anhimmelt, weil er ihr endlich sagt, wo der Hammer hängt, statt alles durchgehen zu lassen. Irgend so ein dämlicher Gotteskrieger, einer dieser gefährlichen Dummschwätzer.«

Herr Bischoff atmet aus. »Wir wollen jetzt bitte nicht in Klischees verfallen«, betont er. »Eine allein erziehende Mutter – und das gilt für Väter natürlich nicht weniger – bringt noch lange nicht automatisch leicht beeinflussbare Kinder hervor. So habe ich Malina bislang auch nicht eingeschätzt. Im Gegenteil, bisher wirkte sie auf mich sehr selbstständig.«

»Bisher«, spottet Marvin. »Da hat sie auch noch ihr eigenes Gehirn zum Denken benutzt. Jetzt benutzt sie dazu nur noch das islamische Glaubensbekenntnis und irgendwelche Suren aus dem Koran.«

»Jetzt übertreibst du«, wendet Lydia ein. »In der Schule interessiert sie sich sogar mehr für die Themen als vorher.«

»Den Eindruck habe ich auch«, pflichtet Herr Bischoff ihr bei. »Außerdem kann das alles doch nicht von einem Tag auf den anderen passiert sein, oder? So was geschieht doch in kleinen Schritten. Keiner wechselt die Religion von heute auf morgen, egal wie stark der Einfluss von außen ist. Malina muss doch darüber nachgedacht, sich mit der Materie beschäftigt haben.«

»Sie hat sich mit nichts anderem mehr beschäftigt. Deshalb hat sie sich ja so abgeschottet. Das ging schon schnell.« Luca presst die Fingerspitzen gegeneinander.

Laura nickt. »Zuerst hatte sie nur so ein lockeres Kopftuch, aber das war nur ein paar Tage so. Es fiel auf, aber keiner hat sie drauf angesprochen, weil wir dachten, sie macht das aus Spaß, weil sie so oft mit Nesrin zusammen war. Als sie sich dann immer mehr wie eine Türkin angezogen hat, war es schon zu spät. Auf einmal hieß es, sie sei jetzt Muslimin.«

»Puh«, macht Herr Bischoff. »Das ist heftig. Also gut, ich werde darüber nachdenken. Vielleicht fällt mir ein Aufhänger ein, wie ich mit ihr reden kann.« Er schüttelt den Kopf. »Meine Güte, die Mutter muss ja vollkommen verzweifelt sein.«

»Und ratlos«, bestätigt Nele. »Schockiert und ratlos. Sie hat Angst um Malina, so viel ist mal klar. Und null Einfluss mehr auf sie.«

»Einfluss hat keiner«, meint Laura resigniert. »Nur noch die Islamisten.«

Herr Bischoff schlägt das Englischbuch auf, dort, wo sie in der letzten Stunde stehen geblieben sind. Er weiß nicht weiter. Erst mal mit dem Unterrichtsstoff vorankommen, Zeit gewinnen. Die Schüler erwarten so viel von ihm, dass er sich fühlt wie mit dem Rücken zur Wand. Sie sind der Vertrauenslehrer, tun Sie was. Befreien Sie unsere Mitschülerin vom Islam. Beweisen Sie Kompetenz.

»Erst mal spreche ich mit eurer Klassenlehrerin Frau Krüger, eventuell auch mit der Schulleitung. Denen muss Malinas Veränderung auch aufgefallen sein. Danach wende ich mich auf jeden Fall an sie selbst. Ich erzähle euch dann, wie es gelaufen ist«, verspricht er. »Schlagt bitte Seite sechsundfünfzig auf. Wer liest?«

2.

»Malina«, flüstert Nele vorsichtig aus der Reihe hinter ihr, damit Frau Krüger nichts mitbekommt. »Malina, fang auf!«

Die letzte Schulstunde hat soeben erst angefangen, doch schon jetzt sehnen die Schülerinnen und Schüler der 10b das Ende dieses langen Vormittags herbei. Niemand hat Lust, sich bei dieser Wärme damit zu befassen, wie man eine Erörterung schreibt. Die Fenster im Klassenraum stehen weit offen und ein milder Frühlingswind, der den Duft nach frisch gemähtem Gras und blühendem Flieder in den Klassenraum weht, bauscht die hellgrünen Vorhänge auf. Malina dreht sich um, im selben Moment landet ein zusammengefalteter Zettel auf ihrem aufgeschlagenen Hefter. Instinktiv legt sie ihre Schlamperrolle drauf und beginnt darin nach einem Tintenlöscher zu wühlen, damit es nicht auffällt. Erst als sie sicher ist, sich nicht im Fokus der Lehrerin zu befinden, nimmt sie den Zettel und faltet ihn unter dem Tisch auseinander.

