Angewandte Traumapädagogik - Olaf Stähli - E-Book

Angewandte Traumapädagogik E-Book

Olaf Stähli

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Beschreibung

Das Buch ermutigt und befähigt zur traumasensiblen Arbeit. Der erste Teil vermittelt theoretisches Verständnis über Trauma, basierend auf dem aktuellen Wissensstand der Psychotraumatologie, Neurobiologie und Psychologie. Das vom Autor entwickelte Traumapädagogische Anwendungsmodell (TAM) wird verständlich erklärt und bildet eine Brücke zur Praxis. Der zweite und der dritte Teil gehen auf die Anwendung im Alltag ein. Neben bekannteren Konzepten wie "Der gute Grund", "Partizipation" oder "Transparenz" werden auch traumapädagogische Ansätze für häufige und besonders große Herausforderungen wie Gegenübertragungen, getriggerte Zustände oder der Umgang mit Konsequenzen vertieft. Dabei arbeitet das Praxisbuch mit zwei durchgängigen Fallbeispielen.

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EPUB
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Seitenzahl: 403

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Olaf Stähli

Angewandte Traumapädagogik

Ein Praxisbuch

Mit 63 Abbildungen und 2 Tabellen

Unter Mitarbeit von Barbara Tänzler

Mit Illustrationen von Annette Tillmann

Ernst Reinhardt Verlag München

Olaf Stähli ist Psychologe und Supervisor. Er bietet Weiterbildung, Fachberatung und Coaching für Fachpersonen und Organisationen in sozialen Berufsfeldern an.

 

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

ISBN 978-3-497-03299-0 (Print)

ISBN 978-3-497-61976-4 (PDF-E-Book)

ISBN 978-3-497-61977-1 (EPUB)

© 2025 by Ernst Reinhardt, GmbH & Co KG, Verlag, München

Dieses Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne schriftliche Zustimmung der Ernst Reinhardt GmbH & Co KG, München, unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen in andere Sprachen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Der Verlag Ernst Reinhardt GmbH & Co KG behält sich eine Nutzung seiner Inhalte für Text- und Data-Mining i.S.v. § 44b UrhG einschließlich Einspeisung / Nutzung in KI-Systemen ausdrücklich vor.

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Printed in EU

Covermotiv: © iStock / LeManna (Agenturfoto. Mit Models gestellt.), mit Adobe Firefly KI-Bildgeneration erweitert und bearbeitet durch Ernst Reinhardt GmbH & Co KG

Satz: Sabine Ufer

Ernst Reinhardt GmbH & Co KG, Kemnatenstr. 46, D-80639 München

Net: www.reinhardt-verlag.de E-Mail: [email protected]

Inhalt

Vorwort

Einführung

Traumapädagogischer Lernprozess

Fachpersonen und betroffene Personen

Traumapädagogik und traumasensible Arbeit

Anleitungen und Einschränkungen

Illustrationen

Kayla und Elias

Teil 1 – Wissenskompetenz

1Trauma

1.1Neurobiologie und Psychologie des Traumas

2Psychotraumatologie

2.1Verlauf und Diagnosen

2.2Dissoziation

2.3Verarbeitungsversuche

2.4Unter- und Überregulation

2.5Trigger und kritische Instabilität

3Traumapädagogisches Anwendungsmodell (TAM)

3.1Farbverteilung im TAM

3.2Abgrenzung TAM von Stresskurve

3.3Typische Symptome von Traumafolgestörungen

3.4Missverständnis

4Das Wesen der Traumapädagogik

4.1Abgrenzung zur Traumatherapie

4.2Beziehungsarbeit

4.3Geschenke

4.4Empathisches Verstehen

4.5Vom Reflex zur Reflexion

4.6Traumapädagogische Haltung

4.7Paradoxe Herausforderung

4.8Pädagogik des Hinzufügens

4.9Traumapädagogik auf struktureller Ebene

4.10Das Gras wächst nicht schneller, wenn man daran zieht

5Übertragung und Gegenübertragung

5.1Übertragungsphänomene erkennen

5.2Umgang mit Gegenübertragungen

5.3Externe Reflexionsgefäße

6Traumatisiert oder nicht?

6.1Traumapädagogische Hypothese

6.2Hinterfrage die Frage

Teil 2 – Handlungskompetenz

7Der gute Grund

7.1Unterschied in der Anwendung

7.2Der gute Grund im Alltag

7.3Verzicht auf Schuldzuweisung

8Der sichere Ort

8.1Der sichere Ort und sichere Beziehungen

8.2Der sichere Ort und Reinszenierungen

8.3Der sichere Ort und Schutz vor Tätern

8.4Der sichere Ort und der sichere Raum

8.5Der innere sichere Ort

8.6Der sichere Ort und die Organisation

8.7Der sichere Ort und traumapädagogische Kompetenz

9Sichere Beziehung und innere Sicherheit

9.1Liebevolle Beziehung

9.2Traumapädagogische Pyramide und Realitätsbezug

9.3Brücken bauen

9.4Feinfühligkeit

9.5Attunement

9.6Bedürfnisklärung

9.7Rituale

9.8Selektive Aufmerksamkeit

9.9Stabilität und Verlässlichkeit

9.10Freude und Spaß

9.11Nähe versus Distanz

10Kontrasterfahrungen

11Partizipation und Vorbesprechen

11.1Partizipation

11.2Das Prinzip der Expertenschaft

11.3Transparenz

11.4Vorbesprechen

11.5Gefühle benennen und Authentizität

12Kommunikationstechniken

12.1Zwei Meinungen

12.2Absichtserklärung

12.3Validieren

12.4Benennen

13Trigger vermeiden und Desensibilisierung

14Stabilisierung bei Traumazuständen

15Containment

16Schutz bei Traumazuständen

16.1Deeskalation

16.2Schutzkonzepte

17Vor Druck schützen

18Strafen, Konsequenzen und Wiedergutmachung

18.1Strafen

18.2Konsequenzen

18.3Wiedergutmachung

18.4Individuelle Regeln

19Resilienzförderung

19.1Förderung der Selbstregulierung

19.2Förderung der Selbstfürsorge

19.3Förderung der Stärken von vorhandenen Eigenschaften

19.4Förderung von bestehenden und neuen Fähigkeiten

19.5Förderung der Sinneswahrnehmungen

19.6Förderung von sozialen Beziehungen

19.7Förderung des Selbstverstehens / Psychoedukation

Teil 3 – Selbstkompetenz

20Die Bedeutung der Selbstkompetenz

20.1Achtsamkeit

20.2Selbstregulierung

20.3Selbstfürsorge

20.4Selbstreflexion

20.5Lernen am Modell

20.6Trauern

20.7Verarbeitung der eigenen biografischen Belastungen

20.8Anwendung der Selbstkompetenz

20.9Traumapädagogische Förderplanung

20.10Zuversicht

Literatur

Register

Vorwort

Durch meinen beruflichen Werdegang ergab es sich, dass ich bereits sehr viel mit von Trauma betroffenen Menschen gearbeitet habe, bevor ich Kenntnisse der Traumapädagogik hatte. Mit zunehmendem Wissen über Traumapädagogik erkannte ich schnell deren Wert und was sie für einen Unterschied im Leben der Betroffenen machen kann. So vertiefte ich mich immer mehr in dieses Thema. Als ich unverhofft Pflegevater wurde, erfuhr ich noch intensiver als in den beruflichen Rollen, was es bedeutet, eine traumapädagogische Haltung zu haben, wie schnell der Zugang zu dieser Haltung verloren gehen kann und wo die großen Stolpersteine in der konkreten Umsetzung und Anwendung der Trauma­pädagogik liegen. Seither machte ich mir viele Gedanken darüber, wie sich die Theorie in z. T. ausweglos scheinenden Situationen besser in trauma­pädagogische Handlungen umsetzen lassen könnte. Später als Berater und Weiterbildner wurde mir bewusst, wie viele Fachpersonen bei der konkreten Anwendung der Traumapädagogik in herausfordernden Situationen überfordert waren, Unsicherheiten hatten oder sich z. T. mit scheinbar unlösbaren trauma­pädagogischen Dilemmas konfrontiert sahen.

Aus diesen beruflichen Erfahrungen und dem Erleben, wie wertvoll die Trauma­pädagogik auch für mein privates Leben wurde, entwickelte ich nach und nach Erklärungen, Modelle und eine Methodik, wie sich die Traumapädagogik mit einem Fokus auf die Anwendung vermitteln lässt. In Beratungen und Weiterbildungen erlebe ich seither, wie viel Entwicklung und Veränderung dadurch möglich wird und wie wieder mehr Zufriedenheit in das Leben der betroffenen Menschen und der Fachpersonen kommt.

