Andreas Baby - Gert Rothberg - E-Book

Andreas Baby E-Book

Gert Rothberg

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Beschreibung

In diesen warmherzigen Romanen der beliebten, erfolgreichen Sophienlust-Serie ist Denise überall im Einsatz. Denise hat inzwischen aus Sophienlust einen fast paradiesischen Ort der Idylle geformt, aber immer wieder wird diese Heimat schenkende Einrichtung auf eine Zerreißprobe gestellt. Doch auf Denise ist Verlass. In der Reihe Sophienlust Extra werden die schönsten Romane dieser wundervollen Erfolgsserie veröffentlicht. Warmherzig, zu Tränen rührend erzählt von der großen Schriftstellerin Patricia Vandenberg. Andrea von Lehn stand im Wohnzimmer. Sie sah auf den Kalender an der Wand und seufzte abgrundtief. Nun war doch wirklich der gestrige Tag vergangen, als sei es ein Tag wie jeder andere gewesen. Dabei hatte sie zusammen mit ihrem Mann diesem Tag entgegengefiebert. Seit Monaten schon spielte er in ihrem Leben die größte und eine sehr beglückende Rolle. Denn an diesem Tag sollte ihr Baby zur Welt kommen. Das hatte sie selbst sich mit Hans-Joachim genau ausgerechnet, immer wieder kritisch überprüft und es sich von den Ärzten bestätigen lassen. Ob die anderen vielleicht doch recht hatten, die behaupteten, auf den Tag genau könne man die Geburt eines Kindes nun doch nicht berechnen? Das hatte sie nie hören wollen. Andrea legte die Hände zärtlich auf ihren hohen Leib. Sie spürte die Bewegungen ihres Kindes. Wie oft hatte sie ­lachend gesagt: »Es ist ganz bestimmt ein Junge, Hans-Joachim. Nur ein Junge kann sich so ungebärdig benehmen und so wild strampeln.« Hans-Joachim war freilich nicht ganz ihrer Meinung gewesen. Er hatte dann meistens gesagt: »Wenn ein Mädchen so wird wie du, Andrea, dann ist es sicher auch eine ganz wilde Strampelsuse.« Andreas Augen leuchteten jetzt. Sie dachte daran, dass Hans-Joachim dann fast immer noch etwas hinzugefügt hatte. Nämlich, dass er sich ein Mädchen wünsche, so schön wie die Mutti und so lieb wie die Mutti. Die Dogge Severin erhob sich nun vom Teppich. Knurrend und missmutig.

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Seitenzahl: 149

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Sophienlust Extra – 46 –Andreas Baby

Endlich sind die von Lehns eine richtige Familie!

Gert Rothberg

Andrea von Lehn stand im Wohnzimmer. Sie sah auf den Kalender an der Wand und seufzte abgrundtief. Nun war doch wirklich der gestrige Tag vergangen, als sei es ein Tag wie jeder andere gewesen. Dabei hatte sie zusammen mit ihrem Mann diesem Tag entgegengefiebert. Seit Monaten schon spielte er in ihrem Leben die größte und eine sehr beglückende Rolle. Denn an diesem Tag sollte ihr Baby zur Welt kommen. Das hatte sie selbst sich mit Hans-Joachim genau ausgerechnet, immer wieder kritisch überprüft und es sich von den Ärzten bestätigen lassen.

Ob die anderen vielleicht doch recht hatten, die behaupteten, auf den Tag genau könne man die Geburt eines Kindes nun doch nicht berechnen? Das hatte sie nie hören wollen.

Andrea legte die Hände zärtlich auf ihren hohen Leib. Sie spürte die Bewegungen ihres Kindes. Wie oft hatte sie ­lachend gesagt: »Es ist ganz bestimmt ein Junge, Hans-Joachim. Nur ein Junge kann sich so ungebärdig benehmen und so wild strampeln.«

Hans-Joachim war freilich nicht ganz ihrer Meinung gewesen. Er hatte dann meistens gesagt: »Wenn ein Mädchen so wird wie du, Andrea, dann ist es sicher auch eine ganz wilde Strampelsuse.«

Andreas Augen leuchteten jetzt. Sie dachte daran, dass Hans-Joachim dann fast immer noch etwas hinzugefügt hatte. Nämlich, dass er sich ein Mädchen wünsche, so schön wie die Mutti und so lieb wie die Mutti.