»Freibad Wilmersdorf um 16 Uhr?«, steht dort in Neles großer, runder Schrift. Mist, denkt Malina, ausgerechnet heute geht es nicht, dabei ist so tolles Wetter. Mindestens der halbe Jahrgang wird hingehen.

»Sorry, Friseurtermin«, schreibt sie also zurück. »Danach ist es wohl zu spät. Aber wenn ihr alle hinterher noch weggeht, komme ich nach.«

Frau Krüger stellt vorn eine Frage, die Malina überhört, dabei meldet sie sich in diesem Fach fast immer, vor allem wenn zeitgenössische Literatur behandelt wird. Oft muss sie die Situation retten, wenn sonst niemandem aus der Klasse etwas einfällt. Malina tut, als überlege sie angestrengt, und schiebt den Zettel unter ihr enges Top. Erst im nächsten unbeobachteten Moment reicht sie ihn hinter sich zu Nele zurück. Diese verdreht die Augen, ungeduldig wippt sie mit den Füßen unter dem Tisch und blickt immer wieder auf die Wanduhr über der Tafel. Ist sie stehen geblieben? Malina ist froh, als die Lehrerin vorn eine schriftliche Aufgabe stellt; wenn es ihr gelingt, sich ganz darauf zu konzentrieren, verstreicht die Zeit schneller. Aber an diesem Vormittag ist es wie verhext; immer wieder schweift ihr Blick zum Fenster hin, sie sehnt sich nach der Sonne draußen, nach Meloneneis, nach dem Geruch von Sonnencreme und Chlorwasser, dem Gefühl von Gras unter ihren Fußsohlen und dem Anblick glitzernder Tropfen auf ihrer Haut. Den Termin absagen und doch mit zum Baden fahren?

Wie kann eine einzige Stunde, noch dazu in ihrem Lieblingsfach, so schleichen?

Nach einer gefühlten Ewigkeit ist sie endlich vorbei.

»Der Lehrer schließt die Stunde, nicht das Klingelzeichen«, ruft Frau Krüger halbherzig in den Klassenraum, als alle Schüler gleichzeitig aufspringen, erleichtert aufstöhnen und nach draußen drängen, ins Freie, in die Sonne, um wenigstens einen Nachmittag lang zu glauben, es wären schon Ferien.

»Kannst du den Friseurtermin nicht verschieben?«, mault Nele, sobald Malina und sie zusammen mit Neles Zwillingsbruder Luca auf der Straße stehen. »Bei dem Wetter in so einem Laden hocken, wo es nur nach Chemie stinkt – also Spaß sieht anders aus!«

»Da kannst du auch noch hingehen, wenn es stürmt und schneit«, meint auch Luca, der für Malina fast wie ein Bruder ist, da sie sich schon seit dem Kindergarten kennen und Nachbarn im selben Mietshaus sind. »Dein Hairstylist ist bestimmt auch froh, wenn er mal Pause hat oder früher Feierabend machen kann.« Wie um seinen Satz zu unterstreichen, fährt er sich selber mit der Hand durch seinen herausgewachsenen blonden Surferschnitt. Wenn man alle naselang ins Becken hüpft, ist die Frisur egal.

»Ich hab mir das nicht ausgesucht«, erwidert Malina. »Der Termin steht seit drei Wochen. Als ich ihn vereinbart habe, hatten wir gerade die Eisheiligen.«

»Komm mit, Malina«, versucht auch Lydia sie zu überreden. »Wenn du dabei bist, ist es einfach lustiger. Außerdem sitzen deine Haare noch top.«

Nele, die dicht neben ihr steht, wickelt sich eine von Malinas langen dunkelblonden Wellen um den Zeigefinger. »Traumhaare sind das doch, beneidenswert. Einmal schütteln und sie liegen perfekt. Die darfst du nicht schneiden lassen, ist doch überhaupt kein Spliss drin.«

»Ich wollte nur neue Strähnchen«, erwidert Malina, jedoch schon weniger bestimmt. Die Farbe einwirken lassen, dazu Spitzen schneiden und föhnen – zwei Stunden ist sie bestimmt im Laden. Das geht auch an einem bedeckten, kühlen Tag, da haben Nele und Luca recht.

»Ohne dich macht es keinen Spaß«, bekräftigt Lydia, mit der sie manchmal nach der Schule zum Bus gehen. Lydia versucht sich immer ein wenig an Malina und Nele zu hängen, meist ist sie aber mit Laura zusammen, etwas seltener mit der türkischstämmigen Klassenkameradin Nesrin. Bei gemeinsamen Aktivitäten am Nachmittag oder Schwimmbadbesuchen kommt Nesrin allerdings nie mit. Eigentlich schade, denkt Malina. Es würde Spaß machen mit ihr.