Ich danke allen, die zu diesem Buch beigetragen haben und mich zum Schreiben motivierten. Mein ganz besonderer Dank geht an all die Menschen mit und von denen ich in meiner Arbeit und im Privaten so viel lernen durfte. Ich hoffe, mit diesem Buch etwas zurückgeben zu können.

Hirzel, im Februar 2025

Olaf Stähli

Einführung

Einschneidende Ereignisse wie Schicksalsschläge, Belastungen und Überforderungen gehören zum Leben – sie betreffen uns alle. Während viele Menschen diese Erfahrungen bewältigen, ohne an Lebensqualität zu verlieren, oder sogar gestärkt daraus hervorgehen, haben andere mit erheblichen Folgen des widerfahrenen Leids zu kämpfen (Reddemann / Dehner-Rau 2013). Einige einschneidende Ereignisse, wie etwa Gewalterfahrungen, werden von der Gesellschaft als tiefgreifende psychische Traumata erkannt und anerkannt. Doch es gibt viele Formen der Traumatisierung, die weniger offensichtlich sind und dennoch tiefe Spuren hinterlassen.

Ob ein tiefgreifendes Ereignis zu einer Traumafolgestörung führt oder nicht, hat mit verschiedenen Faktoren zu tun – insbesondere damit, ob sich eine Drittperson fürsorglich um den betroffenen Menschen kümmern konnte. Wer Geschichten von Menschen kennt, die bereits im Kindesalter traumatisiert wurden, weiß, dass gerade ihnen dieses Glück oftmals fehlte. Manchmal war genau das Gegenteil der Fall. Diejenige Person, die sich fürsorglich um das Kind hätte kümmern sollen, vermochte es nicht zu schützen oder war sogar Verursacher bzw. Verursacherin des Traumas.

Die Traumapädagogik und die traumasensible Arbeit baut auf der Psycho­traumatologie (Lehre der Traumafolgestörung) auf, also auf dem Verstehen der Auswirkungen eines Traumas, und liefert wertvolle Anhaltspunkte über die psychologischen Prozesse und den Umgang mit einer Traumafolgestörung. So wird in der Traumapädagogik z. B. nicht ein manipulativer Jugendlicher gesehen, der nicht will und mit Absicht enttäuscht, sondern ein Mensch, der aufgrund seiner schweren Belastungen alles in seinen Möglichkeiten Stehende tut, um im Leben zurechtzukommen – auch wenn dies im Moment nicht wirklich gut funktioniert. Durch diese Sichtweise werden Sprüche wie „Man kann ein Pferd zum Wasser führen, aber trinken muss es selbst“ hinfällig. Hinzu kommt, dass sie in erster Linie pädagogische Hilflosigkeit ausdrücken. Stattdessen bietet die Traumapädagogik Wege, wie Trinken wieder möglich wird.

Dieses Praxisbuch hat das Ziel, den Leser und die Leserin zu befähigen, Trauma­pädagogik im Alltag kompetent anzuwenden und die Traumapädagogik zu einer inneren Haltung entwickeln zu lassen. Eine Haltung lässt sich nicht durch bloßes Theoriewissen gewinnen. Es bedingt einen persönlichen Lernprozess, bis man von innen heraus wie von selbst beginnt, traumapädagogisch zu handeln. Zusätzlich zur Haltung benötigt es für die Umsetzung im Alltag spezifische trauma­pädagogische Fähigkeiten. Das braucht Zeit, viel Übung und eine Methodik, an der man sich orientieren kann.

Um die praxisorientierte Anwendung der Traumapädagogik, die Entwicklung der traumapädagogischen Haltung und den Aufbau einer soliden Grundlage zu fördern, gliedere ich die Traumapädagogik in drei Teilkompetenzen: Wissenskompetenz, Selbstkompetenz und Handlungskompetenz. In der Anwendung der Traumapädagogik braucht es alle drei Kompetenzen.

Die Wissenskompetenz(Teil 1), also das Wissen über Trauma und dessen Folgen sowie über traumapädagogische Konzepte, bildet die Basis (Schmid 2007; Gahleitner et al. 2021). Sie beinhaltet das Verstehen der neurobiologischen und psychischen Prozesse während der Traumatisierung sowie der Traumafolgen und Traumafolgestörung (Psychotraumatologie) nach der Traumatisierung. Auf diesem Verständnis baut u. a. das sogenannte traumapädagogische Modell (TAM) auf; ein wesentliches Arbeitsinstrument meiner traumapädagogischen Arbeit.

Die Handlungskompetenz (Teil 2) definiert, welche Ansätze in der Traumapäd­agogik unabdingbar sind und welche wann mehr gewichtet oder wie diese kombiniert werden können. In aller Regel sind es nicht die einzelnen Methoden per se, die traumapädagogisch sind, sondern sie werden erst durch das Verständnis der Psychotraumatologie, durch die Kombination und durch die Qualität der Beziehungsgestaltung traumapädagogisch wirksam. Die meisten Methoden, die in der Traumapädagogik angewendet werden, gibt es schon lange und sie wurden im Rahmen anderer Methoden oder in der Geschichte der Pädagogik und der Psychologie entwickelt. Letztlich ist es die Gesamtheit einer auf der Psychotraumatologie begründeten und planmäßig vorgehenden Methodik, die die Traumapädagogik ausmacht – und nicht die einzelne Intervention.

Die Selbstkompetenz (Teil 3) in der Traumapädagogik umfasst die Fähigkeit und Bereitschaft, sich mit sich selbst zu beschäftigen, auseinanderzusetzen und weiterzuentwickeln. Dazu gehört u. a. Selbstreflexion, Selbstfürsorge, Selbstregulierung und Empathiefähigkeit, aber auch die Auflösung von hinderlichen Übertragungsphänomenen und die Auseinandersetzung mit eigenen biografischen Belastungen.

Bei der Betrachtung der Wechselwirkung der drei verschiedenen Kompetenzen wird deutlich, dass ohne eine ausreichende Selbstkompetenz Traumapädagogik nicht möglich ist. Die Förderung der eigenen Selbstkompetenz ist somit ein wesentlicher Bestandteil des Lernprozesses, um eine traumapädagogische Haltung zu entwickeln. Die Selbstkompetenz ist zudem die Voraussetzung, um die zur Handlungskompetenz gehörenden Methoden, insbesondere unter Belastungen und herausfordernden Bedingungen, wirkungsvoll anwenden zu können, ohne die Beziehungsebene zu schwächen. Dies ist umso bedeutungsvoller, da die Beziehungsgestaltung in der Traumapädagogik ein zentraler Erfolgsfaktor ist. Möchte eine Fachperson z. B. eine von einer Traumafolgestörung betroffene Person partizipativ in einen Entscheid miteinbeziehen, so reicht es nicht, uninteressiert und genervt zu fragen: „Und? Was meinst du dazu?“ Traumapädagogisch wirksam wird das Gespräch erst, wenn die Fachperson selbst versteht, weshalb die Methodik der Partizipation wichtig ist (Wissenskompetenz), und in der Lage ist, sich einzugestehen, dass sie gerade nicht wirklich interessiert, sondern genervt ist. Zudem muss sie sich selbst regulieren und echtes Interesse entwickeln (Selbstkompetenz). Erst wenn dies alles gelingt, entsteht eine Traumapädagogik, die es der betroffenen Person ermöglicht, sich einzubringen und gehört zu werden.

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Erst durch das Zusammenspiel der Wissens-, der Selbst- und der Handlungskompetenz entfaltet die Traumapädagogik ihr volles Förderungspotenzial.

Traumapädagogischer Lernprozess

Die Diskrepanz und Spannung zwischen aktuellem Wissens- und Erfahrungsstand und neuem traumapädagogischen Wissen bringt einen Lern- und Entwicklungsprozess in Gang. Dabei wird bisher Selbstverständliches hinterfragt. Neue Erfahrungen werden gemacht, man wird mit anderen Sichtweisen und Haltungen konfrontiert und lernt neue Ansätze kennen. Dieser Prozess führt meiner Beobachtung nach bei den meisten Menschen zuerst zu einer (trauma-)pädagogischen Verunsicherung. Das Neue ist erst dabei, zu entstehen, und ist noch nicht eingeübt, während Bisheriges z. T. in Frage gestellt wird. Diese Irritation und Verunsicherung sind normal und eigentlich ein gutes Zeichen, da es bedeutet, dass Sie in den Entwicklungsprozess eingestiegen sind. Das Endresultat ist die Integration neuen Wissens und die Anwendung der Traumapädagogik und das Entstehen einer neuen (traumapädagogischen) Haltung.

