Angel - Marliese Arold - E-Book

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Marliese Arold

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Beschreibung

Svenja hält es zu Hause nicht mehr aus und haut ab. Allein und ohne Geld ist sie froh, als ein Obdachloser sie mit einer Bande von Straßenkids zusammenbringt. So lernt Svenja eine Welt kennen, die ihr völlig fremd ist, sie abstößt und dennoch eine große Faszination auf sie ausübt. Aus Svenja mit dem unschuldigen Engelsgesicht wird Angel, die Bettelqueen ...

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Seitenzahl: 202

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Marliese Arold

Angel

Die Geschichte eines Straßenkids

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Inhalt

Hallo Psycho1234567891011121314151617181920212223242526272829303132333435363738394041424344

Hallo Psycho,

ich bin’s, Clover. Kannst du mich hören, da unten in der Erde oder wo immer du auch grad bist? Du warst ja einer, der sich über so Zeug Gedanken gemacht hat.

Sorry, dass ich schon lang nicht mehr da war. Aber keine Zeit gehabt, du weißt schon.

Auf deinen Füßen hat jemand eine rote Kerze angezündet. Wegen Allerheiligen oder so. Überall auf dem Friedhof stehen solche Dinger. Ob deine Familie die Kerze hingestellt hat?

Wozu macht man so was? Um zu zeigen, dass man die Toten nicht vergessen hat?

Keiner von uns wird dich je vergessen, Psycho, nicht einmal die Wölfin. Es war der totale Schock, als wir dich gefunden haben. Und dann das Begräbnis – der blanke Horror. Ich kann so was nicht gut ab. Mann, mit sechzehn, das ist doch kein Alter, um einfach von der Bühne zu gehen!

Angel behauptet, du hättest es mit Absicht getan. Die anderen sagen, es sei ein Unfall gewesen. Vermutlich bist du der Einzige, der weiß, wie es wirklich war.

Du könntest mir wenigstens ein kleines Zeichen geben, dass du mich hörst. Lass doch mal ein Blatt vor meine Füße segeln oder puste die Kerze aus oder sonst was.

Die Wölfin ist jetzt übrigens auch weg. Seit ein paar Tagen. Wohin, weiß ich nicht. Sie hat nur gesagt, dass sie in eine andere Stadt will. Hier hat sie die Schnauze voll.

Langsam frieren mir die Füße ab. Ich muss mir unbedingt bald Stiefel organisieren. Heute Nacht war es verdammt kalt. Hoffentlich kriegen wir keinen Winter mit zwanzig Grad minus. Muss nicht sein, echt nicht.

Pankraz liegt zurzeit im Krankenhaus, Thrombose. Blöde Sache, aber immerhin hat er es warm. Und ich bin froh, dass der Verrückte ihn nicht erwischt hat – dieser Mistkerl, der Obdachlose abmurkst.

Mach’s gut, Psycho, ich geh jetzt.

Also dann – bis zum nächsten Frühjahr oder so.

1

In den Osterferien hatte Svenja gedacht, alles könnte gut werden.

Auf Ibiza blühte Mama auf, war wieder ganz die Alte, lebenslustig und voller Unternehmungsgeist. Sie flirtete mit dem Zimmerkellner, mit dem Portier und sogar mit den Boys am Strand, was Svenja manchmal richtig peinlich war. Aber Mama lachte nur darüber. Überhaupt lachte sie viel und trank wenig, sie nörgelte kaum an Svenja herum, sondern behandelte sie wie eine Erwachsene.

Zusammen mit Mamas Freundin Birgit, die Papas Platz eingenommen hatte (sie hatten den Urlaub gebucht, bevor er ausgezogen war), schlenderten sie durch die Straßen, machten Einkaufstouren, lagen am Strand und ließen sich im Hotel verwöhnen.

Ja, in den Osterferien hatte es noch ausgesehen, als sei das Leben eine flockenleichte Wolke, und wenn Svenja den Sand durch die Finger rieseln ließ, waren die Probleme weit, weit weg.