Nesrin lächelt sie an und Malina denkt, wie leid sie ihr tut, bei dieser Hitze mit einem langen Rock, Strumpfhosen und sogar langärmeligem Shirt herumlaufen zu müssen, ganz zu schweigen vom Kopftuch, unter dem Nesrin eine Art eng anliegende Kappe aus schwarzem Stretchstoff trägt. Die Arme muss sich ja totschwitzen, denkt sie. Nie kann sie die Sonne auf der Haut spüren, nie fühlen, wie ihre Haare im milden Sommerwind flattern, sich nicht einmal an den heißesten Julitagen im kühlen Nass erfrischen. Schade, dass es so schwer ist, sie im Alltag näher kennenzulernen, denkt Malina; auf der letzten Klassenfahrt war sie auch nicht dabei.

»Vor allem will ich sehen, was für einen Bikini du diesen Sommer trägst, Malina«, witzelt mitten in ihre Gedanken hinein Enzo, der schon öfter versucht hat, mit Malina zu flirten. Bisher hat sie ihm immer die kalte Schulter gezeigt, obwohl er nicht schlecht aussieht mit seinen modisch kurz geschnittenen hellbraunen Haaren und dem schlanken, nicht zu muskulösen Körper. Niemand weiß, dass Malina seit ein paar Wochen heimlich für jemand ganz anderen schwärmt, bisher nicht einmal Nele.

»Pass auf, dass dir nachher nicht die Augen aus dem Kopf fallen«, kontert sie. Dann überlegt sie kurz und nickt. »Okay, überstimmt. Wer weiß, wie lange das schöne Wetter jetzt im Mai noch anhält. Die Eisheiligen haben wir hinter uns, was kommt da noch alles? Schafskälte, Siebenschläfer … an einen verregneten Sommer darf ich gar nicht denken. Also um 16 Uhr an der Kasse?«

Die anderen nicken, ehe sich alle voneinander verabschieden und in verschiedene Richtungen davonströmen, einige mit dem Fahrrad, der Rest zu Fuß oder mit dem Bus. An der Straßenecke parkt ein Eiswagen, zielstrebig steuern Malina, Nele, Luca, Lydia und Nesrin darauf zu, um sich eine Erfrischung zu gönnen. Malina und Nesrin sind die ersten in der Reihe; beide bestellen je eine Kugel Melone und Pistazie im Becher.

»Kommst du nachher auch mit zum Schwimmen?«, fragt Malina, nachdem sie den ersten Löffel des kalten, cremigen Eises genossen hat. Wenigstens versuchen will sie es.

»Das geht leider nicht«, entschuldigt sich Nesrin. »Ins Schwimmbecken darf ich nicht mit meinen langen Sachen, und im Bikini … das ist erst recht nicht drin.«

»Du kannst einen Badeanzug anziehen, einen Einteiler, es muss ja kein Bikini sein«, schlägt Malina vor. »Ich glaube, ich habe einen zu Hause, den ich dir leihen könnte. Im Hallenbad fühle ich mich darin wohler als im Bikini, aber man kann so was natürlich auch im Freibad tragen.«

»Das ist nett von dir. Aber ich kann trotzdem nicht. Das ist bei uns eben so, und es stört mich nicht. Mach dir keine Gedanken darüber.«

Enzo und Marvin umkreisen Malina und Nesrin mit den Fahrrädern, Malina sieht das Spiel ihrer Oberarmmuskeln beim Lenken unter den weißen Shirts, Enzos leicht arroganten Zug um die Lippen. Die beiden haben ihr gerade noch gefehlt.

»Ist doch bescheuert, dass du nie mitkommst, wenn wir alle zusammen was machen«, sagt Enzo. »Ihr Türken wollt immer, dass wir euch akzeptieren und dass ihr dazugehört, dabei sondert ihr euch dauernd ab. Was willst du denn den ganzen Nachmittag machen? Zu Hause sitzen und im Koran lesen? Oder Deckchen sticken?«

»Blödsinn.« Nesrin geht schneller.

»Auf deine kleinen Geschwister aufpassen«, vermutet Marvin.

»Das geht dich nichts an«, weist ihn Nesrin zurecht.

»Du musst ja nicht allein kommen«, klinkt sich jetzt auch noch Luca ein, der die kleine Gruppe zusammen mit seiner Schwester wieder eingeholt hat. »Du kannst deinen Bruder mitbringen, falls du nicht alleine raus darfst. Je mehr wir sind, desto lustiger wird es.«

»Ist nett gemeint, Luca, aber es bleibt dabei.«

»Dann fahr doch nach Mekka und bete«, stöhnt Enzo. »Und danach kannst du weiter an deiner Aussteuer häkeln, für deinen Cousin in Anatolien, den du bestimmt bald heiratest. Euch Moslems ist echt nicht zu helfen.«

»Spinnst du, sie so blöd anzumachen?« Malina versetzt Enzo einen so heftigen Stoß gegen die Schulter, dass sein Fahrrad zu kippen droht. »Wenn Nesrin nicht mitkommt, dann kommt sie nicht mit, das gibt dir nicht das Recht, sie zu beleidigen!«