Die Dogge Severin erhob sich nun vom Teppich. Knurrend und missmutig.

Andrea klopfte Severin auf den Rücken. »Sei nicht so verdrossen. Du bist ein richtiger Morgenmuffel. Dein Herr arbeitet schon seit einer Stunde in der Praxis, und ich zergrüble meinen armen Kopf, wann unser Baby endlich kommt, aber du faulenzt hier, und wenn dich irgendetwas stört, knurrst du.« Sie ging zur Tür. »Ich lasse Waldi herein. An dem kannst du dir ein Beispiel nehmen. Er fegt schon seit Stunden im Freigehege herum und bellt Taps und Tölpl an. Die beiden können heute von der Rutsche nicht genug kriegen.«

Der Name Waldi war für Severin ein Alarmzeichen. Er streckte sich noch einmal, doch dann begleitete er Andrea vor die Haustür.

Die beiden brauchten nicht lange zu warten, bis Waldi angefegt kam. Er begrüßte Andrea stürmisch, aber er sprang nicht an ihr hoch. Das hatte Hans-Joachim ihm in den letzten Wochen abgewöhnt.

Andrea bückte sich zu Waldi hinab und streichelte ihn. »Ja, ja, Waldi, du weißt auch, dass sie mich am liebsten alle in eine Glasvitrine sperren möchten. Dabei fühle ich mich pudelwohl. Komm mit ins Haus, Waldi. Lass Taps und Tölpl ihr Vergnügen. Die haben ein dickes Fell. Denen passiert nichts, wenn sie einmal etwas unsanft auf dem Boden landen. Junge Bären sind nun einmal so albern. Daran kannst du nichts ändern. Auch wenn du der Chef des Tierheims bist.«

Als Andrea mit den beiden Hunden durch die Diele ging, wurde die Tür des Sprechzimmers geöffnet. Hans-Joachim von Lehn kam heraus. »Mit wem unterhältst du dich denn so angeregt, Andrea?«

»Mit den Hunden. Oder meinst du, ich führe Selbstgespräche?« Andrea lachte. Gleich darauf seufzte sie. »O Hans-Joachim, du hast ein zermürbtes Gesicht und bist um Jahre gealtert.« In ihren Augen saß der Schalk.

»Ist das ein Wunder, wenn ihr so unpünktlich seid, dein Baby und du? Ich war die ganze Nacht am Sprung, aber du hast tief und fest geschlafen.«

»Ein Glück!« Andrea lachte amüsiert. »Übrigens, gewöhne dir ja nicht die Untugend der Väter an, zu behaupten, alle guten Eigenschaften des Kindes stammten von ihnen, alle schlechten von der Mutter. Ich meine, von wegen Unpünktlichkeit.«

Hans-Joachim legte den Arm um die Schultern seiner Frau und führte sie ins Wohnzimmer. »Ach, weißt du, Andrea, mir wäre es heute ganz gleichgültig, wie unser Kind ist, wenn es nur schon da wäre. Am liebsten würde ich die Sprechstunde abbrechen. Dieses Verarzten von Hunden und Katzen regt mich heute auf. Wo ist übrigens Schwester Johanna? Du bist ja allein hier.«

»Ja. Und das ist mir sogar sehr recht. Du weißt, dass ich es nicht leiden kann, wenn ich dauernd unter Kontrolle stehe. Gott sei Dank ist Schwester Johanna nicht so feinfühlend wie du. Sie hat ­einen Waldspaziergang gemacht. Sie meint, die Zeit hier bei uns müsse sie nutzen. Wenn sie erst wieder in ihrem Krankenhaus in Stuttgart steckt, muss sie weit fahren, um ins Grüne zu kommen.«

Das Gesicht des werdenden Vaters rötete sich vor Unwillen. »Schwester Johanna ist als Hebamme bei uns und nicht zum spazieren gehen. Und so etwas empfiehlt uns Frau Dr. Frey. Wenn Schwester Johanna nicht spätestens in einer Viertelstunde zurück ist, bringe ich dich nach Maibach ins Krankenhaus.«

Andrea erschrak. Dann wurde sie ärgerlich. »Stelle dich doch nicht so an, Hans-Joachim. Bekomme ich nun das Baby oder du?«

Der junge Tierarzt fuhr sich mit beiden Händen durch das volle Haar. »Du bekommst es. Das ist es ja gerade, Andrea.«

Für Sekunden war Andrea sprachlos, dann warf sie die Arme um den Hals ihres Mannes. »Willst du damit sagen, dass du lieber das Baby bekommen würdest?«

»Ja, ganz gewiss, Andrea.« Hans-Joachim machte ein zerknirschtes Gesicht.