Doch nach dem Urlaub brach alles über ihr zusammen wie eine Sturzflut. Im Briefkasten warteten unbezahlte Rechnungen, ärgerliche Mahnungen und die Schreiben von Papas Rechtsanwalt. In der Wohnung erinnerte noch immer alles an Papa. Die Leere, die er hinterließ, tat weh. Der Alltag musste neu organisiert werden, aber Mama war überfordert, weinte viel und fing wieder an zu trinken.

Svenja fühlte sich wie zerrissen. Wie konnte ein Teil ihres Lebens genauso weiterlaufen wie früher, während sich der andere Teil so verändert hatte?

 

Svenja steckte den Schlüssel ins Schloss und drehte ihn vorsichtig um. Hoffentlich war Mama schon ins Bett gegangen. Elf Uhr hatten sie ausgemacht und jetzt war es halb eins.

Aber in der Pizzeria war es so gemütlich gewesen, ein richtig lustiger Abend. Kai, Uwe, Zeppelin und Michelle waren mitgekommen und Svenja hatte gelacht wie schon lange nicht mehr. Ein paar Stunden lang hatte sie vergessen, wie unerträglich es zu Hause geworden war, wie fremd und kalt. Dann hatte Uwe darauf bestanden, sie heimzubringen. Er war wirklich ein netter Typ, wenigstens mal keiner von der Sorte, die bloß ans Fummeln denken. Unten vor der Haustür hatten sie sich noch eine Viertelstunde unterhalten, dann hatte sich Svenja losgeeist. »Ich muss jetzt wirklich. Drück mir die Daumen, dass meine Alte schon pennt, sonst macht sie mir die Hölle heiß.«

Die Fenster im oberen Stockwerk waren zwar dunkel, aber das besagte gar nichts. Mama konnte trotzdem noch auf sein, das Wohnzimmer lag nach hinten.

»Ciao, Svenja. Schlaf gut.«

»Ciao, Uwe.«

Während sie die Treppe hinaufging, überlegte Svenja, warum Uwe nicht versucht hatte, sie zum Abschied zu küssen. Jeder andere hätte die Situation ausgenützt. Aber vielleicht war es ja besser. Auch so war alles schon kompliziert genug.

Auf Zehenspitzen schlich sie in den Flur und hängte ihre Jacke an die Garderobe. Ein Kleiderbügel klapperte und Svenja hielt den Atem an.

Da entdeckte sie den Lichtspalt unter der Wohnzimmertür. Also war Mama noch nicht schlafen gegangen.

»Svenja, bist du’s?«

Verdammt! Manchmal hatte sie Ohren wie ein Luchs. Svenja holte tief Luft und öffnete die Wohnzimmertür.

Mama lag auf der Couch, in der Ecke lief der Fernseher ohne Ton, irgendeine alberne amerikanische Comedyserie. Auf dem Tisch stand eine harmlos aussehende Mineralwasserflasche, die garantiert kein Mineralwasser enthielt. Svenja hatte Mamas Tricks längst durchschaut.

»Hi, Mama. Tut mir Leid …«

»Elf Uhr«, keifte Mama gleich los, ohne Svenja richtig zu Wort kommen zu lassen. »Und jetzt ist es fast eins. Auf dich ist genausowenig Verlass wie auf deinen Vater. Du denkst wohl, dass ich alles mit mir machen lass, wie?«

»Ich hab nicht dauernd auf die Uhr geschaut«, gab Svenja zurück. »Warum bist du nicht schlafen gegangen? Du weißt doch, dass ich den Schlüssel mitgenommen hab.«

»Ich soll schlafen? Das würde dir so passen. Damit du kommen und gehen kannst, wann du willst.« Mama versuchte, von der Couch hochzukommen, aber sie verschätzte sich mit ihren Kräften und plumpste in die Kissen zurück. Der zweite Versuch ging genauso daneben.