Jeglichem Lernen – sei es z. B. Stricken, Golf spielen, eine neue Sprache oder Yoga – unterliegen neue neurale Verknüpfungen und effizientere Kommunikation zwischen Nervenzellen. Damit das Gehirn lernt, braucht es Repetition und Anwendung. Nicht das bloße Lesen und Verstehen eines Buches, sondern das Ausprobieren, Nachlesen, Auseinandersetzen, Repetieren und das ständige Üben und Anwenden fördern die nötigen Veränderungen in den Nervenzellen. Das ist beim Erlernen der Traumapädagogik nicht anders. Ich möchte Sie darum einladen, den Inhalt dieses Buches bei der Arbeit und im Privaten so oft wie möglich auszuprobieren und zu üben.

Fachpersonen und betroffene Personen

Dieses Buch ist für Menschen geschrieben, die mit Menschen arbeiten, die von schweren Traumafolgestörungen betroffen sind. Dieses Arbeitsfeld umfasst eine große Palette an Berufen und freiwilliger Arbeit. Auch wenn nicht alle diese Menschen im engeren Sinne Fachpersonen sind, so sind sie im Buch alle mit diesem Begriff angesprochen: Sozialpädagoginnen, Lehrerpersonen, Sozialarbei­tende, Bezugspersonen, Coaches, Erzieherinnen, Juristen, Ärzte, Eltern, Adoptiv­eltern, Pflegeeltern, freiwillige Helfer, u.Ä.

Als „betroffene Menschen“ oder „betroffene Personen“ sind in diesem Buch Kinder, Jugendliche und Erwachsene gemeint, die von traumatischen Erlebnissen und daraus folgend von ausgeprägten Traumafolgestörungen betroffen sind. Dieses Buch richtet sich in erster Linie an die Arbeit mit diesen Menschen.

Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird in diesem Buch auf die gleichzeitige Verwendung männlicher und weiblicher Sprachformen oft verzichtet. Sämtliche Personenbezeichnungen gelten jedoch für alle Geschlechter gleichermaßen.

Traumapädagogik und traumasensible Arbeit

In den 1990er-Jahren flossen die neuen Erkenntnisse der Traumapsychologie zunehmend in die Sozialpädagogik ein. So entstand im deutschsprachigen Raum der Begriff Traumapädagogik (van Mil 2023). Parallel dazu bildeten sich im englischsprachigen Raum die Begriffe der „trauma-informed intervention“, „trauma-informed approach“, „trauma-informed care“ und „trauma-informed practice“ (Branson et al. 2017; Nadeem et al. 2014; Sun et al. 2023). Heute ist die Bezeichnung Traumapädagogik eigentlich zu eng gefasst, denn die auf den Erkenntnissen der Traumapsychologie beruhende pädagogische Arbeit mit Menschen ist auch in nicht-pädagogischen und in nicht-beruflichen Settings relevant. Die Traumapädagogik ist für alle hilfreich und nützlich, die in ihren Berufen und Rollen mit traumatisierten Menschen zu tun haben und diese unterstützen wollen, sei es im Gesundheitsbereich, in der Sozialarbeit, Justiz, Familienpflege, im Schulwesen, im Weiterbildungs- und Ausbildungskontext, beim Kinderschutz, bei behördlichen Entscheidungsträgern, im eigenen Fami­lien- und Freundeskreis, in der Vereinsarbeit oder Nachbarschaftshilfe. Entsprechend wird im deutschsprachigen Raum zunehmend der Begriff traumasensible Arbeit verwendet, zum Beispiel in den Bereichen Kita, Beratung und Seelsorge (Bialek 2018; Jegodtka / Luitjens 2016; Stahl 2019; Götz 2018). So würde es auch in diesem Buch durchaus Sinn machen, immer auch von traumasensibler Arbeit zu sprechen. Der Einfachheit halber, aber auch weil der größte Teil der wesentlichen Erkenntnisse für die nicht-therapeutischen Berufe aus der Trauma­pädagogik stammen, beschränkt sich dieses Buch in der Regel auf den Begriff Traumapädagogik. Der Inhalt dieses Buches ist jedoch auf alle beruflichen und nicht-beruflichen Settings transferierbar, in denen mit und für Kinder, Jugendliche oder Erwachsene sozialpädagogisch, schulisch, erzieherisch, begleitend, unterstützend und beratend gearbeitet wird oder ähnliche Rollen eingenommen werden.

Anleitungen und Einschränkungen

Denken, Gefühle, Erinnerungen, Entscheiden, Handeln – sprich alles, was das Wesen eines Menschen ausmacht, entsteht und findet im Gehirn statt. Gleichzeitig versteht bis heute niemand weder das Gehirn noch die Psyche umfassend. Die Psychologie behilft sich deshalb mit verschiedenen Mitteln und Ansätzen, um die Psyche zu verstehen, und arbeitet mit dem, was bekannt ist. Sie stützt sich dabei u. a. auf Statistiken und nutzt die Gauß’sche Kurve, um Vergleiche zu einer Normgruppe zu machen bzw. besondere Auffälligkeiten zu differenzieren. Dabei wird davon ausgegangen, dass das, was bei den meisten dieser Gruppe üblich ist, normal ist. Entsprechend gilt das, was in dieser Gruppe nicht üblich ist, als abnormal, abweichend oder auffällig. Gleichzeitig zeigt die Gauß’sche Kurve auf, dass es immer auch Ausnahmen gibt, und Ausnahmen auch normal sind, nur dass sie weniger häufig auftreten. Für dieses Buch ist die Gauß’sche Kurve insofern wichtig, als dass die hier gemachten Aussagen für die meisten Menschen mit schweren Traumafolgestörungen zutreffen, die gemäß ICD-11 (engl. International Statistical Classification of Diseases and ­Related Health Problems) als komplexe posttraumatische Belastungsstörung (kPTBS) bezeichnet werden (World Health Organization 2022). Aber auch hier gibt es Ausnahmen.

Weiter bewegt sich fast alles in der Psychologie in einem Spektrum. Auf der einen Seite gibt es z. B. Lebensbelastungen, die weitgehend verarbeitet sind und keinen oder kaum einen negativen Einfluss auf die Lebensqualität haben. Auf der anderen Seite gibt es schwerste Traumafolgestörungen, die die Lebensqualität extrem einschränken. Dazwischen liegt ein weites Spektrum. Insbesondere von Trauma betroffene Menschen sollten sich die Freiheit herausnehmen, selbst zu entscheiden, wo sie sich in diesem Spektrum verorten. Für Fachpersonen macht es wiederum Sinn, zwischen normalen Reaktionen auf frühere Belastungen und schweren Traumafolgestörungen zu unterscheiden, um ihre Arbeitsweise entsprechend anzupassen.

Um die Komplexität der psychologischen Phänomene verständlicher und anwendbarer zu machen, verwendet die Psychologie Modelle. Diese Modelle sind aber im Vergleich zur gesamten Komplexität des Gehirns und der Psyche immer Vereinfachungen und bringen es mit sich, dass sie zwar für die Arbeit mit Menschen hilfreich und unterstützend sind, aber im Einzelfall der Person bzw. der Komplexität nicht umfassend gerecht werden können.

Das Wissen, die Modelle und Ansätze, die in diesem Buch vermittelt werden, sind so ausgewählt, dass sie der Komplexität der Traumafolgestörung Rechnung tragen und eine kompetente Anwendung der Traumapädagogik in der Arbeit mit von kPTBS betroffenen Menschen ermöglichen. Trotzdem können sie weder die gesamte Komplexität wiedergeben noch jeder einzelnen betroffenen Person gerecht werden.

Es ist mir ein Anliegen, dass diejenigen Leserinnen und Leser, die selbst von Trauma betroffen sind, selbst entscheiden, ob das Wissen, die Modelle und Ansätze für sie persönlich passen oder nicht. Auf der anderen Seite ist es mir auch ein Anliegen, dass sich Fachpersonen in der Arbeit mit Menschen mit einer kPTBS auf das Wissen und die Erkenntnisse der Psychotraumatologie und der Traumapädagogik abstützen, außer sie können fachlich begründen, weshalb dies im Einzelfall nicht sinnvoll ist.