Andrea ließ sich davon nicht beeindrucken. Sie lachte schallend, trat zwei Schritte zurück und zeigte mit dem ausgestreckten Arm auf ihren Mann. »Du, Hans-Joachim? Du möchtest das Baby bekommen?«

»Du solltest dich nicht über mich lustig machen. Mir ist dieser Wunsch todernst, Andrea.«

Die junge Frau ging zu ihrem Mann zurück, hob sich auf die Zehenspitzen und küsste Hans-Joachim. »Nein, ich mache mich nicht mehr über dich lustig, Liebster. Ich weiß, du leidest Höllenqualen. Jetzt schon. Nun habe ich dir auch noch zugemutet, einer Entbindung zu Hause zuzustimmen. Für dich wäre es leichter, ich ginge ins Krankenhaus.«

»Für dich auch, Andrea.«

»Aber ich habe keine Komplikationen zu befürchten. Das haben mir die Ärzte bestätigt. Anja Frey ist auf dem Sprung, und Schwester Johanna ist eine sehr erfahrene Hebamme, auch wenn sie jetzt im Wald spazieren geht.« In Andreas Augen blitzte schon wieder der Schelm auf.

»Mit dir kann man über so ernste Dinge wirklich nicht reden, Andrea.« Hans-Joachim ging etwas gekränkt zur Tür. »Du nimmst alles auf die leichte Schulter. Sogar meine Sorge um dich. Am besten versteht mich noch dein Vater.«

Andrea setzte sich. »Ja, Vati ist genauso aufgeregt wie du. Und Mutti hat es mit ihm so schwer wie ich mit dir. Sie sagte mir vorhin am Telefon, dass sie heute Nacht kaum geschlafen habe. Und das nur deshalb, weil Vati immerzu umhergegeistert ist. Da sind Nick und Henrik wirklich vernünftiger.«

»Sage das nicht. Sie waren gestern auch schon ganz durcheinander.«

»Ach was! Das kommt nur daher, dass du sie mit deiner Nervosität angesteckt hast. Ich habe vorhin am Telefon ein paar Worte mit meinem kleinen Bruder gesprochen. Weißt du, was er gesagt hat?«

»Natürlich nicht. Du hast ja mit ihm gesprochen.« Hans-Joachims Stimme klang leicht gereizt.

»Henrik hat gesagt, ich sei furchtbar langweilig. Wenn das Baby heute nicht käme, sei er gar nicht mehr daran interessiert. In der Schule würden ihn heute alle auslachen, weil er das Baby schon für gestern angekündigt habe.« Andrea stand wieder auf. Sie schob ihren Mann zur Tür hinaus. »Verarzte mal deine Hunde und Katzen, sonst kriegst du Ärger. Ich verspreche dir, dich nicht zu vergessen, wenn ich mich nicht wohlfühlen sollte.«

Der junge Tierarzt zog sich in sein Sprechzimmer zurück. Doch Andrea wusste, nach einer Viertelstunde würde sie wieder mit seinem Besuch rechnen müssen. Sie trat ans Fenster und schob die Gardine zur Seite.

Mit einem Satz war Waldi auf dem breiten Fensterbrett. Die Blumentöpfe kamen bedenklich ins Wanken.

»Aber Waldi!«, sagte Andrea erschrocken. »So etwas Ungezogenes!«

Severin bellte laut und giftig. Er konnte es nicht vertragen, so benachteiligt zu sein.