Sie hatte ganz schön getankt, Bier, Wodka, Whiskey – egal was. Svenja hatte längst herausgefunden, dass Mama die alkoholischen Getränke versteckte oder in andere Flaschen umfüllte. Obwohl ihr sonst jeder Gang zu viel war, brachte sie das Altglas selbst weg, damit Svenja die Flaschen nicht nachzählen konnte. Vermutlich tat sie es, wenn Svenja in der Schule war, dann schwankte sie mit Pantoffeln durchs Treppenhaus, in der Hand eine Plastiktüte mit leeren Flaschen, die sie im Müllcontainer versenkte.

Der dritte Versuch klappte endlich, Mama kam taumelnd auf die Füße und hielt sich am Couchtisch fest.

»Mit welchem Kerl hast du dich wieder rumgetrieben?«

»Mit gar keinem«, verteidigte sich Svenja.

Innerlich kochte sie. Mama unterstellte ihr ständig, dass sie mit irgendwelchen Typen rumzog. Hinter allem witterte Mama Jungs und Sex. Wenn Svenja mit einer Freundin nur wegen den Hausaufgaben telefonierte, dann vermutete Mama, dass sie sich heimlich verabredete. Wenn Svenja nach der Schule mit den anderen noch ein Eis essen ging, warf Mama ihr vor, sie hätte sich irgendwo mit einem Kerl rumgewälzt. Svenja hatte das ewige Misstrauen restlos satt.

»Und ich sag dir, wenn du eines Tages ein Kind anbringst, dann werf ich dich raus«, drohte Mama. Wie sie dastand, mit ihrem verquollenen Gesicht, aufgedunsen vom Alkohol! Es widerte Svenja an. »Dann kannst du bei deinem feinen Vater unterschlüpfen, aber mir kommst du nicht mehr unter die Augen.«

Wie oft hatte sie sich diesen Spruch schon anhören müssen.

»Ja, ja, ja!«, schrie Svenja mit geballten Fäusten. »Ich weiß. Aber ich bin nicht so blöd wie du und lass mir von einem Kerl ein Kind machen und fang dann aus lauter Frust an zu saufen!«

Das war gemein, aber sie wusste ja, dass sie die Ursache war, weshalb es Mama so schlecht ging. Wenn sie damals nicht unterwegs gewesen wäre, hätte Mama Papa nie geheiratet. Und dann hätte es keinen Ehekrieg gegeben, keine Trennung, auch nicht das erbitterte Hin und Her mit den Rechtsanwälten. Mama hätte in Frieden ihr Leben leben können, aber so hatte ihr Svenja alles verpatzt.

»Werd du noch frech!« Mama schwankte mit glasigem Blick auf sie zu. Sie hob die Hand, holte aus und hielt inne.

»Wenn du mich schlägst, hau ich ab«, verkündete Svenja. »Mach schon. Dann bin ich weg. Das wünschst du dir doch schon lange. Ich bin dir bloß im Weg.«

»Und wohin willst du?«, brüllte Mama. »Zu deinem Vater, dem Schwein? Meinst du, dort hast du’s besser? Glaubst du, der schlägt dich nicht? Hat er sich bei dir eingeschleimt? Du hast schon die ganze Zeit Kontakt mit ihm, hinter meinem Rücken, ja? Du frisst dich hier bei mir durch und in Wirklichkeit hältst du zu dem Dreckskerl!«

Svenja sah die Ohrfeige kommen und duckte sich. Mama verfehlte sie, aber durch den Schwung taumelte sie gegen das Wandregal und fegte ein gerahmtes Foto herunter. Svenja mit großer Zahnlücke und Schultüte. Glas splitterte, der Rahmen sprang auseinander.

»Du! Du!«, keuchte Mama, als hätte Svenja das Bild auf dem Gewissen. Sie deutete anklagend auf den Boden. »Heb das sofort auf und kehr den Dreck zusammen!«

Svenja rührte sich nicht. Ihr Herz hämmerte bis zum Hals, aber ihre Gedanken waren klar, so klar wie selten.