Die Auswahl der psychotraumatologischen und traumapädagogischen Themen habe ich, gleichwie die Modelle, Methoden und Ansätze, basierend auf meiner Erfahrung so ausgewählt, wie sie sich für die Verbindung der drei oben aufgeführten Kompetenzen und die praktische Anwendung am besten eignen. Weitere hätten ebenso ihre Berechtigung, aber fanden keinen Platz oder werden nur kurz erwähnt, während andere z. T. auch scheinbar kleine Aspekte viel Platz erhalten. Der Anspruch des Buches ist, Fachpersonen in der Anwendung der Traumapädagogik zu unterstützen und ihnen Orientierung und Werkzeuge auch für die größten Herausforderungen zu bieten. Dies, gerade weil ich mir sehr bewusst bin, welche großen Anforderungen die Arbeit mit traumatisierten Menschen mit sich bringt, welches persönliche Engagement die Fachpersonen leisten und dass das nicht selbstverständlich ist.

Für interessierte Lesende, die noch tiefer oder spezifischer in die Materie eintauchen möchten, sei die breite Palette an umfassenden Werken der Traumapsychologie, Psychotraumatologie und der Traumapädagogik empfohlen.

Während auch strukturelle, prozessuale und konzeptionelle Aspekte von Organisationen und Institutionen wie Heimen, Beratungsdiensten, Schulen oder Pflegefamilien eine wichtige Rolle in der Anwendung der Traumapädagogik spielen (Schmid 2007), liegt der Fokus dieses Buches mehr auf der direkten Anwendung auf der Ebene der Fachpersonen. Dabei versuche ich nicht nur zu begründen und aufzuzeigen, was warum in der Traumapädagogik zu tun ist, sondern möglichst auch in Beispielen zu zeigen, wie man dies tut.

Illustrationen

Neben einigen Modellen finden sich im Buch viele Illustrationen, die den jeweiligen traumapädagogischen Ansatz symbolisiert darstellen. Die von der freischaffenden Künstlerin, Annette Tillmann, für dieses Buch angefertigten Bilder sollen helfen, die Vielfalt der Ansätze und Bestandteile, die die Traumapädagogik ausmachen, zu verdeutlichen und Sie als Leserin und Leser beim Erinnern und Lernen der Ansätze zu unterstützen. Zudem bringen sie etwas Farbe, Kreativität und Freude in das Thema, was ganz im Sinne der Traumapädagogik ist.

Kayla und Elias

Die Jugendliche Kayla und das Kind Elias werden in diesem Buch bei Beispielen immer wieder auftauchen. Sie stehen exemplarisch für zwei Menschen, die ich aus meiner Arbeit gut kenne.

Kayla ist heute erwachsen und kann so gut mit ihrer Traumafolgestörung umgehen, dass sie inzwischen selbständig und unabhängig ihre beruflichen Ziele verfolgt und einen großen Zuwachs an Lebensqualität hat. Elias ist noch nicht erwachsen und lebt bei einer Pflegefamilie. Er hat große Entwicklungsschritte gemacht, an Lebensqualität gewonnen und trotzdem steht noch ein herausfordernder Weg vor ihm.

Auch wenn ihre Fallbeispiele in diesem Buch auf realen Gegebenheiten basieren, habe ich einiges verändert und so angepasst, dass einerseits keine Rückschlüsse auf die realen Personen gemacht werden können und sich die einzelnen Situationen andererseits besser für die Vermittlung der Buchinhalte eignen.

Neben den Fallbeispielen von Kayla und Elias kommen punktuell kurze Beispiele von anderen Personen vor. Oft nutze ich allgemeine traumapädagogische Beispielsätze, die durchaus eins zu eins in konkreten Situationen übernommen werden können. Meistens ist es jedoch sinnvoller, eigene Worte und passendere Sätze für das Gegenüber und das jeweilige Setting zu finden.

Fallbeispiel Elias

Obwohl Elias erst fünf Jahre alt ist, war er in seinem Leben bereits mit vielen traumatischen Erlebnissen konfrontiert. Seine Mutter ist suchtkrank. Auch während der Schwangerschaft konsumierte sie verschiedene, z. T. harte Drogen und war zudem immer wieder Gewalt ausgesetzt.

Nach der Geburt musste der kleine Elias einen Drogenentzug machen. Die erste Woche seines Lebens verbrachte er auf einer Neugeborenen-Intensivstation. Danach wurden er und seine Mutter in eine Mutter-Kind-Einrichtung aufgenommen. Der Aufenthalt verlief recht gut und nach einem Jahr durfte die Mutter mit Elias in eine eigene Wohnung mit sozialpädagogischer Familienbegleitung ziehen. Mit der Rückkehr in die Eigenständigkeit verschlechterte sich die Situation; die Mutter verfiel wieder der Drogensucht und vernachlässigte Elias zunehmend. Manchmal ließ sie ihn ganze Tage allein zu Hause oder sie war nächtelang unterwegs. Wenn sie zu Hause war, war sie aufgrund ihres Drogenkonsums nicht immer in der Lage, sich um Elias zu kümmern, was dazu führte, dass er oft nicht genug zu essen bekam und an Gewicht verlor. Einige Male erlebte Elias auch, wie seine Mutter massiver Gewalt durch einen zeitweiligen Partner / Zuhälter ausgesetzt war. Zweimal war seine Mutter danach ohne Bewusstsein. Einmal hatte sie eine Platzwunde am Auge und wurde völlig blutüberströmt liegen gelassen.

Im Alter von zweieinhalb Jahren wurde Elias wegen Unterernährung ins Krankenhaus eingeliefert. Er hatte zudem Läuse, Hautausschläge und offene Wunden am Po, da er – noch Windeln tragend – immer wieder über längere Zeit in seinen eigenen Exkrementen gelassen worden war.

Als Elias medizinisch wieder stabil war, wurde er in eine Notfallgruppe eines Kinderheims platziert und kam im Alter von 3,5 Jahren in eine Pflegefamilie. Seine Pflegeeltern, Marianne und Paul, hatten damals bereits zwei eigene Kinder; Stefan und Tonja sind im Buch 15 und 17 Jahre alt.

In den Beispielen des Buches lebt Elias bereits seit zwei Jahren in der Pflege­familie. Er hat ein gewinnendes Lächeln und es fällt ihm sehr leicht, mit Menschen in Kontakt zu treten. Im Kindergarten entsprechen seine Lernfortschritte dem Durchschnitt. Er fällt aber sowohl im Kindergarten als auch in der Pflege­familie durch massive Wutausbrüche und einen starken Willen auf. Zudem kann er kaum etwas für sich allein tun. Auffallend ist auch, dass er häufig viel zu viel essen will und sich überisst.

Fallbeispiel Kayla

Kayla ist ein Wunschkind und ihre Geburt wurde von ihren Eltern freudig erwartet. Die Mutter hatte jedoch bereits sehr früh große Erwartungen an ihre Tochter und stellte hohe Ansprüche an das Mädchen bezüglich Regelverhalten und Disziplin. Als Kayla drei Jahre alt war, kam ihr Bruder auf die Welt. Im Alter von fünf Jahren wurde Kayla das erste Mal von einem guten Freund des Vaters sexuell missbraucht. Weitere Übergriffe folgten.

Kaylas Eltern bekamen vom Missbrauch nichts mit. Sie merkten lediglich, dass Kayla ihnen immer weniger gehorchte und die Verhaltensansprüche der Eltern immer weniger erfüllte. Das führte dazu, dass die Eltern zu immer strengeren Regeln und härteren Strafen griffen. Die Mutter war zunehmend enttäuscht von ihrer Tochter und es war ihr peinlich, dass ihre Tochter im Kindergarten oft unkonzentriert war und als Außenseiterin auffiel. Sie machte ihre Tochter immer mehr Vorwürfe wie „Du bist verwöhnt“, „Faules, dickes Kind“, „So bringst du es nie zu was“, „Du machst mir mein Leben schwer“. Die Diskrepanz zwischen den Erwartungen der Mutter und Kaylas Verhalten wurde immer größer. Die Mutter machte ihr Kind u. a. dafür verantwortlich, dass sie als Mutter gezwungen sei, ihre Tochter zu schlagen. Ihrer Ansicht nach sei das das Einzige, was Kayla dazu bringen würde, etwas zu tun.

Bereits in der ersten Klasse fiel auf, dass Kayla einerseits sehr gescheit war und sich andererseits oft weigerte, im Unterricht mitzumachen. Zunehmend tauchte sie nach Pausen gar nicht mehr auf. Wo sie jeweils steckte, war unklar. Einmal wurde beobachtet, wie sie allein auf dem Sportplatz Fußball spielte. Konfrontiert mit ihren Verhalten, sei dies von der Mutter oder den Lehrpersonen, sagte sie nichts, sondern saß jeweils nur still da.