Andrea tätschelte ihn. »Sei nicht schon wieder eifersüchtig, Severin. Dich kann ich ja nicht auch noch auf das ­Fensterbrett springen lassen. Da würde es ja zusammenbrechen. Es hat manchmal auch Vorteile, so klein und flink wie Waldi zu sein. Diese Freude kannst du ihm schon gönnen. Er muss ja draußen oft genug zurückstehen, wenn er mit seinen kurzen krummen Beinen langsamer als du großes Tier ist.«

Severin warf sich auf den Teppich, legte den Kopf auf die Vorderpfoten und schielte zu Waldi hin. Der sah Andrea mit schief gehaltenem Kopf an. Ob sie ihn auf den Fußboden dirigieren würde?

Das tat Andrea nicht. Sie sah zum Fenster hinaus. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite stand ein großer blauer Autobus. Er war leer. Allem Anschein nach hatten Touristen ihn verlassen, um sich die Füße etwas zu vertreten. Das passierte hier öfter. Der nahe Wald und die Wege zwischen den Wiesen und Äckern verlockten zu einem kleinen Spaziergang.

Hinter dem Autobus war eine Baustelle, auf der an diesem Tag nicht gearbeitet wurde. An einer Baubude lehnte ein Junge, mit dem Gesicht den Brettern zugewandt. Andere Kinder verschwanden gerade hinter Balken und Ziegelstößen.

Andrea lächelte. Sie blieb am Fenster stehen. Sie hatte erkannt, dass Kinder aus dem Ort Versteck spielten. Gleich würde der Junge, der jetzt noch an der Baubude lehnte, die anderen Kinder suchen. Es war das alte lustige Spiel, das immer wieder Spaß machte. Die Kinder in Sophienlust spielten es auch sehr gern. Oft hatte Andrea selbst noch mitgetan. Sehr zum Vergnügen der Kinder und zu ihrem eigenen Spaß. In den letzten Monaten freilich hätte niemand geduldet, dass sie mit den Kindern durch den Park gelaufen wäre. Besonders die großen Mädchen von Sophienlust waren sehr darauf bedacht gewesen, dass sie sich schonte.

Andrea wurde in ihren Gedanken jetzt abgelenkt. Ein Boxerhund lief schnuppernd an dem Autobus entlang.

Waldi stellten sich die Nackenhaare auf. Er knurrte böse.

Andrea gab ihm einen Klaps. »Aber Waldi, schau doch, was für ein schöner Hund das ist. Er hat ein rotbraunes Fell, einen schwarzen Kopf und einen weißen Brustlatz. Und weiße Pfoten. Wie kannst du dich nur über den Boxer ärgern? Natürlich, jetzt machst du auch noch Severin rebellisch. Marsch, herunter vom Fensterbrett, bevor du mir die Blumentöpfe umwirfst.«

Waldi zog den Kopf ein und sprang auf den Fußboden. Er war mit seinem Frauchen sehr unzufrieden. Wie konnte es sich so für einen fremden Hund begeistern? Waldi drückte sich an Severin, als wollte er ihm sein Leid klagen. Aber Severin war jetzt nicht für Vertraulichkeiten zu haben. Er nahm es Waldi noch immer übel, dass er wieder einmal Hahn im Korb gewesen war.

Andrea kümmerte sich nicht mehr um ihre Hunde. Sie beobachtete den Boxer. Warum lief er nur so aufgeregt an dem Autobus entlang? Und warum legte er sich jetzt auf den Bauch und schob den Kopf unter die tiefe Karosserie?

»Hey!«, schrie jemand.

Ein Mann kam auf den Autobus zu. Es war wohl der Fahrer. Er verscheuchte den Boxer und stieg in den Autobus ein.

Motorengeräusch erklang.

Plötzlich schrie Andrea laut auf.

Der Boxer lag schon wieder auf dem Bauch zwischen den Vorder- und Hinterrädern des Autobusses. Und nun schoben sich zwei Kinderhände unter dem Autobus hervor, ein blonder Kopf …

Andrea riss das Fenster auf. Sie schrie und machte wild gestikulierende Zeichen. In diesem Augenblick entdeckte sie Schwester Johanna vor dem Gartentor, die zu der aufgeregten jungen Frau am Fenster emporsah.

»Schwester Johanna, er darf nicht losfahren. Schnell, laufen Sie hin. Ein Kind ist unter dem Bus.« Andrea sank auf einen Sessel und schlug die Hände vors Gesicht.