Das war kein Zuhause mehr. Hier war sie nur Sündenbock für alles und es wurde von Tag zu Tag schlimmer. Kein Mensch konnte so etwas aushalten, ohne vor die Hunde zu gehen.

Ständig dieser Krach mit Mama. Schon der kleinste Anlass genügte. Und das ewige Gejammere!

Svenja wusste nicht mehr genau, wann sie begonnen hatte, Mama zu hassen. Nachdem Papa fortgegangen war, hatte sie zuerst mit ihrer Mutter Mitleid gehabt. Irgendwann war dann die Verachtung gekommen, als Mama es nicht schaffte, mit dem neuen Leben fertig zu werden und ihren Kummer mit Alkohol betäubte. Als Svenja das Gefühl hatte, dass Mama ihr die Schuld an allem gab, war aus der Verachtung allmählich Hass geworden.

»Kehr das auf!«, wiederholte Mama. Mit einer Hand stützte sie sich am Regal ab, genau an der Stelle, wo das Bild gestanden hatte.

Svenja registrierte alles mit fotografischer Genauigkeit. Noch in fünfzig Jahren würde sie sich an diese Szene erinnern – an Mamas wässrige Augen, die in der letzten Zeit so oft durch Svenja hindurchgesehen hatten, an ihren verwischten Lidstrich, der in den Augenwinkeln zu kleinen blauen Körnchen verklumpt war, an ihr rotes Viskose-Kleid, das über dem Busen spannte und dessen eine Kragenseite nach innen gedreht war, an die verzerrten Gesichtszüge und die schwammige Haut mit den kleinen geplatzten Äderchen.

»Was glotzt du so?«, schnauzte Mama. Sie kickte mit dem Fuß ein paar Glasscherben in Richtung Svenja. »Bist du taub? Aufkehren, hab ich gesagt!«

»Du kannst mich mal!«, fauchte Svenja. »Kummer dich doch selbst um den ganzen Scheiß!«

Und mit einem Ruck machte sie kehrt, stürzte in ihr Zimmer und schloss die Tür ab, bevor Mama nachkommen konnte. In fieberhafter Hast sah Svenja sich um. Hier blieb sie keine Minute länger als nötig, so viel war klar. Alles andere war besser als weiter mit dieser Psychopathin zusammenzuleben.

Svenja zerrte den großen Rucksack, den sie sonst bei Klassenfahrten benutzte, vom Schrank herunter. Was sollte sie mitnehmen? Was sollte man überhaupt mitnehmen, wenn man vorhatte, nicht wiederzukommen? Das Zimmer verschwamm. Svenja biss sich auf die Lippen. Verdammt, Tränen konnte sie jetzt gerade noch brauchen!

Jeans zum Wechseln, zwei T-Shirts, Pullover, Unterwäsche, Geld. Schülerausweis? Svenja kramte in ihrer Schreibtischschublade. Da war er. Sie steckte ihn in ein Seitenfach.

Briefpapier? Das schöne mit dem Meer, das sie zu Weihnachten bekommen hatte? Quatsch. Sie würde niemandem schreiben. Überflüssiger Ballast. Aber der Walkman musste mit. Und ein paar Kassetten. Vor allem die Songs von Céline Dion, die sie so sehr mochte.

Mama rüttelte an der Türklinke. »Mach sofort auf!« Svenja tippte sich an die Stirn. Damit die Irre reinkommen und sie verprügeln konnte!

»Was tust du da? Wenn du nicht sofort aufmachst, trete ich die Tür ein!«

So, wie Mama momentan rumpolterte, war es ihr durchaus zuzutrauen, dass sie ihre Drohung wahr machte. Svenja blickte ängstlich auf den Rahmen. Wie stabil war so eine Tür? Und wie viel Kraft hatte Mama? Wut und Alkohol konnten einiges bewirken.