»Bleib cool, Malina«, mischt sich Marvin ein. »Enzo wollte bei Nesrin bloß mal Haut sehen, und weil er das nicht darf, hat er schlechte Laune.«

»Ihr seid so kindisch«, zischt Malina. »Jeder ist frei zu tun und zu lassen, was er will. Lasst sie in Ruhe.«

»Danke, Malina. Bis morgen also.« Nesrin schenkt ihr ein flüchtiges Lächeln, dann hebt sie ihre Hand zum Gruß und steuert mit eiligen Schritten die Bushaltestelle an. Malina verfolgt die schwingende Bewegung ihres langen Rocks mit den Augen, bis Nesrin eingestiegen ist. Enzo und Marvin treten in die Pedale und düsen um die Ecke, der Appetit auf Eis scheint ihnen vergangen zu sein. Malina bemerkt Tarik, der eine Straßenecke weiter mit einigen Kumpels zusammensteht, wild gestikulierend irgendetwas zu erzählen scheint und immer wieder laut lacht. Zum Glück hat er das blöde Gesülze von Enzo und Marvin nicht gehört, denkt sie. Was Tarik wohl sonst gemacht hätte? Er wirkt überhaupt nicht, als ob er aus einer altmodischen türkischen Familie kommt und seine Freundin oder Schwester ein Kopftuch tragen müsste und nicht zum Schwimmen gehen darf. Tarik ist einer von uns, denkt Malina, er ist süß, schon verliert sie sich in Tagträumen über seine ansteckende, fast immer gute Laune, seine lebendigen braunen Augen, die gepflegten weißen Zähne, die modischen Jeans und Shirts, den dunklen Wuschelkopf und sportlichen Körperbau. Früher ist er ihr nie aufgefallen, er war immer nur einer von vielen Jungs für sie. Erst auf der letzten Schulparty im Club Annabelle’s wurde sie darauf aufmerksam, wie fabelhaft er tanzen kann. Tariks Bewegungen sind fließend, harmonisch, fast als ob er nie etwas anderes täte, er scheint nicht einmal darüber nachzudenken, wie er wirkt, Tarik verschwindet in der Musik, wenn er tanzt. Immer wieder hat Malina versucht, auf der Tanzfläche seine Aufmerksamkeit zu erringen, hat seine Nähe gesucht, ihn angelächelt, sie tanzt selbst für ihr Leben gern. Tarik jedoch hat nicht mehr reagiert als bei anderen Mädchen auch. Er hat sie angelacht, sie jedoch nicht angetanzt, ist nicht mit ihr zur Bar gegangen, um gemeinsam etwas zu trinken, nicht nach draußen an die frische Luft, um mit ihr allein zu sein. Es war, als sähe er durch sie hindurch. Vielleicht hat er längst eine Freundin, aus einer anderen Schule oder so. Vielleicht ein türkisches Mädchen.

»Wie schmeckt das Meloneneis?« Neles Stimme, dicht neben Malinas Ohr. Sie selbst hat noch nicht bestellt, Luca hingegen löst sich gerade mit einer Waffeltüte aus der Schlange vor dem Eiswagen. Malina zuckt zusammen.

»Was? Ach so, gut … nach Honigmelone, nicht nach Wassermelone.«

»Nanu, so abwesend«, wundert sich Nele »Sag bloß, Enzo hat dir mit seinen dämlichen Sprüchen die Laune verhagelt.«

»Quatsch, der doch nicht.« Malina nimmt gedankenverloren ein wenig Pistazieneis in den Mund, ebenso gut könnte sie an einem Stück Pappe lecken. »So ein Fan von Nesrin bin ich nun auch wieder nicht«, stellt sie klar. »Um ihr Kopftuch und diese ganzen Regeln habe ich mir nie groß Gedanken gemacht, das ist doch Alltag für uns. Am besten, wir vergessen es einfach, ich fand es nur unfair von ihm. So wie er muss man sich echt nicht aufführen.«

»Er hat aber recht«, erwidert Nele, ihre Stimme klingt entrüstet. »Klar ist Nesrin eine aus unserer Klasse wie jede andere auch, aber durch ihre religiösen Vorschriften auch wieder nicht. Im Schulalltag spielt das keine Rolle, aber in der Freizeit macht sie sich zur Außenseiterin.«

»Stimmt nicht«, entgegnet Lydia. »Ich war schon oft mit ihr Shoppen oder im Kino.«

»Wenn sie nicht halb nackt vor den Jungs herumhüpfen will, ist das eben so«, meint Malina und blickt in die Richtung, in die Nesrins Bus verschwunden ist. Den nächsten Löffel nimmt sie aufmerksamer, behält das Eis länger im Mund, spürt es auf ihrer Zunge schmelzen, genießt das Aroma. »Es scheint sie nicht mal zu stören. Irgendwie ist es cool, wie sie in sich ruht.«