Die Tür wurde aufgerissen, Hans-Joachim von Lehn stürzte ins Wohnzimmer. »Andrea!« Er schlang die Arme um sie und drückte sie an sich. »Warum schreist du so? Wie siehst du aus? Soll ich Frau Dr. Frey rufen?«

»Nein, nein. Es geht nicht um mich. Lauf hinaus, Hans-Joachim, schnell. Unter dem Autobus liegt ein Kind.« Andrea atmete schwer. Sie lehnte sich zurück und schloss die Augen.

Für Sekunden war Dr. von Lehn unschlüssig, was er tun sollte. Konnte er seine Frau allein lassen? Er lief ans Fenster.

»Sagen Sie Ihrer Frau, dass alles in bester Ordnung ist«, rief Schwester Johanna ihm zu. Ihre Worte gingen beinah in dem Gekläff des Boxers unter.

Hans-Joachim zog Andrea die Hände vom Gesicht. »Ich soll dir sagen, dass alles in Ordnung ist. Schwester Johanna hat ein Kind auf den Armen. Sie kommt mit ihm herein.«

»Geh ihr entgegen, Hans-Joachim.« Andrea erhob sich und stützte sich auf die Fensterbank. Sie sah, dass der Fahrer wieder aus dem Autobus ausgestiegen war. Er wischte sich eben mit einem Taschentuch über die Stirn. Sein Gesicht war grau. Jetzt lehnte er sich gegen den Kühler.

»Kommen Sie herein«, rief Andrea ihm zu. »Sie brauchen einen Cognac.« Noch immer benommen ging sie in die Diele.

Dort setzte Schwester Johanna gerade ein kleines blondes Mädchen auf die Füße, während der Boxer von draußen an der Haustür kratzte.

»Warum darf Bully nicht herein?«, fragte das Mädchen.

Schwester Johanna, sechsundfünfzig Jahre alt und etwas füllig, schimpfte mit einem sehr resoluten Ausdruck auf ihrem vollen Gesicht: »Meinst du, wir lassen es hier auch noch zum Hundekrieg kommen? Da, schau dich um, wir haben schon zwei solche Köter.« Sie zeigte auf die Dogge Severin und auf den Dackel Waldi. Beide saßen sittsam in der Diele und beobachteten, was sich da nun wieder einmal im Hause von Lehn tat.

Severin warf sich krachend auf den Fußboden, als habe er das Schimpfwort Köter sehr wohl verstanden. Waldi ging zur Haustür und schnupperte. Als er den Geruch des fremden Hundes aufgenommen hatte, bellte er wütend.

Andrea kümmerte sich nicht um die Hunde. Sie nahm das kleine Mädchen an der Hand und führte es ins Wohnzimmer. »Hast du dir wirklich nichts getan?«, fragte sie und strich dem Kind über das schöne blonde Haar.

Das Mädchen zeigte auf sein schmutziges Kleidchen und auf die Knie. »Sie bluten.« Dann hob es die Hände hoch. »Und die Hände auch. Bully hat so an mir gezerrt, dass ich ganz schnell unter dem Autobus hervorkriechen musste.«

Hans-Joachim von Lehn schüttelte den Kopf. »Sag mal, was ist dir nur eingefallen, unter den Autobus zu kriechen?«

»Das möchte ich auch wissen.«

Schwester Johanna sah sehr empört aus. Aber sie zog das Kind an sich. »Ich werde diese scheußlichen Hautabschürfungen desinfizieren und dir Knie und Hände verbinden.«

»Brennt das dann?«, fragte das Mädchen.

»Jetzt sei nicht noch zimperlich. Eben warst du es auch nicht. Wie alt bist du eigentlich?«

»Ich werde fünf.«

»Und da bist du noch so dumm?«

»Ich bin nicht dumm.« Das Mädchen riss sich von der Hand Schwester Johannas los und drückte sich an Andrea. Es schien zu fühlen, dass es bei der jungen Frau mehr Verständnis fand.

»Wie heißt du?«, fragte Andrea.