»Ich bin schon im Bett«, log Svenja. Ihr Atem ging hastig. Hoffentlich klang ihre Stimme normal. »Lass mich schlafen.«

Draußen vor der Tür war es einen Moment still. Svenja krampfte vor lauter Anspannung die Hände zusammen. Ihre Fingernägel bohrten sich in die Haut.

Natürlich ging das Gekeife weiter. »Damit kommst du nicht durch! Das lass ich nicht mit mir machen! Stundenlang warte ich drauf, dass du heimkommst, aber du treibst dich rum, ich mach mir Sorgen und hätte schon fast die Polizei angerufen …«

Die Polizei! Mama war die letzte, die etwas mit der Polizei zu tun haben wollte!

»… weil ich gedacht hab, dass dich dieser Saukerl entführt hat, gekidnappt, und dann will er mich erpressen, damit er das Sorgerecht kriegt …«

Papa als Kidnapper! Jetzt war sie völlig übergeschnappt!

»… aber da kann er sich auf den Kopf stellen, das kriegt er ums Verrecken nicht! Und jetzt mach endlich auf!«

»Lass mich in Ruhe«, rief Svenja. »Ich bin schon im Bett, ich hab Schule, wir schreiben morgen ’ne Arbeit in Wirtschaft, soll ich die verhauen?«

Hoffentlich zog Mama jetzt endlich ab. Sie konnte sich schließlich nicht die ganze Nacht vor ihrer Tür aufpflanzen.

Svenjas Schulleistungen waren ein Thema für sich. Nach dem Chaos zu Hause war sie katastrophal abgesackt, Klassenleiter Mielke hatte Mama schon zweimal zu sich in die Sprechstunde bestellt. Aber beim ersten Mal hatte Mama den Termin versäumt, weil sie zu dem Zeitpunkt sturzbetrunken gewesen war, und beim zweiten Mal hatte Svenja Mama den Brief gar nicht mehr gezeigt.

Wenn das Leben aus den Fugen geraten war, interessierten mathematische Formeln oder Englischvokabeln nicht mehr. Denn wenn man begriffen hatte, dass man eigentlich unerwünscht war, dann gab es keinen Grund, sich anzustrengen. Mit guten Leistungen gewann man keine Liebe, wenn keine Liebe da war.

»Trotzdem kannst du aufschließen«, quengelte Mama vor der Tür weiter. Sie pochte noch einmal und drückte die Klinke runter, aber längst nicht mehr so vehement wie zuvor. Svenja atmete unwillkürlich auf. Mamas Energie hatte nachgelassen.

»Nachher, jetzt lieg ich grad so gut«, sagte sie und zog sachte den Reißverschluss des Rucksacks zu.

Mama brummelte, Svenja sei undankbar, faul und bequem, kein Wunder, das habe sie alles von ihrem Vater. Aber sie ging tatsächlich. Svenja hörte sie noch eine Weile in der Küche herumfuhrwerken, dann fiel endlich die Schlafzimmertür ins Schloss.

Jetzt erst merkte Svenja, dass sie am ganzen Körper zitterte. Ihre Handflächen waren feucht. Das sollte das letzte Mal sein, dass Mama sie so fertig gemacht hatte, das schwor sie sich. Wenn ihre Mutter betrunken war, wurde sie unberechenbar. Erst neulich hatte sie Svenja im Zorn ein ganzes Büschel Haare ausgerissen. Betrunkene waren gewalttätig. Wer weiß, was noch alles passieren würde, wenn sie hierblieb – bei dieser Wahnsinnigen, die jetzt hoffentlich schlief.

Svenja wartete noch eine Viertelstunde, um ganz sicher zu gehen. Ein letztes Mal sah sie sich in ihrem Zimmer um, ob sie etwas vergessen hatte. Sie verstaute ein zweites Paar Schuhe. Und der kleine Steiffhase musste noch mit. Den hatte sie ungefähr vor einem Jahrhundert von Papa zu Ostern bekommen, damals, als sie noch eine richtige Familie gewesen waren.