»Das glaubst aber auch nur du«, ereifert sich Laura. »Welches Mädchen, das hier lebt und uns alle sieht, würde wohl freiwillig auf das alles verzichten, nur wegen einer Religion? Du vielleicht? Glaubst du ernsthaft, die Musliminnen würden nicht gern in kurzen Röcken und Spagettitops rumlaufen, einen Freund haben und am Wochenende abends auf Partys oder Tanzen gehen?«

»Nesrin wirkt nicht unglücklich dabei. Vielleicht braucht sie das alles nicht.«

»Das sagt die Richtige«, erwidert Nele und lacht. »Du bist doch die Partymieze überhaupt. Immer mittendrin, wenn irgendwo was los ist. Außerdem hat Nesrin keine Wahl. Sie wird schon wissen, was ihr blüht, wenn sie zu Hause versuchen würde, mal aufzumucken und mehr Freiheiten einzufordern. Du kannst ihr nicht helfen, also zerbrich dir nicht ihren Kopf.«

»Mach ich nicht«, verspricht Malina. »Verflixt, den Friseur muss ich noch anrufen, aber dann sollten wir uns beeilen. In der Mall of Berlin hat diese neue günstige Modekette aus den USA aufgemacht! Glaubst du, ein roter Bikini würde mir stehen?«

Wenig später hat Malina ihre Gedanken um Nesrin verscheucht. Nele und sie probieren in der Stadt einen Bikini nach dem anderen an, jetzt im Mai ist die Auswahl noch groß. Sie lachen und reden zusammen in der Umkleidekabine, geben sich gegenseitig Stylingtipps und raten einander ehrlich ab, wenn ein Bikini nicht gut aussieht. Nele entscheidet sich schließlich für einen blau-weiß gepunkteten, Malina für einen schwarzen mit roten Applikationen. Anschließend kaufen sie im Drogeriemarkt noch Sonnenspray und Zopfgummis.

»Der Sommer kann kommen! Jetzt aber nichts wie los«, drängt Malina mit einem Blick auf die Uhr ihres Handydisplays. Tarik, denkt sie, wirst du auch da sein? Sie verrät Nele nicht, dass sie versuchen möchte, ihr Badetuch in seine Nähe zu legen. Ich muss es unauffällig anstellen, überlegt sie. Hoffentlich ist er nicht schon von lauter anderen Mädchen umlagert, wenn wir ankommen. Bei seinem Aussehen wäre das kein Wunder.

3.

Die ganze Schule scheint im Freibad versammelt zu sein. Neben dem Sprungbecken haben alle ihre Handtücher und Decken zu einem riesigen Lager zusammengelegt, das fröhliche Stimmengewirr der vielen Jungen und Mädchen mischt sich mit dem ausgelassenen Kreischen hunderter Kinder, die nebenan im Nichtschwimmerbecken tollen. Malina schirmt ihre Augen mit der Hand ab, verschafft sich einen Überblick und hält heimlich Ausschau nach Tarik. Sie entdeckt ihn fast am Rand des Handtuchlagers, gerade legt er den Kopf in den Nacken und leert die letzten Tropfen einer Coladose in seinen Mund. Seine dunklen Locken fallen nach hinten und wirken so noch dichter, sein Oberkörper ist bereits ein wenig gebräunter als die der anderen Jungs. Nachdem Tarik seine Dose in hohem Bogen in einen Müllkorb geschleudert hat, dreht er sich um und seine Augen treffen Malinas Blick. Zum ersten Mal, seit sie begonnen hat für ihn zu schwärmen, hält er ihn fest und lächelt. Er nimmt mich wahr, denkt sie; Tarik sieht mich. Endlich.

»Sonne«, seufzt Nele neben Malina und streckt sich auf ihrem mitgebrachten Badetuch aus. »So könnte es meinetwegen bis Oktober weitergehen. Wer holt mir Pommes?«

»Kommt auf die Gegenleistung an«, erwidert Enzo, sieht aber dabei Malina an statt Nele, die ohnehin ihre Augen geschlossen hält.

»Vergiss es.« Malina lacht und wirft mit ihrem Top, das sie gerade ausgezogen hat, nach ihm. Sie fühlt sich wohl in ihrem neuen Bikini; das Oberteil bringt ihre Brüste zur Geltung, ohne billig zu wirken, das Höschen sitzt schön eng und betont Malinas schlanke Taille und ihren flachen Bauch. »Entweder bist du ein Gentleman oder eben nicht. Mir ist noch nicht nach Pommes. Kommt jemand mit ins Wasser?«

»Ich will braun werden«, mault Lydia.