Der Vater mischte sich fast nie in die Erziehung ein und wenn, dann war er seiner Frau gegenüber loyal. Speziell nervte ihn, wenn Kayla morgens nicht aufstand. Er verstand das Verhalten als persönliche Beleidigung. Wenn ihm dann der Kragen platzte, stürmte er ins Zimmer, riss Kayla aus dem Bett und schrie sie an.

In dieser Zeit kam es immer wieder zu sexuellen Missbräuchen durch den guten Bekannten der Familie, der gleichzeitig gegenüber Kayla freundlich und zuvorkommend war. So waren der Bekannte sowie der jüngere Bruder die einzigen Menschen, von denen sich Kayla wirklich gemocht fühlte.

Da Kayla in der zweiten Klasse manchmal täglich in der Schule verschwand, kam sie im dritten Schuljahr in ein Schulheim (Anmerkung: Der Begriff Schulheim steht in der Schweiz für stationäre Kinder- und Jugendheime, die ein eigenes internes Schulangebot haben.). Für die beruflich erfolgreichen Eltern war dies ein großer Gesichtsverlust, was sie Kayla spüren ließen. Auch die dadurch verursachten Kosten hielten sie Kayla vor.

Im Schulheim zeigten sich bald die gleichen Probleme wie zuvor in der Schule und zu Hause. Kayla war einerseits sehr angepasst und sagte nie ein freches Wort. Gleichzeitig erledigte sie oft weder die kleinsten (den Wasserhahn nach dem Zähneputzen abzustellen) noch die größeren Aufgaben (Schulaufträge auszuführen oder aufzuräumen). Weiterhin stand sie morgens nicht auf und verschwand vom Schulunterricht. Eine psychologische Abklärung ergab die Diagnose ADS. Sie erhielt Medikamente, die keinen wesentlichen Einfluss auf ihr Verhalten zeigten, aber als Nebeneffekt zu Gewichtverlust führten, was Kayla sehr gelegen kam.

Das ständige Nicht-in-der-Schule-Auftauchen und die Suche nach Kayla brauch­ten viele Ressourcen. Bei den Fachpersonen breitete sich ein Gefühl der Hilflosigkeit und Frustration aus. Kayla wurde ein strukturierteres Heim empfohlen. So kam das Mädchen in ein zweites Schulheim.

Im zweiten Schulheim entdeckte Kayla ihre Freude an Büchern – und ganz besonders am Sport, was dort sehr gefördert wurde. Die vielen Sportangebote nutzten nur wenige Kinder, aber Kayla war dafür immer zu haben. Insbesondere mochte sie Basketball. Da der Basketballplatz der einzige im kleinen Städtchen war, kamen jeweils lokale Jungs dazu, die gut spielten. Kayla wurde immer besser.

Von einem Jungen erhielt sie ein altes Mobiltelefon. Taschengeld hatte sie keins, aber sie lernte schnell Hacks, so dass sie immer irgendwie Zugang zum Internet fand. Sie war sehr wissbegierig und saugte alles auf. Wenn sie für sich allein lesen oder lernen konnte, ging es ihr gut.

Mit der Zeit verschwand Kayla immer häufiger und länger. Sie versteckte sich derart geschickt, dass sie unauffindbar war. Als 14-Jährige schlich sie sich oft erst spät nachts zurück ins Heim. Manchmal war sie auch für mehrere Tage weg. Hin und wieder ging sie zum Bekannten der Familie, der sie immer verständnisvoll bei sich aufnahm, sie jedoch auch immer wieder sexuell missbrauchte. Manchmal ging sie zudem Beziehungen mit anderen Jungs ein und konnte dort einige Tage unterkommen.

Das dritte Schulheim empfahl weitere Abklärungen. Auch um das ständige Abhauen zu verunmöglichen, sollte sie vorübergehend geschlossen in einem Beobachtungsheim untergebracht werden. Während des dreimonatigen Aufenthaltes wurde u. a. beobachtet, dass Kayla nachts oft wach war, endlos vor sich hin weinte. Oft dissoziierte sie, wenn sie sich unter Druck fühlte, und manchmal schlug sie sich selbst oder riss sich an den Haaren. Zudem wurde bei ihr Untergewicht und eine Geschlechtskrankheit festgestellt. Auffallend war ihre außerordentliche sportliche Begabung, und ein IQ-Test ergab einen Wert von 134. Nach verschiedenen psychologischen Abklärungen diagnostizierte der psychiatrische Dienst eine kPTBS. Auf Empfehlung wurde Kayla in ein traumapädagogisches Heim für junge Frauen platziert. Im Buch lebt sie als 16-Jährige in diesem Heimsetting.

Teil 1 – Wissenskompetenz

Trauma und seine neurobiologischen Auswirkungen zu verstehen, ermöglicht Fachpersonen und Laien, von Trauma betroffene Kinder, Jugendliche und Erwachsene nachhaltiger zu unterstützen. Dieses Verstehen bildet die Grundlage, um im Leben und der Entwicklung der betroffenen Menschen einen wesent­lichen Unterschied zu machen – sei dies bei der Arbeit, im Familienleben oder im Freundeskreis.

1 Trauma

In der Psychologie steht Trauma für eine psychische oder seelische Verletzung. Der Begriff der traumatischen Hysterie wurde Ende des 19. Jahrhunderts in die Psychologie eingeführt (Freud / Breuer 1895). Im Nachgang des Vietnamkriegs und der therapeutischen Arbeit mit schwer psychisch belasteten amerikanischen Veteranen entstand die Diagnose der Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) (van der Kolk 2014).

Ein Trauma wird durch eine traumatische Situation verursacht. Ein psychisches Trauma kommt zustande, wenn ein Mensch ein bedrohliches Ereignis nicht von sich aus bewältigen kann und er sich z. B. durch Flucht oder Kampf nicht selbst erfolgreich schützen kann. Ein Trauma wird somit auch zu einem Diskrepanz-Erlebnis zwischen bedrohlichen Situationsfaktoren und individuellen Bewältigungsmöglichkeiten (Herman 2022).

Eine traumatische Situation ist immer von überwältigenden Gefühlen wie Angst, Horror, Hilflosigkeit und Ohnmacht begleitet (World Health Organi­zation 2022) und ist von totalem Verlust der Kontrolle, des Vertrauens in sich und in andere geprägt. Man weiß sich nicht zu schützen, und auch andere Menschen sind nicht in der Lage oder präsent genug, um Schutz zu gewähren. Jegliches Gefühl von Sicherheit, Zuversicht, Hoffnung und Geborgenheit wird bei einem traumatischen Erlebnis zutiefst zerrüttet (Herman 2022; Fischer / Ried­esser 2023).

Eine traumatische Erfahrung wird im Moment des Erlebens bei jedem Menschen überwältigende Gefühle auslösen. Ob die traumatische Erfahrung aber zu einer Traumatisierung mit nachhaltigen Lebensqualitätseinbußen und Folge­störungen führt oder keine Auswirkung hat, hängt jedoch von den Umständen vor,während und insbesondere nach der traumatischen Erfahrung ab (Gahleitner 2021; Dreiner 2013).

Umstände vor der traumatischen Erfahrung haben einen Einfluss auf eigene Ressourcen und Bewältigungsmöglichkeiten während und insbesondere nach der traumatischen Situation. Risikofaktoren sind familiäre Vorbelastungen, frühere Belastungserfahrungen und bereits erlebte Traumatisierungen sowie Entwicklungsstörungen oder Beeinträchtigungen. Der wichtigste Faktor ist die innere Sicherheit der betroffenen Person. Große innere Sicherheit begünstigt eine Verarbeitung der traumatischen Erfahrung (van der Kolk 2014; Herman 2022). Die innere Sicherheit wird insbesondere durch die Bindungserfahrungen geprägt. Je geglückter frühe Bindungserfahrungen sind, desto stärker entwickelt sich innere Sicherheit (Bowlby 1988).