Leise drehte Svenja den Schlüssel im Schloss und öffnete lautlos die Zimmertür. Sie lauschte. Aus dem Schlafzimmer kam kein Geräusch.

Auf Zehenspitzen huschte sie durch den Flur, griff vorsichtig nach ihrer Jacke. Diesmal klapperte kein Bügel. Svenja streifte die Jacke über und schob die Sicherheitskette zurück. Das Herz klopfte ihr bis zum Hals, als sie sachte die Tür öffnete.

Dann war sie draußen.

Sie ließ die Tür einen Spalt offen. Hätte sie sie zugezogen, hätte das Geräusch im ganzen Treppenhaus widergehallt und Mama wäre vielleicht wach geworden. Oder irgendjemand von den Mitbewohnern hätte sich morgen daran erinnert, dass bei den Lamberts spätabends noch eine Tür geklappt hatte.

Die offene Wohnung war Svenja egal.

Falls Einbrecher kamen, dann war das Mamas Problem. Svenja wollte nichts mehr damit zu tun haben.

2

»Hi, Wölfin.«

»Du schon wieder, Mister O.«

»Hier, ’ne Jacke, Diesel. Hab ich für dich organisiert.

Ist genau deine Größe.«

»Woher?«

»Egal.«

»Wieder bei Karstadt geklaut?«

»Nö. ’n Typ hat sie mir gegeben.«

»So.«

»Nachdem ich Druck gemacht hab.«

»Und wie kommst du drauf, dass ich ’ne Jacke brauch?«

»Sieht doch jeder, dass du frierst, Wölfin.«

»Ach nee. Einkratzen is’ nich’, das sag ich dir gleich.«

3

Es regnete und war lausig kalt. Ein richtiges Schmuddelwetter. Svenja zog frierend die Schultern nach oben. Zwanzig Minuten stand sie jetzt schon an der Straße und hielt den Daumen hoch. Bisher vergebens – alle Autos waren an ihr vorbeigefahren, ohne auch nur das Tempo zu verlangsamen.

Endlich hielt vor ihr ein Lastwagen. Der Fahrer öffnete die Beifahrertür.

»Wohin?«

Sie nannte ihr Ziel.

»Glück gehabt, da fahr ich durch. Kannst einsteigen.«

Der Mann sah ganz Vertrauen erweckend aus. Svenja schätzte ihn auf ungefähr fünfzig. Sie kletterte ins Führerhaus.

»Ich bin Benno.«

Klar, das stand ja auch auf dem Schild hinter der Windschutzscheibe.

»Nadine«, log Svenja und schnallte sich an. Ihren richtigen Namen brauchte er nicht zu erfahren. Wer weiß, was Mama einfiel. Am Ende kam sie auf den Gedanken, eine Suchmeldung durchgeben zu lassen.

Benno fuhr los. Die erste Zeit redeten sie fast gar nichts. Aus dem Lautsprecher dröhnten unentwegt Songs von Pur. Auf der Ablage stapelten sich etliche Kassetten der Gruppe, der Typ schien gleich eine ganze Sammlung zu haben. Wahrscheinlich hörte er von München bis Kiel nichts anderes.

Svenja merkte, wie müde sie war. Sie fing an, vor sich hin zu dösen, als Benno plötzlich fragte:

»Bist du von zu Hause ausgerissen?«

Sie war überrumpelt. Sah man ihr das an? Jetzt musste sie cool bleiben.