»Du kriegst sowieso nur Sommersprossen und Brandblasen.« Nele rappelt sich wieder hoch, ebenso Laura, Jasmin, Enzo, Luca, Marvin und einige andere Mädchen und Jungs. Aus dem Augenwinkel bemerkt Malina, dass auch Tarik aufsteht. Alle zusammen steuern das Ein-Meter-Brett am Sprungbecken an. Zuerst nimmt Enzo Anlauf und springt ins Becken, dass es nur so spritzt; als er auftaucht, blickt er sich Beifall heischend um. Marvin protzt mit einer »Arschbombe«, Luca gelingt ein lupenreiner Kopfsprung. Malina und Nele springen ganz gerade, wobei besonders Malina auf ihre Körperspannung achtet. Kaum ist sie im Wasser gelandet, spürt sie einen Körper dicht neben sich und erschrickt. Beim Auftauchen erkennt sie, dass es Tarik ist, er muss gleich hinter ihr gesprungen sein.

»Ich ruf gleich den Bademeister«, scherzt sie, packt seinen Kopf und drückt ihn unter Wasser, um ihn gleich darauf wieder loszulassen. Als Tarik auftaucht und prustet, versucht er sie in der Taille zu packen, aber Malina windet sich aus seinem Griff und krault zur Treppe, hechtet nach draußen und eilt mit Lydia und Nele zum Schwimmerbecken. Dort zieht sie mit ruhigen, gleichmäßigen Brustschwimmzügen ihre Bahnen, ungeachtet der anderen, die nur wenige Augenblicke später nachkommen und erneut miteinander im Wasser herumalbern, indem Jungs und Mädchen sich gegenseitig necken. Nele versucht, Enzos Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, kreischt laut und schrill, als er sie am Beckenrand packt und ins Wasser schmeißt. Lydia bleibt draußen und lässt nur ihre Beine ins Wasser baumeln und kommt dabei mit Jan aus der Parallelklasse ins Gespräch, der ebenfalls nicht zu den eifrigsten Wasserratten gehört. Lange sitzen die beiden dort. Im Vorbeischwimmen zwinkert Malina ihnen zu, Lydia zwinkert zurück.

Wenig später bemerkt Malina, dass Tarik erneut in ihre Nähe kommt. Dieses Mal scheint er ihr keine Beachtung zu schenken und neckt sie auch nicht, sondern durchpflügt mit raumgreifenden Delfinzügen das Becken. Am anderen Ende angekommen, klettert er über den Rand und strebt erneut das Sprungbecken an, erklimmt den Sprungturm und hechtet mit einem gelungenen Salto vom Fünfmeterbrett. Zum Glück hat er keinen Bauchklatscher hingelegt, denkt Malina. Der hätte wehgetan.

Sie bleibt lange im Wasser, genießt es, beim Schwimmen ihren Gedanken nachhängen zu können, unterhält sich eine Weile mit Luca, der sich ihr angeschlossen hat, statt sich wie die meisten anderen Jungen wieder und wieder unter lautem Gejohle in eines der Becken zu stürzen. Ich mag Luca, denkt Malina und sieht ihn verstohlen von der Seite an. Verknallen könnte ich mich nie in ihn, er ist einfach nicht mein Typ. Aber es ist gut, dass es ihn gibt. Mit einem Jungen nur befreundet zu sein, ist sonst nicht leicht, weil sich oft doch einer mehr erhofft. Zwischen Neles Zwillingsbruder und Malina besteht keine Gefahr. Mit ihm kann sie über alles reden, manchmal fast besser als mit Nele. Luca hört geduldig zu, bis Malina alles erzählt hat, was ihr auf der Seele liegt, unterbricht sie nicht, zwingt ihr nicht vorschnell seine Meinung oder eine Lösung auf. Jetzt, im Schwimmerbecken, erzählt er ihr von einem blinden Mädchen, das er neulich im Bus gesehen hat.

»Etwas an ihr hat mich fasziniert«, gesteht er. »Ich werde sie nie wiedersehen, aber seitdem mache ich mir Gedanken darüber, wie es sein muss, wenn man dem Menschen, den man liebt, nie in die Augen sehen kann. Besser gesagt, wenn kein Blick zurückkommt. Glaubst du, man kann sich trotzdem genauso heftig verlieben?«

»Warum nicht?«, gibt Malina zurück. »Bei Blinden müssen die anderen Sinne die Aufgaben der Augen mit übernehmen und werden dadurch besonders geschärft. Das erklärt, weshalb Blinde selbst ohne Stock nur selten gegen eine Wand oder andere Gegenstände laufen, wenn sie nur lange genug geübt haben. Sie entwickeln eine andere Wahrnehmung. Schwingungen, die wir Sehenden nicht bemerken. Warum sollte das nicht auch in der Liebe funktionieren?«

»Aber ich selber bin ja nicht blind«, wirft Luca mit gespielter Verzweiflung ein. Dann wird er wieder ernst. Sie schwimmen zum Beckenrand und halten sich daran fest, rausgehen will noch keiner von beiden.