»Maria-Magdalena Haenel. Aber alle sagen Mareile zu mir. Das gefällt mir auch besser. Nur meine neue Mutti mag das nicht.«

Andrea legte den Arm um das Kind. »Nun sag mir doch mal, Mareile, warum du unter den Autobus gekrochen bist.«

Das Kind warf die Lippen auf. »Weil ich mit den Kindern Verstecken spielen wollte. Sie sollten mich nicht finden.« Trotzig fügte Mareile hinzu: »Sie hätten mich auch nicht gefunden. Bully hat mich verraten. Weil er immer so viel Angst um mich hat.«

»Bully ist also dein Boxer?«

»Ja.« Jetzt strahlten Mareiles Augen. »Bully ist sonst sehr lieb.« Plötzlich stupste Mareile Andrea an. »Du, Tante, Bully hat gehinkt. Ich glaube, er ist mit der Pfote unter das Rad gekommen. Auf einmal wollte der Autobus ja losfahren.«

»Ja, das wollte er.« Andrea überliefen von Neuem Schauer der Angst. »Da siehst du, was du deinem Bully zu verdanken hast. Schimpfe also nicht mehr auf ihn. Und such dir auch nie mehr ein so gefährliches Versteck aus.«

»Ich kann ja doch nie Verstecken spielen.« Mareiles Augen füllten sich mit Tränen. »Als ich noch auf unserem Bergbauernhof war, da habe ich immer mit meinen Geschwistern Verstecken gespielt. Das war so schön.«

Andrea sah ihren Mann an. Das Kind hatte wohl noch viel zu erzählen. »Schau nach dem Hund, Hans-Joachim«, bat Andrea. »Und Schwester Johanna geht mit dir ins Badezimmer, Mareile.«

»Darf ich dann wieder zu dir kommen, Tante?«

»Das sollst du sogar.«

Hans-Joachim fragte noch von der Tür her: »Können wir dich wirklich allein lassen, Andrea?«

»Ja. Jetzt ist der Schreck ja überstanden. Es war furchtbar.«

»Was stellst du dich auch ans Fenster und wartest, bis etwas geschieht, worüber du dich aufregen kannst, Andrea?«

Nun lachte die junge Frau. »Ich werde ab sofort die Augen schließen und mir Watte in die Ohren stopfen, damit ich nichts sehe und nichts höre. Begreifst du denn noch immer nicht, wie wichtig es war, dass ich den Boxer beobachtete? Der Busfahrer wäre losgefahren. Ach, jetzt erinnere ich mich erst wieder an ihn. Er steht sicher draußen und wartet auf seinen Cognac.«

»Was noch alles, Andrea? Du kriegst ein Baby, aber wir müssen ein Kind verbinden, einen Boxer versorgen und einen Busfahrer mit Cognac bedienen.«

»Es stimmt beinah alles, was du sagst, Hans-Joachim, nur das eine nicht, dass ich jetzt ein Baby kriege.«

»Das wäre aber am allerwichtigsten. Auf die anderen Aufregungen war ich nicht vorbereitet.«

»Ich auch nicht, Hans-Joachim.« Andrea stand auf und begleitete ihren Mann in die Diele.

Dort saß wirklich der Fahrer des Autobusses. Er sah noch immer sehr mitgenommen aus. Etwas verlegen stellte er sich vor. »Hans Maier.«

Andrea holte die Cognacflasche und goss ihm ein Glas randvoll. »Alkohol am­ Steuer ist zwar strengstens verboten, Herr Maier, aber Sie brauchen sicher etwas, was Ihre Lebensgeister wieder auffrischt.«

»So ist es. Ich kann noch immer nicht begreifen, dass ich beinah ein Kind totgefahren hätte. Da passt man schon nach allen Seiten hin auf, aber nun muss ich wohl in Zukunft auch noch unter den Wagen sehen, bevor ich losfahre.«

»Es war ein Verhängnis, das sicher so bald kein zweites Mal passiert, Herr Maier. Die Kinder spielten auf der Baustelle drüben Verstecken. Das kleine Mädchen wollte …«

Der Fahrer hatte den Cognac getrunken. Jetzt sah er Andrea entgeistert an. »Sagen Sie nur, das kleine Mädchen hatte sich unter meinem Autobus versteckt. Wer kann denn auf eine so verrückte Idee kommen?«