Die Umstände während der traumatischen Erfahrung wiederum unterscheiden sich darin, ob die traumatische Erfahrung durch äußere Ereignisse (Erdbeben, Unfall, Einbruch) oder durch Menschen im direkten Kontakt (man-made) absichtlich oder wider besseres Wissen verursacht wurden (Gewalt, Missbrauch, Vernachlässigung). Ein weiterer wichtiger Einflussfaktor ist die Anzahl und Häufigkeit traumatischer Erlebnisse. Dabei spielen sowohl die Kumulation (das Ansammeln) mehrerer unterschiedlicher traumatischer Ereignisse als auch wiederkehrende traumatische Erfahrungen wie auch wiederkehrende retraumatisierende Erfahrungen eine Rolle. (Beide wiederkehrende Formen werden sequenzielle Traumatisierungen genannt). Einmalige und nicht-menschengemachte Traumata bergen ein geringeres Risiko für eine Traumafolgestörung, während kumulierte und sequenzielle sowie von Menschen (man-made) verursachte Traumata das Risiko einer Traumafolgestörung erhöhen (Terr 1991; Gahleitner 2021; Scherwath / Friedrich 2020; Zimmermann 2017a).

Der allerwichtigste Faktor sind jedoch die Umstände nach der traumatischen Erfahrung.Herman (2022) hebt die Wichtigkeit hervor, dass die betroffene Person auf eine oder mehrere Menschen zurückgreifen kann, die eine tragfähige Beziehung bieten können und so die Verarbeitung der traumatischen Erfahrung beträchtlich begünstigen können. Dies bedingt, dass die unterstützenden Menschen er- und anerkennen, dass der betroffenen Person ein schweres Leid widerfahren ist und dass sie die schweren und überfordernden Gefühle der betroffenen Person mittragen, sprich selbst einen genügend konstruktiven Umgang damit finden. Die Beziehungsqualität zum sozialen Umfeld und – bei Kindern – die Bindungsqualität zu den wichtigsten Bezugspersonen hat somit einen wesentlichen Einfluss auf die Entstehung einer Traumafolgestörung nach einer traumatischen Situation.

BEISPIEL

Elias

Elias erlebte bereits während der Schwangerschaft den Stress eines Drogenentzugs seiner Mutter und den Stress, den die Gewalt gegen sie in ihr auslöste. Deshalb kann davon ausgegangen werden, dass Elias vor seiner Geburt bereits mehrere traumatische Erfahrungen durchlebte. Nach der Geburt war er mit seinem Drogenentzug auf der Intensivstation einer erneuten traumatisierenden Überforderung ausgesetzt.

Seine Mutter, die selbst unter einer schweren Traumafolgestörung litt, war nicht fähig, zu erkennen und anzuerkennen, was für ein unermessliches Leid der kleine Elias bereits mit sich trug. Sie war auch nicht in der Lage, seine dadurch ausgelöste emotionale Heftigkeit, sein existentielles Schreien und häufiges Erbrechen zu verstehen und für ihn unterstützend da zu sein. In ihrer Überforderung ließ sie Elias stattdessen schreiend liegen. Manchmal trug sie ihn herum, ohne sich jedoch emotio­nal mit ihm zu verbinden und sich auf ihn einzulassen. Das Personal im Mutter-Kind-Wohnen konnte dieses Defizit nur begrenzt auffangen, so dass bei Elias keine Erholung eintrat und sich eine frühe Traumafolgestörung entwickelte. Später kamen viele weitere traumatische Erlebnisse hinzu, als die Mutter wieder der Sucht verfiel, Gewalt erlebte und Elias schwer vernachlässigt wurde.

Nach der obigen Typisierung erlebte Elias kumulative und sequenzielle Man-­made-­Traumatisierungen. Zum Teil wurden diese böswillig und absichtlich durch Menschen (Gewalt gegen die Mutter) und zum Teil wider besseres Wissen (schwere Vernachlässigung) verursacht. Dem Verhalten der Mutter lag keine Böswilligkeit zugrunde, sondern Drogenkonsum, Beschaffungs- oder Entzugsstress führten zur Vernachlässigung.

Da das Stressempfinden sich im dritten Schwangerschaftstrimester ausbildet (Ruffaner-Hanson et al. 2022), kann wie im Falle von Elias bereits das ungeborene Kind traumatischen Stress erfahren (Levine / Kline 2005). Erschwerend kommt bei Elias hinzu, dass kleine Kinder das Erlebte mental noch nicht einordnen können, da sich das Verständnis für die Welt erst bildet. Bei Trauma­tisierungen durch Bezugspersonen verinnerlichen diese Kinder in der Folge negative und verzerrte Bilder von sich und der Welt. Sie neigen sodann z. B. zur Überzeugung, nicht liebenswert oder schlecht zu sein, und können nicht verstehen, was passierte und immer noch mit ihnen passiert. Oder anders gesagt: Je jünger ein Kind traumatisiert wird, desto eher beeinflussen kumulative und sequenzielle Traumatisierungen das Selbstbild und die psychische Entwicklung des Kindes (Scherwath / Friedrich 2020).

Neurobiologisch lässt sich das wie folgt erklären: Ein Kind besitzt bis zum zweiten Lebensjahr am meisten neuronale Verbindungen (Nerven) im Gehirn. Nach diesem Zeitpunkt werden diese wieder zurückgebaut, so dass bis zum Ende der Adoleszenz nur noch die wichtigsten Verbindungen vorhanden sind (Hüther 2013). Alles, was nicht gebraucht wird, hat sich zurückgebildet (Huttenlocher 1979). Bei einer kumulativen Traumatisierung in der frühen Kindheit werden sodann andere neuronale Strukturen im Gehirn gestärkt und entwickelt als bei einem Kind, das sicher aufwachsen kann (Zilberstein 2022). Da das Gehirn so plastisch und veränderungsfähig ist, haben aber auch Menschen mit einer frühen und kumulativen Traumatisierung in ihrem Leben noch viele Möglichkeiten, gelungene, konstruktive und heilende Entwicklungen zu erfahren und zu verinnerlichen (Peckham 2023; Teicher et al. 2016).

BEISPIEL

Kayla

Kayla erlebte die erste traumatische Situation mit vier Jahren. Davor konnte sie sich im normalen Rahmen entwickeln. Die Eltern merkten jedoch nicht, dass ihre Tochter ab ihrem fünften Lebensjahr missbraucht wurde, und waren nicht in der Lage zu erkennen, dass ihr großes Leid widerfuhr. Der autoritäre Erziehungsstil führte zusätzlich dazu, dass die Eltern ohne jegliche Empathie auf die entstehenden Traumafolgestörungssymptomatiken reagierten. Daraus entstanden unzählige Situationen, in denen Kayla gedemütigt, erniedrigt, ausgegrenzt, bestraft und / oder geschlagen wurde. Dadurch erlebte sie kleine, kurze, emotional überfordernde Momente, sogenannte Mikrotraumata (Endres / Moisl 2002; Kühn / Bialek 2017). Selbst wenn einzelne solche Erlebnisse in einem ansonsten gesunden Umfeld bei den meisten Menschen kaum zu einer komplexen Traumatisierung führen würden, sind das fortwährende, sequenzielle Erleben und die Kumulation solcher Ohnmachtserfahrungen, wie sie Kayla durch die wichtigsten Bezugspersonen erleben musste, traumatisierend (Crastnopol 2015). So durchlebte Kayla unterschiedliche, mehrfache und andauernde Man-made-Traumatisierungen durch den Bekannten der Familie, die Mutter und punktuell auch durch den Vater.

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Hat ein Mensch eine traumatische Situation erlebt und kann diese Erfahrung verarbeiten, entwickelt er in der Folge keine Traumafolgestörung. Er ist somit nicht traumatisiert. Die Person hatte zwar früher eine schwere Belastung erlebt. Diese seelische Verletzung ist heute aber weitgehend verheilt. Hingegen bleibt bei einem Menschen, der die frühere traumatische Erfahrung noch nicht verarbeiten konnte, die seelische Verletzung, das Trauma, weiterhin bestehen. Er ist traumatisiert.

1.1Neurobiologie und Psychologie des Traumas

Das Modell der Stresskurve (Abb. 1) nach Schauer / Elbert (2010), Walker (2024) und Fischer (2024) verbildlicht die Stressreaktion unter normalen bis zu existentiell bedrohlichen Bedingungen. Die Reaktion auf Stressoren hat sich in der Entstehungsgeschichte des Menschen seit Beginn über Jahrtausende hinweg entwickelt, um das Überleben zu sichern.

Abb. 1:Die Stresskurve und die verschiedenen Stufen der Erregungs­zustände

Die Untererregung (hellviolett) ist ein Zustand, den man z. B. oft nach dem Mittagessen erlebt. Man ist etwas müde und möchte sich am liebsten ein bisschen hinlegen. Eine Stufe höher befindet sich das Homöostase-Niveau (grün), in der sich die meisten Menschen am wohlsten fühlen. Man hat Energie, kann sich konzentrieren, erfreut sich am eigenen Tun und ist im Flow. In diesem Zustand können Menschen auch am besten lernen.