»Ich würde mich gern für Benachteiligte engagieren«, sagt Luca. »Blinde, Behinderte, die Ärmsten der Armen in fernen Ländern. Irgendwas Sinnvolles tun.«

Malina nickt und öffnet die Lippen, um zu antworten, doch nun sieht sie, dass Nele im Fußbecken steht und ihr zuwinkt, die Geldbörse in der Hand.

»Dein Schwesterchen wird ungemütlich, wenn sie jetzt nicht ihre Pommes bekommt«, stellt sie fest. »Kommst du mit?«

Der ganze Pulk wandert zum Imbissstand, und als die ersten ihre Portion schon fast vertilgt haben, stehen die letzten noch immer an. Malina schlendert bereits mit Nele zur Decke zurück, beide haben Currywurst mit Pommes rot-weiß genommen.

»Vielleicht hätte ich das lieber lassen sollen«, jammert Nele, als sie ihre Wurst bereits verputzt hat. »Das reine Fett. Eigentlich wollte ich abnehmen.«

»Ich auch«, gibt Malina zu. »Aber man muss sich auch mal was gönnen.«

»Leider stehen die meisten Jungs auf schlanke Mädchen. Aber Typen, die nur nach dem Aussehen gehen, kann man auch gleich zum Mond schießen.«

»So?« Malina grinst ihre beste Freundin an. »Was ist dann mit Enzo, hast du die Rakete für ihn schon bestellt?«

»Sehr witzig.« Nele blickt düster. »Enzo steht auf dich, falls dir das entgangen ist.«

»Ich aber nicht auf ihn«, erwidert Malina.

»Sondern?«

»Ich finde Tarik ganz süß«, gesteht Malina mit gedämpfter Stimme. »Der ist irgendwie cool und hat ein tolles Lachen. Aber ich habe keinen blassen Schimmer, ob er mich auch gut findet.«

»Tarik«, wiederholt Nele. »Gut sieht er ja aus. Aber findest du nicht, dass die Türken ganz anders drauf sind als wir? Siehe Nesrin.«

»Tarik nicht. Der ist hier geboren und aufgewachsen, in die Türkei fährt er bloß in den Sommerferien. Das machen auch viele Deutsche. Tarik spricht nicht mal mit Akzent und Nesrin übrigens auch nicht.«

»Stimmt schon«, lenkt Nele ein. »Na dann: Viel Erfolg beim Erobern.«

»Spinnst du? Der soll mich erobern! Ich muss es nur so geschickt einfädeln, dass er denkt, es wäre seine Idee. Ein kleiner Macho steckt bestimmt in ihm.«

»Eben doch Türke«, kichert Nele und Malina stimmt ein.

»Achtung«, flüstert Nele plötzlich. »Er kommt.« Tatsächlich erscheint Tarik als einer der letzten wieder beim Deckenlager. Er lächelt den Mädchen zu, wieder bleibt sein Blick an Malina hängen. Einen Augenblick lang scheint er über etwas nachzudenken, dann kommt er zu den Mädchen herüber.

»Lust auf eine Runde Beachvolleyball?«, fragt er und deutet hinüber zum anderen Ende des Schwimmbades, wo ein Feld mit Netz angelegt ist, dann lässt er scheinbar unauffällig seinen Blick über Malinas Körper wandern.

So einfach mache ich es ihm nicht, denkt sie sich.

»Weiß nicht«, überlegt sie laut. »Hast du Lust dazu, Nele?«

»Klar.« Ihre Freundin setzt sich bereits auf. »Wenn man sich bewegt, wird man schneller und gleichmäßiger braun und gut für die Figur ist es auch.«

»Um eure Figuren müsst ihr euch keine Sorgen machen«, bemerkt Tarik. »Schon gar nicht in den süßen Bikinis. Also, Malina, was ist?«

Malina spürt ihr Herz schneller klopfen und steht auf. »Okay«, willigt sie ein. »Aber ich bin eine Niete in der Angabe, das sag ich dir gleich. Wenn es hoch kommt, gelingt mir jede fünfte.«

»Ist alles Übungssache«, versucht Tarik sie zu beruhigen. »Und ein bisschen Technik gehört auch dazu.«

Als sie beim Beachvolleyballfeld angekommen sind, besorgt sich Tarik einen Ball und lotst Malina in eine ruhige Ecke außerhalb des Spielfelds, während Nele eine Spielerin ablöst, die keine Lust mehr hat.