»So ’n Quatsch. Wie kommen Sie denn darauf?« Sie spielte die Entrüstete. »Ich mach Urlaub.« In Notsituationen funktionierte ihre Fantasie erstaunlich gut. In der letzten Zeit hatte sie außerdem erheblich dazugelernt, sowohl Mama gegenüber als auch in der Schule. »Ich hab grad meine Lehrstelle geschmissen. Ich will Zahnarzthelferin werden, aber mein Chef war ein Arsch. Nie hab ich ihm was recht gemacht, immer zu langsam die Mischungen angerührt und so weiter. Dauernd hat er auf mir rumgehackt. Mir hat’s zum Schluss echt gereicht.«

Sie sah Benno direkt an. Er schien die Story zu schlucken. »Im Herbst such ich mir dann was Neues, aber jetzt muss ich mal raus, einfach abschalten nach all dem Scheiß. Ich hab Freunde im Norden, die will ich besuchen, und ich fahr per Anhalter, weil ich nicht viel Kohle hab. Logo, was einer verdient als Azubi im ersten Lehrjahr, kann man voll vergessen.«

Zufrieden registrierte sie, dass seine Neugier gestillt war. Zumindest fragte er nicht weiter.

Sie fuhren stundenlang auf der Autobahn, Kilometer um Kilometer.

Irgendwann nickte Svenja für einige Zeit ein. Als sie aufwachte, sah sie, dass der Himmel allmählich hell wurde. Aus den Augenwinkeln nahm sie das Hinweisschild für eine Raststätte wahr.

»Frühstückspause gefällig?«, fragte Benno und blickte sie von der Seite an.

Svenja lächelte. »Keine schlechte Idee.«

Er bog nach rechts zur Raststätte ab und brachte den LKW auf dem Parkplatz zum Stehen. Svenja kletterte hinaus.

Es war alles andere als anheimelnd. Überall ringsum parkten riesige LKWs. Ein Gefühl der Unwirklichkeit erfasste Svenja. Während sie hier stand, wälzte sich Mama noch im Bett und schlief ihren Rausch aus, Hunderte von Kilometern entfernt. Erst in einigen Stunden würde sie die offene Wohnungstür entdecken. Wahrscheinlich dachte sie, dass Svenja wie gewohnt zur Schule gegangen war.

Benno kramte noch immer im Führerhaus. Endlich kam er raus. Als sie Richtung Cafeteria gingen, zog Svenja fröstelnd die Schultern hoch. Benno bemerkte es.

»Komm, ’ne Tasse Kaffee wird dich aufwärmen«, verkündete er. »Ist auch viel zu kalt für Mai. Hoffentlich kriegen wir nicht wieder so einen Scheißsommer wie letztes Jahr. Kann schon verstehen, dass alle Leute nach Mallorca wollen oder sonst wohin, wo’s warm ist.« Sie stellten sich an der Theke an. Es roch nach Kaffee und Zigaretten. Svenja nahm sich zwei Hörnchen, abgepackte Butter und Aprikosenmarmelade. Als sie bezahlen wollte, schüttelte Benno den Kopf. »Lass dein Geld mal stecken. Ich lad dich ein.«

»Danke.«

Sie trugen die Tabletts an einen Zweiertisch in einer Nische. Svenja war hungrig wie ein Wolf und verdrückte die beiden Hörnchen im Nu. Die Aprikosenmarmelade schmeckte besser als erwartet und selbst der Kaffee war stark und gut.

Benno zündete sich eine Zigarette an. Dann hielt er ihr die Packung hin. »Du auch? Du bist doch schon sechzehn, oder?«

»Siebzehn«, log Svenja und bediente sich.

Er sah sie prüfend an, aber Svenja hielt seinem Blick stand. Keine Ahnung, ob er ihr das Alter abnahm. Sie war erst fünfzehn, doch jeder behauptete, sie sähe älter aus.

Benno gab ihr Feuer. »Warum bist du eigentlich mitten in der Nacht unterwegs, wenn du Urlaub machen willst?«

Mist, jetzt kam sie doch ins Schleudern. Fieberhaft suchte sie nach einer überzeugenden Erklärung.

»Ich … ich hatte Stress mit meinem Freund«, schwindelte sie.

»In der Nacht?«, hakte Benno nach und grinste anzüglich.