Wenn nun von außen ein Stressor kommt, steigt man in die erste Mobilisierungsstufe, den gelben Bereich, hinauf: Man ist wachsam und orientiert sich. Aus der Evolution heraus betrachtet ist dies eine sehr nützliche Reaktion, um sich vor Gefahren zu schützen. Für das Gehirn ist ein Stressor immer eine Form von Bedrohung, die eine Leistung erfordert. In der ersten Mobilisierungsstufe schätzt das Gehirn den Stressor als potenziell, aber noch nicht als akut bedrohlich ein. Sowohl im Homöostase-Niveau wie in der ersten Mobilisierungsstufe ist es möglich, hoch fokussiert zu sein. Der Unterschied liegt darin, dass man im Homöostase-Niveau eine Wahl hat, ob und auf was man sich fokussieren will. In der ersten Mobilisierungsstufe fokussiert sich das Gehirn auf die Bedrohung.

Wertet das Gehirn einen Stressor als akut bedrohlich, erreicht man die zweite Mobilisierungsstufe – den roten Bereich. In diesem Zustand hat das Gehirn mehrere Reaktionsmöglichkeiten: Freeze, Kampf, Flucht / Verstecken und Unter­werfung. Der Freeze (engl. einfrieren) beschreibt den momentanen Zustand einer hohen Konzentration, Anspannung, des Abwartens und des Stillhaltens. Das Gehirn nimmt die akute Gefahr wahr, hat sich aber noch nicht für eine etwaige weitere Schutzstrategie entschieden. Klingt die akute Gefahr nicht ab, folgt eine Kampfhandlung, die Flucht, Verstecken oder eine Unterwerfung. Wobei Unterwerfung in diesem Zustand noch im Sinne einer Strategie angewandt wird, die zu Schutz führt und somit noch eine Form der Kontrolle beinhaltet (Levine 1997).

Gelingt es einer Person jedoch nicht, sich durch Freeze, Kampf, Flucht, Verstecken oder Unterwerfung zu retten, gerät sie auf die oberste Stufe (dunkelviolett) der Stresskurve und befindet sich in einer traumatischen Situation, die mit absolutem Kontrollverlust einhergeht. Das Gehirn reagiert nun mit einer autonomen basalen Reaktion und dissoziiert, was bedeutet, dass Wahrnehmungen aus dem Bewusstsein abgespalten werden (van der Hart / Horst 1989). Das Gehirn unterbindet so, dass Sinneswahrnehmungen wie Körperempfindungen (z. B. Schmerz), Bilder, Geräusche und insbesondere Gefühlswahrnehmungen (z. B. Angst, Ohnmacht, Panik, Druck, Kontrollverlust) ins Bewusstsein eintreten (Lanius 2010). Das Gehirn nimmt traumatische Sinnes- und Gefühlserfahrungen also wahr, diese treten aber nicht mehr ins Bewusstsein ein, um so den Menschen vor den überwältigenden Erfahrungen zu schützen. Zusätzlich können ausgeprägte körperliche Phänomene wie Schockstarre (Immobilisation) oder Totstellreflex auftreten (Levine 1997). Beides dürfte in der Evolutionsgeschichte die Überlebenschancen der Menschheit erhöht haben (Schauer / Elbert 2010).

Diese dissoziativen Phänomene werden völlig autonom gesteuert (Levine /Kline 2005). Die betroffene Person kann keinen Einfluss darauf nehmen. Manche Menschen erzählen, dass sie sich nicht mehr spürten oder sich wie von außen erlebten. In diesem Zustand der vollkommenen Hilflosigkeit und Ohnmacht kontrollieren die traumatischen Umstände oder ein Täter / eine Verursacherin die betroffene Person total. Das Verhalten der betroffenen Person kann wie eine Unterwerfung wirken, im Gegensatz zur in der zweiten Mobilisierungsstufe beschriebenen Unterwerfung ist sie im Traumazustand jedoch keine Verhaltensstrategie, sondern eine Folge des kompletten Kontrollverlustes.

BEISPIEL

Von Beeren und dem Bären

Drehen wir die Zeit um 3000 Jahre zurück und stellen uns einen großen Wald vor, in dem es gerade viele Beeren zu ernten gibt. In einem Teilstück des Waldes gedeihen die Beeren besonders üppig. Gleichzeitig weiß unser Vorfahre, dass dort jeweils auch ein Bär mit einem Jungen unterwegs ist. Er entscheidet sich, das Waldstück trotzdem zu betreten, in der Hoffnung, dem Bären nicht zu begegnen. Dennoch spannt er sich innerlich etwas an, er ist achtsamer und konzentrierter auf die weitere Umgebung und ist somit weniger achtsam auf die Beeren. Er ist zwar nach wie vor in der Lage, die Beeren zu pflücken, ist wegen der möglichen Gefahr jedoch nicht mehr zu 100 Prozent auf die Beeren konzentriert und erntet weniger. Er befindet sich in der ersten Mobilisationsstufe (gelb).

Plötzlich sieht er aus 70 Metern Entfernung einen Bären. Unmittelbar rutscht er in der Stresskurve in die zweite Mobilisationsstufe (rot). Zuerst gerät er in den unteren roten Bereich, in den Zustand des Freeze. Er wird still und bewegt sich nicht mehr. Bestenfalls fällt er so nicht auf oder wirkt weniger bedrohlich. Er wartet ab. Falls der Bär einfach weiterläuft, entspannt er sich wieder und kehrt in die erste Mobilisationsstufe zurück. Sieht ihn der Bär hingegen und geht zum Angriff über, entscheidet sich unser Vorfahre innerhalb von Millisekunden, ob er flüchten, kämpfen oder sich unterwerfen soll. Dabei befindet er sich im oberen Bereich der zweiten Mobilisationsstufe. Hatte er durch die eine oder andere Strategie Erfolg und konnte sich retten, rutscht er wieder in die gelbe Stufe hinab, und sobald er sich wieder sicher fühlt, in die unterste Stufe, die Untererregung.

Gelingt es ihm jedoch nicht, sich zu retten, gerät er in eine traumatische Situation, die mit absolutem Kontrollverlust einhergeht. In diesem Beispiel könnte das dazu führen, dass er neben dem psychischen Dissoziieren in einen Totstellreflex verfällt. Der Bär empfindet ihn nicht mehr als Bedrohung. Er wendet sich bestenfalls von ihm ab.

In der westlichen Zivilisation sind reale Lebensbedrohungen wie die eines Bären selten geworden. Dennoch ist dieses neurobiologische System in jedem Menschen verankert, wodurch es bereits in alltäglichen Situationen möglich ist, in eine gelbe oder rote Mobilitätsstufe zu rutschen, sobald etwas als Bedrohung empfunden wird. Das kann der Fall sein, wenn beispielsweise die Selbstbestimmung, Identität, Integrität oder das Bewältigen zu vieler oder hoher Anforderungen als gefährdend oder überfordernd wahrgenommen wird.

Das Dissoziieren hilft dem Menschen zwar, das eigene Überleben zu sichern. Gleichzeitig ist es eine einschneidende neurobiologische Reaktion, bei der die abgespaltenen Wahrnehmungen dauerhaft abgespalten bleiben können. Diese ursprüngliche psychologische These (van der Hart / Horst 1989) wird nun auch durch erste neurologische Forschungsergebnisse unterstützt (Lanius et al. 2010; Perl et al. 2023). Während man sich nach der traumatischen Erfahrung vor­dergründig in relativ kurzer Zeit wieder beruhigt, gilt dies nicht für die emo­tions­geladenen, abgespaltenen Erinnerungen, die die eigentliche seelische Verletzung sind. Sie bleiben als unabhängige Erinnerungsanteile bestehen, bis es gelingt, sie wieder weitgehend zu assoziieren (verbinden) oder zu integrieren (van der Hart 2006). Dies trifft auf alle traumatischen Erfahrungen zu – inklusive der Mikrotraumata.

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In der Literatur wird der Begriff Freeze(deutsch: gefroren) mit zwei Bedeutungen verwendet. Der Freeze-Zustand gehört zur zweiten Mobilisationsstufe und den Überlebensstrategien wie Kampf, Flucht, Unterwerfung und Verstecken (Levine 1997; van der Kolk 2014). Sind diese Strategien erfolgreich, führt das zur Rettung und zur Erholung. Erst wenn diese Strategien nicht erfolgreich sind, kommt es zum kompletten Kontrollverlust, dem Traumazustand, und werden traumatische Prozesse mit Dissoziation und möglichem Schockzustand und Immobilisation ausgelöst, also der Unfähigkeit, sich willentlich zu steuern. Dieser Zustand wird verwirrenderweise und zum Teil von denselben Autoren auch als Freeze beschrieben (Levine 1997; van der Kolk 2014). Eine klarere Unterscheidung bietet das Defense-Cascade-Modell, das den lähmenden Traumazustand als „Fright” (deutsch: Schreck) bezeichnet (Schauer / Elbert 2010).