»Du musst die Beine leicht beugen und das Gewicht auf beide Füße verteilen«, erklärt er. »Dann bildest du mit der rechten Hand einen Brunnen, siehst du, so hier.« Tarik nimmt Malinas Hand und legt die Fingerspitze ihres Daumens auf die des Zeigefingers, die anderen Finger krümmt er zur Faust. Seine Berührung ist angenehm, denkt Malina; angenehm und elektrisierend zugleich. Schöne Hände hat er, wie sein Körper bereits leicht gebräunt. Sie sieht die dunklen Härchen auf seinem Handgelenk, die leicht hervortretenden Adern, Tariks gepflegte Fingernägel. Spürt seine dunklen Locken dicht neben ihrem Haar.

»So hat der Ball eine Fläche, über die du ihn sicher führen kannst. Mit der Linken hältst du ihn in Hüfthöhe leicht rechts vor deinen Körper, gehst in Schrittstellung und holst mit dem rechten Arm von unten aus. Dein rechter Arm muss gestreckt sein, erst wenn du den Ball getroffen hast, lässt du ihn ausschwingen. Versuch’s mal!«

Malina versucht, Tariks Rat zu befolgen, und tatsächlich klappt ihr Aufschlag um einiges besser als sonst.

»Super«, lobt er sie, »gleich noch mal!« Malina übt einige Male, dann ist sie ziemlich sicher, dass sie sich ins Spiel wagen kann. Inzwischen haben sich auch Luca, Enzo, Lydia, Laura und einige andere aus der Clique eingefunden, eine gute halbe Stunde lang spielen sie. Anfangs ist Malina noch nervös und verpatzt einige Punkte, mit der Zeit jedoch wird sie sicherer, bis ihr auch die Aufschläge fast ausnahmslos gelingen. Im Schmettern ist sie wegen ihrer Größe von einem Meter zweiundsiebzig recht geschickt; Tarik strahlt sie jedes Mal an, wenn ihr ein Punkt gelingt.

Als alle wieder zurück zu den Handtüchern gehen, weicht er nicht von ihrer Seite. Er verwickelt sie in ein lockeres Gespräch, lacht mit ihr, neckt sie, kitzelt sie in der Taille. Ganz selbstverständlich setzt er sich mit Malina auf ihr Badetuch, langt in seinen Rucksack und bietet ihr etwas von seinem mitgebrachten Studentenfutter an. Später gehen sie erneut zu mehreren ins Wasser, albern herum, schwimmen. Malina spürt, dass Tarik sich immer wieder wie zufällig in ihrer Nähe aufhält. Den ganzen Nachmittag hofft sie darauf, dass er endlich den ersten Schritt macht, sie vielleicht um ein Date bittet, stellt sich vor, wie Tarik ihr tief in die Augen sähe, seinen gebräunten freien Oberkörper langsam zu ihr vorbeugen würde, um seine Lippen behutsam auf ihre zu legen …

»He, Malina, träumst du?«, reißt Nele sie aus ihren Gedanken. Malina fährt zusammen. Heftig schüttelt sie den Kopf. »Wieso?«

»Das Freibad macht gleich zu«, bemerkt Nele und deutet auf die anderen, die ringsum bereits ihre Handtücher zusammenrollen, sie zurück in die Taschen und Rucksäcke stopfen und sich anziehen. Nun beeilt sich auch Malina, streift ihr Top über den trockenen Bikini und schlüpft in ihre Hotpants und die hübsch verzierten Zehensandalen, kämmt ihre Haare durch, wirft sie kopfüber nach vorn und wieder zurück. Sie beobachtet Tarik, der seinen Rucksack bereits auf den Schultern trägt und seine letzte Coladose mit einem Zischen öffnet. Tolle Sneakers hat er an, denkt sie; ob es die auch für Mädchen gibt, vielleicht in Weiß mit rotem Label drauf?

Schließlich steuern alle zusammen den Ausgang an, Malina und Nele gehen dicht nebeneinander, wie fast immer hat sich Lydia angeschlossen. Ihr Schwarm Jan scheint bereits vorgegangen zu sein, jetzt unterhält er sich mit Laura.

»Was macht ihr heute Abend noch?«, fragt Malina. »Wollen wir irgendwo hin, in der Stadt abhängen, was trinken oder ins Freiluftkino?«

4.

Sie fahren mit der U-Bahn zum Halleschen Tor, es ist gerade Karneval der Kulturen. Weil nicht genug Sitzplätze frei sind, setzt sich Malina kurzerhand auf Marvins Schoß, er stößt einen leisen Pfiff aus und legt seine Hände an ihre Hüften. Wenn er etwas zu ihr sagt, muss Malina ihren Kopf drehen, um ihn ansehen zu können, dabei berühren ihre Haare sein Gesicht. Ab und zu blickt sie hinüber zu Tarik, der in der Nähe der Automatiktür steht, jetzt beachtet er sie nicht mehr. Auf dem Fest versucht sie, sich ins Geschehen fallen zu lassen und nicht zu viel zu grübeln; komm, sagt sie sich im Stillen, es ist Sommer und du hast niemandem was getan, mach dich locker, schließlich bist du nicht mit Tarik zusammen.