Svenja wurde rot. »Nein, schon gestern Abend. Ursprünglich wollten wir zusammen nach … nach Kiel zu Freunden. Aber Mario hat zufällig ’ne alte Freundin wiedergetroffen, gestern Mittag schon, ’ne Schulfreundin, und – Mensch, den ganzen Tag haben sie zusammengehockt und Erinnerungen aufgefrischt. Ich hab dagesessen wie ’ne Idiotin und gedacht, verdammt, da kann ich genausogut gehen.«

»Und deswegen bist du einfach abgehauen?«

»Mario kann mich gern haben«, sagte Svenja entschlossen. Sie strich sich die Haare aus der Stirn. »Ich lauf ihm nicht nach.«

»Du legst dich wohl oft mit den Leuten an, wie?«

Svenja zuckte mit den Achseln. »Man muss sich schließlich wehren, oder?« Sie griff nach ihrem Kaffeebecher, doch der war schon leer.

»Wenn du meine Tochter wärst, würde ich dich nicht so rumfahren lassen.«

»Bin ich aber nicht«, gab Svenja pampig zurück.

»Was sagen denn deine Eltern dazu?«

»Was sollen sie schon sagen. Mama war selbst mit achtzehn in China und hat dort ganz allein eine Rucksacktour gemacht. Die lässt sich nicht so schnell schocken.«

»Na ja, dann.« Benno drückte seine Zigarette aus. »Ich hätt’ jedenfalls keine ruhige Nacht mehr, wenn ich wüsste, dass meine Tochter per Anhalter fährt. Ich selbst nehm zwar ab und zu ein paar Leute mit, aber insgesamt ist es doch ’ne verdammt riskante Art zu reisen. Kann mal ganz leicht schief laufen. Ich möchte nicht, dass das meine Kinder machen.«

»Haben Sie denn überhaupt welche?«, fragte Svenja. »Zwei Mädchen«, antwortete Benno. »Dreizehn und Siebzehn. Die leben bei meiner Ex.« Er schob das Tablett mit dem Frühstück beiseite und stand auf.

»Fahren wir jetzt weiter?«, wollte Svenja wissen.

»Ich will mich noch kurz rasieren«, antwortete Benno. »Falls du dich auch frisch machen willst – dort drüben ist für kleine Mädchen.« Er deutete mit dem Daumen hinter sich.

Svenja ging zur Damentoilette. Die Wände waren weiß gekachelt und mit obszönen Graffiti beschmiert. Der Spiegel zeigte ihr ein blasses, übernächtigtes Gesicht. Die Augen wirkten noch größer als sonst und der Mund war weich und verletzlich. Sie sah wieder mal total lieb aus.

»Mein Engelchen«, hatte Papa sie früher oft genannt. Svenja hasste ihr Engelsgesicht. Vor einigen Monaten hatte sie aus Protest ihre Haare abgeschnitten und die Stoppeln knallrot gefärbt, aber das hatte einfach nur blöd ausgesehen. Also ließ sie das Haar wieder wachsen. Die rote Farbe war mittlerweile ausgewaschen. Jetzt wirkte der Engel leicht zerrupft, wie einer, der in der Mauser war, ein bisschen frech, ein bisschen aus der Reihe getanzt, aber trotzdem engelhaft. Daran änderten auch die Ohrlöcher nichts. Mama war ausgeflippt, als sie merkte, dass sich Svenja das letzte Loch im rechten Ohr oben selbst gestochen hatte – mit einer Sicherheitsnadel. Was das für ein Aufstand gewesen war! Mama hatte sich in der ersten Zeit jedes Mal stöhnend weggedreht, wenn sie das neue Loch gesehen hatte. Svenja hatte dabei immer Genugtuung verspürt.

Sie öffnete ihren Rucksack, holte ihr Kosmetiktäschchen heraus und zog den Lidstrich dick mit schwarzem Kajalstift nach. Schon besser. Ein Engel mit schwarzen Eulenaugen.

Sie streckte ihrem Spiegelbild die Zunge heraus und verließ die Toilette.

4

Heut hab ich der Wölfin gesagt, dass das Haus abgerissen wird.