Abb. 2: Dissoziieren: Traumatische Erinnerungsfragmente werden zum Selbstschutz teilweise oder ganz abgespalten.

Normalerweise nehmen Menschen ein Ereignis auf vielfältige Arten wahr. Die Wahrnehmungen können u. a. aus Gefühlen, Körperempfindungen, Bildern, Gedanken, Geräuschen, Klängen, Geschmäckern, Raumempfinden oder Beziehungsaspekten bestehen. Beim Dissoziieren (Abb. 2) können einzelne oder alle dieser Wahrnehmungsfragmente zum Selbstschutz ganz oder teilweise abgespalten werden und sind so nicht mehr bewusst zugänglich. In der Folge entsteht aus neurobiologischer Sicht eine Bewusstseinslücke oder -störung.

Um dieses psychologische Phänomen modellhaft neurobiologisch zu verstehen, wird in der Traumapädagogik oft die Idee des dreiteiligen Gehirns mit unterschiedlichen symbolischen Ver­bildlichungen verwendet (Scherwath / Friedrich 2020; Weiß 2016; Staub / Seidl 2024; Kessler 2023) (Abb. 3). Im unteren Teil ist der Hirnstammauszumachen. Im mittleren Teil befindet sich das limbische System, auch Mittelhirn oder emotionales Gehirn genannt. Über diese beiden Teile legt sich wie ein dicker Mantel das Großhirn, der Neokortex.

Abb. 3: Modell des dreiteiligenGehirns

In der Geschichte der neurologischen Emotionsforschung entstanden verschiedene Modelle (LeDoux 1998). Ein Modell ist die Zuordnung der Emotionen zum limbischen System, woraus das Synonym emotionales Gehirn entstand, und der Begriff des Reptiliengehirns für den Hirnstamm.

Der Begriff Reptiliengehirn wurde von MacLean (1990) geprägt, auch weil es sich um den ältesten Teil des Gehirns handelt. Das limbische System und die Großhirnrinde sind bei Kaltblütern wie Reptilien und Fischen wenig ausgeprägt. Daher spielt der Hirnstamm verhältnismäßig eine größere Rolle. Das limbische System ist vor allem bei Säugetieren auszumachen, wenn auch in unterschiedlichen Ausprägungen, und spielt u. a. eine wichtige Rolle beim Entstehen von Emotionen. So lassen sich bei Säugetieren wie Hunden oder Katzen Emotionen wie Zuneigung, Angst und Freude beobachten.

Die Großhirnrinde wiederum zeichnet den Homo sapiens aus. Diese Hirnre­gion ist beim Menschen weiterentwickelt und dichter als bei anderen Säuge­tie­ren. Sie ermöglicht kreatives Denken, bewusste Entscheidungen und die Fähigkeit zur Selbstwahrnehmung.

Aus der Vermischung von neurologischen Erkenntnissen und abgeleiteten Modellen kommt es unweigerlich zu Konstrukten, die der Komplexität des Gehirns nicht mehr wirklich gerecht werden. Gleichzeitig ermöglicht diese Vereinfachung zu verstehen, dass der Psychologie neurologische Prozesse zugrunde liegen und diese auch durch Traumata wesentlich beeinflusst werden. In diesem Sinne sind auch die Aussagen weiter unten als stark vereinfachte Modelle und Konstrukte für die praktische alltägliche traumapädagogische Arbeit zu verstehen.

Strukturen, die für die Psychotraumatologie eine besondere Bedeutung haben, sind die Amygdala(im limbischen System), der Hippocampus(im limbischen System) und der mediale präfrontale Kortex (Teil der Großhirnrinde), die zusammen eine wichtige Rolle sowohl in Bezug auf Lernen als auch auf Verhalten bei Bedrohungen spielen (Ressler et al. 2022).

Die Amygdala hat unter anderem die Funktion, Wahrnehmungen zu verarbeiten und in Bezug auf ihre emotionale Bedeutung zu bewerten (LeDoux 2007). Sie fungiert als innere Warnzentrale, indem sie Furcht und Angst auslöst (AbuHasan et al. 2023), die bei Gefahr in die erste oder zweite Mobilisationsstufe der Stresskurve versetzt. Nach einer traumatischen Erfahrung wird die Amygdala entsprechend sensibilisiert, um vor weiteren Bedrohungen zu schützen. Sobald etwas auch nur ansatzweise an die traumatische Erfahrung erinnert, wird die Amygdala aktiv.

Der Hippocampus ist relevant bei der Verarbeitung und dem Vernetzen von Erfahrungen und beim Lernen (Knierim 2015). Wenn die Überforderung in der traumatischen Situation zum Dissoziieren führt, scheint der Hippocampus seine eigentliche Aufgabe nicht mehr umsetzen zu können. Wobei der Hippocampus auch bei weniger extremen Herausforderungen an seine Grenzen zu kommen scheint. Das zeigt sich in Nächten, in denen man nicht schlafen kann, weil die Gedanken um belastende Situationen kreisen. Der Hippocampus hat in diesen Phasen Schwierigkeiten, die normalen Herausforderungen des Alltags zu verarbeiten. Es lässt sich vermuten, dass dissoziierte emotionale Erinnerungen zu einer ausgeprägten Störung dieser Verarbeitungs- und Abspeicherungsprozesse führen. Neurobiologisch nachweisbar ist, das Stress zu Zellschäden und traumatische Erfahrungen zu einer Verkleinerung des Hippocampus, zur Vergrößerung der Amygdala, zu verringertem Hirnvolumen und zu Defiziten der Frontalhirnentwicklung führen (Teicher et al. 2016; Bremner 2006; Hüther 2013). Lanius (2010) wies auf die Rolle von Strukturen im limbischen System und des präfrontalen Kortex bei getriggerten Traumazuständen und dissoziativen Phänomenen hin.

Als psychologisches Konstrukt lassen sich diese Erkenntnisse wie folgt verstehen. Die beim Dissoziieren abgespaltenen Wahrnehmungsfragmente bleiben als nicht verarbeitete und deshalb unkontrollierbare, emotionale Erinnerungen, sogenannte Emotionale Persönlichkeitsanteile (EP), bestehen (van der Hart et al. 2006). Eine von Traumata betroffene Person entwickelt in der Folge unbewusst Strategien, um sich vor den traumatischen Erinnerungen und erneuten Traumatisierungen zu schützen (Fischer / Riedesser 2023). Weil das Erleben damals so unaushaltbar und überfordernd war, wird es zur neurobiologischen (unbewussten) Lebensaufgabe(Abb. 4):

1nie mehr so etwas zu erleben;

2sich nie mehr so zu fühlen wie damals;

3sich darum auch nie mehr daran zu erinnern.

Abb. 4: Das Schild symbolisiert die Lebensaufgabe, sich vor weiteren traumatischen Situationen, Gefühlen und Erinnerungen zu schützen.

Gleichzeitig können die EP immer wieder durch äußere Reize oder Körperempfindungen ausgelöst (getriggert) werden.

Lösen Trigger die abgespaltenen Traumaerin­nerungen (EP) und deren Emotionen wieder aus, fühlt sich die Person unmittelbar so elend und überwältigt wie in der damaligen, traumati­schen Situation. Sie befindet sich wieder in einem Traumazustand. Als Selbstschutz kann das Gehirn in der Folge oder unmittelbar mit erneutem Dissoziieren reagieren. Gleichzeitig gibt es einen inneren Antrieb, die traumatischen Erfahrungen zu heilen respektive diese zu verarbeiten (Fischer / Riedesser 2023).

So entsteht ein inneres Paradox von drei verschiedenen psychischen Traumafolgeprozessen:

1der Lebensaufgabe, sich vor traumatischen Erinnerungen und Gefühlen zu schützen;

2Traumazustände, die getriggert werden können;

3Verarbeitungsversuche.

Im Idealfall kann eine traumatisierte Person die traumatischen abgespaltenen Erinnerungen wieder ins Bewusstsein integrieren und die Traumafolgeprozesse werden nicht mehr benötigt beziehungsweise werden hinfällig.

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